Skript Staatsrecht I Teil 4 (1) PDF
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Universität Mannheim
2024
Prof. Dr. R. Müller-Terpitz
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Summary
This university textbook, part of a course on German constitutional law in the Fall of 2023- 2024 examines the German Bundestag's functions, including law-making, elections and parliamentary control, and includes specific case studies (ex: the case study of the SPD's request to set up a parliamentary inquiry)
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Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 § 3 Staatsorganisation A. Bundestag = Einziges unmittelbar demokratisch legitimiertes Verfassungsorgan I. Aufgaben des Bundestages 1. Gesetzgebung (Legislativakte) => Vgl. Art. 77 I 1 GG und Art. 110 II 1 GG – dazu...
Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 § 3 Staatsorganisation A. Bundestag = Einziges unmittelbar demokratisch legitimiertes Verfassungsorgan I. Aufgaben des Bundestages 1. Gesetzgebung (Legislativakte) => Vgl. Art. 77 I 1 GG und Art. 110 II 1 GG – dazu noch später sub § 4 A. 2. Wahlen (Kreationsakte) => Vgl. Art. 63, Art. 54 III und Art. 94 I 2 GG – dazu noch später. 3. Parlamentarische Kontrolle => Parlamentarische Kontrollrechte = „Rechte der Opposition“ (d.h. Ausgestaltung als Minderheitenrechte) – schafft politische Transparenz und kann zum Anknüpfungspunkt weiterer Maßnahmen werden (z.B. Art. 67 GG). a) Kontrollrechte im Einzelnen ▪ Zitier- und Interpellationsrecht (Art. 43 I GG) ➢ Impliziert Pflicht, „Rede und Antwort zu stehen“ ➢ Beschlussfassung mit einfacher Mehrheit der Anwesenden! ▪ Frage- bzw. Beratungsrechte ➢ Große Anfrage (GA) einer Fraktion oder 5% der Mitglieder des BT an Bundesregierung (§§ 100 ff. i.V.m. §§ 75, 76 GO BT) => bei Nichtbeantwortung kann GA auf Tagesordnung des BT gehoben werden (vgl. § 102 GO BT) ➢ Kleine Anfrage einer Fraktion oder 5% der Mitglieder des BT an Bundesregierung (§§ 104 i.V.m. §§ 75, 76 GO BT) => Auskunft über bestimmt bezeichnete Bereiche ➢ Fragen einzelner Mitglieder des BT an Bundesregierung (§ 105 GO BT) => kurze Einzelfrage ➢ Aktuelle Stunde (§ 106 GO BT) => Aussprache über ein bestimmt bezeichnetes Thema im Plenum ▪ Kontrolle speziell im Verteidigungsbereich ➢ Verteidigungsausschuss (Art. 45a II GG): hat Rechte eines Untersuchungsausschusses (s. nachfolgend b) Seite 53 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 ➢ Wehrbeauftragter (Art. 45b GG): „Hilfsorgan“ des BT bei der parlamentarischen Kontrolle ➢ Haushaltsplan legt zahlenmäßige Stärke und Organisationsgrundzüge der Streitkräfte (Bundeswehr) fest (Art. 87a I 2 GG). b) Insbesondere: Der Untersuchungsausschuss Fall 1: Die SPD-Fraktion des 11. Deutschen Bundestages beantragt die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der u. a. folgende Frage klären soll: „In welcher Weise haben sich Bundeskanzler, andere Mitglieder der Bundesregierung, Ministerpräsidenten von Bundesländern, Mitarbeiter von Ministerien oder anderen staatlichen Stellen und der bayerische Ministerpräsident mit der beabsichtigten Lieferung von Unterseebooten oder Konstruktionsunterlagen für den Unterseebootsbau an die Republik Südafrika befasst, obwohl derartige Lieferungen nach internationalem und deutschem Recht verboten sind?“ Der Deutsche Bundestag weigert sich, dem Einsetzungsantrag zu entsprechen. 1. Wie kann die SPD-Fraktion ihr Ziel gerichtlich durchsetzen? 2. Erfolgsaussichten? Fall 2: (Abwandlung zu Fall 1) Unterstellt, dem Antrag der SPD-Fraktion wurde stattgegeben und ein Untersuchungsausschuss wurde eingesetzt: Der Ausschuss beantragt nunmehr die Beschlagnahme von Akten und Unterlagen der HowaldtswerkeDeutsche Werft AG und des Ingenieurkontors Lübeck. 1. Darf der UA dies beantragen? 2. Wer ist für die Anordnung der Beschlagnahme zuständig? 3. Wie ist zu verfahren, wenn dem Ermittlungsrichter des BGH Zweifel an der Zulässigkeit des Untersuchungsauftrags kommen? (angelehnt an AG Bonn, NJW 1989, 1101 f. – Blaupausen-UA) Fall 3: (Abwandlung zu Fall 1) Den Oppositionsfraktionen des BT wird bekannt, dass sich die Bundesregierung aktuell mit der Frage beschäftigt, U-Boote nach Südafrika zu exportieren. Sofort wird die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beantragt. Muss die BT-Mehrheit diesem Ersuchen entsprechen? Seite 54 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Fall 4: (Abwandlung zu Fall 1) In Fall 1 soll der Untersuchungsauftrag zudem auf den Manager M der Howaldtswerke-Deutsche Werft AG erstreckt werden. So soll untersucht werden, ob M Kontakt zur Prostituierten P hatte, von der vermutet wird, dass sie vom südafrikanischen Geheimdienst auf M angesetzt wurde, um diesen über den Beratungsstand innerhalb der Bundesregierung auszuspionieren. 1. M sieht durch dieses Vorgehen sein Ansehen in der Öffentlichkeit sowie seine Ehe gefährdet. Wie und mit welchem Erfolg kann er sich gegen die Einsetzung gerichtlich zur Wehr setzen? 2. Wie könnte der UA den Bedenken des M Rechnung tragen? Leitentscheidungen: BVerfGE 67, 100 ff. – Flick; 77, 1 ff. – Neue Heimat aa) Funktionen des Untersuchungsausschusses ▪ Kontrolle der Regierung durch das Parlament, insbesondere durch die Opposition („schärfstes Schwert“ der Opposition wegen der Ermittlungsbefugnisse) ▪ Aufklärung eines Sachverhalts (Tatsachen) zu politischen Zwecken (nicht zur Feststellung strafrechtlicher Schuld!) bb) Anforderungen an die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses (1) Ordnungsgemäße Einsetzung des Untersuchungsausschusses ▪ Einsetzungsbeschluss des BT (Art. 44 I 1 GG, § 1 I u. II PUAG) ➢ Mehrheitsenquête = auf Verlangen der Mehrheit durch Mehrheitsbeschluss ➢ Minderheitsenquête = auf Verlangen einer qualifizierten Minderheit durch (gebundenen) Mehrheitsbeschluss ▪ Untersuchungsgegenstand muss hinreichend bestimmt bezeichnet worden sein (grds. keine Abänderung des beantragten Gegenstands aus Zweckmäßigkeitsgründen oder politischen Erwägungen – vgl. §§ 2 II, III, 3 PUAG); dient dem Schutz der einsetzungsberechtigten Parlamentsminderheit und dem Schutz möglicher Untersuchungsbetroffener. ▪ Verfassungsrechtlich zulässiger Untersuchungsgegenstand ➢ Aufklärung von Tatsachen ➢ Zuständigkeit des BT („Korrolartheorie“ – Zweig) – vgl. § 1 III PUAG; insbes. gilt: • Wahrung der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung => Abgrenzung zu Landesangelegenheiten (Bundesstaatsprinzip) => Fall 1? Die Aufklärung des Verhaltens der Ministerpräsidenten und ggf. von Mitarbeitern der Landesministerien fällt grds. nicht in den Zuständigkeitsbereich des BT. Hierzu müssten die Landesparlamente eigene Untersuchungsausschüsse bilden. Seite 55 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht • HWS 2023/2024 Kein Eingriff in den Kernbereich der anderen Gewalten => Abgrenzung zu anderen Organen (Gewaltenteilungsgrundsatz). Insbes.: Schutz des „Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung“ (vgl. BVerfGE 67, 100 [139]; 77, 1 [59]; 110, 199 [214, 222]; 124, 78 [120]) = nicht ausforschbarer Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich der Bundesregierung. Hierzu „gehört jedenfalls die Willensbildung der Regierung, sowohl hinsichtlich der Erörterungen im Kabinett als auch bei der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen, die sich vor allem in ressortinternen und -übergreifenden Abstimmungsprozessen vollzieht. (...) Solange die interne Willensbildung der Bundesregierung nicht abgeschlossen ist, besteht daher kein Anspruch des Parlaments auf Unterrichtung.“ (BVerfGE 131, 152 ff., Urt. v. 19.7.2012 – 2 BvE 4/11 –, Rdnr. 115) => Fall 3? Die BT-Mehrheit muss dem Ersuchen nicht entsprechen, da es verfassungswidrig wäre. Es liefe auf eine Ausforschung des Kernbereichs der exekutiven Eigenverantwortung durch den Versuch eine „Mitregierens“ des Parlaments über den Hebel eines Untersuchungsausschusses hinaus. Entscheidung hierzu: BVerfG, 2 BvE 3/07, Beschluss vom 17. Juni 2009 = BVerfGE 110, 199 = NVwZ 2009, 1353 ff. – BND-Untersuchungsausschuss • Öffentliches Interesse am Untersuchungsgegenstand => Fall 4? Trotz des grds. privaten Verhaltens des M besteht ein öffentliches Interesse, da der Verdacht einer Spionage gegen die Bundesrepublik Deutschland im Raum steht. (2) Befugnisse des Untersuchungsausschusses ▪ Ergeben sich aus dem Untersuchungsauftrag (vgl. § 17 I PUAG) ▪ Auf Beweiserhebung findet Art. 44 II i.V.m. §§ 17 ff. PUAG Anwendung => Fall 2? Vgl. § 29 III PUAG ▪ Nota bene: Wie auch in gerichtlichen Verfahren muss ein Beweisantrag im Untersuchungsausschussverfahren das Beweismittel hinreichend präzise benennen und das Beweisthema hinreichend bestimmen (BVerfGE 138, 45 Rn. 34 – NSA-Untersuchungsausschuss). (3) Verfassungsrechtliche Einwände gegen Beweiserhebung => Entgegenstehende Rechte anderer Verfassungsorgane (vgl. z.B. § 18 I PUAG) und/oder privater Dritter (z.B. Persönlichkeitsrechte aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I, Geschäftsgeheimnisse [Art. 12 I, Art. 14 I GG und Geschäftsgeheimnisgesetz]; vgl. auch Art. 44 II 2 GG u. § 14 PUAG) Seite 56 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 => Fall 4? M ist durch eine Zeugenvernehmung in seinem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) beeinträchtigt. Um dieses Recht zu schützen, müsste gem. § 14 I Nr. 1 PUAG die Öffentlichkeit bei der Zeugenvernehmung ausgeschlossen werden. Seine Zeugenaussage unterfiele zudem dem Geheimhaltungsschutz (§ 15 PUAG). cc) Rechtsschutz (1) Art. 44 IV GG => Betrifft nur den Abschlussbericht des UA (Ausnahme von Art. 19 IV GG); Schutz erfolgt über § 32 PUAG. (2) Organstreitverfahren (Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 63 ff. BVerfGG) => Rechtsschutz für Verfassungsorgane (Organteile) bei Streitigkeiten über die Einsetzung/Nichteinsetzung eines UA => Fall 1? Die SPD-Fraktion kann ein Organstreitverfahren einleiten mit dem Ziel, festzustellen, dass die Parlamentsmehrheit sie in ihrem Recht aus Art. 44 I GG verletzt hat. Der Antrag dürfte teilweise Erfolg haben (vgl. §§ 2 III, 36 I PUAG). Allg. zur Abgrenzung Art. 93 I Nr. 1 GG/§ 36 I PUAG: Dem BGH sind nach dem PUAG keine verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten zugewiesen (vgl. § 36 II PUAG), sondern allein die verfahrensrechtliche Überprüfung der Ausschussarbeit im Einzelnen, bei der die – dem Ablauf eines Strafprozesses vergleichbar – Ordnung des Untersuchungsverfahrens im engeren Sinne in Rede steht (z.B. Erhebung bestimmter Verweise, Verlesung bestimmter Schriftstücke, Herausgabe von Gegenständen). Das Organstreitverfahren zielt demgegenüber auf die Auslegung des Grundgesetzes über die Rechte und Pflichten von Verfassungsorganen. Die geltend gemachte Rechtsposition muss deshalb in einem Verfassungsrechtsverhältnis gründen (BVerfGE 138, 45 Rn. 37 f. – NSA-Untersuchungsausschuss, wo das BVerfG den Streit über die Modalitäten eines Zeugenvernehmungsortes und -zeitpunkts [Edward Snowden] in die Zuständigkeit des BGH verweist.) (3) Rechtsschutz für Grundrechtsträger/Bürger ▪ Gegen einzelne UA-Maßnahmen: BGH anrufen (§ 36 I PUAG) => Fall 2? Gemäß § 29 III PUAG ist der Ermittlungsrichter beim BGH für die Anordnung der Beschlagnahme zuständig. Kommen ihm Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des Einsetzungsbeschlusses findet das Vorlageverfahren nach § 36 II 2 PUAG i.V.m. § 82a BVerfGG Anwendung. ▪ Wenn sich der Streit im Kern um eine verfassungswidrige Einsetzung von Untersuchungsausschüssen dreht: Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG => Fall 4? Seite 57 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 M müsste zunächst beim BGH gem. § 36 I PUAG Beschwerde gegen seine Ladung nach § 20 I PUAG einlegen. Die Beschwerde würde sich inhaltlich auf den Vorwurf einer verfassungswidrigen Einsetzung des Untersuchungsausschusses stützen. Sollte sich der BGH dem anschließen, muss er diese Frage gem. § 36 II 1 PUAG i.V.m. § 82a BVerfGG dem BVerfG zur Entscheidung vorlegen. Sollte er Ms Auffassung nicht teilen, könnte M gegen den abweisenden Beschluss des BGH Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erheben. Zur Vertiefung: − Heberle/Schulz, Prüfungswissen zum Untersuchungsausschussrecht, JuS 2010, 969 ff. − Pabel, BVerfGE 67, 100 – Flick. Zum Recht der Untersuchungsausschüsse, in: Menzel/MüllerTerpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 385 ff. 4. Mitwirkung in bestimmten Angelegenheiten ▪ In Einzelfällen bejaht das BVerfG die Existenz eines sog. Parlamentsvorbehalts, der nicht in Gesetzesform, sondern durch einen sog. schlichten (aber bindenden) Parlamentsbeschluss zur Geltung gebracht wird. ▪ Relevant ist dies vor allem für die Frage der Entsendung der Streitkräfte ins Ausland (vgl. Art. 87a II GG). Das BVerfG hat diesen ungeschriebenen Parlamentsvorbehalt zum einen aus der essenziellen Bedeutung der Entscheidung über „Krieg und Frieden“, aber auch aus einer Gesamtschau der wehrverfassungsrechtlichen Vorschriften des GG (Art. 115a, Art. 80a GG) hergeleitet. ▪ Einzelheiten hierzu sind im Parlamentsbeteiligungsgesetz (ParlBG) vom 18.3.2005 (BGBl. I S. 775) geregelt. Leitentscheidungen: BVerfGE 68, 1 ff. – Pershing II; 90, 286 ff. – AWACS; BVerfGE 121, 135 ff. – AWACS II Zur Vertiefung: - Hölscheidt/Limpert, Einsatz der Bundeswehr innen und außen, JA 2009, 86 ff. - Sachs, Zustimmungsrechte des Bundestages zu Bundeswehreinsätzen (Bspr. zu BVerfG, Beschluss vom 4.5.2010 – Bundeswehreinsatz beim G8-Gipfel in Heiligendamm), JuS 2010, 1036 ff. - Müller-Terpitz, BVerfGE 68, 1 – Pershing, in: Menzel/Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 393 ff. 5. Repräsentations- und Öffentlichkeitsfunktion => BT ist das „unmittelbare Repräsentationsorgan des Volkes“ (BVerfG), in dem gesellschaftliche Fragen öffentlich diskutiert werden (vgl. Art. 42 I GG). Seine Repräsentationsfunktion nimmt der BT dabei grds. in seiner Gesamtheit durch die Mitwirkung aller Abgeordneten wahr (vgl. BVerfG, Urt. v. 28.2.2012, 2 BvE 8/11 – StabMechG). Seite 58 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 II. Wahl des Bundestages 1. Verfassungsrechtliche Wahlgrundsätze ▪ Art. 38 I GG ▪ Bundesverfassungsrechtliche Wahlgrundsätze gelten über Art. 28 I 2 GG auch für Länder und Kommunen (= Kreise und Gemeinden). ▪ Die Wahlgrundsätze können gegeneinander abgewogen werden und damit wechselseitig Einschränkungen rechtfertigen. a) Allgemeinheit der Wahl ▪ Wahlberechtigt sind alle Bürger, ohne Ansehung von Ethnie, Religion, Geschlecht, Bildungsstand, Einkommen etc. (vgl. auch Art. 3 III GG). ▪ Gilt sowohl für das aktive als auch das passive Wahlrecht ▪ = im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit bei der Zulassung zur Wahl zu verstehen. Differenzierungen können nur durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und mindestens von gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl sind. ▪ Gerechtfertigte Einschränkungen: ➢ Wahlalter (Art. 38 II GG): Vollendung des 18. Lebensjahres; Hintergrund: Der Wahlberechtigte muss zur politischen Kommunikation befähigt sein und hinreichende Einsichtsfähigkeit besitzen, um die Bedeutung der Wahlen zu erfassen. ➢ §§ 12, 13 BWahlG (deutsche Staatsangehörigkeit, mindestens 3-monatiger Aufenthalt im Bundesgebiet, keine bes. Wahlausschlussgründe – vgl. §§ 39 II BVerfGG, 45 StGB) – vgl. Art. 38 III GG Bsp.: BVerfG, Beschl. v. 4.7.2012 – 2 BvC 1/11 u. 2 BvC 2/11 = BVerfGE 132, 39 ff.: Die Anknüpfung der Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen allein an einen früheren dreimonatigen Daueraufenthalt im Bundesgebiet überschreitet die Grenzen des dem Gesetzgeber zustehenden Gestaltungsspielraums; sie verletzt den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. b) Unmittelbarkeit der Wahl ▪ Zwischen Wahlentscheidung und Wahlergebnis darf keine Entscheidung einer anderen Person oder Einrichtung treten. ▪ Insbesondere ein Wahlmänner-System (wie in den USA) ist deshalb unzulässig. ▪ Listennachrücken als Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit (vgl. § 48 I 1 BWahlG)? => Nein, da feststehende Liste. „Ersatzleute“ wurden am Tag der Wahl mitgewählt (BVerfGE 97, 317) ▪ „Ruhendes Mandat“: Mitglied der Regierung lässt Mandat zunächst ruhen und verdrängt nach Ausscheiden aus Regierung nachgerückten Mandatsträger? => unzulässig Seite 59 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz ▪ Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Nichtberücksichtigung eines Listenbewerbers nach dessen Parteiausschluss? => unzulässig ▪ Computergestützte Wahl als Verstoß gegen die Unmittelbarkeit? ▪ „Familienwahlrecht“ („Treuhändermodell“) als Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz? c) Freiheit der Wahl ▪ Grundsatz der Freiheit der Wahl verbietet unzulässige Wahlbeeinflussung durch (auch nur mittelbaren) Zwang oder Druck auf die Entscheidungsfreiheit des Wählers von außen. ▪ Problembereiche: ➢ Wahlwerbung durch Amtsträger oder staatliche Organe (z.B. Öffentlichkeitsarbeit der Regierung – BVerfGE 44, 125 ff.) (nicht durch Parteien im Wahlkampf!) => unzulässig ➢ Täuschung oder Ausübung wirtschaftlicher Macht durch Private (z.B. Arbeitgeber auf Arbeitnehmer) => unzulässig ➢ „Hirtenbriefe“ der katholischen Kirche => zulässig ➢ Massive Finanzierung der Wahl durch „Schwarzgeld“? (vgl. hierzu BVerfGE 103, 111 [134 f.], HessWahlprüfG, NJW 2001, 1054 u. Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 47a, 50, 67 – hess. Landtagswahl) ➢ Einführung einer Wahlpflicht als Verstoß gegen das Prinzip der Freiheit der Wahl? Fall: Um die gleichmäßige Repräsentation von Frauen und Männern im Bundestag zu erreichen, wurde in das Bundeswahlgesetz folgende Vorschrift aufgenommen: Amtliche Stimmzettel der Bundestagswahl sollen den – der Formulierung des Grundgesetzes entnommenen – Aufdruck enthalten: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Des Weiteren sollen die Stimmzettel Angaben über den gegenwärtigen Geschlechteranteil im Bundestag, sowie ferner Angaben des Geschlechteranteils auf dem Wahlvorschlag enthalten. Wäre eine solche Vorschrift mit dem Grundsatz der Freiheit der Wahl vereinbar? (vgl. VerfGH Rheinland-Pfalz, Bschl. V. 4.4.2014, Az. VGH A 15/14 u. A 17/14 zum Kommunalwahlrecht in Rheinland-Pfalz) Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 11) ▪ Grundsatz der Freiheit der Wahl gewährleistet den unbedingten Schutz vor staatlicher Einwirkung auf den Inhalt der Entscheidung des Wählers im Zeitpunkt der Stimmabgabe durch die Gestaltung des Stimmzettels. Seite 60 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 ▪ Hinzunehmen sind lediglich solche Einschränkungen, die aus formalen Gründen zur Ordnung des Wahlverfahrens stattfinden. ▪ Für die Gestaltung von Stimmzetteln bedeutet dies, dass solche Einschränkungen gerechtfertigt sind, die die äußere Form und das Verfahren der Stimmabgabe betreffen, sich also auf die notwendige Regelung des Wahlvorgangs beziehen und sich i.R.d. Funktion des Stimmzettels (sichere und nachprüfbare Erfassung des Wahlergebnisses, Gewährleistung des Wahlgeheimnisses) halten. ▪ Die Stimmabgabe als solche ist aber von parteiergreifender staatlicher Einflussnahme/sonstiger inhaltlicher Einwirkung freizuhalten. ▪ Grundsatz der Freiheit der Wahl verdichtet sich im Zeitpunkt der Ausübung des Stimmrechts zu einem Schutz auch der räumlichen Sphäre, in der sich der individuelle politische Wille des einzelnen Wählers im Zeitpunkt der Wahl ungestört entfalten können muss. ▪ Eine inhaltliche Einwirkung kann auch nicht damit gerechtfertigt werden, sonstigen materiellen Verfassungswerten – etwa Gleichheits- und Freiheitsrechten oder Staatszielbestimmungen – zu dienen. ▪ Die Wähler sind bei Ausübung ihres Wahlrechts weder unmittelbar noch mittelbar an Grundrechte gebunden, sodass der Gesetzgeber bei Ordnung des Wahlverfahrens keine künstlichen, in der Verfassung selbst nicht angelegten Spannungslagen zwischen dem Grundsatz der Freiheit der Wahl und einzelnen materiellen Verfassungsaufträgen herbeiführen darf. ▪ Geschlechterparitätische Elemente des Stimmzettels entfalten aus Sicht eines mündigen Wählers appellativen Charakter, durch die Wahl für tatsächliche Gleichberechtigung zu sorgen. ▪ Die Vorschrift ist mit dem Grundsatz der Freiheit der Wahl nicht vereinbar. Vgl. ferner ThürVerfGH, NVwZ 2020, 1266 ff. zum thüringischen Paritätsgesetz (Leitsätze): 1. Das Thüringer Paritätsgesetz, das den Parteien starre paritätische Quoten für die Aufstellung der Landeslisten vorgibt, verstößt gegen die Thüringer Verfassung und ist deshalb nichtig. 2. Die gesetzliche Verpflichtung politischer Parteien, ihre Landeslisten abwechselnd mit Frauen und Männern zu besetzen, beeinträchtigt die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Recht auf freie und gleiche Wahlen (Art. 46 I ThürVerf) und politische Parteien in ihrer Betätigungs- und Programmfreiheit sowie in ihrem Recht auf Chancengleichheit (Art. 9 S. 2 ThürVerf i.V.m. Art. Art. 21 I GG). 3. Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für diese Beeinträchtigungen besteht nicht. Auch das Gleichstellungsgebot des Art. 2 II ThürVerf kann die gesetzliche Verpflichtung zur paritätischen Besetzung von Wahllisten für Landtagswahlen nicht rechtfertigen. Zwar reicht das Gleichstellungsgebot des Art. 2 II 2 ThürVerf inhaltlich sogar weiter als das der verwandten bundesverfassungsrechtlichen Bestimmung des Art. 3 II 2 GG. Aber Wortlaut und Entstehungsgeschichte des Art. 2 II 2 ThürVerf stehen einer Auslegung als Rechtfertigung für gesetzlich vorgegebene paritätische Quotenregelungen entgegen. Seite 61 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 d) Gleichheit der Wahl ▪ Alle Bürger müssen in gleicher Weise wählen können bzw. gewählt werden können (aktives und passive Wahlgleichheit). ▪ Insbesondere folgt hieraus: ➢ Mehrheitswahlsystem: gleicher Zählwert der Stimme (Zählwertgleicheit – „one man, one vote“) – i.Ü. genießt Stimme nur „Erfolgschancengleichheit“ • Bsp.: Personenwahl in Wahlkreisen mit (einfacher) Mehrheit • Nur Erfolgschancengleichheit, da die Stimmen für den unterlegenen Bewerber den Erfolgswert „null“ haben • Mehrheitswahlrecht wäre nach h.M. zulässig ➢ Verhältniswahlsystem: gleicher Zähl- und Erfolgswert der Stimme • Listenwahl: Verteilung der Sitze nach prozentualem Stimmanteil • Erfolgswertgleichheit, denn jede Stimme hat den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments • Gegenwärtiges Wahlsystem nach § 1 I 2 BWahlG (personalisierte Verhältniswahl) ▪ Grds. bezieht sich Wahlrechtsgleichheit nicht nur auf den Wahlakt selbst, sondern auch auf Vorgänge im Vorfeld und im Nachgang zur Wahl (z.B. Zulassung zur Wahl, Wahlwerbung etc.). ▪ = Streng formaler Grundsatz der Gleichbehandlung der an der Wahl beteiligten Personen und der diese Personen unterstützenden Parteien (Chancengleichheit der Parteien!); Durchbrechung nur durch zwingende Gründe gerechtfertigt: Einschränkungen möglich, soweit sie durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann (z.B. 5 % Sperrklausel, § 6 III BWG) ▪ „Familienwahlrecht“? „Paritätische Listen“? Zur Vertiefung: Otto, Familienwahlrecht, JuS 2009, 925 ff. – Übungsfall e) Geheimheit der Wahl ▪ Wahl muss so durchgeführt werden, dass andere Personen von der individuellen Wahlentscheidung keine Kenntnis erlangen können. ▪ Fälle: 1. A verkündet im Wahllokal, dass er seine Stimme öffentlich abgeben werde. Muss der Wahlleiter ihn hieran hindern? => (+); Verzicht des Einzelnen auf Geheimheit der Wahl nicht möglich, da allgemeiner Grundsatz im Interesse aller Wähler (nicht-disponibler Wahlrechtsgrundsatz) 2. Als A das Wahllokal verlässt, erzählt er anderen Wahlberechtigten/den Medien freimütig, wie er sich entschieden hat. Muss der Wahlleiter ihn auch hieran hindern? Seite 62 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 => (-); konkrete Wahlentscheidung hierdurch nicht mehr beeinflussbar; i.Ü. ist Aussage des A nicht überprüfbar. ▪ Briefwahl (§ 36 BWahlG) als Verstoß gegen Geheimheit der Wahl? => Prinzip der Geheimheit der Wahl wird beeinträchtigt, da diese nicht sichergestellt werden kann; Briefwahl führt allerdings zur Verbreiterung der Wahlbeteiligung und ist deshalb wegen der Allgemeinheit der Wahl gerechtfertigt. ▪ Online-Wahlen als Verstoß gegen die Geheimheit der Wahl? => (+), da Online-Verbindung zu unsicher ist und ausgespäht werden kann (jedenfalls, wenn die Wahl über das offene Internet erfolgt). f) Öffentlichkeit der Wahl ▪ Problem: computergestützte Wahlen (Wahlgeräte – vgl. § 35 BWahlG). ▪ BVerfGE 123, 39 ff. – Wahlcomputer (2009): ➢ Der (ungeschriebene) Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl aus Art. 38 i.V.m. Art. 20 I und II GG gebietet, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen, soweit nicht andere verfassungsrechtliche Belange eine Ausnahme rechtfertigen. ➢ Beim Einsatz elektronischer Wahlgeräte müssen die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können. Speziell dazu: - Mähner, Zulässigkeit des Einsatzes von Wahlcomputern, ZjS 2009, 733 ff. - Patella, „Wählen ist kein Computerspiel“, Jura 2009, 776 ff. - Wild, BVerfGE 123, 39 – Wahlcomputer, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 847 ff. Abschließend zur Vertiefung: Burkiczak, JuS 2009, 805 ff.; Stumpf, Wahlrechtsgrundsätze auf Abwegen, JuS 2010, 35 ff. (Übungsfall). g) Änderungsfestigkeit der Wahlrechtsgrundsätze (Art. 79 III GG) ▪ Soweit Wahlrechtsgrundsätze konstitutiv für das Wesen der Demokratie sind, sind sie auch für den verfassungsändernden Gesetzgeber „tabu“, Art. 79 III GG 1. (+) jedenfalls bezüglich Wahlrechtsgleichheit (allg. Auffassung) (und m.E. auch bezüglich der Allgemeinheit, Geheimheit und Freiheit der Wahl) 2. (-) nicht jedoch bezüglich der Unmittelbarkeit (h.M.) Seite 63