Skript Staatsrecht I Teil 6 (1) PDF
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Universität Mannheim
2023
Prof. Dr. R. Müller-Terpitz
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This document is a lecture script on German constitutional law, specifically focusing on the Federal Government. It covers topics such as the composition, duties and powers of the German government. The script is part of a higher-level course.
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Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 C. Bundesregierung Die Bundesregierung ist – wie der BT und der BR – ein Kollegialorgan. Sie setzt sich gem. Art. 62 GG aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministern zusammen. I. Zusammensetzung der Bundesregier...
Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 C. Bundesregierung Die Bundesregierung ist – wie der BT und der BR – ein Kollegialorgan. Sie setzt sich gem. Art. 62 GG aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministern zusammen. I. Zusammensetzung der Bundesregierung 1. Bundeskanzler ▪ Der Bundeskanzler leitet die Geschäfte der Bundesregierung (vgl. Art. 65 S. 4 GG). ▪ Er ist aber nicht nur „primus inter pares“, sondern bestimmt zugleich die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung (vgl. Art. 65 S. 1 GG – dazu unten II.1.). Gem. § 1 BMinG steht der Bundeskanzler zum Bund in einem „öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis“ (kein Beamtenverhältnis!). Er kann gem. § 4 BMinG nicht zugleich Mitglied einer Landesregierung sein oder gleichzeitig ein anderes besoldetes Amt bzw. Gewerbe ausüben (vgl. § 5 BMinG). 2. Bundesminister Bundesminister sind zum einen Regierungsmitglieder und zum anderen Fachminister (= Leiter einer obersten Fachbehörde). Bzgl. ihrer Amtsstellung vgl. oben 1. 3. Staatssekretäre („beigegebene Mitglieder“ ohne Mitgliedsstellung) Beamtete Staatssekretäre (= politischer Beamte) = Kopf des Verwaltungsapparats im Ministerium und als solcher das Bindeglied zwischen den Mitarbeitern des Ministeriums und dem Minister Parlamentarische Staatssekretäre (im BK-Amt und Auswärtigen auch Staatsminister genannt) = Bindeglied zwischen Minister und Parlament bzw. Öffentlichkeit. Muss i.d.R. Bundestagsabgeordneter sein (für Einzelheiten vgl. ParlStG sowie §§ 14, 14a u. 23 GO BReg). II. Aufgaben und Befugnisse der Bundesregierung 1. Überblick ▪ Die BReg ist – vor allem zusammen mit dem BT – ein Organ der politischen Staatsleitung. ▪ Für die interne Aufgabenverteilung bestimmend ist das Kanzler-, Ressort- und Kollegialprinzip: 2. Kanzlerprinzip ▪ Art. 65 S. 1 GG: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.“ (= Kanzlerprinzip; auch als Richtlinienkompetenz bezeichnet) Seite 91 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 ▪ = grundlegende politische Leitentscheidungen, welche der BK dem einzelnen Minister, aber auch dem Kollegium vorgeben darf. Diese Entscheidungen binden die Bundesminister, nach h.L. auch das Kabinett als solches, nicht aber den Bundestag und die Ministerialbeamten nur mittelbar. ▪ Kabinettsbildungskompetenz (Art. 64 GG) und Geschäftsleitungskompetenz (Art. 65 S. 4 GG) 3. Ressortprinzip ▪ Art. 65 S. 2 GG: „Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und in eigener Verantwortung.“ (= Ressortprinzip) ▪ Sonderrechte einzelner Minister: ➢ Finanzminister (vgl. Art. 112 GG, §§ 28 II 2 BHO, 26 I GO BReg) ➢ Verteidigungsminister (vgl. Art. 65a GG) ➢ Innen- und Justizminister (vgl. § 26 II GO BReg) Sonderproblem: Ministerielle Warnungen (dazu noch näher im Teil Staatsrecht II - Grundrechte). Personal- und Organisationsgewalt sowie Weisungsbefugnis im Bereich des eigenen Ministeriums 4. Kollegialprinzip ▪ Im Regierungskollegium gilt das Kollegialprinzip. ▪ Beispiele: ➢ Art. 65 S. 3 GG ➢ Art. 80 I 1 Alt. 1 GG ➢ Art. 84 II GG ➢ Art. 76 I GG ➢ Art. 93 I GG ➢ § 15 GO BReg ▪ Zur Beschlussfassung des Kollegiums vgl. §§ 20 u. 24 GO BReg (Umlaufverfahren! – zu letzterem BVerfGE 91, 148 ff.) ▪ Nota bene: Wenn in Verfahren vor dem BVerfG die Bundesregierung parteifähig ist, ist für die Klageerhebung deshalb ein Kabinettsbeschluss nötig. ▪ Kompetenzen des Regierungskollegiums: Rederecht im BT (Art. 43 II GG); Gesetzesinitiativrecht (Art. 76 I und II GG); Erlass von Rechtsverordnungen (Art. 80 I GG); Rechte zur Anrufung des BVerfG (Art. 93 I Nrn. 1, 2, 3 und 4; 18, 21, 126 GG); Organisationsgewalt für Bundesverwaltung (Art. 86 GG); Not- und Verteidigungsfälle (Art. 35 III, 80a, 91 II, 115a ff. GG) Seite 92 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 III. Konstituierung der Bundesregierung 1. Wahl und Ernennung des Bundeskanzlers ▪ Vgl. Art. 63 GG ▪ Nota bene: ➢ Dem BP steht nach Art. 63 I GG politisches Ermessen zu. ➢ Nach Art. 63 II u. III GG ist die sog. „Kanzlermehrheit“ erforderlich. ➢ Nach Art. 63 IV GG reicht auch einfache Mehrheit; BP hat dann aber Auflösungsrecht. 2. Ernennung der Bundesminister ▪ Vgl. Art. 64 GG ▪ Nota bene: BP muss i.d.R. ernennen; er kann lediglich rechtliche Voraussetzungen der Ernennung überprüfen (z.B. ob Kandidat Deutscher ist; str. für das Merkmal der Verfassungstreue). ▪ Vgl. i.Ü. Art. 69 I GG („Vizekanzler“) 3. Ressortzuschnitt Unterfällt der Organisationsgewalt des BK. Allerdings gewährleisten Art. 96, 108, 112 u. 114 GG die Existenz des Justiz- und Finanzministeriums und Art. 65a GG die Existenz des Verteidigungsministeriums. „Organisatorischer Wesentlichkeitsvorbehalt“ (so das LVerfGH NRW, NJW 1999, 1243 ff.) existiert nicht. IV. Amtszeit der Bundesregierung 1. Bundeskanzler Regelfall: Art. 69 II und III GG (nicht: nach negativer Vertrauensfrage, da die Möglichkeit besteht, als „Minderheitenkanzler“ weiter zu regieren). Ausnahme: „Konstruktives Misstrauensvotum“ (Art. 67 GG) 2. Bundesminister Vgl. Art. 69 II GG Durch freiwilligen Rücktritt (d.h. Amtsverzicht) Durch Entlassung, Art. 64 GG (insoweit kein Ermessen des BP!) Kein konstruktives Misstrauensvotum gegen einzelne Minister möglich! Seite 93 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Zur Vertiefung: Schenke, Die grundgesetzliche Ausprägung des parlamentarischen Regierungssystems, 2021, 713 ff.; Voßkuhle/Schemmel, Grundwissen – Öffentliches Recht: Die Bundesregierung, JuS 2020, 736 ff. Seite 94 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 D. Bundespräsident I. Allgemeine Stellung Der Bundespräsident (BP) ist ein Verfassungsorgan mit repräsentativer, integrativer und „staatsnotarieller“ Funktion. Daneben besitzt er – allerdings nur im eingeschränkten Maße – selbstständige politische Entscheidungsbefugnisse (vgl. Art. 63 IV 3, 68 I 1 u. 81 GG) mit dem Ziel, stabile Regierungsfunktionen zu wahren oder wiederherzustellen („Reservefunktionen“). Der BP ist deshalb nur sehr eingeschränkt ein Organ der politischen Staatsleitung. Dennoch ist er aufgrund seiner Repräsentations- und Integrationsfunktion berufen, sich zu Fragen von tragender sowie aktueller Bedeutung für das Staatsganze mit dem Gewicht seines Amtes und seiner Persönlichkeit zu äußern („Macht des Wortes“). Er hat dabei allerdings Zurückhaltung in politischen Fragen, insbesondere parteipolitische Neutralität zu wahren. II. Wahl des Bundespräsidenten Gemäß Art. 54 I 1 GG wird der BP ohne Aussprache von der Bundesversammlung gewählt. Wählbar ist jeder Deutsche, der das Wahlrecht zum Bundestage besitzt und das vierzigste Lebensjahr vollendet hat (Art. 54 I 2 GG) Zur Zusammensetzung der Bundesversammlung und zum Wahlverfahren vgl. Art. 54 III – VII i.V.m. dem Gesetz über die Wahl des BP durch die Bundesversammlung vom 25. April 1959. Fall Am Tag vor dem Zusammentritt der 13. Bundesversammlung (23.05.2009) reichte ein Mitglied der Bundesversammlung schriftlich die Anträge ein, eine eigene Geschäftsordnung zu beschließen und einen Tagesordnungspunkt „Vorstellung der Kandidaten“ aufzunehmen. Zeitlich danach wurde für die Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung ein Antrag für eine Geschäftsordnung eingereicht, nach welchem die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages sinngemäß mit der Maßgabe Anwendung finden sollte, dass Geschäftsordnungsanträge und andere Anträge nur schriftlich gestellt werden können sowie keine mündliche Begründung und eine Aussprache stattfindet. In der Bundesversammlung stellte der Bundestagspräsident als Leiter der Bundesversammlung zunächst die Beschlussfähigkeit fest und erklärte sodann, dass es mangels einer Geschäftsordnung an der Grundlage für Wortmeldungen oder Aussprachen fehle. Im Anschluss daran stellte er den von der Mehrheit getragenen Antrag zur Abstimmung, der von der Bundesversammlung angenommen wurde. Den Antrag, eine Vorstellung der Kandidaten bis zu 30 Minuten zu ermöglichen, ließ der Bundestagspräsident nicht zu. Die 14. Bundesversammlung (Zusammentritt am 30.06.2010) bestand aus insgesamt 1.244 Mitgliedern – 622 Mitglieder des Bundestages und 622 Mitglieder, die von den Länderparlamenten gewählt worden waren. In zehn Länderparlamenten stand eine einheitliche Liste mit nach Fraktionen getrennten Ersatzkandidaten zur Abstimmung. Ein Mitglied der Bundesversammlung reichte schriftlich drei Anträge ein mit der Ankündigung, eine Begründung erfolge mündlich. Für die Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung wurde schriftlich ein gemeinsamer Antrag für eine Geschäftsordnung eingereicht, die der von der 13. Bundesversammlung beschlossenen entsprach. Den ersten Antrag des Antragstellers, mit dem dieser die Rechtsgültigkeit der Wahl der Mitglieder der Bundesversammlung in Seite 95 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 zehn Ländern beanstandete, ließ der Bundestagspräsident nicht zu, ebenso wenig eine mündliche Begründung des Antrags. Im Anschluss daran stellte der Bundestagspräsident den von der Mehrheit getragenen Antrag zur Abstimmung, den die Bundesversammlung annahm. Den zweiten Antrag des Antragstellers, nach dem jeder Kandidaten Gelegenheit erhalten sollte, sich bis zu 30 Minuten vorzustellen, ließ der Bundestagspräsident ebenfalls nicht zu. Den dritten Antrag des Antragstellers, die Benennung von „Wahlbeobachtern“ zu gestatten, stellte er zur Abstimmung, ohne zuvor Gelegenheit zur mündlichen Begründung zu geben. Die Bundesversammlung lehnte den Antrag ab. Hat ein hiergegen (vom BVerfG verbundenes) gerichtetes Organstreitverfahren Aussicht auf Erfolg? Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 15) ▪ Anträge schon nicht statthaft. Feststellung nur dahingehend, ob beanstandete Maßnahme oder Unterlassung gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt. Rechtsgestaltende Wirkung oder Verpflichtung des Antragsgegners zu bestimmten Verhalten/Feststellung mit gestaltender Wirkung kann damit nicht erstrebt werden. ▪ Kein organschaftliches Recht hinsichtlich Zusammensetzung der Bundesversammlung – nur möglich, wenn Antragsteller Mitglied des Landtags, gegen dessen Wahlmodus er sich wehrt/in Vorschlagsliste aufgenommener Bewerber (vgl. § 5 BPräsWahlG). ▪ Aufgabe der Bundesversammlung: Wahl des Bundespräsidenten (vgl. Art. 54 I GG) als reines Kreationsorgan – Verfahren der Wahl korrespondiert mit der Stellung des BP, sodass Bundesversammlung Würde des BP unterstreichen soll. ▪ Öffentlichkeit in der Bundesversammlung hat andere Funktion als für den BT – entscheidend ist allein die Sichtbarkeit des Wahlakts in seiner realen und symbolischen Dimension; eine Aussprache findet gem. Art. 54 I 1 GG gerade nicht statt, um die Würde des Wahlakts, der dem parteipolitischen Streit enthoben sein soll, zu schützen. ▪ Das Ausspracheverbot richtet sich nicht nur an die Bundesversammlung, sondern auch an die Kandidaten. ▪ Leiter der Bundesversammlung ist berechtigt, solche Anträge, die nicht die Durchführung der Wahl an sich betreffen oder offensichtlich nicht im Einklang mit der Verfassung stehen, nicht zur Abstimmung zu stellen, wobei gleiche Stellung der Mitglieder der Bundesversammlung zu achten ist. ▪ Kandidatenvorstellung verstößt gegen Art. 54 I 1 GG, sodass Leiter der Bundesversammlung berechtigt ist, diesen Antrag – ebenso wie den Antrag der Erweiterung der Geschäftsordnung – nicht zur Abstimmung zu stellen. ▪ Mangels grundgesetzlicher Zuweisung eines Rederechts an Mitglieder des Bundestages kann ein solches auch nicht verletzt sein. ▪ Bei der Frage, welche Geschäftsordnungsregeln vom Leiter der Bundesversammlung zu beachten sind, ist das Verhalten des Bundestagspräsidenten nicht zu beanstanden, da der von der Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung getragene Antrag zur Geschäftsordnung erkennbar zum Ziel gehabt habe, in der Bundesversammlung generell keine Redebeiträge zuzulassen. Dieses Ziel wäre sonst unterlaufen worden. ▪ Der Grundsatz der Öffentlichkeit gebietet eine Zulassung von Wahlbeobachtern nicht. Seite 96 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Zur Vertiefung: Robert Pracht, Die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung gemäß Art. 54 GG, ZjS 6/2015, S. 573 ff. III. Amtszeit des Bundespräsidenten Das Amt des BP dauert fünf Jahre (Art. 54 II 1 GG). Anschließende Wiederwahl ist nur einmal zulässig (Art. 54 II 2 GG). Während seiner Amtszeit unterliegt der BP bestimmten Berufs- und Gewerbeverboten (vgl. Art. 55 GG), um die Neutralität des Amtes und seine Repräsentationsfunktion zu wahren. Bei Amtsantritt leistet der BP einen Amtseid (vgl. Art. 56 GG). Vertreter des BP ist der BRP (vgl. Art. 57 GG). IV. Funktionen und Befugnisse des Bundespräsidenten 1. Vertretung der Bundesrepublik Deutschland nach außen Vgl. Art. 59 I GG BP ist bei der völkerrechtlichen Außenvertretung des Bundes inhaltlich an die Vorgaben der dafür zuständigen Organe (insbesondere BReg und BT) gebunden. Vor allem der völkerrechtliche Vertragsschluss (vgl. Art. 59 I 2, II GG) ist deshalb ein bloßer Ratifikationsakt (Austausch der Vertragsurkunden mit dem Bedeutungsgehalt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland an den Vertrag gebunden fühlt). Zur inhaltlichen Aushandlung des Vertrags ist der BP nicht befugt. 2. Repräsentations- und Integrationsfunktion nach innen Der BP repräsentiert die Bundesrepublik Deutschland nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Dies folgt aus seiner Stellung als Staatsoberhaupt. Der BP füllt diese Repräsentations- und Integrationsfunktion Kraft der Autorität seiner Persönlichkeit und mit der „Macht des Wortes“ aus (d.h. in öffentlichen Reden, Empfängen, Schirmherrschaften, Preisverleihungen usw.). Es handelt sich hierbei um eine politisch bedeutsame, rechtlich aber nur schwer zu fassende Funktion. Vor allem bereitet es Schwierigkeiten, den aus der Repräsentations- und Integrationsfunktion fließenden Grundsatz der politischen Neutralität des BP zu präzisieren. Fall: Während des Bundestagswahlkampfs 2013 nimmt der BP an einer Gesprächsrunde vor mehreren hundert Schülern eines Schulzentrums teil. Dabei ging es auch um Proteste von Mitgliedern, Aktivisten und Unterstützern der NPD gegen ein Asylbewerberheim. Gegen diese Proteste gab es Gegendemonstration. Nach übereinstimmenden Medienberichten begrüßte der BP die gegen die NPD gerichtete Demonstrationen und sagte: „Wir brauchen Bürger, die auf die Straßen gehen, die den Spinnern ihre Seite 97 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Grenzen aufweisen. Ich bin stolz, Präsident eines Landes zu sein, in dem die Bürger ihre Demokratie verteidigen.“ Wäre ein von der NPD angestrengter Organstreit begründet? Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 16) ▪ Die Ausübung der Repräsentations- und Integrationsfunktion obliegt dem Amtsinhaber in autonomer Entscheidung; ihm kommt diesbezüglich ein weiter Gestaltungsspielraum zu. ▪ Soweit der BP auf Fehlentwicklungen hinweist oder vor Gefahren warnt und dabei Personen benennt, bedarf er hierzu keiner gesetzlichen Ermächtigung. ▪ Das Handeln des BP findet seine Grenzen in der Bindung an die Verfassung und Gesetze, Art. 1 III, 20 III GG. ▪ Der BP hat das Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit bei Wahlen (Art. 21 I GG i.V.m. Art. 3 I bzw. Art. 38 I GG) zu wahren. ▪ Dabei ist es Staatsorganen versagt, sich im Hinblick auf Wahlen mit Parteien oder Wahlbewerbern zu identifizieren und sie unter Einsatz staatlicher Mittel zu unterstützen oder zu bekämpfen. ▪ Äußerungen, die die Chancengleichheit der Parteien berühren, können gerichtlich nur dann beanstandet werden, wenn der BP mit ihnen unter evidenter Vernachlässigung seiner Integrationsaufgabe und damit willkürlich Partei ergreift. ▪ Auch zugespitzte Äußerungen können zulässig sein, nicht hingegen Schmähkritik. ▪ Die Bezeichnung als „Spinner“ stellt sich im Kontext der Äußerungen als Sammelbegriff für Menschen dar, die unbeeindruckt von den Folgen des Nationalsozialismus rechtsradikale, nationalistische und antidemokratische Überzeugungen vertreten („wehrhafte Demokratie“), sodass die Äußerungen das Recht der NPD aus Art. 21 I GG i.V.m. Art. 3 I bzw. Art. 38 I GG nicht verletzen – der Organstreit wäre mithin unbegründet. Zur Vertiefung: BVerfG 44, 125 (144); BVerfGE 136, 323 ff. – „Spinner“ 3. Ernennungsfunktion Der BP ernennt: ➢ den Bundeskanzler (Art. 63 II 2 GG), ➢ die Bundesminister (Art. 64 I GG), ➢ die Bundesrichter, die Bundesbeamten und die Bundeswehroffiziere (Art. 60 I GG). Die Ernennung kann grundsätzlich nur aus rechtlichen Gründen (z.B. fehlende Staatsangehörigkeit, evident fehlende Eignung i.S.d. Art. 33 II GG), nicht aber aus persönlichen, sachlichen oder gar politischen Gründen abgelehnt werden. BP hat Befugnis durch Anordnung des BP über die Ernennung und Entlassung der Beamtinnen, Beamten, Richterinnen und Richter des Bundes vom 23.6.2004 (BGBl. I S. 1286) grundsätzlich auf die Bundesbehörden übertragen (vgl. Art. 60 III GG). Seite 98 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 4. Ausfertigung von Gesetzen und Prüfungsrechte Verweigerung der Ausfertigung eines Gesetzes durch den Bundespräsidenten Bundespräsident Jahr Gesetz Gründe Theodor Heuss 1951 Gesetz über die Verwaltung der Einkommens- und Körperschaftssteuer Umstritten war, ob das als Einspruchsgesetz verabschiedete Gesetz der Zustimmung des Bundesrates bedurfte → formeller Fehler Heinrich Lübke 1961 Gustav Heinemann 1969 Gustav Heinemann 1970 Walter Scheel 1976 Richard v. Weizsäcker 1991 Gesetz über den Betriebs- und Belegschaftshandel Verstoß gegen Art. 12 GG Ingenieurgesetz Fehlende Kompetenz des Bundes → materieller Fehler → formeller Fehler Architektengesetz Fehlende Kompetenz des Bundes → formeller Fehler Gesetz zur Erleichterung der Wehrdienstverweigerung Zustimmung des Bundesrates fehlte 10. Gesetz zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes Mangels Gesetzesgrundlage wurde die Privatisierung für materiell verfassungswidrig gehalten (daraufhin wurde Art. 87d II ins GG eingeführt) → formeller Fehler → materieller Fehler Horst Köhler 2006 Gesetz zur Neuregelung der Flugsicherung Privatisierung der Flugsicherung, Verstoß gegen Art. 87d I GG → Horst Köhler 2006 Verbraucherinformationsgesetz Verstoß gegen Art. 84 I 7 GG → Seite 99 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Fälle strittiger Ausfertigung Bundespräsident Jahr Gesetz Gründe Theodor Heuss 1951 Blitzgesetz (Neugliederung des Bundesgebiets) Vereinbarkeit mit Art. 118 S. 2 GG angezweifelt, aber ausgefertigt Theodor Heuss 1952/53 Vertragsgesetze zum EVGVertrag Materielle Verfassungsmäßigkeit umstritten; Gutachten des BVerfG nach § 97 BVerfGG Ausfertigung nach Zögern Theodor Heuss 1957 Gesetz über die Errichtung der „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ Trotz formeller und materieller Fehler ausgefertigt Heinrich Lübke 1963 Haushaltsgesetz Bevor Bedenken über materielle Verfassungsmäßigkeit geäußert wurden, ausgefertigt Heinrich Lübke 1969 Vermögensbildungsgesetz Zweifel an Vereinbarkeit mit Grundrechten, Gutachten eingeholt, nach positiven Ergebnis ausgefertigt Gustav mann Heine- 1972 Ostvertragsgesetz Überprüfung auf Vereinbarkeit mit GG, bejaht, ausgefertigt Gustav mann Heine- 1974 Reformgesetz zu § 218 StGB Materielle Verfassungsmäßigkeit umstritten, aber ausgefertigt 1981 Staatshaftungsgesetz Kompetenz 1994 Neuregelung der Parteienfinanzierung Roman Herzog 1994 Atomgesetz Zustimmungsbedürftigkeit durch den Bundesrat geprüft Johannes Rau 2002 Zuwanderungsgesetz Abstimmung im Bundesrat Karl Carstens Richard Weizsäcker v. Seite 100 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Horst Köhler 2006 Luftsicherheitsgesetz Öffentliche Erklärung über verfassungsmäßige Bedenken Frank-Walter Steinmeier 2020 Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität Aussetzung der Ausfertigung des Gesetzes wegen nach Gesetzesbeschluss ergangenen BVerfG-Entscheidung (Bestandsdatenschutz) Ausgangsnorm Art. 82 I 1 GG: „Die nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze werden vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet.“ „werden“ = kein Ermessen => Pflicht zur Ausfertigung und Verkündung, falls die Voraussetzungen des Art. 82 I 1 GG vorliegen => nicht nur Prüfungsrecht, sondern Prüfungspflicht des BP, ob Gesetze nach den Vorschriften des GG zustande gekommen sind Frage: Was bedeutet „die nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze“? (= Frage nach dem Prüfungsumfang) ➢ Bundespräsident prüft jedenfalls die formelle Verfassungsmäßigkeit der Gesetze (dies folgt nicht nur aus dem Wortlaut, sondern auch aus der Stellung des BP am Ende des Gesetzgebungsverfahrens), d.h. • hat der Bund Gesetzgebungskompetenz nach Art. 70 ff. GG? • Sind die Normen des GG über das Gesetzgebungsverfahren eingehalten (Art. 76 ff. GG)? ➢ Problem: Prüft Bundespräsident auch die materielle Verfassungsmäßigkeit der Gesetze (z.B. Vereinbarkeit mit Grundrechten, Art. 1 ff. GG)? => Auslegung erforderlich: • • Wortlaut: o „Zustandekommen“: technisch zu verstehen? (vgl. Art. 78 GG) => Begrenzung auf formelle Verfassungsmäßigkeit? Aber: GG verwendet häufig identische Begriffe mit unterschiedlichen Inhalten (z.B. „verfassungsmäßige Ordnung“ in Art. 2 I GG, 9 II und 20 III GG) o „Vorschriften des Grundgesetzes“: hiermit könnten auch materielle Bestimmungen gemeint sein. Systematik: o Amtseid (Art. 56 GG)? => Zirkelschluss: Es geht ja gerade darum, festzustellen, was Pflichten des BP nach dem GG sind. o Vorrang der Prüfung durch das BVerfG? (Art. 93 I Nr. 2, Nr. 4a, Art. 100 I GG?) (-), da Prüfungsrecht jedenfalls hinsichtlich der formellen Verfassungsmäßigkeit Seite 101 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 • Entstehungsgeschichte: Stellung des BP sollte unter dem GG schwächer sein als die Stellung des Reichspräsidenten unter der WRV. Aber: nichts darüber zu finden, inwieweit die Stellung des BP hinsichtlich des Prüfungsrechts abgeschwächt sein soll. • Erneut Systematik: Auch BP ist inhaltlich an die Verfassung gebunden (Art. 20 III GG) und hat deshalb sein Handeln stets auf seine Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Aber: 1. Ansicht: Bei schwierigen Rechtsfragen darf Bundespräsident nicht seine rechtlichen Erwägungen an die Stelle des Bundestages setzen (Bundestag als erster und vornehmster Interpret der Verfassung durch Gesetz; Prinzip der Gewaltenteilung, Art. 20 II GG) => BP darf aber nur bei „evidenter materieller Verfassungswidrigkeit“ Ausfertigung verweigern; i.Ü. bleibt die verfassungsrechtliche Überprüfung Aufgabe des BVerfG; 2. Ansicht: BP darf wegen Verfassungsbindung stets voll materiell prüfen (m.E. vorzugswürdig). => Auslegungsergebnis zu Art. 82 I 1 GG: Bundespräsident kann und muss die Gesetze auf ihre formelle Verfassungsmäßigkeit prüfen. Auch hinsichtlich der materiellen Verfassungsmäßigkeit kann er die Ausfertigung verweigern, wenn nach seinem Dafürhalten ein Verstoß vorliegt. Sollte der Verstoß offensichtlich sein, so wird man sogar von einem „Muss“ ausgehen dürfen. Fall 1: Bei der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat stimmen die Vertreter des Landes B uneinheitlich ab. Der BRP fragt daraufhin den anwesenden Ministerpräsidenten des Landes B, wie das Land denn nun abstimme. Der Ministerpräsident erklärt daraufhin, dass das Land B dem Gesetz zustimme; dem widerspricht der ebenfalls anwesende Innenminister des Landes B. Der BRP wertet das Stimmverhalten des Landes B daraufhin als Zustimmung. Das Gesetz erreicht deshalb die im BR geforderte Stimmenmehrheit. Es wird nunmehr dem BP zur Ausfertigung vorgelegt. Der BP verweigert jedoch die Ausfertigung mit der Begründung, dass das Gesetz nicht ordnungsgemäß zustande gekommen sei. So habe die widersprüchliche Stimmabgabe des Landes B nicht als Zustimmung gewertet werden dürfen. Von daher hätte das Gesetz nicht die erforderliche Mehrheit im Bundesrat erreicht, weshalb das Gesetzgebungsverfahren für dieses zustimmungsbedürftige Gesetz nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden sei. 1. Darf der BP die Ausfertigung verweigern? 2. Welche Möglichkeiten stehen zur Verfügung, um das Verhalten des BP gerichtlich überprüfen zu lassen? Fall 2: Nach ordnungsgemäß durchgeführtem Gesetzgebungsverfahren wird dem BP das sog. Luftsicherheitsgesetz zur Ausfertigung vorgelegt. § 14 III dieses Gesetzes ermächtigt u.a. den Verteidigungsminister Seite 102 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 dazu, bei der Zweckentfremdung eines Luftfahrzeugs als Waffe, durch die das Leben von Personen am Boden bedroht wird, die unmittelbare Anwendung von Waffengewalt gegen das Luftfahrzeug anzuordnen. Der BP ist der Auffassung, dass diese Bestimmung nicht mit Art. 1 I und Art. 2 II 1 GG in Einklang steht. Er verweigert deshalb die Unterschrift. Zu Recht? Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 17) Fall 1 ▪ Zu Frage 1.: Der BP durfte gemäß Art. 82 I 1 GG die Ausfertigung des Gesetzes verweigern, da es nicht nach den Vorschriften des GG zustande gekommen war. Vorliegend wurde gegen Art. 51 I 3 GG verstoßen (s. dazu auch oben B.). ▪ Zu Frage 2.: Das Verhalten des BP könnte im Wege eines Organstreitverfahrens gemäß Art. 93 I Nr. 1 GG überprüft werden. Der Vorwurf würde lauten, dass der BP durch sein Unterlassen (Nicht-Ausfertigung) gegen die Bestimmung des Art. 82 I GG verstoßen hat. Fall 2 Nach der hier vertretenen Auffassung darf der BP eine volle inhaltliche Prüfung vornehmen. Sollte der Bundestag damit nicht einverstanden sein, muss er ein Organstreitverfahren anstrengen. In diesem würde dann inzident geprüft, ob der BP zu Recht oder zu Unrecht von einem Verfassungsverstoß gegen Art. 1 I/ 2 II GG ausgegangen ist. Nach der anderen Ansicht läge ein solcher Verstoß indessen nur vor, wenn der BP zu Unrecht von einem evidenten Verfassungsverstoß ausgegangen ist (was man hier wohl nicht annehmen kann). Es müsste dann in einem Organstreitverfahren geklärt werden, ob der BP seine Kompetenzen überschritten hat, ohne dass damit zugleich zwingend eine Aussage zu dem Gesetz als solchem getroffen würde. Dies wäre umständlich und mit Blick auf ein eventuelles weiteres Verfahren (z.B. ein abstraktes Normenkontrollverfahren) zeitraubend. Zur Vertiefung: Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 806 ff.; Linke, Der Bundespräsident als Staatsnotar oder das vermeintliche „formelle“ und „materielle“ Prüfungsrecht, DÖV 2004, 434 ff.; Wißmann, Jenseits von Staatsnotar und Staatsleitung: Die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten, ZjS 6/2014, 627 ff. (mit Erwiderungen von Gmeinder, ZjS 1/2105, 1 ff. u. Lenz, ZjS 2/2015, 145 ff.) 5. Begnadigungen Vgl. Art. 60 II GG Begnadigung = teilweiser oder vollständiger Verzicht auf die Vollstreckung einer rechtskräftig festgesetzten Strafe (im Rahmen eines Straf- oder Disziplinarverfahrens) BP übt Begnadigungsrecht nur „für den Bund“ aus. Von daher werden nur solche Strafen erfasst, die von einem Bundesgericht in 1. Instanz verhängt wurden (z.B. OLG als Bundesgericht in Staatsschutzsachen; vgl. Art. 96 V GG, §§ 120 IV, 142a GVG – Fall aus der jüngeren Vergangenheit: RAF-Terrorist Christian Klar). Seite 103 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 In der Praxis kommt dem Begnadigungsrecht des BP deshalb nur geringe Bedeutung zu. Von der Begnadigung („im Einzelfalle“) ist die sog. Abolition (Niederschlagung eines anhängigen Verfahrens) und die Amnestie (Verzicht auf die Durchführung von Strafverfahren oder auf die Vollstreckung von Strafurteilen für eine größere Personengruppe) zu unterscheiden. Beides ist nicht vom Begnadigungsrecht des BP umfasst! Solche Maßnahmen müssten – wenn überhaupt – vom Gesetzgeber beschlossen werden. 6. Sonstige Befugnisse Des Weiteren gehören traditionell (verfassungsgewohnheitsrechtlich) die Festlegung von Staatssymbolen und die Verleihung von Orden sowie Ehrenzeichen zu den Aufgaben des BP. Allerdings steht dies unter dem Vorbehalt einer anderweitigen verfassungsrechtlichen (Art. 22 GG) oder gesetzlichen Regelung (Nationalfeiertage). V. Gegenzeichnung der Präsidialakte Fall: Angesichts der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise hält der BP K am Silvesterabend eine Ansprache im Fernsehen, in der er mit dem geplanten Konjunkturausgaben der Bundesregierung hart ins Gericht geht. Sie führten zu einer enormen Verschuldung des Bundeshaushalts, die von späteren Generationen unter Erbringung großer finanzieller Opfer abgetragen werden müssten und so deren Entwicklungschancen minimierten. Nachdem die BK M diese Ansprache im Fernsehen zur Kenntnis genommen hat, ruft sie erbost beim BP an und verlangt von diesem, dass er künftig alle Reden ihr oder dem zuständigen BM zur Gegenzeichnung vorlegt. Der BP ist über dieses Ansinnen empört. Zu Recht? Anordnungen und Verfügungen des BP bedürfen gemäß Art. 58 S. 1 GG zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den BK oder den zuständigen BM. Der Inhalt dieser Bestimmung findet seine Wurzeln in der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts. Damals musste der durch Gott legitimierte Monarch, bei dem die Staatsgewalt unteilbar gebündelt war („monarchisches Prinzip“), von politischer Verantwortung gegenüber dem „bürgerlichen“ Parlament freistellt werden. Durch die Gegenzeichnung ging diese politische Verantwortung deshalb auf den unterzeichnenden Kanzler bzw. den jeweiligen Minister über. Auch heute noch dient diese Bestimmung einer Überleitung der Verantwortung: Die Bundesregierung übernimmt durch die Gegenzeichnung politische Verantwortung für das Handeln des BP, da dieser gegenüber dem Parlament nicht politisch verantwortlich ist. Darüber hinaus sichert sie die Einheitlichkeit der Staatsleitung durch die Bundesregierung, indem sie die Handlungen des BP von einer Zustimmung (Gegenzeichnung) derselben abhängig macht. Art. 58 GG ist damit zugleich Ausdruck des Prinzips der Verfassungsorgantreue. Seite 104 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Streitig ist jedoch die Auslegung der Begriffe „Anordnungen und Verfügungen“: Umfassen diese nur Rechtsakte (z.B. den völkerrechtliche Vertragsschluss nach Art. 59 I 2 GG) oder darüber hinaus auch sonstige Handlungen des BP ohne rechtlichen Charakter (wie etwa Ansprachen an die Bevölkerung). Für erstere Auslegung spricht der Wortlaut des Art. 58 S. 1 GG („Anordnungen und Verfügungen“, „Gültigkeit“, „Gegenzeichnung“). Für letztere Sichtweise spricht die Entstehungsgeschichte der Norm (Konstitutionalismus, WRV, wo es eine gleichlautende Bestimmung bereits gab, die weit verstanden wurde). Folgt man der weiten Auffassung, so kann die BK die Vorlage der Ansprachen verlangen (s. Fall). In der Staatspraxis geht man indes davon aus, dass die Bundesregierung derartige Ansprachen konkludent genehmigt, wobei man im Gegenzug vom BP jedoch erwartet, dass er solche Reden zur Gegenzeichnung vorlegt, die im Widerspruch zur Politik der Bundesregierung stehen. Die vorstehend skizzierte engere Ansicht kommt im Übrigen über das ungeschriebene Prinzip der Verfassungsorgantreue zu ähnlichen Ergebnissen. Instruktiv zum Vorstehenden: Maurer, Staatsrecht I, § 15 Rn. 24 ff. VI. Amtsverlust Vgl. Art. 61 GG Das Anklageverfahren wird durch die §§ 13 Nr. 4, 49 ff. BVerfGG näher ausgestaltet. Seite 105