Mediengewalt_6_Habitualisierungsthese PDF
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This document appears to be lecture notes or a presentation on the topic of media violence, specifically focusing on the concepts of habituation and desensitization. The document discusses different types of learning and their impact on reactions to violent stimuli. The notes include relevant research studies and data, providing analysis of the effects.
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Habitualisierungs- / Desensibilisierungsthese Vorlesung „Medien und Gewalt“ Wintersemester 2024/25 Dr. Astrid Zipfel 21.11.2024 hhu.de Inhalt 1. Begriffsklärung 2. These 3. Empirische Befunde...
Habitualisierungs- / Desensibilisierungsthese Vorlesung „Medien und Gewalt“ Wintersemester 2024/25 Dr. Astrid Zipfel 21.11.2024 hhu.de Inhalt 1. Begriffsklärung 2. These 3. Empirische Befunde 1. Physiologische Effekte 2. Kognitive Effekte 3. Emotionale Effekte 4. Verhaltenseffekte 5. Zusammenhänge 4. Bilanz 2 hhu.de 1. Begriffsklärung 3 hhu.de 1. Begriffsklärung Lernen - Definition 4 Becker-Carus / Wendt 2017, S. 293 hhu.de 1. Begriffsklärung Lernen – Formen 1. Habituation: Gewöhnung an einen Reiz, der beim ersten Auftreten Verhaltensreaktion auslöst, bei wiederholter Darbietung aber nicht mehr 2. Klassische Konditionierung: (Lernen von Signalen) Die assoziative Verknüpfung einer Reaktionsweise mit einem zuvor neutralen, nun aber das Verhalten auslösenden Reiz. 3. Operante Konditionierung (instrumentelle Konditionierung): Lernprozess, bei dem das aktiv gezeigte Verhalten durch die Art der nachfolgenden Bekräftigung gefestigt oder gemindert wird. 4. Verbales Lernen: Einprägen von Symbolzuordnungen, wie Wörtern, Zeichen und Silben durch Assoziationsbildung. 5. Komplexes und kognitives Lernen: Lernen von Begriffen und Konzepten sowie die Bildung von mentalen kognitiven Strukturen der Wirklichkeitsrepräsentation (Regellernen). 6. Modelllernen (Imitations-, Beobachtungs-, Nachahmungslernen): Aneignung und Übernahme neuer Verhaltensweisen aufgrund der Beobachtung erfolgreichen fremden Verhaltens 5 Becker-Carus / Wendt 2017, S. 293f. hhu.de 1. Begriffsklärung Habituation Habituation = Gewöhnung Menschen lernen, einen zunächst erregenden Reiz zu ignorieren, wenn dieser wiederholt keine ernsthaften negativen Konsequenzen mit sich gebracht hat. Schrittweise Abnahme der Orientierungsreaktion bei anhaltender / wiederholter Reizdarbietung bis zu deren vollständigem Erlöschen. Dieser Prozess funktioniert automatisch und ohne Assoziationen oder Bekräftigungen. Der Prozess der Habituation ist auch von der subjektiven Signifikanz des Reizes abhängig. Eine Veränderung des Reizes führt zu erneuter Orientierungsreaktion 6 Becker-Carus / Wendt 2017, S. 219; 293-296 hhu.de 1. Begriffsklärung Orientierungsreaktion Reflexartige, d.h. automatische Reaktion des Organismus auf neue / ungewohnte Reize Resultat eines Vergleichsprozesses von aktuellen Reizmustern mit im Langzeitgedächtnis gespeicherten Modellen Bei Abweichungen Unterbrechung momentan ablaufender Verhaltensprozesse Psychische und physiologische Veränderungen: Sensibilisierung der akustischen und visuellen Wahrnehmung Erhöhung der Hirnaktivität Veränderungen im Blutkreislauf (Herzschlag, Erweiterung zum Hirn führender Blutgefäße Veränderungen in Atmung, Muskelspannung, Hormonausschüttung, Hautleitfähigkeit usw. Funktion: Erleichterung der Aufnahme des neuen Reizes Vorbereitung des Organismus´ auf evtl. notwendige schnelle Reaktion (z.B. Flucht) 7 Becker-Carus / Wendt 2017, S. 217f. hhu.de 1. Begriffsklärung EEG = Elektroencephalogramm = Hirnstrom-Aktivität EDA = Elektrodermale Aktivität = Hautleitfähigkeit EOG = Elektrookulographie = Augenbewegungen 8 Becker-Carus / Wendt 2017, S. 218 hhu.de 1. Begriffsklärung 9 Becker-Carus / Wendt 2017, S. 294 hhu.de 1. Begriffsklärung Sensibilisierung / Sensitivierung (sensitization) „Prozess, bei dem der Organismus lernt, eine Reaktion auf einen Reiz zu intensivieren, wenn diesem ein bedrohlicher oder schmerzhafter Reiz folgt.“ (Becker-Carus / Wendt 2017, S. 296) Desensibilisierung Verminderung von Reaktionen durch bekannte Reize Systematische Desensibilisierung: Verhaltenstherapeutische Methode zur Verringerung von Ängsten und Phobien Expositionstherapie, die einen angenehm entspannten Zustand mit allmählich immer stärker angstauslösenden Reizen koppelt. Funktioniert nach dem Prinzip der Gegenkonditionierung 10 Becker-Carus / Wendt 2017, S. 306; Myers / DeWall 2023, S. 727 hhu.de 1. Begriffsklärung Klassische Konditionierung 11 Becker-Carus / Wendt 2017, S. 297 hhu.de 1. Begriffsklärung Klassische Konditionierung 12 Becker-Carus / Wendt 2017, S. 297 hhu.de 1. Begriffsklärung Gegenkonditionierung Zur Löschung einer unerwünschten Reaktion auf einen Stimulus wird in Gegenwart diese Stimulus ein mit der unerwünschten Reaktion inkompatibles Verhalten ausgelöst. Dieselbe Reiz-Situation wird so zum Auslöser einer positiven Verhaltensweise und verdrängt die frühere, negative Reaktion. Bei der klassischen systematischen Desensibilisierung erfolgte die Gegenkonditionierung durch das Lernen von Entspannungstechniken. Allerdings ist unklar, ob wirklich Habituation oder Gegenkonditionierung die Angstreduktion in Konfrontationstherapien bewirkt oder nicht eher eine „Extinktion“ eintritt (= Lernen, nicht mehr auf den unkonditionierten Reiz zu reagieren, da keine negative Konsequenz eintritt). 13 Bentz / Michael / Margraf 2009; Becker-Carus / Wendt 2017, S. 306; Myers / DeWall 2023, S. 727 hhu.de 2. These 14 hhu.de 2. These Habitualisierungs- / Desensibilisierungsthese in der Mediengewaltforschung Mediengewalt bewirkt einen Abstumpfungs- bzw. Gewöhnungseffekt. Am Ende dieses langfristigen, kumulativen Prozesses hat Gewalt ihren üblicherweise abschreckenden Charakter zumindest teilweise eingebüßt. Mechanismen: Nachlassen einer Orientierungsreaktion (Habituation) Effekt systematischer Desensibilisierung / Gegenkonditionierung: Indem Mediengewalt in der Regel in angenehmen Situationen (Entspannung, Konsum von Snacks usw.) rezipiert wird, kommt es zu einer Verknüpfung von Mediengewalt mit positiven Erfahrungen. 15 Kunczik / Zipfel 2006, S. 113-119; Rudy / Linz 2008; Zipfel 2019, S. 52f.; Miles-Novelo / Anderson 2020; Funk Brockymer 2022 hhu.de 2. These 16 https://www.youtube.com/watch?v=ptVozqTiRXA hhu.de 2. These Konsequenzen: Individuelle Ebene: Abnahme von physiologischen, kognitiven, emotionalen und verhaltensbezogenen Reaktionen bei der Konfrontation mit violenten Reizen als Folge eines intensiven Mediengewaltkonsums. Rückgang von Empathie und Gleichgültigkeit gegenüber Opfern / Folgen von Gewalt Ausblendung moralischer Maßstäbe und Steigerung der Gewalttoleranz Senkung der Hemmschwelle zur eigenen Gewaltanwendung Gesellschaftliche Ebene: Spirale der Produktion / des Konsums immer extremerer Gewaltdarstellungen als Reaktion auf individuellen / gesellschaftlichen Habituationsprozess 17 Kunczik / Zipfel 2006, S. 113-119; Rudy / Linz 2008; Zipfel 2019, S. 52f.; Miles-Novelo / Anderson 2020; Funk Brockymer 2022 hhu.de 2. These Problem der begrifflichen Unschärfe “The term ´desensitization´ has been used by scholars, public policy analysts, politicians, and the lay public to mean effects as varied as: (a) an increase in aggressive behavior; (b) a reduction in physiological arousal to reallife violence; (c) a flattening of affective reactions to violence; (d) a reduction in likelihood of helping a violence victim; (e) a reduction in sympathy for a violence victim; (f) a reduction in the sentence for a convicted violent offender, (g) a reduction in the perceived guilt of a violence perpetrator; (h) a reduction in judged severity of a violence victim’s injuries. This hodge-podge of definitions – confusing lay people and scientists alike - results from a failure to distinguish underlying psychological desensitization processes from potential desensitization effects on other responses. Too much is included in this broad definition.” 18 Carnagey / Anderson / Bushman 2007, S. 490 hhu.de 2. These Vorschlag zur Konkretisierung des Begriffs I. Prozesse, die zur Desensibilisierung führen II. Desensibilisierung selbst III. Kognitive und affektive Konsequenzen von Desensibilisierung IV. Auswirkungen der kognitiven und affektiven Konsequen- zen auf das Verhalten 19 Miles-Novelo / Anderson 2020, S. 4 hhu.de 2. These Welche der genannten Konsequenzen in den Blick genommen werden, ist je nach Forscher / Studie sehr unterschiedlich. Die Begriffe „Habitualisierung“ und „Desensibilisierung“ werden häufig ohne konkrete Begriffsbestimmung verwendet und nicht voneinander abgegrenzt. Vorschlag von Steven Kirsh (2012): Habitualisierung = Konsequenzen für die Reaktionen auf Mediengewalt Desensibilisierung = Konsequenzen für die Reaktionen auf reale Gewalt Diese Differenzierung ist auch deshalb wichtig, weil nicht ohne weiteres von einer Habituation gegenüber Mediengewalt auf eine Desensibilisierung gegenüber realer Gewalt bzw. auf Verhaltenseffekte geschlossen werden kann! 20 hhu.de 2. These Abgrenzung und Formen von Habitualisierung / Desensibilisierung Konsequenzen Habitualisierung Desensibilisierung physiologisch Verringerte körperliche bei der Rezeption beim Anblick realer Erregung … von Mediengewalt Gewalt kognitiv Verringerte Erinnerung an / Mediengewalt reale(r) Gewalt positivere Beurteilung von … emotional Nachlassende Betroffenheit Mediengewalt realer Gewalt von bzw. Angst vor / geringere Empathie mit den Opfern von verhaltens- Höhere Aggressionsbereit- im Computerspiel / in der Realität bezogen schaft / reduzierte Hilfsbereit- Nutzung immer schaft violenterer Inhalte 21 in Anlehnung an Kirsh 2012, S. 220f. hhu.de 3. Empirische Befunde 22 hhu.de 3.1. Physiologische Effekte Physiologische Habitualisierung Abnahme der Erregungsreaktionen auf violente Medieninhalte durch physio- logische Messdaten gut belegt. Varianten der Untersuchung Vergleich von Viel- und Wenignutzern Verfolgung des Erregungsverlaufs nach Nutzung violenter Medien für einige Wochen Verfolgung des Erregungsverlaufs nach Nutzung violenter Medien in einer einzelnen Sitzung Es gibt aber auch Studien, die zu anderen Befunden kommen (siehe Beispielstudie auf der nächsten Folie) 23 Kunczik / Zipfel 2010, S. 177f.; Zipfel 2019, S. 55; Miles-Novelo / Anderson 2020, S. 4f.; Funk Brockmyer 2022 hhu.de 3.1. Physiologische Effekte Woche 1 Woche 2 Woche 3 Studie von Mortal Kombat Mortal Kombat Mortal Kombat Ballard u.a. 2006 Gruppe 1 Violent Violent Violent Action Action Action Blutdruck nach dem Spiel Resident Evil Resident Evil Resident Evil Ergebnis: Gruppe 2 Habitualisierung Violent Violent Violent unabhängig vom Horror Horror Horror Gewaltgehalt Blutdruck nach dem Spiel NBA Live NBA Live NBA Live Gruppe 3 Nicht violent Nicht violent Nicht violent Schnell schnell schnell Blutdruck nach dem Spiel 24 Ballard u.a. 2006 hhu.de 3.1. Physiologische Effekte Physiologische Desensibilisierung Messung häufig über Erregungs-Reaktionen auf Bilder realer Gewalt Insgesamt widersprüchliche Befundlage Erste Befunde zur Desensibilisierung bei Hate Speech (Soral u.a. 2014) Beispielstudie siehe folgende Folie 25 Kunczik / Zipfel 2010, S. 179-181; Zipfel 2019, S. 55f.; Miles-Novelo / Anderson 2020, S. 4f. hhu.de 3.1. Physiologische Effekte Studie von Read u.a. 2016 Violentes Spiel Nicht-violentes Spiel Messung von Herzfrequenz / Blutdruck & Aktivität der Mad World Wii Super Mario Galaxy 2 Augenbrauenmuskulatur auch vor und nach dem Spiel für 20 Minuten Spiel Betrachtung von je 3 angenehmen, neutralen bzw. aggressiven Bildern https://sachkundenachweis-hunde.de/wp- https://www.heldamherd.com/schoen-gedeckte- https://apps-cloud.n-tv.de/img/22718495- content/uploads/2024/03/welpen-5.jpg tische-und-gewinne-gewinne-gewinne/ 1627904309000/4-3/750/imago0051421997h.jpg Messung von Herzfrequenz / Ergebnis: Blutdruck, Aktivität der Augenbrauenmuskulatur, Habitualisierung Abfrage von Affekt und unabhängig vom Erregung https://www.freizeit-sport.de/wp- https://media.springernature.com/lw685/springer- static/image/chp%3A10.1007%2F978-3-662-54507- Gewaltgehalt content/uploads/2016/12/heartbeat_herzfrequenz.jpg 2_160/MediaObjects/58031_4_De_160_Fig6_HTML.jpg 26 Read u.a. 2016 hhu.de 3.2. Kognitive Effekte Kognitive Habitualisierung Hoher Mediengewaltkonsum führt zu geringerem wahrgenommenen Gewaltgehalt violenter Medien Empfehlungen einer niedrigeren Altersfreigabe für violente Filme Widersprüchliche Befunde zum Einfluss auf die Einschätzung emotionaler Gesichtsausdrücke 27 Morey 2018, S. 259; Zipfel 2019, S. 56; Miles-Novelo / Anderson 2020, S. 6; Miedszobroska u.a. 2021; Miedzobrodzka / Konijn / Krabbendam 2021 hhu.de 3.2. Kognitive Effekte Kognitive Desensibilisierung Es ist fraglich, ob die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Realität und Fiktion (= Voraussetzung für kognitive Desensibilisierung) bei Vielnutzern violenter Medien tatsächlich beeinträchtigt ist. Ausgeprägtere Billigung aggressiver Verhaltensweisen bei hohem Mediengewaltkonsum Einstufung verschiedener (eigener) antisozialer Verhaltens- weisen als weniger violent bzw. mildere Beurteilung realer Verbrecher / Verbrechen / angemessene Strafen direkt nach der Nutzung von Mediengewalt (im Vergleich zu nicht-violentem Bewertung alltäglicher Gewalthandlungen Material) nach dem Konsum violenter / nicht violenter Spiele bei Greitemeyer 2014, S. 54 Aber: Keine Verschlechterung der Erinnerung an negative Stimuli (Fotos realer Situationen) bei regelmäßigen Spielern violenter Spiele. 28 Rudy / Linz 2008; Kunczik / Zipfel 2010, S. 181-183; Zipfel 2019, S. 56; Funk Brockmyer 2022 hhu.de 3.3. Emotionale Effekte Emotionale Habitualisierung Widersprüchliche Befunde von Hirnforschungsstudien, die Aktivität von Hirnregionen untersuchen, die für emotionale Reaktionen zuständig sind. Befunde zu konkreten Emotionen: Einzelne Studien zeigen Habitualisierungseffekte in Bezug auf Wut und Schuldgefühle Zahlreiche Studien zur Reduktion von Empathie, die zu heterogenen Befunden kommen. Beispielstudie siehe folgende Folie 29 Kunczik / Zipfel 2010, S. 178f.; Rudy / Linz 2008, S. 259; Zipfel 2019, S. 58; Funk Brockmyer 2022 hhu.de 3.3. Emotionale Effekte Beispielstudie von Lengersdorff (u.a.) 2023: 89 männliche Probanden (18 bis 35 Jahre) mit wenig bis gar keiner Erfahrung mit violenten Spielen spielen innerhalb von 2 Wochen 7 mal für ca. 1 Stunde im Labor eine von zwei Versionen des Spiels Grand Theft Auto V. Violente Version mit der Aufgabe, möglichst viele andere Personen zu töten Gewaltfreie Version mit der Aufgabe, möglichst viele Fotos von anderen Personen zu machen. Vor und nach der Spielphase wurde eine fMRT-Untersuchung mit Befragung durchgeführt: Empathy-for-pain task (siehe folgende Folie) (vor und nach der Spielphase) Emotional reactivity task (siehe folgende Folie) (nur nach der Spielphase) Ergebnisse: Es war weder eine reduzierte Empathie für den Schmerz anderer noch eine verringerte emotionale Reaktion auf violente Bilder (real oder aus dem Computerspiel) feststellbar. Dies galt sowohl für die Befragungsdaten als auch für die fMRT-Daten. 30 hhu.de 3.3. Emotionale Effekte 31 Lengersdorff u.a. 2023, S. 3 hhu.de 3.3. Emotionale Effekte Emotionale Desensibilisierung Hohe Anzahl von Hirnforschungsstudien und von Studien zur Abstumpfung von Empathie Widersprüchliche Befundlage Dies gilt auch für eine Reihe von ähnlich angelegten Untersuchungen zur Reaktion auf Bilder, die Schmerzreize zeigen (siehe folgende Folien) Eine Studie zu emotionalen Reaktionen auf Berichterstattung über Terrorismus stellte Desensibilisierungseffekte bei der Rezeption mehrerer Beiträge hintereinander (vs. einzelner Beiträge) fest, die Reaktionen hingen aber stark von der Art des Videos ab (Hoffman / Kaire 2020). 32 Kunczik / Zipfel 2010, S. 181-183; Morey 2018, S. 259; Zipfel 2019, S. 58; Funk Brockmyer 2022 hhu.de 3.3. Emotionale Effekte Studie von Guo u.a. 2013 (Untersuchung von Kurzzeit-Effekten) Stimulusmaterial: Bilder von Verletzungen mit einem Werkzeug (schmerzhaft) oder nur von Werkzeug (nicht schmerzhaft). Ergebnis: Seher eines violenten Filmclips bewerten Schmerz- haftigkeit der Bilder geringer als Seher eines neutralen Clips. Zudem geringere Hirnaktivität in Regionen, die für Entschlüsselung der emotionalen Dimension von Schmerzen bei anderen zuständig sind 33 Guo u.a. 2013, S. 189 hhu.de 3.3. Emotionale Effekte Studie von Gao u.a. 2017 (Untersuchung von Langzeit-Effekten) Design: Viel- und Wenigspieler betrachten 80 schmerzhafte und nicht schmerzhafte Bilder von Körperteilen. Sie sollen sich dabei in die Person hineinversetzen, deren Körperteile zu sehen sind. Bei diesem Test werden fMRT-Bilder aufgenommen. Ergebnis: Es zeigen sich keine signifikanten Unterschiede der Hirnaktivität 34 Gao u.a. 2017, S. 4 hhu.de 3.3. Emotionale Effekte Studie von Miedzobrodzka u.a. 2022 (Untersuchung kurz- und langfristiger Effekte) Erhebung des violenten Computerspielkonsums Miedzobrodzka u.a. finden in ERP-Studie Hinweise auf kurz- und langfristige Habitualisierungseffekte beim Ansehen schmerzhafter Bilder Pain Judgement Task mit EEG-Messung (Einstufung der Schmerzhaftigkeit von 192 Bilder von Händen in schmerzhaften und nicht schmerzhaften Situationen in der Perspektive der 1. oder der 3. Person) 40 Minuten violentes Computerspiel (Call of Duty) Fragebogen zu Erfahrungen mit Spiel und Wiederholung der Pain Judgement Task Auswertung von 3 ERPs (Event Related Potentials => siehe Methoden-Sitzung) 35 hhu.de 3.3. Emotionale Effekte Studie von Miedzobrodzka u.a. 2022 (Untersuchung kurz- und langfristiger Effekte) – Fortsetzung Ergebnisse: Schmerzhafte Bilder erzeugten stärkere Reaktionen bei P300 (Reaktion auf aversive Reize) und weiterem ERP (aktive Regulierung von Emotionen), nicht aber bei N2 (verantwortlich für Wahrnehmung von Stimulus-Eigenschaften) Vor Spiel: Gruppe ohne Spielerfahrung zeigt Differenz in Reaktion auf Schmerz / Nicht-Schmerzbilder Gewohnheitsmäßige Gewaltspieler reagieren vor Spiel nicht stärker auf Schmerzbilder als auf Nicht-Schmerzbilder Nach dem Spiel: Rückgang der Reaktion auf Schmerzbilder nur bei Nicht-Gewohnheitsspielern Bei Vielspielern stärkere Differenz zwischen Reaktionen auf Schmerz- und Nicht-Schmerzbilder nach dem Spiel, die aber durch Reduktion der Reaktionen auf Nicht-Schmerz-Bilder zustande kommt, die nach Spiel noch unwichtiger waren als zuvor. 36 hhu.de 3.3 Emotionale Effekte Studie von Miedzobrodzka u.a. 2022 (Untersuchung kurz- und langfristiger Effekte) – Fortsetzung Nachweis kurz- und langfristiger Desensibilisierungseffekte ABER: In einer weiteren Studie mit Heranwachsenden (12 bis 16 Jahre) zeigte sich kein Zusammen- hang zwischen dem regelmäßigen Spielen violenter Spiele und einer veränderten Reaktion auf schmerzhafte Bilder (wohl aber mit dem Spielen antisozialer Spiele) Das Spielen im Labor beeinflusste die P300- Reaktion nicht, und die spätere ERP-Reaktion war nur kurzzeitig beeinträchtigt, bevor sich ein deutlicher Schmerz-Effekt zeigte (evtl. weil emotionale Regulierung noch erlernt wird). => Miedzobrodzka u.a. 2023 37 Miedzobrodzka u.a. 2022, S. 20 hhu.de 3.4. Verhaltenseffekte Habitualisierung und Desensibilisierung auf Verhaltensebene Zu Abstumpfungsreaktionen auf Verhaltensebene liegen nur sehr wenige Untersuchungen vor. Diese liefern Hinweise auf die Existenz von Desensibilisierungseffekten, für eine abschließende Beurteilung ist die empirische Basis aber zu gering. 38 Kunczik / Zipfel 2010, S. 184-187; Rudy / Linz 2008, S. 259; Zipfel 2019, S. 58-60; Funk Brockmyer 2022 hhu.de 3.4. Verhaltenseffekte Studie 1 von Bushman / Anderson 2009 Nicht violentes Violentes Spiel Spiel 21% helfen nach 25% helfen nach violentem Spiel nicht-violentem Spiel 11% habituelle 26% keine habituellen Gewaltspieler Gewaltspieler helfen 73 Sek. 16 Sek. 39 Bushman / Anderson 2009 hhu.de 3.4. Verhaltenseffekte Studie 2 von Bushman / Filmbesuch vor Filmbesuch nach Anderson 2009 der Begegnung der Begegnung Keine Keine Gewalt Gewalt Kein signifikanter Verzögerung des Unterschied bei Hilfeverhaltens um 7 Sek. Begegnung VOR dem (26% langsamer) Filmbesuch Gewalt Gewalt 40 Bushman / Anderson 2009 hhu.de 3.5. Zusammenhänge Studien zu Mechanismen der Habitualisierung / Desensibilisierung In welchem Zusammenhang die verschiedenen Habitualisierungs-/Desensibilisierungseffekte stehen und welche weiteren Faktoren eine Rolle spielen, ist noch nicht abschließend geklärt. Die Mechanismen der Habitualisierung / Desensibilisierung bedürfen der weiteren Erforschung. Hierfür wäre es sinnvoll, physiologische, kognitive, emotionale und konative Effekte sowie Kurz- und Langzeitwirkungen in einer Studie zu untersuchen. Ansätze Vorstellung, dass Empathie Voraussetzung für moralische Überlegungen / Entscheidungen ist und bei Reduktion empathischer Reaktionen (etwa durch Computerspielgewalt) „Moral Disengagement“ (Trennung moralischer Standards und eigener Handlungen) eintritt, was Gewalthandeln ermöglicht. Ergebnisse von Jabra u.a. (2018), denen zufolge selektive Aufmerksamkeit für violente Inhalte zusammen mit Desensibilisierung Aggression verursacht (gemessen über ERPs) bzw. der Zusammenhang zwischen violenten Computerspielen und Aggression nur besteht, wenn es zu (emotionalen) Desensibilisierungs- effekten kommt. 41 Rudy / Linz 2008; Kunczik / Zipfel 2010, S. 186f.; Morey 2018, S. 259; Zipfel 2019, S. 60; Miles Novelo / Anderson 2000; Funk Brockmyer 2022 hhu.de 3.5. Zusammenhänge Selektive Aufmerksamkeit (N1): Spieler Emotionale Reaktion (P3): Spieler reagieren bringen negativen (violenten) Bildern signifikant schwächer auf negative Bilder als Nicht- signifikant mehr Aufmerksamkeit entgegen Spieler. Im Gegensatz zu Nicht-Spielern als Nicht-Spieler unterscheiden sich ihre Reaktionen auf negative und neutrale Bilder nicht signifikant. Vielspieler mit mehr Aufmerksamkeit für violente Bilder (N1) zeigen geringere emotionale Reaktionen (P3). Reduzierte emotionaler Reaktion (P3) bei Vielspielern hängen mit mehr Aggressivität zusammen (Fragebogenmessung) 42 Jabra u.a. 2018, S. 55 hhu.de 4. Bilanz 43 hhu.de 4. Bilanz Die Befundlage zu Abstumpfungseffekten ist insgesamt widersprüchlich. Das heterogene Begriffsverständnis und die heterogene Methodik erschweren eindeutige Schlussfolgerungen. Habitualisierungseffekte (v.a. physiologische) sind besser nachgewiesen als Desensibilisierungseffekte. Vor allem zu Verhaltenseffekten liegen nur wenige Studien vor. Auswirkungen von Gewöhnungseffekten auf reales Verhalten können nicht ausge- schlossen werden, es ist aber unzulässig, von Habitualisierungs- auf Desensibili- sierungseffekte zu schließen. Der Habitualisierungsprozess selbst wird in den vorliegenden Studien zumeist nicht nachvollzogen und ist in seinem konkreten Ablauf unklar. 44 Zipfel 2019, S. 60f. hhu.de 4. Bilanz Die Methodik ist nicht immer adäquat für das untersuchte Phänomen (ihrem Wesen nach langfristige Gewöhnungsprozesse werden mit Methoden zur Feststellung kurzfristiger Effekte (= Laborexperimente) untersucht. Langfristige Effekte werden zumeist durch eine Differenzierung der Effekte bei Viel- und Wenignutzern, nicht durch echte Langzeitstudien untersucht. Dabei ist noch unklar, welche Nutzungsintensität / Nutzungsdauer Gewöhnungseffekte auslöst Hirnforschungsstudien liefern hier erste Hinweise, sind aber in Bezug auf ihre Interpretation noch problematisch und liefern widersprüchliche Befunde (EEG-Studien finden eher Effekte als fMRT-Studien). Hinter vermeintlichen Abstumpfungsprozessen kann sich auch Desinteresse / Langeweile verbergen. Desensibilisierungseffekte werden zumeist mit medial präsentierten Bildern realer Gewalt untersucht => wird hier nicht eigentlich Habitualisierung gemessen? Insgesamt ist zu fragen, wo funktionale Anpassungsprozesse enden (z.B. Ermöglichung der Arbeit für Sanitäter, Chirurgen, Soldaten usw.) und dysfunktionale Konsequenzen beginnen. 45 Zipfel 2019, S. 60f.; Miles- Novelo / Anderson 2000; Miedzobrodzka u.a. 2023 hhu.de Literatur Ballard, Mary E. (u.a.) (2006): Repeated exposure to video game play results in decreased cardiovascular and affective responding. In: Media Psychology 8, S. 323-341. Becker-Carus, Christian / Wendt, Mike (2017): Allgemeine Psychologie. Eine Einführung. 2. Aufl. Berlin. Bentz, Dorothée / Michael, Tanja / Margraf, Jürgen (2009): Konfrontation und Exposition. In: Psychiatrie und Psychotherapie up2date 3, S. 409-428. Bushman, Brad J. / Anderson, Craig A. (2009): Comfortably numb. Desensitizing effects of violent media on helping others. In: Psychological Science 20, S. 273-277. Carnagey, Nicholas L. / Anderson, Craig A. / Bushman, Brad J. (2007): The effect of video game violence on physiological desensitization to real-life violence. 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