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Skript_Staatsrecht I_Teil 9 (1).pdf

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Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 C. Judikative I. Organe der Judikative Gemäß Art. 92 GG wird die rechtsprechende Gewalt durch das BVerfG, die Bundesgerichte und die Gerichte der Länder ausgeführt. II. Organisation der Judikative ▪ Vgl. Art. 92,...

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 C. Judikative I. Organe der Judikative Gemäß Art. 92 GG wird die rechtsprechende Gewalt durch das BVerfG, die Bundesgerichte und die Gerichte der Länder ausgeführt. II. Organisation der Judikative ▪ Vgl. Art. 92, 93, 95 und 96 GG ▪ Die Gerichte des Bundes lassen sich in drei Gruppen einteilen: ➢ BVerfG (Art. 93, 94 GG) ➢ Oberste Bundesgerichte für bestimmte Bereiche (Art. 95 GG: BGH, BVerwG, BFH, BAG, BSG) ➢ Weitere Gerichte für bestimmte Bereiche gemäß Art. 96 GG (z.B. Bundespatentgericht) III. Richterliche Unabhängigkeit ▪ Vgl. Art. 97 GG => Richter sind sachlich (Art. 97 I GG) und persönlich (Art 97 II GG) unabhängig. ▪ Sachliche Unabhängigkeit bedeutet, dass der Richter bei seiner rechtsprechenden Tätigkeit keinen Weisungen unterworfen ist. ▪ Dies wird durch die persönliche Unabhängigkeit unterstützt: Die Richter, die hauptamtlich und planmäßig auf Lebenszeit verbeamtet sind, dürfen nicht gegen ihren Willen versetzt oder entlassen werden. IV. Rechtsstellung der Richter Vgl. Art. 98 GG => soll einerseits den Status der Richter durch besondere Gesetze absichern (I u. III), andererseits die demokratische Legitimation der Richterschaft stärken (IV) und den demokratischen Staat vor dem Missbrauch richterlicher Unabhängigkeit schützen (II u. V). V. Verfassungsgerichtsbarkeit 1. Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes und der Länder ▪ Vgl. Art. 92, 93 und 99 GG ▪ Aus der Verfassungsautonomie der Länder folgt, dass sie befugt sind, eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit für ihren Bereich einzurichten. ▪ Alle Länder haben eigene Verfassungsgerichtsbarkeiten (als letztes Land zog Schleswig-Holstein 2006 nach) => Art. 99 GG läuft nun leer: Im Wege der Organleihe könnte das BVerfG als Landesverfassungsgericht über die Auslegung und Anwendung der Landesverfassung entscheiden. ▪ Die Verfassungsgerichte der Länder und des Bundes stehen nebeneinander: Seite 123 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 ➢ BVerfG entscheidet über Verletzung des GG. ➢ Landesverfassungsgerichte entscheiden über Verletzung der jeweiligen Landesverfassung. 2. Bundesverfassungsgericht: Bedeutung und verfassungsrechtliche Stellung ▪ Doppelfunktion: Gericht und oberstes Verfassungsorgan des Bundes ▪ Schutz/Wahrung der Verfassung (grundsätzlich auch gegenüber der Europäischen Union) 3. Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts ▪ Vgl. Art. 94 I GG i.V.m. §§ 2 ff. BVerfGG ▪ Das BVerfG besteht aus zwei Senaten mit je 8 Richtern (§ 2 BVerfGG). ▪ Die Senate sind organisatorisch und personell getrennt; die Zuständigkeiten sind gesetzlich geregelt (§ 14 BVerfGG). ▪ Das Plenum besteht aus allen Richtern und hat dann zu entscheiden, wenn ein Senat von der Rechtsauffassung des anderen Senats abweichen will (§ 16 BVerfGG). ▪ Die Senate bilden für ein Geschäftsjahr Kammern aus 3 Richtern (§ 15a BVerfGG), die der Entlastung der Senate dienen; sie entscheiden im Vorfeld über die Zulässigkeit von Vorlagebeschlüssen (§ 81a BVerfGG) und über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde (§§ 93a – d BVerfGG). ▪ Gemäß Art. 94 I 2 GG werden die Richter des BVerfG je zur Hälfte vom BT und BR gewählt (näher hierzu §§ 5 ff. BVerfGG). Die Richter sind somit parlamentarisch-demokratisch und föderalistisch-demokratisch legitimiert: ➢ Der BR wählt unmittelbar (§ 7 BVerfGG). ➢ BT wählt für die Dauer seiner Wahlperiode nach den Regeln der Verhältniswahl einen 12köpfigen Wahlausschuss, der einen Wahlvorschlag unterbreitet (§ 6 BVerfGG). Das Plenum des Bundestages wählt sodann die Verfassungsrichter ohne Aussprache. ➢ Im Wahlausschuss und im Bundesrat ist 2/3-Mehrheit erforderlich (§§ 6 V, 7 BVerfGG) – so soll verhindern, dass Regierungsmehrheit oder jeweilige Mehrheit im BR allein über Besetzung entscheidet. P: ▪ In der Praxis werden Richterstellen paritätisch auf die größten Parteien (SPD, CDU/CSU) verteilt, wobei die jeweilige Regierungspartei dem Koalitionspartner eine Stelle abtritt. ➢ wird eine Richterstelle frei, liegt je nachdem welcher Partei sie zusteht, das Vorschlagsrecht bei dieser Partei => folglich ist BVerfGG mit Personen besetzt, die Partei zumindest „nahestehen“. ➢ Verfahren daher nur mit Art. 33 II GG vereinbar, wenn man BVerfG als ein politisches Organ ansieht, das entsprechend auch politisch besetzt werden darf. Voraussetzungen der Wählbarkeit der Richter am BVerfG ergeben sich aus § 3 BVerfGG: ➢ Mindestalter: 40 Jahre Seite 124 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 ➢ Wählbarkeit zum Bundestag (§ 15 BWG) ➢ Befähigung zum Richteramt (§ 5 DRiG) ➢ Die Richter sind hauptamtlich tätig => nur Lehrtätigkeit an einer deutschen Hochschule mit dem Amt des Richters vereinbar (§ 3 III, IV BVerfGG) ➢ Drei Richter jedes Senats müssen zuvor Richter an einem obersten Bundesgericht gewesen sein => soll richterliche Erfahrung und Verbindung zu anderen Bundesgerichten sichern ➢ Amtszeit: 12 Jahre ohne Möglichkeit einer Wiederwahl; längstens aber bis zum Erreichen der Altersgrenze von 68 Jahren (§ 4 BVerfGG) Seite 125 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 4. Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts a) Organstreitverfahren Vgl. Art. 93 I Nr. 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG Zulässigkeit I. Beteiligtenfähigkeit, Art. 93 I Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG Antragsteller und Antragsgegner (-> kontradiktorisches Verfahren) können sein: • Oberste Bundesorgane • „Andere Beteiligte“ i.S.d. Art. 93 I Nr. 1 GG (z.B. politische Parteien, Art. 21 I GG, Fraktionen, Ausschüsse, Bundestagspräsident, einzelne Abgeordnete, Gruppen von Abgeordneten i.S.d. § 10 IV GO BT, Bundesminister etc.) II. Streitgegenstand, Art. 93 I Nr. 1 GG, § 64 I BVerfGG • Streit um gegenseitige Rechte und Pflichten aus dem GG (= konkrete, rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners). III. Antragsbefugnis, § 64 I BVerfGG • Möglichkeit der Verletzung oder unmittelbaren Gefährdung aus der Verfassung abgeleiteter, eigener Rechte des Antragstellers • Ausnahme: Fraktionen können auch Rechte des Bundestages in Prozessstandschaft geltend machen. IV. Form, §§ 23 I, 64 II BVerfGG • Schriftform und Begründung; Bezeichnung der angeblich verletzten Grundgesetzbestimmung V. Frist, § 64 III BVerfGG • Sechs Monate nach Bekanntwerden der Maßnahme oder Unterlassung. VI. Rechtsschutzbedürfnis Begründetheit • Der Antrag ist begründet, wenn der Antragsteller durch das Verhalten des Antragsgegners tatsächlich in ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist (Prüfungsmaßstab ist das Grundgesetz). • Ist der Antrag zulässig und begründet, stellt das BVerfG fest, dass die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung gegen eine Bestimmung des GG verstößt, § 67 BVerfGG. • Beispiel: BVerfGE 118, 277 ff. (Nebeneinkünfte v. Abgeordneten) b) Bund-Länder-Streit Vgl. Art. 93 I Nr. 3 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 7, 68 ff. BVerfGG Seite 126 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Zulässigkeit I. Beteiligtenfähigkeit, Art. 93 I Nr. 3 GG, § 68 BVerfGG • Antragsteller und Antragsgegner (-> kontradiktorisches Verfahren) können sein: ➢ Bundesregierung für den Bund ➢ Landesregierung für das Land II. Streitgegenstand, Art. 93 I Nr. 3 GG, §§ 69, 64 I BVerfGG • III. Antragsbefugnis, §§ 69, 64 I BVerfGG • IV. Meinungsverschiedenheiten über gegenseitige Rechte und Pflichten des Bundes oder der Länder aus dem GG (= konkrete, rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners). Antragsteller muss geltend machen, in eigenen, durch das GG übertragenen Rechten aus dem Bundesstaatsverhältnis möglicherweise verletzt oder unmittelbar gefährdet zu sein. Form, §§ 23 I, 69, 64 II BVerfGG • Schriftform und Begründung; Bezeichnung der angeblich verletzten Gesetzesbestimmung. V. Frist, §§ 69, 64 III BVerfGG • Sechs Monate VI. Rechtsschutzbedürfnis Begründetheit • Der Antrag ist begründet, wenn der Antragsteller durch das Verhalten des Antragsgegners tatsächlich in ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. • Prüfungsmaßstab sind vor allem die Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes sowie der ungeschriebene Grundsatz der Bundestreue, ggf. sonstiges Verfassungsrecht insoweit, als es für das Verhältnis von Bund und Ländern von Bedeutung ist. • Ist der Antrag zulässig und begründet, stellt das BVerfG fest, dass die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung gegen eine Bestimmung des GG verstößt, §§ 69, 67 BVerfGG. Beispiele: BVerfGE 12, 205 ff. (1. Rundfunkurteil); BVerfGE 92, 203 (Fernsehrichtlinien-Entscheidung) c) Abstrakte Normenkontrolle • Vgl. Art. 93 I Nr. 2 i.V.m. §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG Zulässigkeit I. Antragsberechtigung, Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I BVerfGG Seite 127 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz • II. HWS 2023/2024 Bundesregierung, Landesregierung, ein Viertel der Mitglieder des Bundestags (Antragsgegner gibt es nicht, da es sich um ein objektives Verfahren handelt). Prüfungsgegenstand, Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I BVerfGG • III. Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht jede Rechtsnorm, d.h. Bundesrecht wie Landesrecht, auch untergesetzliches Recht sowie Verfassungsrecht; erst nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens, d.h. nach Ausfertigung und Verkündung, aber vor Inkrafttreten möglich Antragsgrund, Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I BVerfGG • § 76 I Nr. 1 BVerfGG: Norm muss für nichtig gehalten werden. • § 76 I Nr. 2 BVerfGG: Norm wurde nicht angewendet und Antragsteller hält sie für gültig. (P) § 76 I BVerfGG ist enger gefasst als Art. 93 I Nr. 2 GG. IV. e.A.: § 76 I BVerfGG ist (teil-)nichtig, v.a. das „nur“ − a.A.: § 76 BVerfGG konkretisiert den Art. 93 I Nr. 2 GG − h.M.: § 76 BVerfGG ist verfassungskonform auszulegen, Arg: einfaches Recht kann die Verfassung nicht einschränken; bloße Zweifel reichen damit aus. Objektives Klarstellungsinteresse • V. − Ein subjektives Rechtsschutzbedürfnis ist nicht nötig, da es sich um ein objektives Beanstandungsverfahren handelt. Form, § 23 I BVerfGG • Schriftlich mit Begründung; eine Frist ist nicht zu wahren. Begründetheit • Der Antrag ist begründet, wenn die überprüfte Norm in formeller oder in materieller Hinsicht mit dem als Prüfungsmaßstab heranzuziehenden Recht unvereinbar ist. • Prüfungsmaßstab ist für Bundesrecht allein das Grundgesetz, für Landesrecht das Grundgesetz und sonstiges Bundesrecht, nicht dagegen Landesverfassungsrecht. (P) Prüfungsmaßstab bei untergesetzlichem Bundesrecht M 1: Prüfung der VO nur am Maßstab des GG (h.M.) (Wortlaut Art. 93 I Nr. 2 GG) M 2: Prüfung der VO am Maßstab des GG und sonstigem Bundesrecht (Wortlaut § 76 BVerfGG) • BVerfG: Vereinbarkeit der RVO mit einfachem Bundesrecht als notwendige Vorfrage im Verfahren der abstr. NK -> nur so lässt sich feststellen, ob für die Prüfung der Vereinbarkeit der RVO mit dem GG ein gültiger Gegenstand gegeben ist. • Arg.: Für die Frage, ob Inhalt der VO von Ermächtigungsgrundlage gedeckt wird, ist GG nicht unmittelbar Prüfungsmaßstab; v.a Art. 80 I 2 GG stellt nur Anforderungen an ermächtigendes Gesetz, nicht aber an RVO. Zur Vertiefung: Müller-Terpitz, DVBl 2000, 232, 235 ff. Seite 128 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Bejaht das BVerfG einen Verstoß, erklärt es das Gesetz im Regelfall für nichtig (ex tunc), § 78 BVerfGG; ggf. kommt aber auch nur eine Unvereinbarkeitserklärung in Betracht. Beispiel: BVerfGE 101, 1 ff. (Hennenhaltungsverordnung) d) Konkrete Normenkontrolle Vgl. Art. 100 GG i.V.m. §§ 13 Nr.11, 80 ff. BVerfGG Zulässigkeit I. Vorlageberechtigung (Art. 100 I 1 GG) • Gerichte (auch Landesverfassungsgerichte) • Gericht ist jeder sachlich unabhängige Spruchkörper, der in einem formell gültigen Gesetz mit den Aufgaben eines Gerichts betraut und als Gericht bezeichnet wird. II. Vorlagegegenstand (Art. 100 I 1, 2 GG) • Jedes formelle, nachkonstitutionelle Gesetz • Formell: vom parlamentarischen Gesetzgeber im dafür vorgesehenen Verfahren erlassen; nicht: Satzung, RVO • Nachkonstitutionell: nach Inkrafttreten des GG erlassen • Ausnahmsweise kann auch ein vor Inkrafttreten des GG erlassenes Gesetz Prüfungsgegenstand sein, wenn dieses vom nachkonstitutionellen Gesetzgeber „in seinen Willen aufgenommen“ wurde. III. Entscheidungserheblichkeit der Norm (Art. 100 I 1 GG, § 80 II 1 BVerfGG) • Entscheidungserheblichkeit liegt vor, wenn die Entscheidung bei Gültigkeit der Norm anders ausfallen würde als bei Ungültigkeit. • Entscheidung: jede gerichtliche Maßnahme, die ein gerichtliches Verfahren oder einen Teil davon endgültig oder vorläufig beendet. • Nicht darunter fallen die Entscheidung bloß vorbereitende Maßnahmen. IV. Überzeugung des Gerichts (Art. 100 I 1 GG) • Überzeugung von der Nichtigkeit des Gesetzes, die nicht durch verfassungskonforme Auslegung behoben werden kann. • Bloße Zweifel genügen nicht. V. Form der Vorlage (§§ 23 I, 80 II BVerfGG) • Aussetzung des Verfahrens und Vorlage an das Bundesverfassungsgericht durch Beschluss • Antrag einer Prozesspartei nicht erforderlich, § 80 III BVerfGG Seite 129 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Begründetheit • Der Antrag ist begründet, wenn die überprüfte Norm in formeller oder in materieller Hinsicht mit dem (als Prüfungsmaßstab heranzuziehenden) höherrangigen Recht unvereinbar ist. • Ist die Vorlage zulässig und begründet, erklärt das BVerfG die Norm grundsätzlich für nichtig, §§ 82 I i.V.m. 78 BVerfGG. Beispiel: BVerfGE 105, 61 ff. (Dienstflucht und Wehrpflicht); Hartz IV-Entscheidung des BVerfGE v. 9.2.2010. e) Verfassungsbeschwerde Vgl. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG f) Sonstige Zuständigkeiten • Kraft verfassungsrechtlicher Anordnung: Art. 18 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 1, 36 ff. BVerfGG Art. 21 II 2 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 2, 43 BVerfGG Art. 41 II i.V.m. §§ 13 Nr. 3, 48 BVerfGG Art. 61 I GG i.V.m. §§ 13 Nr. 4, 49 ff. BVerfGG Art. 93 I Nr. 2a GG Art. 93 I Nr. 4b GG Art. 93 I Nr. 4c GG Art. 93 II GG 98 II GG 100 II (Normverifikation), III (Divergenzvorlage) Art. 126 GG Kraft gesetzlicher Anordnung: § 36 II PUAG 5. Bindungswirkung bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen • Vgl. § 31 BVerfGG (und Art. 94 II GG) • Entscheidungen erwachsen in Rechtskraft. • Gemäß § 31 I BVerfGG binden die Entscheidungen des BVerfG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. • Bindungswirkung erstreckt sich auf Tenor und tragende Gründe; letztere allerdings nur insofern sie die Auslegung und Anwendung des GG betreffen (BVerfG als „Interpret und Hüter der Verfassung“) • Normenkontrollentscheidungen erlangen ferner Gesetzeskraft, § 31 II BVerfGG Seite 130 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 • Rechtskraft inter et erga omnes; d.h. Verbindlichkeit für und gegen jedermann. • Entscheidung wird aber nicht zum Gesetz, sondern bleibt Richterspruch. 6. Einstweilige Anordnungen • vgl. § 32 BVerfGG • Verfahrenssichernde Funktion: Einstweilige Anordnung hat als vorläufige Regelung die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit der nachfolgenden verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu gewährleisten • Akzessorietät zum Hauptsacheverfahren: Verfahren über einstweilige Anordnung kann stets nur Nebenverfahren zu einem Verfassungsrechtsstreit sein • Aktuelle Rechtsprechung: Kein Erlass einer einstweiligen Anordnung hinsichtlich der Außerkraftsetzung von Ausgangsbeschränkungen anlässlich der Corona-Pandemie in Bayern (BVerfG Beschl. v. 7.4.2020 – 1 BvR 755/20, NJW 2020, 1429). Zulässigkeit I. Statthaftigkeit • Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache; • keine Beschränkung auf bestimmte Verfahrensarten • Hauptsacheverfahren muss jedoch noch nicht anhängig gemacht worden sein II. Einleitung des Verfahrens III. • Gemäß Wortlaut des § 32 BVerfGG ist kein Antrag nötig • (P) Kann BVerfG auch ohne entsprechenden Antrag tätig werden (Entscheidung ex officio)? Str.; h.M. nur wenn die Hauptsache bereits anhängig ist; würde der Stellung eines Gerichts widersprechen, wenn das BVerfG auch ohne Antrag eine eA erlassen dürfte, ohne dass ein entsprechendes Hauptsacheverfahren anhängig wäre. Antragsberechtigung • Orientierung am Hauptsacheverfahren IV. Antragsbefugnis • Geltendmachung schwerer Nachteile oder drohender Gewalt; • Eile geboten V. Rechtsschutzbedürfnis • Keine evidente Unzulässigkeit des Hauptsacheverfahrens • Keine Vorwegnahme der Hauptsache; Ausnahme: wenn sonst irreversible Tatsachen geschaffen würden und der Schutz durch das Ergebnis in der Hauptsache zu spät käme (effektiver Rechtsschutz, Art. 19 IV GG). • Fehlen anderweitiger Rechtsschutzmöglichkeiten Seite 131 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 VI. Form, § 23 I BVerfGG Begründetheit I. Umfassende Güter- und Interessenabwägung in Form einer Doppelhypothese: • Einstweilige Anordnung muss zum gemeinen Wohl dringend geboten sein: • Notwendigkeit zur Abwehr schwerer Nachteile, drohender Gewalt oder anderer wichtiger Gründe. • Abwägung der Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Hauptsache aber Erfolg hätte (z.B. eine angegriffene Maßnahme verfassungswidrig wäre) mit den Nachteilen, die zu befürchten wären, wenn eine einstweilige Anordnung erginge, die Hauptsache aber nicht erfolgreich wäre. • (sog. Doppelhypothese) II. Erfolgsaussichten in der Hauptsache • Grundsatz: nicht zu berücksichtigen • Ausnahme: Vorwegnahme der Hauptsache oder Hauptsache ist von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet • vgl. zur Abwägung beispielhaft: BVerfG, NJW 2010, 2418 ff.; BVerfG, 2 BvR 1390/12 u.a., Urt. v. 12.9.2012 (ESM-Rettungsfonds) Seite 132 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Gesamteingänge der letzten fünf Geschäftsjahre (2016-2020) 2016 2017 2018 2019 2020 Erster Senat Verfassungsbeschwerden (BvR) 2.922 2.920 2.917 2.897 2.905 Konkrete Normenkontrollen (BvL) 7 7 8 5 12 Abstrakte Normenkontrollen (BvF) -- -- 1 -- -- Einstweilige Anordnungen (BvQ) 51 74 92 94 171 Plenarsachen (PBvU) -- -- -- -- -- 2.980 3.001 3.018 2.996 3.088 Zweiter Senat Verfassungsbeschwerden (BvR) 2.688 2.864 2.761 2.261 2.289 Konkrete Normenkontrollen (BvL) 10 22 14 15 24 Abstrakte Normenkontrollen (BvF) -- -- 2 1 1 Einstweilige Anordnungen (BvQ) 70 87 121 100 100 Verfassungswidrigkeit/Ausschluss von staatlicher Finanzierung von Parteien (BvB) -- -- -- 1 -- Wahl- und Mandatsprüfung (BvC) -- 7 38 66 16 Organstreit (BvE) 6 1 5 5 11 Bund-Länder-Streit (BvG) -- -- -- 1 -- Öffentlichrechtliche Streitigkeiten (BvH) -- -- -- -- -- Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes (BvK) -- -- -- -- -- Seite 133 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Nachprüfung von Völkerrecht (BvM) -- -- -- -- -- Plenarsachen (PBvU) -- -- -- -- -- 2.774 2.981 2.941 2.450 2.441 Insgesamt 5.754 5.982 5.959 5.446 5.529 Seite 134 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Anteil der stattgegebenen an den entschiedenen Verfassungsbeschwerden pro Jahr seit 1987* Jahr Insgesamt entschiedene und mitentschiedene Davon erfolgreich Anteil in % Verfahren 1987 2.638 94 3,56% 1988 2.975 84 2,82% 1989 3.204 87 2,72% 1990 3.715 635 17,09% 1991 3.452 246 7,13% 1992 3.782 210 5,55% 1993 4.927 270 5,48% 1994 4.901 161 3,29% 1995 4.743 139 2,93% 1996 4.853 109 2,25% 1997 4.663 45 0,97% 1998 4.615 99 2,15% 1999 4.872 103 2,11% 2000 4.884 76 1,56% 2001 4.575 89 1,95% 2002 4.452 100 2,25% 2003 4.499 81 1,80% Seite 135 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 2004 5.343 117 2,19% 2005 4.808 133 2,77% 2006 5.876 136 2,31% 2007 6.037 148 2,45% 2008 5.852 111 1,90% 2009 5.911 111 1,88% 2010 6.021 103 1,71% 2011 5.744 93 1,62% 2012 5.327 148 2,78% 2013 6.238 91 1,46% 2014 6.292 121 1,92% 2015 5.884 111 1,89% 2016 5.906 117 1,98% 2017 5.376 110 1,86% 2018 5.853 98 1,67% 2019 4.871 75 1,54% 2020 5.361 111 2,07% *Vor 1987 ist die Angabe von validen Zahlen nicht möglich, da bei Entscheidungen, in denen mehrere Verfahren erledigt wurden (mitentschiedene Verfahren), keine gesonderte Auswertung erfolgte. Seite 136 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Verfahren seit 7. September 1951 bis 31. Dezember 2020 Anhängig wurden ins- 249.023 gesamt: Erledigt sind insgesamt: Noch anhängig sind: 245.809 3.214 davon: 240.251 (96,48%) Verfassungsbeschwerden, 3.919 (1,57%) abstrakte¹ und konkrete² Normenkontrollverfahren, 10 (0,01%) Parteiverbotsverfahren, 4.818 (1,93%) andere Verfahren, z.B. Bund-, LänderStreitigkeiten, Organ- und andere Verfassungsstreitigkeiten in Bund und Ländern, 25 (0,01%) frühere Verfahren, die bis 1960 geführt wurden³ 237.223 (96,51%) Verfassungsbeschwerden; davon 5.372 erfolgreich =2,3% 3.812 (1,88%) abstrakte und konkrete Normenkontrollverfahren, 9 (0,01%) Parteiverbotsverfahren, 4.740 (1,92%) andere Verfahren, 25 (0,01%) frühere Verfahren, die bis 1960 geführt wurden (94,21%) Verfassungsbeschwerden, davon: davon: 3.028 Seite 137 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 107 (3,33%) abstrakte und konkrete Normenkontrollverfahren, 1 (0.03%) Parteiverbotsverfahren/ Ausschluss staatlicher Finanzierung 78 (2,43%) andere Verfahren davon im: Ersten Senat 1.451 (45,15%) Zweiten Senat (54,85%) 1.763 ¹ Art. 93 I Nr. 2 GG ² Art. 100 I GG ³ AZ: BvT und PBvV Seite 138 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 § 5 Exkurs: Verhältnis Unionsrecht, Völkerrecht und nationales Recht A. Grundsatz: Anwendungsvorrang des Unionsrechts ▪ = unionsrechtswidriges nationales Recht ist nicht nichtig, es kommt jedoch im Konfliktfall nicht zur Anwendung. ▪ Vgl. Art 288 AEUV B. Europäisches und nationales Recht: Prüfungs- und Verwerfungskompetenz ▪ ▪ ▪ ▪ Richtlinie und VO der EU sind nicht am Maßstab des GG zu messen, wohl aber am Maßstab von EUV, AEUV und der Charta der Grundrechte der EU (GRCh). Verbindliche Entscheidung über europäisches Recht ist Aufgabe des EuGH -> Kommt es auf den Inhalt europäischen Rechts an, haben nationale Gerichte sich im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens an den EuGH zu wenden. BVerfG hat Anwendungsvorrang in seiner Rechtsprechung anerkannt (BVerfGE 126, 286 [301]; 140, 317 [335]). Dieser Anwendungsvorrang findet jedoch seine Grenzen in der sog. Schrankentrias (BVerfGE 129, 78 [100]). ➢ Grundrechte − Solange I: Art. 24 GG gestattet nicht vorbehaltlos die Relativierung des Grundrechtsteils des Grundgesetzes (BVerfGE 37, 271 [280]). -> „Solange“-Formel: Solange das Gemeinschaftsrecht keinen kodifizierten Grundrechtskatalog hat, behält sich das BVerfG die Kontrolle von Gemeinschaftsrecht an den Grundrechten des GG vor (BVerfGE 37, 271 [285]) − Solange II: Solange der Grundrechtsschutz des Gemeinschaftsrechts, insb. des EuGH, im Wesentlichen jenem des GG entspricht, prüft das BVerfG keine Gemeinschaftsrechtsakte anhand der Grundrechte des GG (BVerfGE 73, 339 [387]) − Maastricht: „Kooperationsverhältnis“ des BVerfG und EuGH beim Schutz der Grundrechte (BVerfGE 89, 155 [174 f.]) − Bananenmarktverordnung: Verfassungsbeschwerden und Vorlagen im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens, die eine Verletzung der Grundrechte des GG durch Unionsrechtsakte rügen, sind nur dann zulässig, wenn dargelegt werden kann, dass der Grundrechtsschutz durch den EuGH den nach „Solange II“ erforderlichen Grundrechtsstandard unterschreitet (BVerfGE 102, 147 [164]). − Recht auf Vergessen II: Soweit es sich um vollständig harmonisierte Unionsrechtsakte handelt, prüft das BVerfG diese anhand der Grundrechte der GRCh (BVerfGE 152, 216 [236 f. Rn. 50]) ➢ Ultra-vires-Kontrolle − EU hat keine Kompetenz-Kompetenz, sondern erhält ihre Kompetenzen nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 I 1 EUV) − Ultra-vires-Akte = Rechtsakt, der „ausbricht“ und nicht von den übertragenen Kompetenzen gedeckt ist − Entfalten keine Bindungswirkung und dürfen von staatlichen Organen der Bundesrepublik nicht angewendet werden (BVerfGE 89, 155 [188, 195, 210]). Grund: Verletzung des Rechtsstaatsprinzips und des Demokratieprinzips Seite 139 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 − Lissabon-Urteil: nur BVerfG kann einen ausbrechenden Rechtsakt feststellen > Kontrollmonopol (BVerfGE 123, 267 [354]) − Honeywell: Europarechtsfreundlichkeit des GG führt zu Einengung der Prüfungskompetenz – BVerfG kann ausbrechenden Rechtsakt erst dann feststellen, wenn der EuGH eine Möglichkeit zur Entscheidung über die Gültigkeit und Auslegung des Rechtsaktes hatte (BVerfGE 126, 286 [304]) − Hier aktuell: Frage der Mandatsüberschreitung der EZB – Trennung von Fiskal- und Geldpolitik ➔ OMT1: Keine Überprüfung von Maßnahmen der EU-Organe. Stattdessen Prüfung eines verfassungswidrigen Unterlassens eines deutschen Organs (hier Bundesbank, siehe BVerfGE 142, 123 [207 f. Rn. 163]). Entscheidungen des EuGH zur Kompetenzkonformität des Handelns von EU- Organen ist nur dann nicht zu folgen, wenn diese „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ und daher „objektiv willkürlich seien“ (BVerfGE 142, 123 [200 f. Rn. 143]). BVerfG stellte keinen derartigen Verstoß gegen Art. 119 und 127 ff. AEUV fest (BVerfGE 142, 123 [214 f. Rn. 175]) ➔ PSPP2: EuGH muss auch bei Prüfung des währungspolitischen Programmes der EZB den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des Art. 5 I 2, IV AEUV beachten. Diese Verhältnismäßigkeitsprüfung des EuGH sei derart missglückt, dass von einem ultra-vires-Akt auszugehen ist (BVerfGE 146, 216 [284 ff. Rn. 114 ff.]) ➢ Verfassungsidentitätskontrolle − Übertragung von Kompetenzen an die Union kann nur im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ordnung des GG geschehen – Kern des GG (vgl. Art 79 III GG) muss auch dabei geachtet werden (BVerfGE 123, 267 [353 f.]) − Identitätsverletzender Rechtsakt ist immer auch ultra vires − Verletzung des Grundsatzes der Volkssouveränität (Art. 20 II 1 GG) ist anzunehmen, wenn (1) die Kompetenz-Kompetenz auf die EU übertragen wird, (2) dem Bundestag keine eigenen Rechte (insb. Budgethoheit) und Befugnisse mehr verbleiben, (3) die Ausgestaltung der EU nicht mehr demokratischen Grundsätzen entspricht (BVerfG, NJW 2019, 3204 [3206 f.]) − Das BVerfG sieht die folgenden Rechtsgebiete als „besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates“ an: „das materielle und formelle Strafrecht (1), die Verfügung über das Gewaltmonopol polizeilich nach innen und militärisch nach außen (2), die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und - gerade auch sozialpolitisch motivierte - Ausgaben der öffentlichen Hand (3), die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen (4) sowie kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften (5).“ (BVerfGE 123, 267 [359]) 1 Kurz für „Outright Monetary Transactions“ - Die im OMT-Beschluss festgelegten Rahmenbedingungen sehen den Ankauf von Staatsanleihen ausgewählter Mitgliedstaaten in unbegrenzter Höhe vor, wenn und solange diese Mitgliedstaaten zugleich an einem mit der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) oder dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) vereinbarten Reformprogramm teilnehmen. 2 Kurz für „Public Sector Purchase Programme“ - Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten Seite 140 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 − BVerfG kann im Wege der Verfassungsbeschwerde (z.B. aufgrund einer behaupteten Verletzung des „Rechts auf Demokratie“ aus Art. 38 I 1 GG iVm. Art. 20 I, II GG) angerufen werden − Beispiel: Übernahme von unüberschaubaren Haftungsrisiken für Dritte, kann dazu führen, dass die Budgethoheit des Bundestages gefährdet wird (vgl. BVerfGE 129, 124 [179 ff.]; 134, 366 [418 Rn. 102]) Zur Vertiefung: Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 271 ff.; Calliess, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 24 Rn. 91 ff.; Cornils, in: Menzel/Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 252 ff.; Schweitzer/Dederer, Staatsrecht III, 12. Aufl. 2020, Rn. 186 ff. C. Verhältnis zum Völkerrecht Völkerrecht= Die Gesamtheit der von den Staaten als Recht anerkannten Regeln, die das Verhalten der Staaten und anderer Völkerrechtssubjekte in ihren Beziehungen bestimmen. I. Verhältnis Völkerrecht und nationales Recht ▪ ▪ ▪ Gemäß der dualistischen Ansicht sind nationales Recht und Völkerrecht zwei getrennte Rechtsordnungen, wohingegen sie nach der monistischen Auffassung zwei Teile einer einheitlichen Rechtsordnung sind. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts) entfalten gemäß dem Rechtsanwendungsbefehl des Art. 25 GG unmittelbare Wirkung und gehen den (auch später erlassenen) Gesetzen vor. Nach der Rspr. des BVerfG und der h. L. stehen sie zwar oberhalb der (einfachen) Gesetze aber unterhalb der Verfassung und nehmen damit einen Zwischenrang ein. Es handelt sich dabei um einen Anwendungsvorrang, sodass nationale Gesetze nicht nichtig sind. Anderer Auffassungen nach besteht eine Gleichrangigkeit neben dem GG. Völkerrechtlichen Verträgen, die in den Fällen des Art. 59 Abs. 2 GG einer Ratifizierung in Form eines Zustimmungsgesetzes bedürfen, kommt wegen Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG innerstaatlich nur der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu und sie haben keinen Vorrang gegenüber nationalen Gesetzen. II. Verhältnis Völkerrecht und Unionsrecht ▪ ▪ ▪ Das allgemeine Völkerrecht sowie völkerrechtliche Verträge werden in ihrer Geltung weitgehend durch das speziellere Unionsrecht verdrängt. Allerdings binden die Regeln des Völkergewohnheitsrechts die Unionsorgane und sind Bestandteil der Rechtsordnung der EU, sodass sich unionsrechtliche Regelungen und Handlungen in diesem Rahmen bewegen müssen (EuGHE 1998, I-3688 – Racke). Zudem sind die über Art. 1 Abs. 2 GG innerstaatlich gewährleisteten Menschenrechtsnormen des zwingenden Völkergewohnheitsrechts als unaufgebbarer Kernbestand der deutschen Verfassungsordnung einzuhalten und setzen sich im Kollisionsfall auch gegenüber Unionsrecht durch. Völkerrechtliche Regelungen zwischen den Mitgliedstaaten sind nicht mehr für Materien zulässig, für die Zuständigkeiten der Union und entsprechende Rechtsetzungsbefugnisse ihrer Organe bestehen, da die Mitgliedstaaten insoweit ihre Souveränität übertragen haben. Außerhalb der Zuständigkeit der EU gilt zwischen den Mitgliedsstaaten weiterhin das Völkerrecht. Seite 141 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz ▪ Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Dabei ist jedoch zu beachten, dass Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen im Sinne des Art. 59 Abs. 2 GG, die in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis zum Integrationsprogramm der Europäischen Union stehen, am Maßstab des Art. 23 Abs. 1 GG zu messen sind. Daher bedarf das Zustimmungsgesetz, soweit es das Grundgesetz seinem Inhalt nach ändert oder ergänzt oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglichen, gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Ansonsten folgt daraus eine Verletzung des grundrechtsgleichen Recht auf demokratische Selbstbestimmung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG (BVerfGE 153, 74 ff.). Zur Vertiefung: Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 25 Rn. 3 ff, 88 f.; Streinz, in: Sachs, Grundgesetz, Art. 25 Rn. 85 ff.; Pieper, Völkerrecht und Unionsrecht, in: Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, 6. Auflage 2022. D. Aktuelle Rechtsprechung: ▪ ▪ „Recht auf Vergessen I“ (BVerfGE 152, 152 ff.) ➢ „Unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht prüft das Bundesverfassungsgericht primär am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient“. ➢ Es ging um die Frage, ob der Betreiber eines Online-Pressearchivs einen Bericht über eine weit zurückliegende Straftat auf Verlangen des dort aufgeführten Täters zu löschen hat. Insoweit war die DSGVO zu beachten, die es aber den Mitgliedstaaten freistellt, für die Presse besondere Bestimmungen zu erlassen („Medienprivileg“). Das nationale Recht ist nicht unionsrechtlich determiniert. -> Prüfungsmaßstab: Grundrechte des GG „Recht auf Vergessen II“ (BVerfGE 152, 216 ff.) ➢ Auch hier zunächst Feststellung, dass „die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden“. ➢ Neu: Feststellung, dass das BVerfG jetzt eine eigene Kontrollkompetenz dahingehend begründet, dass das BVerfG die Anwendung des Unionsrechts durch deutsche Stellen am Maßstab der Unionsgrundrechte kontrolliert. Abgeleitet wird dies aus der Integrationsverantwortung nach Art. 23 I GG. ➢ Hier ging es um Ansprüche gegen einen Suchmaschinenbetreiber. Das anwendbare Recht war hier jedoch vollständig harmonisiert. -> Prüfungsmaßstab: Grundrechte der Charta Zur Vertiefung: Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 271 ff., 290a f.; Scholz, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 23 Rn. 91. Seite 142

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