Staatsrecht – Grundrechte PDF

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Universität Mannheim

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz

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constitutional law fundamental rights german law political science

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This document is not a past paper but instead lecture notes or study material on constitutional law, specifically German constitutional law, and fundamental rights. It details procedures for asserting fundamental rights violations in Germany, focusing on the role of courts.

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Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 D. Prozessuale Geltendmachung von Grundrechtsverstößen „Doch leider hat man bisher nicht vernommen, dass etwas recht war und dann war´s auch so.“ (Kurt Weill / Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper, 1928 – erstes Dreigroschenfinale) I...

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 D. Prozessuale Geltendmachung von Grundrechtsverstößen „Doch leider hat man bisher nicht vernommen, dass etwas recht war und dann war´s auch so.“ (Kurt Weill / Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper, 1928 – erstes Dreigroschenfinale) I. Geltendmachung vor den Fachgerichten ▪ Grundrechtsverstöße sind primär im Rahmen eines konkreten Rechtsstreits vor dem jeweils zuständigen Fachgericht geltend zu machen. Da gem. Art. 1 III GG auch die Rechtsprechung (Judikative) an die Grundrechte gebunden ist, muss sie etwaigen Grundrechtsverstößen durch die „vollziehende Gewalt“, aber auch durch die Gesetzgebung und die Rechtsprechung selbst (z.B. im Rahmen einer Berufung oder Revision) abhelfen. Ggf. erfordert dies – so bei vom Parlament beschlossenen nachkonstitutionellen Gesetzen – eine Vorlage nach Art. 100 I GG. ▪ Nur am Rande sei bemerkt, dass die Fachgerichte – so der Rechtsstreit hierzu Anlass bietet – auch die Gemeinschaftsgrundrechte und die Grundrechte aus der EMRK zu berücksichtigen haben. II. Geltendmachung vor den Verfassungsgerichten ▪ Grundrechtsverstöße der Staatsgewalten können im Übrigen vor den Verfassungsgerichten des Bundes (BVerfG) und der Länder (in BadenWürttemberg: Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg3, StGH) geltend gemacht werden. ▪ Für den Bürger kommen insofern 2 Verfahren in Betracht: Die Verfassungsbeschwerde (dazu sogleich nachfolgend III.) sowie die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 I GG (s.o.). Letztere kann vom Bürger allerdings nur angeregt, nicht hingegen „erzwungen“ werden. III. Insbesondere die Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 I 4a GG (Schema) Zur Vertiefung: Ebert, Grundwissen: Verfassungsbeschwerde, ZJS 2015, 485 ff. 1. Zulässigkeit a) Beschwerdefähigkeit (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG) Unter Beschwerdefähigkeit versteht man die Fähigkeit, vor dem BVerfG eine Verfassungsbeschwerde zu erheben. Gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG ist „jedermann“ beschwerdefähig. Dies setzt die Fähigkeit voraus, Träger von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten sein zu können (Grundrechtsfähigkeit). Die Grundrechtsfähigkeit muss im Hinblick auf das konkret als verletzt gerügte Grundrecht bzw. grundrechtsgleiche Recht bestehen. 3 Bei der Bezeichnung des StGH ist eine Änderung zu erwarten. Die Möglichkeit der Landesverfassungsbeschwerde wurde in Baden-Württemberg erst im Jahre 2013 eingeführt. Nun soll der Name des Verfassungsgerichtes an diese Neuerung angepasst werden. 161 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 aa) Natürliche Personen Bei Inländern i.S.d. Art. 116 I GG kann die Grundrechtsfähigkeit knapp bejaht werden. Ausländer sind beschwerdefähig, soweit sie sich auf ein Grundrecht bzw. grundrechtsgleiches Recht berufen können, von dessen persönlichen Schutzbereich sie erfasst werden (partielle Grundrechtsunfähigkeit bezüglich der Deutschengrundrechte). Zu beachten ist die Sonderstellung von Ausländern aus EUMitgliedstaaten: Wegen des allgemeinen Diskriminierungsverbots in Art. 18 AEUV müssen insoweit entweder alle Deutschengrundrechte auch für EU-Ausländer Anwendung finden oder der als Auffanggrundrecht fungierende Art. 2 I GG muss so ausgelegt werden, dass er einen den Deutschengrundrechten gleichwertigen Schutz gewährt. Eine spezielle Situation liegt überdies beim Tod des Beschwerdeführers während des Prozesses vor. Da es dazu keine gesetzliche Regelung gibt, sind die Folgen laut BVerfG4 für jeden Einzelfall unter Berücksichtigung der Art des angegriffenen Hoheitsaktes und des Standes des Verfahrens gesondert zu beurteilen. Es hat sich jedoch folgende (grobe) Leitlinie entwickelt5: Geht es um ein vermögenswertes Recht, kann die Beschwerde-befugnis auf die Erben übergehen.6 Aus prozessökonomischen Gründen wird dann einfach das Verfahren mit den Erben weitergeführt. Liegt hingegen ein höchstpersönliches Recht in Streit, so geht das BVerfG grundsätzlich von einer Erledigung des Rechtsstreits aus. Ausnahmsweise geht das BVerfG dennoch aufgrund der objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde von einer Befugnis zur Entscheidung aus.7 (Hinweis: Der Prüfungsort für dieses Problem ist umstritten. Einige Stimmen in der Literatur sehen den Punkt „Rechtsschutzinteresse“ als passenden Ort für die Überprüfung an, weil man dort passenderweise die Folgen (Erledigung) unterbringen kann.8 Andere verorten das Problem im Rahmen der Beschwerdefähigkeit.9) bb) Juristische Personen (Art. 19 III GG) Zum Begriff der juristischen Person im Sinne des Art. 19 III GG und zum Problem des Grundrechtsschutzes juristischer Personen des öffentlichen Rechts vgl. B. III. 1 e) sowie Schema Verletzung eines Freiheitsgrundrechtes. 4 BVerfGE 6, 389 (442). Vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl., Rn. 515 (m.w.N.); Lenz/Hansel, BVerfGG, § 90 Rn. 88. 6 Vgl. BVerfGE 114, 371 (383) m.w.N. 7 BVerfGE 124, 300 (318 f.). 8 Prüfung der Folgen der Erledigung unter dem Punkt „Rechtsschutzinteresse“ bei: Lechner/Zuck, BVerfGG, 6. Aufl., § 90 Rn. 117. 9 Vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl., Rn. 515 (m.w.N.); Lenz/Hansel, BVerfGG, § 90 Rn. 88; Ruppert, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.) BVerfGG, 2. Aufl. Rn. 23. 5 162 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Zur Vertiefung: Hummel, Beschwerdefähigkeit und Beschwerdebefugnis – zum Prüfungsort des Art. 19 III GG bei der Prüfung der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, JA 2010, 346 ff. ggf. ergänzen mwN: Ludwigs/Friedmann, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 III GG, JA 2018, 807. b) Prozessfähigkeit Die Prozessfähigkeit ist die Fähigkeit, Prozesshandlungen selbst oder durch selbst bestimmte Bevollmächtigte wirksam vornehmen (lassen) zu können. Grundsätzlich setzt dies die Geschäftsfähigkeit des Handelnden voraus. Bei Erwachsenen ist dies i.d.R. unproblematisch und daher im Gutachten nur knapp oder gar nicht zu erwähnen, es sei denn, es handelt sich um psychisch Kranke oder Betreute (vgl. §§ 1896 ff. BGB). Dabei gilt im verfassungsgerichtlichen Verfahren der Grundsatz, dass geistig Kranke oder betreute Personen zumindest prozessfähig hinsichtlich einer staatlichen Entscheidung über ihren Geisteszustand sind (vgl. BVerfGE 10, 302 [306]; 65, 317 [321]). Problematisch ist die Prozessfähigkeit zumeist bei Minderjährigen. Diese werden grundsätzlich von ihrem gesetzlichen Vertreter (i.d.R. die Eltern – § 1629 I BGB) vertreten. Wenn der Minderjährige jedoch als reif anzusehen ist10 oder gar von der Rechtsordnung11 als reif angesehen wird, in dem grundrechtlich geschützten Bereich eigenverantwortlich zu handeln (Grundrechtsmündigkeit), so kann er selbst Prozesshandlungen vornehmen oder einen Bevollmächtigten bestimmen. Für juristische Personen muss stets deren vertretungsbefugtes Organ handeln. c) Beschwerdegegenstand (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG) Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde kann jeder Akt der deutschen öffentlichen Gewalt i.S.v. Art. 1 III GG (Legislative, Exekutive, Judikative) sein. Akte öffentlicher Gewalt sind auf die Setzung einer Rechtsfolge gerichtete Akte oder ein einfaches Tun oder Unterlassen.12 Die Verfassungsbeschwerde ist also auch unmittelbar gegen Gesetze 13 (sog. Rechtssatzverfassungsbeschwerde), gegen Rechtsverordnungen (vgl. Art. 80 GG) oder Verwaltungsakte und gegen Gerichtsentscheidungen 14 (sog. Urteilsverfassungsbeschwerde) möglich. Bei mehreren Akten der öffentlichen Gewalt in der gleichen Sache (z.B. Verwaltungsakt, Widerspruchsbescheid, Urteile der Instanzgerichte) hat der Beschwerdeführer die Wahl, entweder nur die letztinstanzliche Gerichtsentscheidung oder alle Entscheidungen und den zu Grunde liegenden Akt der vollziehenden Gewalt anzugreifen. In jedem Fall handelt es sich nur um eine Verfassungsbeschwerde. Im Erfolgsfall werden grundsätzlich nur die vom Beschwerdeführer angegriffenen Akte vom BVerfG 10 Bspw. ein minderjähriger Redakteur einer Schülerzeitung für Art. 5 I GG. Vgl. insbes. § 5 RelKErzG, wonach sich Kinder ab dem 14. Lebensjahr selbst, d.h. ohne Mitwirkung ihres gesetzlichen Vertreters, auf Art. 4 I, II GG berufen dürfen. 12 Vgl. §§ 92, 95 I 1 BVerfGG, wo dies vorausgesetzt wird. 13 Vgl. §§ 93 III, 94 IV, 95 III BVerfGG. 14 Vgl. §§ 93 I, 94 III, 95 II BVerfGG. 11 163 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 aufgehoben. Trifft der Beschwerdeführer keine ausdrückliche Wahl, so gelten der Ausgangsakt und die letztinstanzliche Entscheidung als angegriffen. d) Beschwerdebefugnis (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG) Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde setzt des Weiteren voraus, dass der Beschwerdeführer behauptet, durch den Beschwerdegegenstand in einem Grundrecht oder in einem der in Art. 93 I Nr. 4a GG abschließend genannten grundrechtsgleichen Rechte verletzt zu sein. Der angegriffene Akt muss dabei zugleich geeignet sein, den Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seiner grundrechtlich geschützten Position zu beeinträchtigen. aa) Behauptung einer Grundrechtsverletzung Der Beschwerdeführer muss zumindest die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung geltend machen (sog. Möglichkeitstheorie). Die Rechtsverletzung darf also nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Hier sind in einer Klausur die in Betracht kommenden Grundrechte zu nennen. Ob tatsächlich eine Grundrechtsverletzung vorliegt, ist indes keine Frage der Zulässigkeit, sondern Gegenstand der Begründetheitsstation (2.). Ein bloß subjektives Empfinden, in einem Grundrecht verletzt zu sein, reicht nicht aus. Die angegriffene Maßnahme muss Rechtswirkungen entfalten und geeignet sein, Rechtspositionen des Beschwerdeführers nachteilig zu verändern. Besitzt ein Verhalten der öffentlichen Gewalt keinen Regelungsgehalt (z.B. bloße Mitteilungen über den Stand der Dinge) und keine Außenwirkung (z.B. behördeninterne Anträge), besteht schon nicht die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung. bb) Betroffenheit des Beschwerdeführers (1) selbst Der Beschwerdeführer muss in eigenen Grundrechten betroffen sein. Eine Popularbeschwerde ist verboten. Er darf kein fremdes Grundrecht (also das einer dritter Person) im eigenen Namen geltend machen (gewillkürte Prozessstandschaft15). Eine juristische Person kann nur für sich selbst und nicht für ihre Mitglieder Verfassungsbeschwerde erheben. Unproblematisch ist diese Voraussetzung, wenn der Beschwerdeführer Adressat des angegriffenen Aktes der öffentlichen Gewalt ist. Ist hingegen ein Dritter Adressat dieses Aktes, so muss der Beschwerdeführer seine Betroffenheit in eigenen Grundrechten ausführlich darlegen. Eine bloß mittelbare oder wirtschaftliche Berührung des Beschwerdeführers genügt dafür nicht. 15 Verfassungsbeschwerden in gesetzlicher Prozessstandschaft durch Parteien kraft Amtes (z.B. Testamentsvollstrecker – vgl. §§ 2212f BGB) sind jedoch zulässig. 164 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 (2) gegenwärtig Der Beschwerdeführer muss schon oder noch betroffen sein. Eine mögliche zukünftige Betroffenheit durch den angegriffenen Akt öffentlicher Gewalt genügt nicht (z.B. noch nicht erlassener Verwaltungsakt, noch nicht in Kraft getretenes Gesetz oder ein Gesetz, das gegenwärtig nicht auf den Beschwerdeführer anwendbar ist, weil er dessen Voraussetzungen nicht erfüllt). Ausnahmsweise wird die gegenwärtige Betroffenheit jedoch bejaht, wenn ein Gesetz die Normadressaten bereits jetzt zu später nicht mehr korrigierbaren Dispositionen und/oder Entscheidungen zwingt. Bei vergangenen oder bereits aufgehobenen Maßnahmen wird eine Ausnahme gemacht, wenn von diesen weiterhin Beeinträchtigungen ausgehen oder Wiederholungen ernsthaft zu befürchten sind. (3) unmittelbar Die behauptete Grundrechtsverletzung muss bereits durch den angegriffenen Akt selbst und nicht erst durch einen noch erforderlichen weiteren Akt (insbesondere Vollzugsakt) eintreten. Problematisch ist diese Voraussetzung vor allem bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden, da sich Gesetze i.d.R. nicht unmittelbar gegen den Beschwerdeführer richten, sondern auf den Vollzug durch die Verwaltung bzw. die Gerichte angelegt sind (Ausn.: Das Gesetz ist „self-executing“16). Erst der konkrete, gegen den Beschwerdeführer gerichtete Vollzugsakt (z.B. Verwaltungsakt oder Gerichtsentscheidung) betrifft ihn unmittelbar, so dass vor der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde i.d.R. erst dieser Vollzugsakt abzuwarten bzw. zu beantragen und sodann im normalen Rechtsweg anzufechten ist. Zu den abzuwartenden Vollzugakten zählen allerdings nicht die Sanktionen des Straf- bzw. Ordnungswidrigkeitenrechts, da ihr Abwarten stets unzumutbar ist. Eine Ausnahme vom Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit wird ferner zugelassen, wenn ein Gesetz den Normadressaten bereits vor Erlass eines Vollzugsaktes zu Entscheidungen und/oder Dispositionen zwingt, die später nicht mehr korrigiert werden können. e) Rechtswegerschöpfung (§ 90 II BVerfGG) Der Beschwerdeführer muss alle prozessualen Möglichkeiten zur Beseitigung der behaupteten Grundrechtsverletzung ausgeschöpft haben. Er darf dabei keinen zugelassenen Rechtsbehelf unterlassen oder (z.B. wegen Fristablaufs) versäumt haben. Rechtsweg ist dabei der unmittelbar gegen den grundrechtsverletzenden Akt gerichtete, vor deutsche staatliche Gerichte führende Weg mit dem Ziel, die behauptete Rechtsverletzung zu überprüfen und auszuräumen. Er beginnt u.U. bei der Verwaltung (z.B. vorgeschaltetes 16 Gesetz, das die Rechtsstellung des Beschwerdeführers ohne Zwischenschaltung eines Vollzugsaktes unmittelbar verändert, so dass die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz gerichtet werden kann. 165 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Widerspruchsverfahren) und endet i.d.R. mit der letztinstanzlichen (Fach-) Gerichtsentscheidung (eventuell noch Wiederaufnahmeverfahren).17 Nicht zum Rechtsweg zählt die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde vor den Landesverfassungsgerichten (vgl. § 90 III BVerfGG). Ausnahmen vom Gebot der Rechtswegerschöpfung werden zum einen zugelassen gemäß § 90 II 2 BVerfGG18. § 90 II 2 Alt. 1 BVerfGG betrifft das sog. Vorabentscheidungsverfahren. „Von allgemeiner Bedeutung“ sind dabei insbesondere Fälle, deren Entscheidung über den Einzelfall hinaus Rechtsklarheit für viele gleichgelagerte Fälle schafft. § 90 II 2 Alt. 2 BVerfGG setzt voraus, dass das (weitere) Beschreiten des Rechtswegs zu schweren, d.h. intensiven, und unabwendbaren, d.h. irreparablen Nachteilen führt. Eine zusätzliche ungeschriebene Ausnahme ist die der fehlenden Zumutbarkeit des (weiteren) Beschreitens des Rechtswegs. Das wird insbesondere angenommen, wenn dem Begehren des Beschwerdeführers eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung entgegensteht, oder wenn über das Bestehen weiterer Rechtsmittel falsch belehrt wurde. Kein unmittelbarer Rechtsweg existiert gegen formelle Gesetze (vgl. § 93 III BVerfGG) sowie gegen Verordnungen und Satzungen, die nicht der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle nach § 47 VwGO (z. B. Rechtsverordnungen des Bundes) unterliegen, so dass das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung in diesen Fällen grundsätzlich keine Relevanz besitzt. Allerdings kann – je nach Einzelfall – in diesen Fällen die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde am Kriterium der allgemeinen Subsidiarität scheitern (s. nachfolgend f). f) Allgemeine Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde Vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde muss der Betroffene über das Gebot der Rechtswegerschöpfung (§ 90 II BVerfGG) hinaus alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren und wirkungsvollen verfahrensrechtlichen Möglichkeiten ergreifen, um eine Korrektur der Grundrechtsverletzung zu erwirken oder den Grundrechtsverstoß zu verhindern.19 Bevor er unmittelbar Verfassungsbeschwerde gegen ein förmliches Gesetz erhebt, muss der Beschwerdeführer deshalb grundsätzlich die Möglichkeit einer inzidenten Normenkontrolle bei den Fachgerichten nutzen, indem er beispielsweise eine Feststellungsklage (§ 43 I VwGO) erhebt oder durch sein Verhalten bzw. einen Antrag einen behördlichen Verwaltungsakt herbeiführt, den er sodann im Wege der Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage angehen kann (§ 42 I VwGO). Das Fachgericht prüft dann als Vorfrage die Verfassungsmäßigkeit der Norm und legt diese ggf. nach Art. 100 I GG dem 17 Das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (z.B. nach § 80 V oder § 123 VwGO) ist dabei ein eigener Rechtsweg neben dem Hauptsacheverfahren, der vor Erschöpfung des Hauptsacherechtswegs erschöpft sein kann. Der Beschwerdeführer kann dann bereits nach Erschöpfung des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes eine VB einlegen, soweit sich diese gegen Grundrechtsverstöße in diesem Eilverfahren wendet. 18 Voraussetzung ist dabei, dass der Rechtsweg noch offen ist (er kann auch bereits beschritten sein). 19 Sinn und Zweck dieser allgemeinen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist die umfassende fachgerichtliche Vorprüfung des Prozessstoffes und die Aufbereitung des Tatsachenmaterials durch die Fachgerichte, die auch der gesetzlichen Aufgabenverteilung zwischen BVerfG und den Fachgerichten entspricht. Das BVerfG wird dadurch entlastet. 166 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 BVerfG vor. Unterbleibt die Vorlage im fachgerichtlichen Rechtszug, so ist Verfassungsbeschwerde gegen die Gerichtsentscheidungen möglich.20 In der Klausur taucht das Problem der Subsidiarität typischerweise bei Rechtssatzverfassungsbeschwerden auf, bei denen ein Rechtsweg i.S.v. § 90 II 1 BVerfGG nicht gegeben ist. Bei Verfassungsbeschwerden gegen Behördenakte ist dem Subsidiaritätsgrundsatz mit der Erschöpfung des Rechtsweges mangels anderweitiger Rechtsschutzmöglichkeiten grundsätzlich genügt. Beruht der Behördenakt jedoch auf einer grundrechtsverletzenden Norm, die eine Ausnahmereglung zulässt, so muss der Beschwerdeführer zunächst versuchen, den Eingriffsakt unter Berufung auf die Ausnahmeregelung zu beseitigen, wenn das nicht offensichtlich aussichtslos ist. Bei erfolgloser Erschöpfung des (rechtlich selbstständigen!) vorläufigen Rechtsschutzverfahrens muss der Beschwerdeführer nach Rspr. des BVerfG21 auch noch das Hauptsacheverfahren durchführen, wenn dieses ausreichende Möglichkeiten zur Abhilfe der Grundrechtsverletzung bietet und dieser Weg dem Beschwerdeführer zumutbar ist. Das ist i.d.R. anzunehmen, wenn (1) ausschließlich Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich auf die Hauptsache beziehen, (2) die tatsächliche und einfach-rechtliche Lage durch die Fachgerichte noch nicht ausreichend geklärt ist und (3) dem Beschwerdeführer durch die Verweisung auf den Rechtsweg in der Hauptsache kein schwerer und unabwendbarer Nachteil entsteht (Rechtsgedanke des § 90 II 2 BVerfGG). Die Ausnahmen vom Subsidiaritätsgrundsatz entsprechen denen beim Erfordernis der Rechtswegerschöpfung (analog; s.o. e). g) Form (§§ 23 I, 92 BVerfGG) Die Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 23 I BVerfGG schriftlich mit Begründung einzureichen. Dafür genügt auch ein Telegramm oder Telefax, nicht aber eine E-Mail. Eine eigenhändige Unterschrift ist nicht erforderlich. Allerdings müssen der Absender sowie der Wille, Verfassungsbeschwerde erheben zu wollen, erkennbar sein. Für die Begründung (§ 92 BVerfGG) muss das als verletzt geltend gemachte Recht dem Inhalt nach umschrieben werden. Eine genaue Artikelangabe ist nicht notwendig. h) Frist (§ 93 I, III BVerfGG) Bei Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen ein formelles Gesetz oder gegen einen Hoheitsakt, gegen den ein Rechtsweg nicht offensteht, kann die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93 III BVerfGG binnen eines Jahres seit Inkrafttreten des Gesetzes bzw. seit Erlass des Hoheitsaktes eingereicht werden. 20 21 Bei Erfolg Resultat: § 95 II, III 2 BVerfGG. BVerfGE 104, 65 – Schuldenspiegel. 167 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Bei sonstigen Akten der öffentlichen Gewalt (insbesondere Gerichtsentscheidungen) gilt die Monatsfrist nach § 93 I BVerfGG. Wird diese unverschuldet versäumt, so gibt es die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 93 II BVerfGG. Verfassungsbeschwerden gegen ein Unterlassen der öffentlichen Gewalt sind ebenfalls grundsätzlich zulässig, solange das Unterlassen andauert. Ab Kenntnis des Beschwerdeführers von der Beendigung des Unterlassens läuft die Monatsfrist des § 93 I BVerfGG. i) Rechtsschutzbedürfnis Noch im Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG muss ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung des angegriffenen Hoheitsakts bzw. für die Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit bestehen. Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis fehlt daher i.d.R., wenn sich die Beschwer zwischenzeitlich erledigt hat (z.B. durch Aufhebung der grundrechtsverletzenden Maßnahme). Trotz Erledigung besteht das Rechtsschutzbedürfnis ausnahmsweise fort, ▪ wenn von der aufgehobenen oder gegenstandslos gewordenen Maßnahme weiterhin beeinträchtigende Wirkungen ausgehen, ▪ bei besonders schwerwiegenden Eingriffen, ▪ bei Wiederholungsgefahr, ▪ wenn anders verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz nicht erreichbar ist (z.B. bei kurzfristiger Freiheitsentziehung), ▪ wenn andernfalls die Klärung einer grundsätzlich bedeutsamen Frage unterbliebe oder ▪ wenn der Eingriff ein besonders bedeutsames Grundrecht betroffen hat. 2. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der angegriffene Akt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt. Im Folgenden werden die als verletzt in Betracht kommenden Grundrechte geprüft, wobei das BVerfG umfassend prüft, also nicht auf die als verletzt gerügten Grundrechte beschränkt ist. Prüfungsmaßstab sind dabei ausschließlich die Grundrechte. Das Bundesverfassungsgericht fungiert insoweit nicht als „Superrevisionsinstanz“. D. h. einfachrechtliche Fragen werden nicht vom Bundesverfassungsgericht geklärt. Das Bundesverfassungsgericht untersucht nur, ob die angegriffene Maßnahme gegen Grundrechte verstößt. Es überprüft lediglich die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts (sog. Hecksche Formel). Im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde ist der Prüfungsmaßstab vor der eigentlichen Prüfung der Grundrechtsverletzungen darzustellen. Nach der sog. Schumannschen Formel bestimmt sich diese Verletzung spezifischen Verfassungsrechts dadurch, dass „der angefochtene Richterspruch eine Rechtsfolge annimmt, die der einfache Gesetzgeber nicht als Norm erlassen dürfte“ (vgl. Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 29. Aufl., Rn. 1446). Das BVerfG hingegen geht von einer Verletzung spezifischen Verfassungsrechts aus, wenn „bei Auslegung und Anwendung einfachen Rechts der Einfluss der Grundrechte grundlegend verkannt ist“ (BVerfGE 89, 276 [285]). Dies ist der Fall, wenn das einschlägige Grundrecht 168 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 übersehen oder grundsätzlich falsch angewendet wurde und die gerichtliche Entscheidung darauf beruht (näher hierzu Kingreen/Poscher, a.a.O. Rn. 1450 f.). Freiheitsgrundrechte werden vor den Gleichheitsgrundrechten geprüft. Unter den Freiheitsgrundrechten werden diejenigen vorrangig geprüft, auf deren Schwerpunkt die Problematik liegt. Durch die Annahme, das Recht der Europäischen Union lasse keinen Umsetzungsspielraum, kann ein Fachgericht Bedeutung und Tragweite der Grundrechte des Grundgesetzes verkennen. (BVerfGE 129, 78 ff.) 169 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Exkurs: Die einstweilige Anordnung, § 32 BVerfGG A. Zulässigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 I BVerfGG I. Verfahrensart II. Statthaftigkeit Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache; keine Beschränkung auf bestimmte Verfahrensarten. III. Einleitung des Verfahrens 1. Antragserfordernis; 2. ex officio nur möglich, wenn Hauptsache schon anhängig. IV. Parteifähigkeit Orientierung am Hauptsacheverfahren. V. Antragsbefugnis 1. Geltendmachung schwerer Nachteile oder drohender Gewalt und 2. Eile geboten. VI. Rechtsschutzbedürfnis 1. Keine evidente Unzulässigkeit des Hauptsacheverfahrens. 2. Keine Vorwegnahme der Hauptsache; Ausnahme: wenn sonst irreversible Tatsachen geschaffen würden und der Schutz durch das Ergebnis in der Hauptsache zu spät käme (effektiver Rechtsschutz, Art. 19 IV GG). 3. Fehlen anderweitiger Rechtsschutzmöglichkeiten VII. Form (§ 23 BVerfGG) B. Begründetheit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung • Umfassende Güter- und Interessenabwägung in Form einer Doppelhypothese: Einstweilige Anordnung muss zum gemeinen Wohl dringend geboten sein: 1. Notwendigkeit zur Abwehr schwerer Nachteile, drohender Gewalt oder anderer wichtiger Gründe; 2 Abwägung der Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Hauptsache aber Erfolg hätte (z.B. eine angegriffene Maßnahme verfassungswidrig wäre) gegenüber den Nachteilen, die zu befürchten wären, wenn eine einstweilige Anordnung erginge, die Hauptsache aber nicht erfolgreich wäre (sog. Doppelhypothese) • Erfolgsaussichten in der Hauptsache 1. Grundsatz: nicht zu berücksichtigen! 2. Ausnahme: Vorwegnahme der Hauptsache oder Hauptsache von vornherein evident unbegründet. 170 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 IV. Prozessgrundrechte (Art. 19 IV, 101, 103 GG) 1. Rechtsschutzgarantie (Art. 19 IV GG) a) Schutzbereich ▪ Art. 19 IV GG garantiert Rechtsschutz gegen Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt. Der Begriff der „öffentlichen Gewalt“ in Art. 19 IV GG ist anders zu verstehen als in den übrigen Artikeln des GG (dort üblicherweise Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung): ➢ Laut BVerfG ist die Rechtsprechung von Art. 19 IV GG nicht umfasst, da die Vorschrift einen Schutz durch, aber nicht gegen den Richter gewährleiste (BVerfGE 49, 329 [340]; 107, 395 [404 ff.]). Aus Gründen der Rechtssicherheit müssen richterliche Entscheidungen in Rechtskraft erwachsen. Dies würde unterlaufen, wenn gegen sie über Art. 19 IV GG erneut der Rechtsweg beschritten werden könnte (str. – a. A. Voßkuhle). ➢ Ebenfalls nicht von Art. 19 IV erfasst ist die formelle Gesetzgebung (BVerfGE 24, 33 [49 ff.]; 24, 367 [401]), da die gerichtliche Überprüfung von Gesetzen im Wege der Normenkontrolle im GG ausdrücklich geregelt ist (Art. 93 I Nr. 2, Art. 93 I Nr. 4a und Art. 100 I GG). Nach diesen Vorschriften kann grundsätzlich der Einzelne keine Normenkontrolle in Gang setzen und die in Art. 19 IV GG erwähnten Fachgerichte sind danach nicht für diese zuständig. Um diese Voraussetzungen nicht durch Art. 19 IV GG zu unterlaufen, muss die Parlamentsgesetzgebung aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift ausgenommen werden. ➢ Daher gewährleistet Art. 19 IV GG im Ergebnis lediglich umfassende gerichtliche Kontrolle der Exekutive. ➢ Rechtsverletzung i.S.v. Art. 19 IV GG erfasst alle subjektiven Rechte des öffentlichen und des privaten Rechts (z.B. Grundrechte, Rechte auf Baugenehmigung, Sozialhilfe, privatrechtliche Eigentums- und Forderungsrechte) und verlangt einen rechtswidrigen Eingriff in diese Rechte durch die Exekutive. ➢ Es reicht aus, wenn eine Rechtsverletzung lediglich geltend gemacht wird. Die Prüfung, ob eine solche tatsächlich vorliegt, obliegt gem. Art. 19 IV GG den Gerichten. ➢ Art. 19 IV GG schützt keine Popularklage (vgl. Wortlaut: „in seinen Rechten verletzt“). ▪ Offenstehen des Rechtswegs garantiert den Zugang zum Gericht, das Verfahren vor dem Gericht und die Entscheidung durch das Gericht. „Gerichte“ i.S.d. Art. 19 IV GG sind die staatlichen Gerichte, die den Anforderungen der Art. 92, 97 GG genügen (BVerfGE 11, 232 [233]; 49, 329 [340]). ▪ Insbesondere garantiert Art. 19 IV GG effektiven Rechtsschutz. Beispiele: Zugang zum Gericht über Prozesskostenhilfe (BVerfG, DVBl. 2001, 1748); keine überspannten Darlegungsanforderungen (BVerfG, NVwZ 2001, 552); 146 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Gerichte müssen in angemessener Frist entscheiden (BVerfGE 60, 253, [269]; BVerfG, NJW 2005, 3488); Gerichte sind für Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe zuständig; Eilrechtsschutz. b) Eingriffe ▪ Art. 19 IV GG ist ein normgeprägtes Grundrecht. Möglich sind Eingriffe daher durch solche staatlichen Maßnahmen, die keine Ausgestaltung des Rechtswegs bewirken. ▪ Keine Eingriffe stellen deshalb regelmäßig die prozessrechtlichen Vorschriften dar. Lediglich unzumutbare und unangemessene gesetzliche Erschwerungen des Zugangs zu Gerichten bzw. des Verfahrens (z.B. Fehlen eines Eilrechtsschutzes) vor ihnen, die nicht aus Gründen der Rechtssicherheit und Funktion der Rechtspflege geboten sind, können Eingriffe des Gesetzgebers darstellen. c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung ▪ Art. 19 IV GG enthält keinen Gesetzesvorbehalt. ▪ Eine Rechtfertigung von Eingriffen ist daher nur über kollidierendes Verfassungsrecht möglich. Allerdings liegen Eingriffe nur dann vor, wenn die Regelung nicht durch die Funktionsbedingungen der Rechtspflege und Rechtssicherheit geboten ist. Dann ergibt sich aber aus den kollidierenden Verfassungsgütern Rechtssicherheit und Rechtspflege im Regelfall keine Rechtfertigung. Zur Vertiefung: C. Bickenbach, Grundfälle zu Art. 19 IV GG, JuS 2007, 813, 910. ggf. ergänzen: Remmert, Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV 1 GG, Jura 2014, 906; ggf. als Klausur: von Rochow, Referendarexamensklausur – Öffentliches Recht: Verfassungsrecht – Neue Bahntrassen per Gesetz, JuS 2022, 595. 2. Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 I 2 GG) a) Schutzbereich ▪ Richter i.S.d. Art. 101 I 2 GG ist jeder Spruchkörper oder staatliche Richter von der untersten Instanz bis zum BVerfG bzw. zum EuGH (BVerfGE 73, 339 [366 ff.]; 82, 159 [192]), auch ehrenamtliche Richter. ▪ Die Zuständigkeit des Richters ergibt sich im konkreten Fall aus dem GVG und den einzelnen Prozessgesetzen. ▪ Die „fundamentalen Zuständigkeitsregeln“ müssen nach der Wesentlichkeitslehre durch ein Parlamentsgesetz geregelt werden (BVerfGE 19, 52 [60]). 147 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz ▪ Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Sinn der Regelung: Das Vertrauen des Bürgers in die Unparteilichkeit der Rechtsprechung soll gewahrt werden. Art. 101 I 2 GG soll dabei zugleich diese Unabhängigkeit (Art. 97 GG) und Überparteilichkeit (Art. 92 GG) der Gerichte garantieren (BVerfGE 21, 139 [146]). b) Eingriffe ▪ Entziehung des gesetzlichen Richters durch die Legislative: z.B. Normierung mehrerer Zuständigkeiten für dieselbe Sache oder Einräumung von Ermessen bei der Bestimmung der Zuständigkeit. ▪ Entziehung durch die Exekutive: z.B. Ausübung von Strafgerichtsbarkeit durch Finanzämter (BVerfGE 22, 49 [73 ff.]). ▪ Entziehung durch die Rechtsprechung: falsche Anwendung von Zuständigkeitsvorschriften oder Verfahrensbestimmungen (z.B. der Befangenheitsregelungen). Nota bene: Nicht jede falsche Anwendung des Prozessrechts verstößt allerdings gegen Art. 101 I 2 GG. Das BVerfG unterscheidet zwischen einem bloßen „error in procedendo“ und einer „willkürlich unrichtigen“ Anwendung von Verfahrensvorschriften (BVerfGE 75, 223 [234]; 87, 282 [284 f.]). Zudem muss die Entscheidung des Gerichts auf dem Verstoß gegen Art. 101 I 2 GG beruhen, d.h. es muss zumindest die plausible Möglichkeit bestehen, dass Entscheidung ohne Verstoß anders ausgefallen wäre (Kausalitätserfordernis). c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung ▪ Kein Gesetzesvorbehalt in Art. 101 I 2 GG. ▪ Eingriffe sind stets verfassungswidrig. 3. Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) a) Schutzbereich aa) Personeller Schutzbereich ▪ Jedermann, d.h. jeder, der an einem gerichtlichen Verfahren als Partei oder in ähnlicher Stellung förmlich beteiligt ist und/oder unmittelbar rechtlich von dem Verfahren betroffen wird (BVerfGE 75, 201 [215]; 89, 381 [390]; 92, 158 [183]). ▪ Darüber hinaus auch (grundrechtsverpflichtete) juristische Personen des öffentlichen Rechts sowie ausländische juristische Personen (Nota bene: Diese Erweiterung gilt für alle Prozessgrundrechte, da sich die genannten Institutionen stets in einer grundrechtsgleichen Gefährdungslage befinden; auf ihren Sitz [In- oder Ausland] kommt es deshalb nicht an). 148 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 bb) Sachlicher Schutzbereich ▪ Art. 103 I GG gewährt Anspruch auf rechtliches Gehör ausschließlich vor staatlichen Gerichten i.S.v. Art. 92 GG. ▪ Rechtliches Gehör bedeutet nach st. Rspr. des BVerfG die Möglichkeit, sich grundsätzlich vor Erlass einer Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zur Sache äußern zu können (BVerfGE 69, 145 [148]). ▪ Daneben gibt Art. 103 I GG ein Recht auf vollständige Information über den Verfahrensstoff (BVerfGE 86, 133 [144 f.]) sowie ein Recht auf Berücksichtigung des Parteivorbringens (BVerfGE 63, 80 [85 ff.]; 86, 133 [145 f.]). b) Eingriffe ▪ Grundsätzlich ist jedes Zurückbleiben hinter den oben dargestellten Anforderungen als Eingriff zu qualifizieren (z.B. bei sog. „überraschenden Entscheidungen“). ▪ Kein Eingriff liegt allerdings vor, wenn ➢ das Fehlen des rechtlichen Gehörs keine Auswirkungen auf die gerichtliche Entscheidung hat („beruhen“), d.h. auch bei Gewährung des rechtlichen Gehörs keine für den Betroffenen günstigere Entscheidung ergangen wäre (st. Rspr.; BVerfGE 89, 381 [392 f.]), oder ➢ wenn das zunächst unterbliebene rechtliche Gehör in derselben Instanz (BVerfGE 5, 9 [10]) – nicht aber in einem neuen gerichtlichen Verfahren (BVerfGE 42, 172 [175]) – nachgeholt („geheilt“) wird. c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung ▪ Art. 103 I GG enthält keinen Gesetzesvorbehalt. ▪ Rechtfertigung von Eingriffen ist daher nur über kollidierendes Verfassungsrecht möglich (z.B. durch Rechtsgüter der Rechtssicherheit und Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, etwa bei Geheimhaltungsinteressen) Nota bene: Zwecks Entlastung des BVerfG hat dieses vor einiger Zeit den Gesetzgeber dazu aufgefordert, spezielle „Gehörsrügen“ in die jeweiligen 149 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Prozessgesetze einzufügen, um einen Verstoß gegen Art. 103 I GG schon in der Fachgerichtsbarkeit nachkommen zu können. Dem ist der Gesetzgeber mittlerweile nachgekommen (vgl. z.B. §§ 152a VwGO, 321a ZPO). Wegen § 90 II BVerfGG hat dies zur Folge, dass eine auf Art. 103 I GG gestützte Verfassungsbeschwerde praktisch nicht mehr zum BVerfG kommen kann: Denn entweder der Gehörsmangel wurde bereits im fachgerichtlichen Verfahren geheilt oder der Kläger hat es versäumt, eine Gehörsrüge zu erheben. In beiden Fällen wäre die auf Art. 103 I GG gestützte Verfassungsbeschwerde unzulässig. Zur Vertiefung: Thiemann, Die Anhörungsrüge als Zulässigkeitsvoraussetzung der Verfassungsbeschwerde, DVBl. 2012, 1420 ff. 150 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 V. Gleichheitsgrundrechte (Art. 3, 33, 38 GG) 1. Allgemeiner Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 I GG) a) Grundrechtsträger ▪ Menschenrecht → alle Menschen. ▪ Gem. Art. 19 III GG prinzipiell auch inländische juristische Personen (BVerfGE 3, 383 [390]). b) Grundrechtsverpflichtete ▪ Öffentliche Gewalt, d.h. (trotz des Wortlauts „vor dem Gesetz“) Rechtsetzung, Verwaltung und Rechtsprechung. ▪ Keine unmittelbare, generelle Drittwirkung zwischen Privaten (Vertragsfreiheit); Ausnahme ggf. bei Missbrauch privater Machtstellung (Arbeitsverhältnisse). Keine staatliche Schutzpflicht zur Herbeiführung von Gleichheit (= Aufgabe des Sozialstaatsprinzips). c) Schutz vor Ungleichbehandlung ▪ Art. 3 I GG verbietet willkürliche Ungleichbehandlung von „wesentlich Gleichem“ durch dieselbe Hoheitsgewalt (stRspr, z.B. BVerfGE 49, 148 [165]). ▪ Wesentlich Gleiches erfordert einen Bezugspunkt/gemeinsamen Oberbegriff (tertium comparationis) (z.B. Gleichbehandlung von Auto- und Motorradfahrern aufgrund des gemeinsamen Bezugspunkts „Führen eines Kraftfahrzeugs“; Studierendengruppen etc.). ▪ Eine Ungleichbehandlung, die verfassungsmäßiger Rechtfertigung bedarf, liegt demnach vor, wenn ➢ eine Person, Personengruppe oder Situation in einer bestimmten Weise rechtlich behandelt wird, ➢ eine andere Person, Personengruppe oder Situation in einer bestimmten anderen Weise rechtlich behandelt wird und ➢ beide Personen, Personengruppen oder Situationen unter einen gemeinsamen, weitere Personen, Personengruppen oder Situationen ausschließenden Oberbegriff gefasst werden können. 151 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 ▪ Nach st. Rspr. des BVerfG enthält Art. 3 I GG auch ein Verbot der willkürlichen Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem (BVerfGE 49, 148 [165]; BVerfGE 98, 365 [385]). ▪ Art. 3 I GG kann daneben auch als Teilhaberecht fungieren (z.B. numerus clausus oder Chancengleichheit bei Prüfungen: Art. 3 I GG i.V.m. Art. 12 I 1 GG) d) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung ▪ Differenzierung nach Intensität der Beeinträchtigung (BVerfGE 95, 267 [316 f.]); die Intensität wächst, ➢ je mehr das Differenzierungskriterium personenbezogen ist, ➢ je mehr das Differenzierungskriterium einem der in Art. 3 III GG genannten Kriterien ähnelt, ➢ je weniger der Betroffene das Differenzierungskriterium selbst beeinflussen kann, ➢ je mehr die Ungleichbehandlung den Gebrauch grundrechtlich geschützter Freiheiten erschwert. ▪ Bei geringer Intensität der Beeinträchtigung: Willkürverbot, d.h. es reicht irgendein sachlicher Grund, um Ungleichbehandlung zu rechtfertigen (BVerfGE 107, 27 [46]). ▪ Bei größerer Intensität: Verbot der Ungleichbehandlung ohne gewichtigen sachlichen Grund (sog. „Neue Formel“ des BVerfG)→ Ungleichbehandlung ist gerechtfertigt, wenn sie ➢ einen legitimen Zweck verfolgt, ➢ zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und erforderlich ist, ➢ auch sonst in angemessenem Verhältnis zum angestrebten Zweck steht. ▪ Beispiel für eine verfassungsrechtlich Ungleichbehandlung hoher Intensität: nicht gerechtfertigte ➢ Ausschluss der eingetragenen Lebenspartnerschaften von der betrieblichen Hinterbliebenenversorgung für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes, welche nach § 38 VBLS (Satzung der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder) für Ehegatten gewährt wird (BVerfGE 124, 199 = NJW 2010, 1439 = JuS 2010, 561 m. Anm. Sachs). Die Prüfung, ob ein gewichtiger sachlicher Differenzierungsgrund vorliegt, war in diesem Fall nach einem strengen Maßstab vorzunehmen, da nicht nur eine 152 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 personengruppenbezogene Ungleichbehandlung vorlag, sondern mit der sexuellen Orientierung an ein Persönlichkeitsmerkmal angeknüpft wurde, welches mit denen des Art. 3 III GG vergleichbar ist, sodass zugleich eine erhöhte Gefahr der Diskriminierung einer Minderheit bestand. Nach diesen Kriterien genügte ein bloßer Verweis auf das Schutzgebot der Ehe nicht, um derartige Differenzierungen zu begründen. Vielmehr hätte es eines über die abstrakte Förderung der Ehe hinausgehenden sachlichen Rechtfertigungsgrundes bedurft, wenn die Privilegierung der Ehe – wie hier – mit einer Benachteiligung anderer Lebensformen einhergeht, obgleich diese nach dem geregelten Lebenssachverhalt und den mit der Normierung verfolgten Zielen der Ehe vergleichbar sind. ➢ Das BVerfG statuiert damit im Ergebnis erhöhte Rechtfertigungsanforderungen für Differenzierungen zwischen Ehegatten und eingetragenen Lebenspartnern, welche sich auch auf andere Bereiche außerhalb der Hinterbliebenenversorgung übertragen lassen, sodass in dieser Hinsicht eine weitergehende Gleichstellung zu erwarten sein dürfte. Diese Gleichstellung ist mittlerweile für das Ehegattensplitting und für die Sukzessivadoption erfolgt. Speziell zur Vertiefung der aktuellen Problematik (Un)Gleichbehandlung von Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften: BVerfG, Urt. v. 7.5.2013 – 2 BvR 909/06, 1981/06, 288/07 (= BVerfGE 133, 377) m. Anm. Hillgruber, Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Steuerrecht, JZ 2013, 833 ff.; BVerfGE 133, 59 ff. – Sukzessivadoption. Fall 1: Die in Deutschland lebende Muslima Ö trägt seit ihrer Jugendzeit aus religiösen Gründen in der Öffentlichkeit stets ein Kopftuch. Am 26.2.2004 nimmt sie mit einem langen Mantel und einem dezenten Kopftuch bekleidet an einer Verhandlung gegen ihren Sohn S vor dem AG Berlin Tiergarten teil. Amtsrichter R weist sie zu Beginn der Verhandlung darauf hin, dass er in seinem Sitzungssaal prinzipiell keine Kopfbedeckungen dulde und fordert sie auf, das Kopftuch abzulegen oder anderenfalls den Gerichtssaal zu verlassen. Die Ö, welche daraufhin wortlos den Gerichtssaal verlässt, fühlt sich durch die Verfügung des R in ihren Grundrechten verletzt und erhebt hiergegen Verfassungsbeschwerde zum BVerfG. Hat diese Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg? (BVerfGE v. 27.6.2006 – 2 BvR 677/05) Fall 2: Die 30-jähige A lebt mit B seit über 6 Jahren in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zusammen und möchte mit diesem eine Familie gründen. Wegen einer Fertilitätsstörung des B lässt sich ihr Kinderwunsch indes nur im Wege einer 153 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 künstlichen Befruchtung in Form der ICSI-Methode (Intrazytoplasmatische Spermieninjektion) verwirklichen. Bei diesem Verfahren wird eine menschliche Samenzelle in eine menschliche Eizelle injiziert mit dem Ziel, eine Schwangerschaft bei der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt. Die Wahrscheinlichkeit, dass es mit der ICSI-Behandlung zu einer Schwangerschaft kommt, liegt für unter 35-jährige Frauen über 30 % und für über 40-jährige Frauen bei etwa 12%. Die Kosten für derartige Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft werden bei miteinander verheirateten Paaren nach § 27a I, III SGB V zu 50 % von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen, sofern ausschließlich Ei- und Samenzellen der Ehegatten verwendet werden. Die A beantragt bei ihrer Krankenkasse die hälftige Übernahme der Behandlungskosten, was seitens ihrer Krankenkasse aber unter Verweis auf das Ehegattenerfordernis des § 27a I SBG V abgelehnt wird. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhebt die A gegen den ablehnenden Bescheid der Krankenkasse Klage zum Sozialgericht. Das zuständige Sozialgericht ist der Auffassung, dass der Ehegattenvorbehalt des § 27 a I SGB V insbesondere mit Art. 3 I GG unvereinbar ist und legt daher nach Aussetzung des Verfahrens die Frage der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor. Ist dieser Antrag des Sozialgerichts begründet? (BVerfGE 117, 316) Lösungshinweise Fall1: (Lösungshinweisblätter Nr. 26) I. Zulässigkeit Beschwerdefähigkeit und Prozessfähigkeit unproblematisch. Trotz fehlender gegenwärtiger Betroffenheit der Ö ist eine Beschwerdebefugnis hier zu bejahen, da anderenfalls der Schutz ihrer Grundrechte in unzumutbarer Weise verkürzt würde (Hinweis: BVerfG prüft diese Frage erst im Rahmen des Rechtsschutzbedürfnisses). Es liegt in der Natur der Sache, dass gegen sitzungspolizeiliche Maßnahmen um Rechtsschutz vor dem Bundesverfassungsgericht nicht rechtzeitig nachgesucht werden kann. Auch kein Verstoß gegen Erfordernis vorheriger Rechtswegerschöpfung, da gegen verfahrensleitende Maßnahmen i.S.d. § 176 GVG kein Rechtsweg gegeben ist (allenfalls Revision wegen Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes nach § 338 Nr. 6 StPO, die aber der Ö nicht offensteht). Kleiner Exkurs: Verstoß des § 176 GVG gegen den Justizgewähranspruch aus Art. 19 IV GG, da kein Rechtsweg gegen sitzungspolizeiliche Maßnahmen eröffnet wird? – Nein! Art. 19 IV GG bezieht sich nur auf Exekutive, nicht aber wie hier die Judikative („Rechtsschutz nur durch, aber nicht gegen den Richter.“). Subsidiarität, Rechtsschutzbedürfnis, Form und Frist wiederum unproblematisch. Verfassungsbeschwerde deshalb zulässig. 154 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 II. Begründetheit Nach Ansicht des BVerfG Verstoß gegen 3 I GG in seiner Ausprägung als allgemeines Willkürverbot i.V.m. Art. 4 I GG. Nicht in jedem Aufbehalten von Kopfbedeckungen liegt ein ungebührliches Verhalten, das sitzungspolizeiliche Maßnahmen rechtfertigt. Dies kann auch billigenswerte Gründe haben, insbesondere wenn diese Ausfluss grundrechtlich geschützter Positionen sind. So liegt es, wenn Kopfbedeckungen, wie hier das Tuch der Ö, Ausdruck von Religionsausübung sind, da dieses Verhalten den Schutz des Art. 4 I GG genießt. Dieser Schutz besteht auch dann, wenn sich der Einzelne in einem Gerichtssaal befindet, wenn sein Verhalten mit einem störungsfreien Ablauf der Sitzung vereinbar ist. Prinzipielles Verbot des R stellt sich als willkürliche Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem i.S.d. Art. 3 I GG dar. Obwohl religiös motiviertes Tragen des Kopftuchs anhand Kleidung und Herkunft der Ö durchaus zu erkennen gewesen wäre, wurden die grundrechtlich geschützten Positionen der Ö aus Art. 4 I GG nicht berücksichtigt und ihr durch die Religionsfreiheit geschütztes Verhalten pauschal mit anderen sitzungspolizeilich relevanten Verhaltensweisen gleichgesetzt. Lösungshinweise Fall 2: (Lösungshinweisblätter Nr. 26) Die Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft werden durch § 27a I SGB V im Verhältnis zu Ehepaaren insoweit finanziell benachteiligt, als sie die gesamten Kosten für eine künstliche Befruchtung selbst dann zu tragen haben, wenn mit Ausnahme des Ehegattenstatus alle übrigen Voraussetzungen für eine hälftige Kostenerstattung erfüllt sind. Die Benachteiligung von nichtehelichen Lebensgemeinschaften im Hinblick auf Maßnahmen zur künstlichen Herbeiführung einer Schwangerschaft sachlich gerechtfertigt und verstößt nicht gegen Art. 3 I GG. Das BGB sieht in Ausformung der besonderen Schutzgarantie des Art. 6 I GG die Ehegatten als Partner einer auf Lebenszeit angelegten Gemeinschaft an und verpflichtet sie, für einander Verantwortung zu tragen sowie wechselseitigen Beistand zu leisten. Diese Beistandspflicht hat der Gesetzgeber als Rechtspflicht ausgestaltet, wohingegen sie in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft nur freiwillig wahrgenommen werden kann. Der Gesetzgeber konnte damit in seinem Einschätzungsermessen die eheliche Partnerschaft als besonders geeignet ansehen, die mit den in Frage stehenden medizinischen Maßnahmen verbundenen Belastungen und Risiken gemeinsam zu bewältigen. Des Weiteren durfte der Gesetzgeber die Ehe wegen ihres besonderen rechtlichen Rahmens als eine Lebensbasis für ein Kind ansehen, die den Kindeswohlbelangen mehr Rechnung trägt als eine nichteheliche Partnerschaft. So ist die Ehe nur unter den Voraussetzungen der Aufhebung oder Scheidung wieder auflösbar und bietet einem Kind grundsätzlich mehr rechtliche Sicherheit, von beiden Elternteilen betreut zu werden. Auch sind Ehegatten einander nach § 1360 BGB gesetzlich verpflichtet, durch ihre Arbeit und mit ihrem Vermögen die Familie zu unterhalten, wohingegen eine solche Verpflichtung bei Partnern einer nichtehelichen 155 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Lebensgemeinschaft nicht besteht, sondern nur der Betreuungsunterhalt nach § 1615 l BGB zu leisten ist. Auch andere Grundrechte sind nicht verletzt. Art. 6 I GG ist nicht berührt, weil ihm keine Pflicht des Gesetzgebers entnommen werden kann, die Entstehung einer Familie durch medizinische Maßnahmen der künstlichen Befruchtung zu fördern. Art. 2 II 1 und Art. 6 V GG sind schon deshalb nicht einschlägig, weil ihr Schutzauftrag nicht Kinder erfasst, die noch nicht gezeugt sind. e) Art. 3 II, III GG ▪ Art. 3 II GG ist inhaltsgleich mit dem Merkmal „Geschlecht“ in Art. 3 III GG (BVerfG, NJW 2008, 209 f.). ▪ Art. 3 III GG (Anknüpfungsverbote!). enthält spezielle Differenzierungsverbote Fall: A verbüßt eine langjährige Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt B. Den im Hafthaus 5 inhaftierten Frauen ist es im Gegensatz zu den männlichen Strafgefangenen erlaubt, von ihrem Eigengeld monatlich 30 Euro zweckgebunden für Telefonkarten zu verwenden, mit denen sie von frei zugänglichen Fernsprechern zuvor überprüfte Telefonnummern anrufen können und des Weiteren 25 Euro für Kosmetika auszugeben. A möchte als Mann ebenfalls in den Genuss dieser Vorteile kommen und stellt daher beim Leiter der Anstalt einen entsprechenden Antrag, der indes abgelehnt wird. Der gegen diese Entscheidung erhobene Widerspruch zum Präsidenten des Landesjustizvollzugsamtes und der daran anschließende Rechtsweg zum Landgericht sowie zum Oberlandesgericht blieben allesamt ohne Erfolg. Die Ablehnung der Erlaubnis, ebenfalls für 25 Euro pro Monat vom Eigengeld Telefongespräche führen zu dürfen, wird dahingehend begründet, dass im Hafthaus 4 der Justizvollzugsanstalt B, in dem der Beschwerdeführer untergebracht sei, anders als im Hafthaus 5, keine speziell für die Gefangenen eingerichteten Fernsprechgeräte zur Verfügung stünden, weshalb von den Insassen die eigentlich für den Dienstgebrauch bestimmten Anschlüsse benutzt werden müssten. Bei der Justizvollzugsanstalt B handele es sich zudem um eine Anstalt der höchsten Sicherheitsstufe, sodass Telefongespräche in der Regel zu überwachen wären und damit wegen des damit verbundenen Aufwandes einen erheblichen Eingriff in den Ablauf des Vollzugsdienstes darstellen würden. Hinsichtlich des beantragten monatlichen Kosmetikeinkaufs vom Eigengeld wird angeführt, dass mit der Beschränkung auf weibliche Gefangene lediglich den Besonderheiten des Frauenvollzugs Rechnung getragen werde. Überdies liege aufgrund der grundsätzlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen auch kein im wesentlichen vergleichbarer Sachverhalt vor, sondern es werde mit der Bevorzugung der weiblichen Insassen vielmehr nur dem auch außerhalb der Anstalt üblichen Brauch entsprochen, da das Erfordernis von Kosmetika bei weiblichen Personen offensichtlich mit einem erhöhten „natürlichen“ Bedürfnis korrespondiere. A fühlt sich durch diese Entscheidungen in seinen Grundrechten aus Art. 3 I und 3 III 1 GG verletzt und erhebt Verfassungsbeschwerde zum BVerfG. 156 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Ist diese Verfassungsbeschwerde begründet? (BVerfG v. 7.11.2008 – 2 BvR 1870/07 = NJW 2009, 661 = JuS 2009, 564 m. Anm. Sachs) Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 27) Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, da die ablehnenden Entscheidungen A in seinem Grundrecht aus Art. 3 III 1 Alt. 1 GG verletzen, der als speziellere Gewährleistung dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 I GG vorgeht. An das Geschlecht anknüpfende differenzierende Regelungen sind nur dann mit Art. 3 III 1 GG vereinbar, soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind, oder eine Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht sie ausnahmsweise legitimiert. Dieses Differenzierungsverbot gilt auch dann, wenn eine Regelung nicht auf eine nach Art. 3 III GG verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern primär andere Ziele verfolgt, aber mittelbar überwiegend Angehörige eines Geschlechts betrifft und dies auf natürliche oder gesellschaftliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern zurückzuführen ist. Der Ausschluss von der Möglichkeit, monatlich für einen Betrag von 30 Euro zu telefonieren, knüpft nicht unmittelbar an das Geschlecht des A an. Gleichwohl greift das Differenzierungsverbot des Art. 3 III 1 GG hinsichtlich der geltend gemachten Unterschiede in der Ausstattung ein, da faktisch in spezifischer Weise gerade Männer und Frauen betroffen sind und es sich um Unterschiede handelt, die mit vergleichsweise geringem Aufwand behoben werden können. Auch wenn für das Ausmaß der Einschränkungen, die ein Gefangener hinzunehmen hat, die räumliche und sonstige Ausstattung einer Justizvollzugsanstalt von Bedeutung sein kann, darf es angesichts des grundrechtlichen Verbots der Benachteiligung aufgrund des Geschlechts nicht im freien Belieben der Justizvollzugsvollzugsanstalten oder ihrer Träger stehen, eine spezifische faktische Benachteiligung von Frauen oder Männern im Haftvollzug dadurch herbeizuführen, dass die Einrichtungen unterschiedlich ausgestattet und daran anknüpfend Unterschiede der sonstigen Behandlung gemacht werden. Soweit die ablehnenden Entscheidungen darauf Bezug nehmen, dass Telefonate der Gefangenen im Hafthaus 4 einer Überwachung bedürfen würden, die wegen des personellen Aufwandes nicht leistbar sei, wäre eine Rechtfertigung dann denkbar, wenn konkrete Erfahrungen und objektivierbare Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von den Insassen bestimmter Hafthäuser so deutlich geringere Sicherheitsrisiken ausgehen, dass auf eine Überwachung von Telefongesprächen verzichtet werden kann. Eine solche Anknüpfung wäre auch dann verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn sie im Ergebnis faktisch zu einer Besserstellung gerade der inhaftierten Frauen führt, da sich die Besserstellung sich nicht aufgrund einer Anknüpfung an das Geschlecht ergäbe, sondern nur als Folge des Abstellens auf die Vollzugssicherheit. Diese ist als notwendiges Element eines funktionsfähigen Strafvollzugs ein Belang von verfassungsrechtlichem Gewicht und wäre daher geeignet, die mittelbaren Folgen auch vor Art. 3 III 1 GG zu rechtfertigen. Da die höchste Sicherheitsstufe indes für die gesamte Anstalt gilt, scheidet die Vollzugssicherheit als Differenzierungskriterium aus. 157 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Ebenso wenig sind Gründe ersichtlich, die Gründe, die eine Benachteiligung der männlichen Gefangenen bei der Erlaubnis zum Kauf von Kosmetika zwingend erforderlich machten, um Probleme zu lösen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können. Insbesondere ist mit dem Verweis auf ein offensichtlich erhöhtes natürliches Bedürfnis kein „Problem“ aufgezeigt, das seiner Natur nach nur bei Frauen auftreten kann. Den Angehörigen eines Geschlechts kann die Befriedigung eines Interesses nicht mit der Begründung versagt werden, dass es sich um ein typischerweise beim anderen Geschlecht auftretendes Interesse handele, da von Art. 3 III 1 GG auch das Recht geschützt wird, unbenachteiligt anders zu sein als andere Mitglieder der Gruppen, denen man nach den in dieser Bestimmung genannten Merkmalen angehört. f) Folgen von Verstößen gegen Art. 3 GG ▪ Der Bürger wird von den unter Verstoß gegen Art. 3 GG auferlegten Belastungen frei → Nichtigkeit der belastenden Teil- oder Gesamtregelung, je nachdem, ob der Gesetzgeber die gesetzliche Regelung auch ohne den verfassungswidrigen Teil aufrechterhalten hätte. ▪ An einer dem Bürger unter Verstoß gegen Art. 3 GG vorenthaltenen Begünstigung wird er dann beteiligt, wenn ein entsprechendes Verfassungsgebot oder die Systematik der Regelungsmaterie oder des Regelungswillens dies verlangen. ▪ Der Bürger wird nicht beteiligt, wenn weder ein Verfassungsgebot noch die Systematik von Regelungsmaterie und -willen eine Ausdehnung der Begünstigung verlangt. Der Bürger kann aber die Feststellung der Verfassungswidrigkeit, die Aussetzung laufender Verfahren und die Aufhebung ablehnender Entscheidungen verlangen. Zur Vertiefung: Schwarz, Grundfälle zu Art. 3 GG, JuS 2009, 315 ff. und 417 ff. 2. Staatsbürgerliche Rechte und Pflichten (Art. 33 GG) a) Art. 33 I GG ▪ Gem. Art. 33 I GG hat jeder Deutsche i.S.v. Art. 116 GG die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. ▪ „Staatsbürgerliche Rechte“ umfasst das gesamte Rechtsverhältnis des Staatsbürgers zum Staat (Wahlrecht, Steuer- und Dienstleistungspflicht). ▪ Art. 33 I GG verdrängt Art. 3 II, III GG nicht, sondern ergänzt ihn. 158 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 b) Art. 33 II GG ▪ Nach dieser Vorschrift hat jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt. ▪ Bei der Übertragung von öffentlichen Ämtern dürfen deshalb nur diese Kriterien ausschlaggebend sein: ➢ Befähigung = Begabung, Allgemeinwissen und Lebenserfahrung; ➢ Fachliche Leistung Bewährung. ▪ = Fachwissen, Fachkönnen und fachliche Nach BVerfG zählt zur Eignung auch die Verfassungstreue. Diese fehlt, wenn der Bewerber einer verfassungsfeindlichen Partei angehört (BVerfGE 39, 334 [348 ff.]). c) Wahlrecht (Art. 38 GG) S. dazu noch das Skript Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht. 159 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 4. Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 III GG) a) Schutzbereiche aa) Kunstfreiheit ▪ Definition des Kunstbegriffs ist schwierig. ▪ BVerfG verwendet nebeneinander verschiedene Kunstbegriffe: ➢ „Materieller Kunstbegriff“: Kunst = „freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden“ (BVerfGE 30, 173 ff – Mephisto). ➢ „Formaler Kunstbegriff“: Das Wesentliche an einem Kunstwerk ist die Möglichkeit der Zuordnung zu einem bestimmten Werktyp (z.B. Malerei, Bildhauerei, Theater). ➢ „Offener Kunstbegriff“: Das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung besteht darin, „dass es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiter reichende Bedeutung zu entnehmen, sodass sich ein praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt“ (BVerfGE 67, 312 [226 f.] – Anachronistischer Zug). ▪ In seiner jüngeren Rspr. betont das BVerfG zunehmend die „Unmöglichkeit, Kunst generell zu definieren“ (BVerfGE 67, 213 [225] – Anachronistischer Zug). ▪ Umfang der Gewährleistung: ➢ Geschützt wird der Werk- und Wirkbereich, d.h. die Produktion und Präsentation künstlerischen Schaffens, z.B. das Verlegen eines Romans (BVerfGE 30, 173 [191] – Mephisto). ➢ Die Kunstfreiheit schützt insbesondere die spezifische Anstößigkeit und Provokation, die in Kunst enthalten sein kann, weshalb der rechtlichen Würdigung von mehreren möglichen Interpretationen eines Kunstwerks diejenige zugrunde zu legen ist, in der das Kunstwerk fremde Rechte nicht beeinträchtigt (BVerfGE 67, 213 [230] – Anachronistischer Zug). ➢ Nicht geschützt hingegen ist die Inanspruchnahme fremden Eigentums zur Verwirklichung der eigenen künstlerischen Ambitionen („Sprayer von Zürich“ – vgl. BVerfG-K, NJW 1984, 1293 sowie oben B. IV. 2. b bb). 124 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 bb) Wissenschaftsfreiheit ▪ Definition: Wissenschaft ist jede Tätigkeit, die „nach Inhalt und Form als ernsthafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist“ (BVerfGE 35, 79 [113] – Hochschulurteil; 47, 327 [367]; 90,

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