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Skript_Staatsrecht II_Teil 8.pdf

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Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 4. Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 III GG) a) Schutzbereiche aa) Kunstfreiheit ▪ Definition des Kunstbegriffs ist schwierig. ▪ BVerfG verwendet nebeneinander verschiedene Kunstbegriffe: ➢ „Materieller Kunstbegriff“: Kunst...

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 4. Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 III GG) a) Schutzbereiche aa) Kunstfreiheit ▪ Definition des Kunstbegriffs ist schwierig. ▪ BVerfG verwendet nebeneinander verschiedene Kunstbegriffe: ➢ „Materieller Kunstbegriff“: Kunst = „freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden“ (BVerfGE 30, 173 ff – Mephisto). ➢ „Formaler Kunstbegriff“: Das Wesentliche an einem Kunstwerk ist die Möglichkeit der Zuordnung zu einem bestimmten Werktyp (z.B. Malerei, Bildhauerei, Theater). ➢ „Offener Kunstbegriff“: Das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung besteht darin, „dass es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiter reichende Bedeutung zu entnehmen, sodass sich ein praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt“ (BVerfGE 67, 312 [226 f.] – Anachronistischer Zug). ▪ In seiner jüngeren Rspr. betont das BVerfG zunehmend die „Unmöglichkeit, Kunst generell zu definieren“ (BVerfGE 67, 213 [225] – Anachronistischer Zug). ▪ Umfang der Gewährleistung: ➢ Geschützt wird der Werk- und Wirkbereich, d.h. die Produktion und Präsentation künstlerischen Schaffens, z.B. das Verlegen eines Romans (BVerfGE 30, 173 [191] – Mephisto). ➢ Die Kunstfreiheit schützt insbesondere die spezifische Anstößigkeit und Provokation, die in Kunst enthalten sein kann, weshalb der rechtlichen Würdigung von mehreren möglichen Interpretationen eines Kunstwerks diejenige zugrunde zu legen ist, in der das Kunstwerk fremde Rechte nicht beeinträchtigt (BVerfGE 67, 213 [230] – Anachronistischer Zug). ➢ Nicht geschützt hingegen ist die Inanspruchnahme fremden Eigentums zur Verwirklichung der eigenen künstlerischen Ambitionen („Sprayer von Zürich“ – vgl. BVerfG-K, NJW 1984, 1293 sowie oben B. IV. 2. b bb). 124 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 bb) Wissenschaftsfreiheit ▪ Definition: Wissenschaft ist jede Tätigkeit, die „nach Inhalt und Form als ernsthafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist“ (BVerfGE 35, 79 [113] – Hochschulurteil; 47, 327 [367]; 90, 1 [12]). Der Begriff „Wissenschaft“ fungiert dabei als Oberbegriff für die Begriffe Forschung und Lehre. Die Lehrfreiheit wird allerdings nicht nur dann geschützt, wenn sie die eigene Forschung des Lehrenden reflektiert, sondern auch dann, wenn sie sich auf die Vermittlung fremder Erkenntnisse beschränkt. ▪ Personeller Umfang der Gewährleistung: „Jeder, der in Wissenschaft, Forschung und Lehre tätig ist, hat – vorbehaltlich der Treuepflicht gem. Art. 5 III 2 GG – ein Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozess der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse“ (BVerfGE 35, 79 [112 f.] – Hochschulurteil). ▪ Die Wissenschaftsfreiheit schützt dabei nicht nur die wissenschaftliche Tätigkeit an einer Hochschule, sondern jede (auch unternehmerische) wissenschaftliche Betätigung (bzgl. des Unterrichts an allgemeinbildenden Schulen ist Art. 7 I GG indessen lex specialis). An Hochschulen sind Hochschullehrer (unter Einschluss der Fachhochschullehrer), Assistenten und Studenten geschützt, nicht jedoch nichtwissenschaftliche Bedienstete. Geschützt sind ebenfalls die wissenschaftlichen Institutionen als solche (vgl. Art. 19 III GG), also insbesondere Universitäten und Fakultäten. b) Eingriffe ▪ Eingriffe in die Kunstfreiheit manifestieren sich in Verboten (z.B. Mal-, Ausstellungs- und Veröffentlichungsverboten), Sanktionen und anderen tatsächlichen Maßnahmen; diese können sowohl das Herstellen (Werkbereich) als auch die Darbietung (Wirkbereich) betreffen (z.B. Verbot des Vertriebs des Romans „Mephisto“ von Klaus Mann – BVerfGE 30, 173 [188 ff.] oder des ungeschwärzten Romans „Esra“ von Maxim Biller – BVerfGE 119, 1 ff.). ▪ Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit erfolgen ebenfalls hauptsächlich in Form von Verboten (z.B. Verbot, an bestimmten Fragen oder Gegenständen oder Entitäten [Embryonen] zu forschen, bestimmte [Tier-]Versuche durchzuführen; durch sog. „Zivilklauseln“ etc.). Keine Eingriffe stellen wissenschaftliche Bewertungen und Kritik dar (unter Einschluss studentischer Evaluationen), da diese „wissenschaftsimmanent“ sind (so das BVerfG – allerdings str.). c) Rechtfertigung ▪ Art. 5 III GG selbst steht nicht unter explizitem Gesetzesvorbehalt. ▪ Ein Transfer der Schranken aus Art. 5 II auf Art. 5 III GG wurde vom BVerfG zu Recht ausdrücklich abgelehnt. Das Gleiche gilt für eine Übertragung der 125 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Schrankentrias aus Art. 2 I GG auf Art. 5 III GG (BVerfGE 30, 173 [191 f.] – Mephisto). ▪ Eine Rechtfertigung von Eingriffen ist daher nur über kollidierendes Verfassungsrecht möglich („verfassungsimmanente Schranken“). Art. 5 III GG findet dabei seine Grenzen nicht nur in den Grundrechten Dritter (insbes. im allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder in der Berufs- und Lernfreiheit der Studierenden aus Art. 12 I GG). Sie kann auch mit anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern (z.B. Natur- und Tierschutz – Art. 20a (ggf. ergänzen BVerfGE 157, 30 (Klimaschutzurteil)) GG; Schutz von Staatssymbolen – Art. 22 GG) in Widerstreit treten (vgl. BVerfGE 81, 278 ff. – Bundesflagge; 81, 298 ff. – Nationalhymne: Als staatliches Symbol geschützt ist allerdings nur die dritte Strophe des Deutschlandlieds!). ▪ BVerfG: staatliche Eingriffe sind „umso weniger zuzulassen, je näher die umstrittenen Handlung dem Kern der Kunstfreiheit zuzuordnen ist und je mehr sie sich im Bereich des Schaffens“ abspielt (BVerfGE 77, 240 [254]). Die Kunstfreiheit verlangt für ein literarisches Werk, das sich als Roman ausweist, eine kunstspezifische Betrachtung. Daraus folgt insbesondere eine Vermutung für die Fiktionalität eines literarischen Textes. Die Kunstfreiheit schließt das Recht zur Verwendung von Vorbildern aus der Lebenswirklichkeit ein. Zwischen dem Maß, in dem der Autor eine von der Wirklichkeit abgelöste ästhetische Realität schafft, und der Intensität der Verletzung des Persönlichkeitsrechts besteht eine Wechselbeziehung. Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung besonders geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts (insbes. bei Schilderungen von Intimitäten oder Eltern-Kind-Beziehungen) berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen. Zur Vertiefung: Schulte zu Sodingen, BVerfGE 30, 173 – Mephisto, in: Menzel/MüllerTerpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 190 ff.; Müller-Terpitz, BVerfGE 35, 79 – Hochschulurteil, ebd., S. 231 ff.; Menzel, BVerfGE 81, 278/298 – Bundesflagge/Deutschlandlied – Der strafrechtliche Staatssymbolschutz und das Paradoxon der streitbaren Demokratie, ebd., S. 446 ff.; Müller-Terpitz, BVerfGE 119, 1 – Esra – Zum schwierigen Verhältnis zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht, ebd., S. 808 ff. 126 Staatsrecht – Grundrechte Prof. Dr. R. Müller-Terpitz HWS 2023 5. Schutz wirtschaftlicher Vorgänge a) Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG) aa) Überblick ▪ Art. 9 I GG garantiert die allgemeine Vereinigungsfreiheit. ▪ Art. 9 III GG gewährleistet als Sonderfall (lex specialis) der allgemeinen Vereinigungsfreiheit das Recht, Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden (Koalitionsfreiheit). Die Regelung entfaltet unmittelbare Drittwirkung gegenüber Beeinträchtigungen durch Private. ▪ Der Zusammenschluss zu politischen Parteien wird durch Art. 21 I GG als lex specialis geschützt (str.; a.A.: Schutz über Art. 9 I GG und nur im Übrigen Bestimmung ihrer verfassungsrechtlichen Stellung nach Art. 21 GG). bb) Schutzbereich ▪ Allgemeine Vereinigungsfreiheit: ➢ Personeller Schutzbereich: Deutschen-Grundrecht; vgl. aber §§ 1, 14 VereinsG. ➢ Sachlicher Schutzbereich: − Verein: Laut Definition in § 2 VereinsG eine „Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat“. − Art. 9 I GG schützt sog. Vereinsautonomie, d.h. das Recht des Einzelnen, sich mit anderen zusammenzuschließen und Vereine zu gründen sowie die Entscheidung über den Zeitpunkt der Gründung, den Zweck, die Rechtsform, den Namen, die Satzung und den Sitz der Vereinigung. − Auch der Beitritt zu bestehenden Vereinigungen, die Betätigung und der Verbleib in ihnen (positive Vereinigungsfreiheit) sowie das Recht zum Fernbleiben (BVerfGE 10, 89 [102]; 50, 290 [354]) und Austritt (sog. negative Vereinigungsfreiheit) werden geschützt. − Umstritten ist allerdings, ob auch das Fernbleiben von öffentlich-rechtlichen Zwangsvereinigungen (Rechtsanwalts-, Ärzte-, Handwerkskammern, verfasste Studierendenschaften etc.) von der negativen Vereinigungsfreiheit umfasst ist: 127 Staatsrecht – Grundrechte Prof. Dr. R. Müller-Terpitz HWS 2023 o BVerfG: Schutzbereich von Art. 9 I GG nicht einschlägig, Zulässigkeit von Zwangsmitgliedschaften ist ausschließlich am Maßstab des Art. 2 I GG zu messen (BVerfGE 10, 89 [102]; 15, 235 [239]; 38, 281 [297 f.]). Argument des BVerfG: Der Vereinsbegriff nach Art. 9 I GG umfasst nur privatrechtliche Vereinigungen. Der Einzelne kann aus der Vorschrift kein Recht herleiten, öffentlich-rechtlichen Vereinigungen fernzubleiben, da er aus ihr umgekehrt auch kein Recht ableiten kann, sich mit anderen zu einer solchen öffentlich-rechtlichen Vereinigung zusammenzuschließen. Gegenargument: Fernbleiben stellt gerade keine für den Privaten unmögliche Inanspruchnahme öffentlich-rechtlicher Gestaltungsformen dar. Es handelt sich vielmehr um eine klassische Grundrechtsbetätigung: die Abwehr staatlicher Zwangsakte. ➢ Art. 9 I GG schützt neben individueller Vereinigungsfreiheit als kollektives Freiheitsrecht auch die Vereinigungen als solche, d.h. ihr Entstehen und Bestehen (BVerfGE 13, 174 [175]; 80, 244 [253]). ➢ Str. ist, ob und wie diese kollektive Vereinigungsfreiheit nach außen wirkt. BVerfG: Nur „Kernbereich des Vereinsbestands und der Vereinstätigkeit“ (BVerfGE 80, 244 [253]) ist geschützt. Dazu zählt die Namensführung (BVerfGE 30, 227 [241]) sowie eine werbewirksame Selbstdarstellung (BVerfGE 84, 372 [378]). Wird Vereinigung hingegen wie jedermann im Rechtsverkehr tätig, so ist dies nicht durch Art. 9 I GG geschützt, sondern durch das jeweils einschlägige betätigungsspezifische Grundrecht (BVerfG, NJW 2000, 1251). ▪ Koalitionsfreiheit: ➢ Koalitionsbegriff: Setzt neben Koalitionszweck nach Art. 9 III 1 GG noch weitere Merkmale voraus: ➢ Gegnerfreiheit (Mitglieder sind entweder ausschließlich Arbeitnehmer oder Arbeitgeber); ➢ Gegnerunabhängigkeit (wirtschaftlich unabhängig von der Gegenseite). 128 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 ➢ Beispiele für Koalitionen: Berufsverbände von Arbeitnehmern und Arbeitgebern (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände) sowie deren Spitzenorganisationen. ➢ Art. 9 III GG statuiert Individualgrundrecht, das dem einzelnen Arbeitnehmer oder Arbeitgeber das Recht gibt, sich mit anderen zu einer Koalition zusammenzuschließen. ➢ Daneben schützt Art. 9 III GG auch die kollektive Koalitionsfreiheit, d.h. den Bestand der Koalition und ihr Recht, durch spezifisch koalitionsmäßige Betätigung die in Art. 9 III GG genannten Koalitionszwecke zu verfolgen (BVerfGE 93, 352 [357 ff.]). cc) Eingriffe ▪ Vereinigungsfreiheit ist ein normgeprägtes Grundrecht. ▪ Keine Eingriffe sind Regelungen über Rechtsform und Typen von Vereinigungen (z.B. oHG, KG, GmbH, AG etc.), da sie nicht die Möglichkeit erschweren, überhaupt eine Vereinigung zu bilden, sondern die Inanspruchnahme der Vereinigungsfreiheit erst ermöglichen (ausgestaltende Regelungen bzw. „Ordnungsvorschriften“). ▪ Mögliche Eingriffe: Belastende Regelungen und Maßnahmen von der Gründung bis zur Auflösungsphase, z.B. Verbote (präventiv oder repressiv), Genehmigungserfordernisse, Regelungen zur Mitgliederwerbung. dd) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung ▪ Allgemeine Vereinigungsfreiheit ➢ Kein ausdrücklicher Gesetzesvorbehalt in Art. 9 I GG. ➢ Art. 9 II GG enthält aber ein Verbot bestimmter Vereinigungen. Str., ob Wortlaut „sind verboten“ Schutzbereichsbegrenzung oder Rechtfertigung von Verboten bewirkt: − BVerfG hat diese Frage offengelassen (vgl. BVerfGE 80, 244 [254]). − Literatur: Art. 9 II GG ist verfassungsrechtliche Rechtfertigung für ein mit konstitutiver Wirkung vom zuständigen Organ ausgesprochenes Verbot (=> qualifizierter Gesetzesvorbehalt). Dementsprechend regelt § 3 I 1 VereinsG, dass Vereine erst als verboten behandelt werden dürfen, wenn dies durch Verfügung der Verbotsbehörde festgestellt wird. 129 Staatsrecht – Grundrechte Prof. Dr. R. Müller-Terpitz HWS 2023 ➢ Verbotsgründe sind in Art. 9 II GG abschließen aufgezählt: − Vereinigungen, die den Strafgesetzen zuwiderlaufen; − Vereinigungen, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten. Verfassungsmäßige Ordnung ist mit dem der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ gleichzusetzen (vgl. BVerwG, DVBl. 1999, 1743); − Vereinigungen, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten; − Voraussetzung ist, dass sich die Vereinigung gegen die genannten Rechtsgüter „richtet“. Dies erfordert eine „aggressiv kämpferische Haltung“ (BVerfGE 5, 85 [141]). Bloße Kritik oder Ablehnung ist nicht ausreichend. ➢ Im Übrigen Rechtfertigung von Eingriffen über kollidierendes Verfassungsrecht („verfassungsimmanente Schranken“). ▪ Koalitionsfreiheit: ➢ Str., ob Eingriffsermächtigung aus Art. 9 II GG auch auf Koalitionsfreiheit anwendbar ist: − Wird z.T. aufgrund der systematischen Stellung von Art. 9 II GG vor Art. 9 III GG verneint. − Von der h.M. wird dies allerdings bejaht, da sich aus der Entstehungsgeschichte und dem systematischen Zusammenhang zwischen Art. 9 und Art. 21 GG ergibt, dass die Koalitionsfreiheit nicht weitergehend geschützt sein kann als die Parteifreiheit. − Streit dürfte letztlich ohne Bedeutung sein, da eine Koalition, die unter ein Verbot nach Art. 9 II GG fallen würde, wohl nicht mehr vom Koalitionsbegriff des Art. 9 III GG umfasst wäre. ➢ Im Übrigen auch hier Rechtfertigung über kollidierendes Verfassungsrecht möglich. ee) Schranken-Schranke ▪ Art. 9 III 3 GG verwehrt Beschränkung des Arbeitskampfrechts mit unmittelbarer Drittwirkung. Fall: Im Bundesland X gilt seit dem 1.8.2010 mit dem Gesundheitsschutzgesetz (GSG) ein striktes Rauchverbot. Nach § 2 Nr. 6 und 8 GSG findet das Gesetz 130 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 unter anderem Anwendung auf Kultur- und Freizeiteinrichtungen (Einrichtungen, die der Bewahrung (…) künstlerischer oder historischer (…) Inhalte oder der Freizeitgestaltung dienen, soweit sie öffentlich zugänglich sind) sowie auf Gaststätten i.S.d. Gaststättengesetzes. Die Möglichkeit einen Raucherraum einzurichten, gilt nicht für Gaststätten oder Vereinsräumlichkeiten. G ist Gründungsmitglied des G.-Vereins, dessen Zweck die Förderung der arabischen und asiatischen Gastronomiekultur ist, sowie Geschäftsführerin einer GmbH, die die G.-Bar in an den Verein verpachteten Räumlichkeiten betreibt. Der Vereinszweck wird durch Besuch der Vereinsräumlichkeiten (G.Bar) und dortiges geselliges Beisammensein verwirklicht. Einlass in die G.-Bar wird nur Mitgliedern des Vereins gewährt. Die Mitgliedschaft kann vor Ort beantragt werden. Voraussetzung sind ein Mindestalter von 20 Jahren und ein Jahresmitgliedsbeitrag von einem Euro. Jedes Mitglied bekommt einen Ausweis. Wer den Ausweis nicht vorzeigen kann, erhält auf Antrag einen neuen Ausweis. Alle Beschäftigten der G.-Bar sind Vereinsmitglieder. Nachdem bei einer Kontrolle festgestellt wurde, dass in der Bar Shishas und Zigaretten geraucht werden, wird gegen G eine Geldbuße festgesetzt, an der das Amtsgericht auf den Einspruch der G hin festhält. G rügt mit ihrer Verfassungsbeschwerde die Verletzung von Art. 9 I und Art. 3 I GG. Ist die Verfassungsbeschwerde begründet? (nach BVerfG-K, Bschl. v. 24.9.2014 – 1 BvR 3017/11, NJW 2015, 612 f.) Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 25) ▪ Art. 9 I GG: ➢ Art. 9 I GG schützt vor einem Eingriff in den Kernbereich des Vereinsbestandes und der Vereinstätigkeit. ➢ Bei einem gemeinsam verfolgten Zweck kann Art. 9 I GG keinen weitergehenden Schutz vermitteln, als bei einem individuell verfolgten Interesse. ➢ Betätigung einer Vereinigung im Rechtsverkehr wie eine Einzelperson ist nicht durch Art. 9 I GG geschützt. ➢ GSG regelt weder Gründung, Bestehen oder Fortbestand des Vereins, noch steht es dem Beitritt/der Mitgliederwerbung entgegen, so dass das Rauchverbot den Verein nicht in einer von Art. 9 I GG geschützten Tätigkeit betrifft. ➢ Rauchverbot in den Vereinsräumlichkeiten berührt Betätigungsfreiheit des Vereins und der Vereinsmitglieder nicht, wenn die Räumlichkeiten zwar zum Vereinszweck genutzt werden, aber tatsächlich öffentlich zugänglich sind. ➢ Gründung eines Vereins kann Grundrechtsschutz, der einer individuellen Tätigkeit zukommt, nicht erweitern. ➢ Art. 9 I GG privilegiert nicht die kollektive gegenüber der individuellen Zweckverfolgung. Das Grundrecht schützt keinen gemeinsamen 131 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Tabakgenuss, dem ein spezifischer Bezug zur korporativen Organisation fehlt. ➢ Ergo: Art. 9 I GG ist nicht verletzt, da schon Schutzbereich nicht tangiert. ▪ Art. 3 I GG: ➢ Ungleichbehandlung „geschlossener Gesellschaften“ und allgemein zugänglicher Vereine liegt vor. ➢ Aber: Verein kann durch eigenes Verhalten (andere Mitgliederstruktur/ persönliche Einladung an Mitglieder) Ungleichbehandlung steuern, so dass an Rechtfertigung nur geringe Anforderungen zu stellen sind. ➢ Ungleichbehandlung jedenfalls nicht willkürlich, da Gesundheitsschutz Vorrang vor anderen Interessen eingeräumt werden darf. ➢ Die Verfassungsbeschwerde der G deshalb unbegründet. Zur Vertiefung: T. Günther/E.B. Franz, Grundfälle zu Art. 9 GG, JuS 2006, 788, 873 ff. b) Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) aa) Schutzbereich ▪ Personeller Schutzbereich: alle Deutschen i.S.d. Art. 116 GG; nach st. Rspr. des BVerfG sind auch inländische juristische Personen über Art. 19 III GG geschützt (BVerfGE 50, 290 [363]; 97, 228 [253]; 102, 197 [213]; 105, 252 [265]). ▪ Sachlicher Schutzbereich: ➢ Berufsbegriff ist weit zu verstehen: nicht nur traditionelle Berufsbilder, sondern auch neue oder frei erfundene (BVerfGE 97, 12 [25]; BVerfG, 3.7.2007, Az.: 1 BvR 2186/06 – Hufpfleger/Huftechniker). Die Tätigkeit darf nicht „verboten“ sein (BVerfGE 7, 377 [397]; 81, 70 [85]; 115, 276 [300 f.] – a.A. Sozialschädlichkeit muss genügen) → z.B. Taschendiebe oder Drogendealer sind nicht geschützt (Problem: Abtreibung als geschützte berufliche Tätigkeit? – vgl. BVerfGE 98, 265 [296 ff.] – Bayerische Schwangerenhilfegesetz) ➢ Die Tätigkeit muss auf gewisse Dauer angelegt sein (BVerfGE 32, 1 [28 f.]). Das Merkmal ist weit zu verstehen, weshalb auch Ferien- und Gelegenheitsjob mit umfasst sind, nicht jedoch eine Beschäftigung, die sich in einem einmaligen Erwerbsakt erschöpft (BVerfGE 97, 228 [253]). ➢ Die Tätigkeit muss der Schaffung und Erhaltung der Lebensgrundlage dienen. Dies ist ebenfalls weit zu verstehen. Daher sind auch Nebentätigkeiten umfasst, da sie anders als bloße Hobbys immerhin zur Schaffung und Erhaltung der Lebensgrundlage beitragen (BVerfGE 110, 141 [157]). 132 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 ➢ Der Berufsbegriff umfasst selbstständige und unselbstständige Tätigkeiten gleichermaßen (BVerfGE 7, 377 [398 f.] – ApothekenUrteil; 54, 301 [322]). ➢ Negative Berufsfreiheit: = Freiheit einen Beruf nicht zu ergreifen oder überhaupt keinen Beruf zu ergreifen (BVerfGE 58, 358 [364]). ➢ Geschützt sind ferner das Fordern einer angemessenen Vergütung (BVerfGE 101, 331 [346 ff.]; 110, 226 [251]), die Erweiterung des Betätigungsfelds, der Berufswechsel sowie die Berufsbeendigung. ➢ Art. 12 I GG enthält zudem ein Abwehrrecht gegen Freiheitsbeschränkungen im Ausbildungswesen (BVerfGE 33, 303 [329] – numerus clausus) → Entscheidung für eine bestimmte Ausbildung, ihre Durchführung oder Beendigung ist frei. ➢ Außerdem ist die freie Entscheidung über Wahl, Wechsel, Beibehaltung und Aufgabe eines Arbeitsplatzes geschützt. ➢ Sonderproblematik „staatliche Warnungen“: − Laut BVerfG soll Art. 12 I 1 GG „aber nicht vor der Verbreitung zutreffender und sachlich gehaltener Informationen am Markt, die für das wettbewerbliche Verhalten der Marktteilnehmer von Bedeutung sein können, selbst wenn die Inhalte sich auf einzelne Wettbewerbspositionen nachteilig auswirken“ (BVerfGE 105, 252 ff. – Glykol). − Arg.: Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs, der die logische und gewünschte Folge der freiheitlichen Verbürgung des Art. 12 I GG ist. Das Grundrecht umfasst dementsprechend nicht einen Schutz vor Einflüssen auf die wettbewerbsbestimmenden Faktoren (zu denen insbesondere die Information der Marktteilnehmer gehört). − Aber: Bundesregierung hat rechtliche Informationshandeln zu wahren. Diese sind: Vorgaben für ❖ Vorliegen einer staatlichen Aufgabe: „Staatsleitung durch Information“ (Aufgabenzuweisung umfasst nach Auffassung des BVerfG dabei grds. auch Ermächtigung [= Befugnis] zum Informationshandeln!). ❖ Einhaltung der Zuständigkeitsordnung Voraussetzungen): (formelle o „horizontale“ Kompetenzverteilung („auf der Ebene des Bundes“): Art. 65 GG; o „vertikale“ (föderale) Kompetenzverteilung: z.B. Auslandsbezug, länderübergreifende 133 Staatsrecht – Grundrechte Prof. Dr. R. Müller-Terpitz HWS 2023 Bedeutung, ggf. paralleles Informationshandeln (Länder, Verwaltung). ❖ Materielle Kriterien („inhaltlich zutreffende [ex-anteBetrachtung!] und unter Beachtung des Gebots der Sachlichkeit sowie mit angemessener Zurückhaltung formulierte Informationen“) Kritik: − Art. 12 I GG schützt (u.a.) vor staatlicher Einflussnahme auf die unternehmerische Betätigung. Von daher ist der Schutzbereich des Art. 12 I GG durch die Informationstätigkeit des Staates sehr wohl tangiert. − BVerfG prüft Fragen der Schrankenebene im Rahmen des Schutzbereichs („kopflastige Prüfung“): Innerhalb der Prüfung der Berufsfreiheit werden Ausführungen zum Vorliegen einer tauglichen Ermächtigungsgrundlage sowie zur Verhältnismäßigkeit gemacht. Kann nun die Warnung des Staates mit dem BVerfG mangels Schutzbereichseröffnung keinen Eingriff darstellen, hätte es auch keiner Prüfung der Rechtfertigung bedurft. ➢ Warnungen der Bundesregierung bedürfen einer Ermächtigungsgrundlage: Der Schluss von der Aufgabe der Staatsleitung auf die Befugnis zur staatlichen Informationstätigkeit ist dogmatisch verfehlt. ➢ Die unsachliche Information Grundrechtswidrigkeit. indiziert letztlich die ➢ Inkonsequent ist es ferner, die Betroffenheit des Schutzbereichs des Art. 12 I GG durch Warnungen der Bundesregierung zu verneinen, anderseits gleichfalls die Prüfung des Art. 2 I GG mit dem Argument zu verneinen, dieses Grundrecht sei thematisch verbraucht. Anders auch BVerwG, Urt. v. 20.11.2014 – 3 C 27.13 zur Warnung vor Elektronischen Zigaretten mit Anm. vom Fehling/Monsees, ZjS 6/2015, S. 613 ff. bb) Eingriffe ▪ Das BVerfG fordert hier eine subjektiv oder zumindest objektiv berufsregelnde Tendenz, da nicht jede staatliche Maßnahme, die sich in irgendeiner Weise auf die berufliche Betätigung auswirkt, an Art. 12 I GG gemessen werden soll (BVerfGE 13, 181 [185]; 37, 1 [17]; 52, 42 [54]; 70, 191 [214]). 134 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 ▪ Subjektiv berufsregelnde Tendenz = Ge- oder Verbote beruflicher Tätigkeiten insgesamt oder einzelner Tätigkeiten im Rahmen eines Berufs; Regelungen mit unmittelbarem Berufsbezug. Bsp.: Gesetzliche Pflicht zum Aufhängen von Warnhinweisen in Gaststätten (s. oben). ▪ Objektiv berufsregelnde Tendenz (bei mittelbaren oder faktischen Eingriffen) = wenn Maßnahmen infolge ihrer Gestaltung in einem engen Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufs stehen bzw. wenn sie nach Entstehungsgeschichte und Inhalt im Schwerpunkt Tätigkeiten betreffen, die typischerweise beruflich ausgeübt werden (BVerfGE 97, 228 [254] – Unentgeltlichkeit der Kurzberichterstattung bei berufsmäßig durchgeführten Veranstaltungen). Kritik: ▪ ➢ Dogmatisch nicht konsequent, da hier ein anderer Eingriffsbegriff als bei den anderen Grundrechten zugrunde gelegt wird. ➢ Grundrechtskonkurrenz: Wenn ein Eingriff mangels berufsregelnder Tendenz abgelehnt wird, ist streng genommen eine Berufung auf Art. 2 I GG ausgeschlossen, da der Schutzbereich des spezielleren Art. 12 I GG eröffnet ist. ➢ => Problematik der berufsregelnden Tendenz ist bereits beim Schutzbereich zu berücksichtigen, d.h. schon an dieser Stelle sind sämtliche Maßnahmen auszuschließen, die nach der Lehre von der berufsregelnden Tendenz keine Eingriffe darstellen sollen (str. – für den Fallaufbau in der Klausur empfiehlt es sich nicht, dieser Ansicht zu folgen, sondern die Problematik der berufsregelnden Tendenz auf der Eingriffsebene zu erörtern). Eingriffsformen in die Berufsfreiheit: Unterscheidung zwischen ➢ Objektive und subjektive Berufswahlregelungen („Ob“). − Objektive Berufswahlregelungen: Machen die Wahl eines Berufs von der Erfüllung objektiver, dem Einfluss des Einzelnen entzogenen und von seiner Qualifikation unabhängigen Voraussetzungen abhängig, z.B. Bedürfnisklauseln des Personenbeförderungsgesetzes. − Subjektive Berufswahlregelungen: Knüpfen die Wahl eines Berufs an besondere persönliche Eigenschaften, Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen, spezielle Abschlüsse oder erbrachte Leistungen, z.B. bestimmtes Lebensalter (für Hebammen – BVerfGE 9, 338; für Notare – BVerfG, NJW 2008, 1212), Staatsexamina und sonstige berufsqualifizierende Abschlüsse, Würdigkeit (für Rechtsanwälte – BVerfGE 63, 166 [287 f.], für Ärzte – BVerwGE 94, 352 [357 ff.]). ➢ Berufsausübungsregelungen („Wie“), z.B. Festsetzung von Ladenschlusszeiten (BVerfGE 13, 237; 111, 10), Werbeverbote für Rechtsanwälte (BVerfGE 76, 196; 82, 18), Verpflichtung von Apothekern, 135 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 nur eine Apotheke zu betreiben (BVerfGE 17, 232), Aufhängen von Warnhinweisen in Gaststätten, Rauchverbot in Gaststätten. ▪ Eingriffsformen in die Ausbildungsfreiheit: ➢ Objektive Zulassungsvoraussetzungen, z.B. numerus clausus (= kapazitätsbezogene Begrenzung; vgl. BVerfGE 33, 303 [337 f.]). ggf. ergänzen: BVerfGE 147, 253 (NC Humanmedizin, Unvereinbarkeit mit Art. 12 I, 3 I GG. ➢ Subjektive Zulassungsvoraussetzungen: regeln den Zugang zu Ausbildungsstätten nach Maßgabe persönlicher Qualifikation (z.B. Abi-Durchschnittsnote). ➢ Sonstige Eingriffe: Pflicht zur Zahlung von Studienbeiträgen/gebühren. cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung ▪ Einfacher Gesetzesvorbehalt in Art. 12 I 2 GG. Entgegen seinem Wortlaut („Berufsausübung“) erstreckt das BVerfG diesen seit seines ApothekenUrteils aus dem Jahre 1958 (BVerfGE 7, 377 ff.) auch auf den Aspekt der Berufswahl und interpretiert Art. 12 I 2 GG deshalb als einen einheitlichen Gesetzesvorbehalt zur Berufsfreiheit. Arg.: 1. In der Berufsausübung manifestiert und bestätigt sich zugleich die Berufswahl; Berufswahl- und ausübung sind deshalb als zwei Seiten einer Medaille zu begreifen und gehören folglich untrennbar zusammen; 2. „argumentum a minore ad maius“; 3. historisch-pragmatisches Argument: Verfassungsgeber kann nicht davon ausgegangen sein, dass gerade die Berufswahl ihre Schranken in kollidierendem Verfassungsrecht finden soll, da es sich bei ihr um den bedeutsameren Regelungsaspekt handelt. ▪ Eingriffe in die Berufsfreiheit müssen einen legitimen Zweck verfolgen und zur Erreichung des Zwecks geeignet sein. Kein legitimer Zweck ist z.B. der Konkurrentenschutz (BVerfGE 82, 18 [28]: Art. 12 I 1 GG schützt nicht vor Konkurrenz, sondern setzt diese Konkurrenz vielmehr voraus – s. oben bei „staatlichen Warnungen“). Dies gilt auch für die Konkurrenz seitens „öffentlicher Unternehmen“, d.h. dort, wo sich der Staat bzw. seine Untergliederungen privatwirtschaftlich betätigen (aufbautechnischer Hinweis: Im Regelfall wird dieser Aspekt schon auf der Ebene zum Schutzbereich zu thematisieren sein). ▪ Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Eingriffen erfolgt anhand der sog. „Drei-Stufen-Theorie“: Unterscheidung von drei Stufen mit zunehmender Eingriffsintensität, wobei der Eingriff stets auf der niedrigsten Eingriffsstufe zu erfolgen hat: ➢ Berufsausübungsregelungen können durch jede vernünftige Erwägung des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden. Fälle, die für zulässig erachtet wurden: Ladenschlussregelungen (BVerfGE 111, 10 [32 f.]), Nachtbackverbot (BVerfGE 87, 363 [382 ff.]); 136 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte Verkaufsverbote bzw. -beschränkungen Jugendschutzes; Nichtraucherschutz. HWS 2023 aus Gründen des ➢ Subjektive Berufswahlregelungen können gerechtfertigt sein, wenn sie zum Schutze eines wichtigen Gemeinschaftsguts erforderlich sind. Fälle, die für zulässig erachtet wurden: Zulassungsregelungen für Rechtsanwälte (BVerfGE 41, 378 [389 f.]), Altersgrenzen für bestimmte Berufsbilder (Notare, Kassenärzte). ➢ Objektive Berufswahlregelungen sind nur zur Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für überragend wichtige Gemeinschaftsgüter zulässig. - Überragende Gemeinschaftsgüter sind z.B.: Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, eine funktionstüchtige Rechtspflege, der Schutz vor ungeeigneten Rechtsberatern, die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Verkehrs. - Fälle, die für zulässig erachtet wurden: Sportwettenmonopol (allerdings nur unter engen Voraussetzungen!); Arbeitsvermittlungsmonopol; Kontingentierungen im öffentlichen Personen- und Güterbeförderungsverkehr oder für andere Berufsgruppen (Notare, Kassenärzte etc.). ➢ Nota bene: Der Übergang zwischen den Stufen kann fließend sein. So erkennt das BVerfG auch Regelungen an, denen formal zwar nur der Charakter einer Berufsausübungsregelung zukommt, die aber letztlich wie eine subjektive oder gar objektive Berufswahlregelung wirken (z.B. kontingentierte Zulassung von Rechtsanwälten als BGHRechtsanwälte). In diesen Fällen nähert sich die Prüfung der ersten Stufe hinsichtlich der Rechtfertigungsanforderungen der dritten Stufe an. ➢ Im Rahmen der Erforderlichkeit ist zudem darauf zu achten, ob der Gesetzgeber – gemessen an seinem Ziel – tatsächlich die Stufe mit der geringsten Eingriffsintensität (bei gleicher Effektivität) gewählt hat (BVerfGE 7, 377 Ls. 6 d – Apotheken-Urteil: „Regelungen nach Art. 12 I 2 GG müssen stets auf der "Stufe" vorgenommen werden, die den geringsten Eingriff in die Freiheit der Berufswahl mit sich bringt; die nächste "Stufe" darf der Gesetzgeber erst dann betreten, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit dargetan werden kann, dass die befürchteten Gefahren mit (verfassungsmäßigen) Mitteln der vorausgehenden "Stufe" nicht wirksam bekämpft werden können.“) Zur Vertiefung: M. Nolte/C.J. Tams, Grundfälle zu Art. 12 I GG, JuS 2006, 31, 130, 218; Frenz, Die Berufsfreiheit – Nichtraucherschutz, Sportwetten, Studiengebühren, JA 2009, 252 ff.; Gersdorf, Verfassungsprozessrecht und Verfassungsmäßigkeitsprüfung, 4. Aufl. 2014, Rn. 240 ff. (dort auch speziell zur Prüfung des Art. 12 I GG); Schulte zu Sodingen, BVerfGE 7, 377 – Apotheken-Urteil, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 125 137 Staatsrecht – Grundrechte Prof. Dr. R. Müller-Terpitz HWS 2023 ff.; Volkmann, Staatsrecht II Grundrechte, 3. Aufl. 2020, § 16 Rn. 78 ff. (speziell zur Drei-Stufen-Theorie in der Fallanwendung). c) Eigentumsfreiheit (Art. 14, 15 GG) aa) Schutzbereich (1) Eigentumsbegriff ▪ Art. 14 I 1 GG schützt das Eigentum und das Erbrecht als Individualrechtspositionen. Geschützt wird darüber hinaus allerdings auch das Institut Eigentum. Der Gesetzgeber muss folglich einen Mindestbestand an eigentumsrechtlichen Regelungen vorhalten, also etwa das Mobiliar- und Immobiliareigentum gewährleisten. ▪ Eigentum wird gemeinhin qualifiziert als „jedes vermögenswerte Recht“. Der Eigentumsbegriff des Art. 14 I 1 GG ist also weit zu verstehen und geht insbesondere über das Eigentum an Sachen dergestalt hinaus, dass er sich auch auf bloß schuldrechtliche Ansprüche bezieht. ▪ Nota bene: Was Eigentum ist, muss allerdings vom Gesetzgeber konkretisiert werden. Ohne gesetzgeberische Ausgestaltung sind eigentumsrechtliche Positionen folglich nicht denkbar. Es handelt sich bei Art. 14 I 1 GG mithin um ein normgeprägtes Grundrecht par excellence. Es bedarf deshalb eines Minimums an gesetzgeberischen Regelungen, welche ein vermögenswertes Recht einem bestimmten Rechtsträger (exklusiv) zuordnen. ▪ Der Gesetzgeber hat dabei – gleichsam als Untergrenze – die Institutsgarantie zu beachten: Will er diese Garantie nicht verletzen, so muss er ein Minimum an Eigentumspositionen in der Rechtsordnung vorsehen. ▪ Ob es daneben so etwas wie ein „natürliches“ Eigentum gibt, ist umstritten. Bejaht wird dies z.T. für das Eigentum an beweglichen Sachen und Grundstücken (z.B. von Papier). Die Frage ist von nur geringer rechtlicher Relevanz, da die Verfassungsväter und -mütter 1948/49 (vor allem in Gestalt des BGB) bereits eine elaborierte Eigentumsordnung vorgefunden haben, die der aus Art. 14 I 1 GG fließenden Institutsgarantie vollauf genügte. ▪ Hat der Gesetzgeber eine Eigentumsposition geschaffen, so genießt diese den vollen Schutz des Art. 14 I 1 GG. Jede Beschränkung dieser Position muss sich dann am Maßstab dieses Grundrechts und insbesondere an der Verhältnismäßigkeit messen lassen. ▪ Beispiele für Eigentumsrechte i.S. des Art. 14 I 1 GG: - Mobiliar- und Immobiliarsachenrechte, 138 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz • Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 - Erbbaurecht (BVerfGE 79, 174 [191]), - Vorkaufsrecht (BVerfGE 83, 201 [209 f.]), - Urheberrecht (BVerfGE 31, 229 [240 f.]) = sog. geistiges Eigentum, - Patentrecht - Internet-Domains (BVerfG, NJW 2005, 589), - Besitzrecht des Mieters am Wohnraum (BVerfGE 89, 1 [7]), - Str. für Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse (zweifelhaft wegen fehlender Normprägung) Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb: ➢ Wird vom BGH, BVerwG und der h.L. mit allem, was den wirtschaftlichen Wert des Gewerbebetriebs ausmacht, dem Eigentumsbegriff zugerechnet (BGHZ 111, 249 [356]; BVerwGE 81, 49 [54]). ➢ BVerfG ist allerdings insoweit eher zurückhaltend: „Es ist die Frage, ob der Gewerbebetrieb als solcher die konstituierenden Merkmale des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs aufweist. Eigentumsrechtlich gesehen ist das Unternehmen die tatsächliche – nicht aber die rechtliche – Zusammenfassung der zu einem Vermögen gehörenden Sachen und Rechte, die an sich schon vor verfassungswidrigen Eingriffen geschützt sind“ (BVerfGE 51, 193 [221 f.]; BVerfG, NVwZ 2002, 1232). Der Schutz kann jedenfalls „nicht weitergehen als der Schutz, den seine wirtschaftliche Grundlage genießt“ (BVerfGE 58, 300 [353] → damit im Ergebnis als gesonderte „Eigentumsposition“ bedeutungslos). Im Ergebnis gibt es kein Judikat des BVerfG, in dem tatsächlich ein Eingriff in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nach der zivilrechtlichen Dogmatik vorlag und deshalb Art. 14 I GG als verletzt angesehen wurde! → tatsächliche Gegebenheiten (z.B. bestehende Geschäftsverbindungen, Kundenstamm oder Marktstellung) und günstige Umweltbedingungen (z.B. Parkmöglichkeiten in der Nähe, Möglichkeit einer Betriebserweiterung) sind nicht vom Schutzbereich umfasst. • Vermögen als solches, d.h. die in der Hand einer Person vereinigte Gesamtheit von Geld oder geldwerten Gütern: ➢ BVerfG lehnt es ab, das Vermögen als solches unter den Schutzbereich des Art. 14 GG zu subsumieren (BVerfGE 4, 7 [17]; 91, 207 [220]; 96, 375 [397]). Auch h.M. im Schrifttum 139 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte unterstellt das Vermögen Eigentumsbegriff. HWS 2023 als solches nicht dem ➢ Vermögen als solches kann deshalb Schutz nur über Art. 2 I GG erfahren, z.B. gegen eine Übermäßige Besteuerung. Einen „Halbteilungsgrundsatz“ (vgl. Art. 14 II GG) lehnt das Gericht indessen ab. ▪ Vermögenswerte subjektiv-öffentliche Rechte (z.B. Renten-, und Arbeitslosenansprüche) werden vom BVerfG dem Eigentumsbegriff unterstellt, „wenn es sich um vermögenswerte Rechtspositionen handelt, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet sind, auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruhen und seiner Existenzsicherung dienen“ (BVerfGE 97, 271 [284]). Ergänzen: OLG München CAMP-TV, S. 19 m.w.N.! Sie meinen vermutlich: OLG München, ZUM 2016, 535 ▪ Ansprüche, die der Staat ausschließlich „in Erfüllung seiner Fürsorgepflicht durch Gesetz einräumt“, werden demgegenüber nicht geschützt (BVerfGE 53, 257 [291 f.]; 69, 272 [301 f.]). (2) Umfang des Eigentumsschutzes ▪ ▪ ▪ Faustformel: „Art. 14 GG schützt das Erworbene, Art. 12 GG den Erwerb“ → Art. 14 GG schützt Bestand des Eigentums. Geschützt wird auch die Nutzung des Eigentums, d.h. Verwendung, Verbrauch, Veräußerung. Negative Eigentumsfreiheit umfasst die Freiheit, das Eigentum nicht zu nutzen. bb) Eingriffe (1) Inhalts- und Schrankenbestimmungen ▪ Gem. Art. 14 I 2 GG werden Inhalt und Schranken des Eigentums durch die Gesetze bestimmt. ▪ Definition nach BVerfG: Inhalts- und Schrankenbestimmungen „legen generell und abstrakt die Rechte und Pflichten des Eigentümers fest“ (BVerfGE 58, 300 [330]; 72, 66 [76]). ▪ Für den Fall, dass bereits bestehende Eigentumsfreiheit durch Inhalts- und Schrankenbestimmungen verkürzt wird, definieren diese zwar für die Zukunft den Eigentumsbegriff (erweisen sich mithin als ausgestaltende Inhaltsbestimmungen), stellen aber zugleich Eingriffe in das in der Vergangenheit begründete Eigentum dar. Das BVerfG differenziert deshalb nicht nach diesen Topoi, sondern behandelt Art. 140 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 14 I 2 GG als einen einheitlichen Schrankenvorbehalt, den es generell dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterwirft. (2) Enteignung ▪ Die Enteignung ist auf „die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver, durch Art. 14 I 1 gewährleisteter Rechtspositionen zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben gerichtet“ (BVerfGE 104, 1 [9]). Es handelt sich bei ihr mithin um einen gezielten Güterbeschaffungsvorgang. ▪ Unterscheidung zwischen Legalenteignung (Entziehung konkreter Eigentumsrechte eines bestimmten oder bestimmbaren Personenkreises per Gesetz) und Administrativenteignung (Entziehung konkreter Eigentumsrechte aufgrund eines Gesetzes durch administrative Maßnahmen) – vgl. Art. 14 III GG. ▪ Unterscheidung Enteignung/Inhalts- und Schrankenbestimmung: ➢ Enteignung ist konkret statt abstrakt. Enteignung trifft individuell und nicht generell. ➢ Enteignung bewirkt einen Eigentumsentzug. Sie ist in dem Sinne final, dass der Staat diesen Eigentumsentzug bezweckt. ➢ Enteignung dient der Erfüllung öffentlicher Aufgaben. (3) Sonstige Eingriffe ▪ Konkret-individuelle Anwendungsund Vollzugsakte von Rechtsprechung und Verwaltung, durch die die gesetzlichen Inhaltsund Schrankenbestimmungen konkretisiert und individualisiert werden (z.B. Widmung einer Privatstraße für die Öffentlichkeit). ▪ Enteignende und enteignungsgleiche Eingriffe: Darunter versteht man (faktische) Eingriffe, die ➢ Unmittelbarkeit besitzen (d.h. hoheitlichen Handelns sind), unmittelbare Folge eines ➢ ein Sonderopfer abverlangen (d.h. es wird zulasten einzelner Eigentümer die allgemeine, durch Inhaltsund Schrankenbestimmungen gezogene Opfergrenze überschritten) und ➢ von hinreichender Intensität sind (d.h. das Eigentum wird zwar nicht unbedingt entzogen, aber jedenfalls schwer, unerträglich und unzumutbar beschränkt). 141 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 ➢ Ein enteignender Eingriff liegt vor, wenn das Handeln der Verwaltung rechtmäßig und die Entziehung oder Beschränkung eine unbeabsichtigte Nebenfolge des rechtmäßigen Handelns war. ➢ Ein enteignungsgleicher Eingriff liegt vor, wenn die Verwaltung rechtswidrig handelt oder im Widerspruch zu einer Rechtspflicht eine Handlung unterlässt (sog. qualifiziertes Unterlassen). cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung (1) Inhalts- und Schrankenbestimmungen ▪ Trotz des Wortlauts „durch die Gesetze“ in Art. 14 I 2 GG kann nicht nur der Gesetzgeber selbst Inhalt und Schranken bestimmen, sondern hierzu auch die Verwaltung durch eine hinreichend bestimmte gesetzliche Regelung ermächtigen. ▪ Der Gesetzgeber ist aufgrund des Regelungsauftrags aus Art. 14 I 2 GG und der Sozialbindungsklausel aus Art. 14 II GG verpflichtet, Inhalts- und Schrankenbestimmungen in materieller Hinsicht am Wohl der Allgemeinheit zu orientieren. → Ausgleich zwischen Eigentümerinteressen: Interessen der Allgemeinheit und den ➢ Dabei hat er selbstverständlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten: Die Freiheit des Eigentums darf nicht mehr als verhältnismäßig verkürzt und die Sozialbindung des Eigentums gem. Art. 14 II GG nicht mehr als verhältnismäßig vernachlässigt werden. Insbesondere darf nicht die Privatnützigkeit des Eigentums vollständig aufgehoben werden. ➢ z.B. Grund und Boden: „Die Tatsache, dass Grund und Boden unvermehrbar und unentbehrliche ist, verbietet es, seine Nutzung dem unübersehbaren Spiel der freien Kräfte und dem Belieben des Einzelnen vollständig zu überlassen; eine gerechte Rechts- und Gesellschaftsordnung zwingt vielmehr dazu, die Interessen der Allgemeinheit beim Boden in weit stärkerem Maße zur Geltung zu bringen als bei anderen Vermögensgütern“ (BVerfGE 21, 73 [82 f.]; 52, 1 [32 f.]). ➢ Der Gesetzgeber muss im Rahmen der Abwägung auch die Bedeutung der vermögenswerten Rechtsposition für den Eigentümer berücksichtigen. Die Befugnis des Gesetzgebers reicht umso weiter, je mehr das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion steht (BVerfGE 50, 290 [340]) ➢ Der Gesetzgeber muss ggf. eine finanzielle Entschädigung für den betroffenen Eigentümer vorsehen (vgl. BVerfGE 58, 137 – 142 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte Pflichtexemplare) – „ausgleichspflichtige Schrankenbestimmungen“. HWS 2023 Inhalts- und ➢ Ggf. müssen Eingriffe auch durch Härteklauseln und Übergangsregelungen abgefedert werden. Nach BVerfG sind Übergangsregelungen insbesondere erforderlich, „wenn von einer nach früherem Recht möglichen Nutzungsbefugnis bereits Gebrauch gemacht worden ist und diese entzogen wird“ (BVerfGE 58, 300 [338] – Nassauskiesung; BVerfG, NJW 1998, 367 ff. – Nassauskiesung II; BVerfGE 100, 226 ff. – Direktorenvilla). (2) Enteignung ▪ Muss gem. Art. 14 III 2 GG entweder durch Gesetz (Legalenteignung) oder auf Grund Gesetzes, durch Rechtsverordnung, Satzung oder VA (Administrativenteignung) erfolgen. ▪ Es gilt aufgrund der Wesentlichkeitstheorie ein Parlamentsvorbehalt. Für welche Vorhaben, unter welchen Voraussetzungen und für welche Zwecke eine Enteignung zulässig sein soll, darf nur vom parlamentarischdemokratischen Gesetzgeber bestimmt werden (BVerfGE 74, 264 [285]). Die Verwaltung darf nicht aus eigenem Recht Enteignungen anordnen. ▪ Enteignungen dürfen gem. Art. 14 III 1 GG nur zum Wohl der Allgemeinheit angeordnet werden. Enteignungen, die ausschließlich aus fiskalischen Gründen erfolgen, sind nicht vom Allgemeinwohl gedeckt (BVerfGE 38, 175 [180]; BVerfG, NJW 1999, 1176). ▪ Art. 14 III 2 GG (sog. „Junktimklausel“) verlangt, dass eine Enteignung durch ein Gesetz angeordnet wird, das eine Entschädigung vorsieht und deren Art und Ausmaß regelt: ➢ Ein Enteignungsgesetz, das keine Entschädigungsregelung enthält, ist verfassungswidrig (BVerfGE 24, 367 [418]). ➢ Eine Entschädigungsregelung kann von den Gerichten nicht durch Analogie oder unmittelbar aus Art. 14 GG hergeleitet werden. Das verfassungswidrige Enteignungsgesetz muss gem. Art. 100 I GG dem BVerfG vorgelegt werden. ➢ Der Enteignete kann eine Entschädigung nach Art. 14 III 3 GG nur dann bei den ordentlichen Gerichten einklagen, wenn sie ausdrücklich gesetzlich geregelt ist. Ist dies nicht der Fall, kann er nur vor den Verwaltungsgerichten gegen die Enteignung selbst vorgehen: „Lässt er den Eingriffsakt unanfechtbar werden, so verfällt seine Entschädigungsklage der Abweisung. Wer von den ihm durch das Grundgesetz eingeräumten Möglichkeiten, sein Recht auf Herstellung des verfassungsmäßigen Zustands zu wahren, keinen Gebrauch macht, kann wegen eines etwaigen, von ihm selbst herbeigeführten Rechtsverlustes nicht anschließend von der 143 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 öffentlichen Hand Geldersatz verlangen“ (BVerfGE 58, 300 [324] – Nassauskiesung). => Kein „Dulde und liquidiere“ (mehr). Zur Vertiefung: Jochum/Durne, Grundfälle zu Art. 14 GG, JuS 2005, 220, 320, 412 ff.; Kilic, Die dogmatischen Fehlentwicklungen zur Eigentumsfreiheit – was bleibt von der Eigentumsfreiheit noch übrig?, ZJS 2011, 479 ff.; Lege, Art. 14 GG für Fortgeschrittene, ZJS 2012, 44 ff.; Cornils, BVerfGE 58, 137 – Pflichtexemplar, BVerfGE 58, 300 – Nassauskiesung und BVerfGE 61, 82 – Sasbach, in: Menzel/Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 334 ff., 342 ff. und 351 ff.; Lege, Das Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 GG. Teil 1: Verfassungsrechtliche Grundlagen, Jura 2011, 507 ff.; Lege, 30 Jahre Nassauskiesung: Wie das BVerfG die Dogmatik zum Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 GG revolutioniert hat, JZ 2011, 1084 ff.; ggf. ergänzen: BVerfGE 143, 246-396 (Atomausstieg) und BVerfG, NJW 2019, 3054 (Nichtannahmebeschluss, Verfassungsmäßigkeit der Mietpreisbremse, § 556d BGB, keine Verletzung von u.a. Art. 14 GG) – ggf. auch dann Verweis zur Verfassungswidrigkeit des Berliner Mietendeckels, falls Erwähnung im Staatsrecht I Skript? 144

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