Sozialpsychologie: Soziale Kognition, Einstellungen und Methoden PDF
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PFH Private Hochschule Göttingen
Hans-Werner Bierhoff, Dieter Frey
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Dieser Lehrbrief behandelt die Sozialpsychologie, soziale Kognition, soziale Einstellungen und Methoden. Er bietet einen umfassenden Überblick über die zentralen Themen und Konzepte der Sozialpsychologie. Der Lehrbrief ist für Studierende konzipiert und deckt verschiedene Bereiche wie soziale Wahrnehmung, Urteile, Einstellungen, Stereotype und Methoden ab.
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Lehrbrief Sozialpsychologie Soziale Kognition, soziale Einstellungen und Methoden der Sozialpsychologie B10153 Lehrbrief Sozialpsychologie Soziale Kognition, soziale Einstellungen und Methoden der Sozialpsychologie B10153 Autoren: Prof. Dr. Hans-Werner Bierhoff Prof. Dr. Dieter Frey unter Mitarbeit...
Lehrbrief Sozialpsychologie Soziale Kognition, soziale Einstellungen und Methoden der Sozialpsychologie B10153 Lehrbrief Sozialpsychologie Soziale Kognition, soziale Einstellungen und Methoden der Sozialpsychologie B10153 Autoren: Prof. Dr. Hans-Werner Bierhoff Prof. Dr. Dieter Frey unter Mitarbeit von Nilüfer Aydin, Gerd Bohner, Julia Fischer, Peter Fischer, Ina Grau, Andreas Kastenmüller,Lars-Eric Petersen, Leonie Reutner, Anne Sauer, Michaela Wänke und Silke Weisweiler Modulverantwortung: Prof. Dr. Olivia Spiegler Herausgeber: PFH Private Hochschule Göttingen Weender Landstraße 3-7 37073 Göttingen Tel.: +49 (0)551 54700-0 Verlag: © 2022 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG Göttingen Bern Wien Oxford Boston Paris Amsterdam Prag Florenz Kopenhagen Stockholm Helsinki São Paulo Merkelstraße 3, 37085 Göttingen Impressum: www.pfh.de/impressum Datenschutz: www.pfh.de/datenschutz Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Coverbild: https://stock.adobe.com Sonderausgabe: Der Lehrbrief basiert auf Kapitel 7 bis 12 des Buches „Sozialpsychologie - Individuum und soziale Welt“ von Hans-Werner Bierhoff und Dieter Frey (2011). ISBN 978-3-8017-2154-1 2. Auflage, Göttingen 2022 | PFH.FLB.843.2311 5 Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis 8 Tabellenverzeichnis 9 Einleitung 11 Einordnung des Lehrbriefes im Rahmen des Fernstudiums 11 Aufbau und Konzeption dieses Lehrbriefes 12 Lernziele dieses Lehrbriefes 12 Kapitel 1 Soziale Wahrnehmung: naive Theorien, Eindrucksbildung, Verarbeitung von Gesichtern 13 1.1 Naive Theorien: Der Mensch als naiver Laienwissenschaftler 14 1.2 Attributionstheorien 16 1.2.1 Korrespondenzverzerrungen 18 1.2.2 Unterschiede zwischen handelnden Personen und Beobachtern 19 1.3 Eindrucksbildung und Verarbeitung von Gesichtern 20 1.3.1 Holistische Verarbeitung von Gesichtern 20 1.3.2 Soziale Wahrnehmung von Gesichtern 21 1.3.3 Gedächtnis und Gesichter 21 1.4 Schluss 22 Reflexionsaufgaben 23 Kapitel 2 Soziale Urteile und Rationalität bei Entscheidungen: Urteilsheuristiken und Erwartungen 25 2.1 Rationalität bei Entscheidungen 26 2.2 Urteilsheuristiken 26 2.2.1 Leichtigkeit der Abrufbarkeit einzelner Informationen: die Verfügbarkeitsheuristik 27 Urteile unter Rückgriff auf Ähnlichkeit und Merkmalsverteilungen: Die Repräsentativitätsheuristik 29 2.2.3 Anker- und Adjustierungsheuristik 31 2.2.4 Emotionsheuristik („How-do-I-feel-about“-Heuristik) 34 2.2.5 Simulationsheuristik (Kontrafaktisches Denken) 36 2.3 Einfluss von Erwartungen auf kognitive Verarbeitungsprozesse 39 2.3.1 Schemata 39 2.3.2 Perseveranzeffekt 40 2.2.2 6 2.3.3 Hypothesentheorie der Wahrnehmung 40 2.3.4 Sich-selbst-erfüllende Prophezeiungen 41 Reflexionsaufgaben 44 Kapitel 3 Soziale Kognition: Aktivierung kognitiver Konzepte, automatische kognitive Konzepte und die Entwicklung der soziokognitiven Neurowissenschaft 45 3.1 Einleitung: Was sind soziale Kognitionen? 46 3.2 Priming 47 3.2.1 Semantisches Priming 47 3.2.2 Affektives Priming 48 3.2.3 Prozedurales Priming 49 3.2.4 Wie kommt es zum Primingeffekt? 50 3.2.5 Medienforschung als Beispiel für die praktische Anwendung des Priming-Paradigmas 50 3.3 Gedankenlosigkeit und assoziierte automatisierte Prozesse 51 3.3.1 Gefangensein in Kategoriendenken 51 3.3.2 Mechanische und automatische Reaktionen 52 3.3.3 Handeln unter einer einzigen Perspektive 53 3.3.4 Entstehung von Gedankenlosigkeit 54 3.3.5 „Mindfulness“ als Gegenpol zur Gedankenlosigkeit 54 3.3.6 Kritikpunkte an Langers Konzept 55 3.4 Gelungene interdisziplinäre Vernetzung: die soziokognitive Neurowissenschaft 56 3.4.1 Überblick: Methoden in den Neurowissenschaften 57 3.4.2 Forschungsschwerpunkte in der soziokognitiven Neurowissenschaft 59 Reflexionsaufgaben 62 Kapitel 4 Einstellung und Verhalten 4.1 63 Was ist eine Einstellung und welche Rolle spielt sie in der Sozialpsychologie? 64 4.2 Die Funktion von Einstellungen 65 4.3 Einstellungen als temporäre Konstrukte vs. Gedächtnisrepräsentationen 65 4.4 Struktur und Stärke von Einstellungen 66 4.5 Die Messung von Einstellungen 67 7 4.6 Einstellungsbildung und Einstellungsänderung 70 4.6.1 Prozesse geringen kognitiven Aufwands 70 4.6.2 Prozesse höheren kognitiven Aufwands 72 4.7 Was bewirken Einstellungen: Einflüsse auf Informationsverarbeitung und Verhalten 75 4.7.1 Wann sind Einstellungen gute Verhaltensprädiktoren? 75 4.7.2 Wie wirken sich Einstellungen auf Verhalten aus? 76 4.8 Einstellungsänderung als Folge von Verhaltensänderung 78 Reflexionsaufgaben 81 Kapitel 5 Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung 83 5.1 Stereotype 84 5.1.1 Bildung, Erhalt und Veränderung von Stereotypen 85 5.1.2 Stereotype, Wahrnehmung und Verhalten 86 5.1.3 Folgen für Mitglieder stereotypisierter Gruppen 88 5.2 Vorurteile 90 5.2.1 Rassismus 90 5.2.2 Sexismus 92 5.2.3 Altersvorurteile 93 5.3 Soziale Diskriminierung 94 5.3.1 Individuumsorientierte Erklärungen für soziale Diskriminierung 94 Gruppenorientierte Erklärungen für soziale Diskriminierung 96 Folgen sozialer Diskriminierung 97 Reflexionsaufgaben 99 5.3.2 5.3.3 Kapitel 6 Methoden in der Sozialpsychologie: Befragungen und Experimente 101 6.1 Verfahren der Datenerhebung 102 6.1.1 Befragung 102 6.1.2 Beobachtung 103 6.1.3 Indirekte und nicht reaktive Verfahren 104 6.2 Der Begriff der Messung 104 6.3 Von der Theorie zur Hypothese 105 6.4 Arten von Untersuchungsdesigns 107 6.4.1 Deskriptives Design 107 8 6.4.2 Korrelatives Design 108 6.4.3 Experimentelles Design 109 6.5 Bestandteile von Befragungen 112 Reflexionsaufgaben 118 Ausblick 119 Anhang 119 Literatur 120 Glossar 128 Lösungshinweise zu den Reflexionsaufgaben 138 Ergänzende Übungsaufgaben 142 Lösungshinweise zu den ergänzenden Übungsaufgaben 142 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Beurteilung der eigenen Lebenssituation bei gutem und schlechtem Wetter 35 Aufwärts- und abwärtsgerichtete kontrafaktische Gedanken von Silber- und Bronzemedaillengewinnern bei den Olympischen Spielen 38 Abbildung 3: Beispiel für eine Einstellungsskala 67 Abbildung 4: Zygomaticus-Muskeln und Corrugator-Muskel. 68 Abbildung 5: Ablauf eines IATs. Die Punkte links und rechts der Begriffe stehen symbolisch für die linke vs. rechte Taste. 69 Schematische Darstellung des Modells der Elaborationswahrscheinlichkeit 73 Die Interaktion von Expertise und Argumentqualität bei hohem und niedrigem Involvement für die Einstellung nach der Kommunikation 74 Schematische Darstellung der Theorie der überlegten Handlung (a) und der Theorie des geplanten Verhaltens (b) 77 Abbildung 9: Zwei Beispiele für das verwendete Stimulusmaterial 87 Abbildung 10: Anzahl der Fehler in 20 Durchgängen 88 Abbildung 11: Mathematikleistung als Funktion der Beschreibung des Tests 89 Anzahl der ausgewählten Ausländer für ein Vorstellungsgespräch 96 Abbildung 2: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 12: Abbildung 13: Beispiel eines Fragebogenitems mit Antwortalternativen 103 Abbildung 14: Prozess der Operationalisierung von Konstrukten 106 9 Abbildung 15: Beispiel für eine Häufigkeitsverteilung 108 Abbildung 16: Häufigkeitsverteilung der Freizeitzufriedenheit bei unterschiedlichen Antwortvorgaben 111 Waagerechte und senkrechte Skalenanordnung 116 Abbildung 17: Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Tabelle 2: Ausgewählte Methoden zur Erforschung des Nervensystems Beispiel für den Einfluss von Antwortalternativen 58 115 11 Einleitung Die Sozialpsychologie beschäftigt sich mit dem Einfluss sozialer Aspekte auf das Individuum und die Umwelt. Darüber hinaus befasst sie sich mit sozialer Interaktion und wirft einen Blick auf soziale Gruppenprozesse. Der Lehrbrief beschäftigt sich mit der sozialen Wahrnehmung, einschließlich der Eindrucksbildung, mit der sozialen Urteilsbildung sowie mit Einstellungen und Vorurteilen. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund: Warum sind Menschen so, wie sie sind? Warum verhalten sie sich auf eine bestimmte Weise? Weiterhin werden die Methoden der Sozialpsychologie behandelt, um ein tiefer gehendes Verständnis für die Datengewinnung in der Sozialpsychologie zu ermöglichen. Dabei werden zwei Techniken der Datenerhebung ausführlich behandelt, welche den überwiegenden Teil der Forschung in der Sozialpsychologie bestimmen: die Befragung und das Experiment. Ziel dieses Lehrbriefes ist es, Erkenntnisse über sozialkognitive Prozesse wie soziale Wahrnehmung, soziale Urteile und Entscheidungen sowie deren neurowissenschaftliche Bezüge zu erlangen. Einordnung des Lehrbriefes im Rahmen des Fernstudiums Die Sozialpsychologie ermöglicht ein differenziertes Verständnis von Alltagsvorgängen. Hier geht es um Fragen wie: Inwieweit beeinflusst die soziale Umwelt die einzelne Person bei ihrer Personenwahrnehmung und ihrer Motivation? Wie beeinflussen einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen ihre soziale Umwelt? Unter welchen Bedingungen sind Minoritäten erfolgreich? Was sind typische Merkmale der Majorität? Die Sozialpsychologie wird im Rahmen dieses Moduls in folgende Bereiche untergliedert: Selbst, Persönlichkeit und soziale Motive Soziale Kognition, soziale Einstellungen und Methoden der Sozialpsychologie Soziale Interaktion Soziale Gruppenprozesse Der Lehrbrief Soziale Kognition, soziale Einstellungen und Methoden der „Sozialpsychologie“ konzentriert sich auf sozialpsychologische Aspekte des Individuums in seiner sozialen Umwelt. In diesem Zusammenhang rückt die folgende Frage in den Vordergrund: Wie interpretieren und nehmen Individuen ihre soziale Welt wahr? Untersuchungen zu sozi- 12 alen Kognitionen konnten hierbei in zahlreichen Studien zeigen, dass unbewusste und automatisch ablaufende Denkprozesse in der Natur des menschlichen Denkens liegen. Im letzten Teil werden Methoden der Datenerhebung behandelt, die in diesem Bereich der Sozialpsychologie angewendet werden. Sie finden zu jedem Kapitel Übungsaufgaben, um den Stoff wiederholen und vertiefen zu können. Wichtige Ergebnisse werden in farbigen Kästchen hervorgehoben. Aufbau und Konzeption dieses Lehrbriefes Das erste Kapitel widmet sich der sozialen Wahrnehmung und ihren Einflussfaktoren, wie beispielweise der Eindrucksbildung und Verarbeitung von Gesichtern. Auf dieser Basis wird die Entstehung von Urteilsheuristiken ausgeführt, sowie die Wirkung von Erwartungen auf kognitive Verarbeitungsprozesse und auf das tatsächliche Verhalten (am Beispiel des Phänomens der sich-selbst-erfüllenden Prophezeiung erläutert). Die anschließenden Kapitel beschäftigen sich mit der sozialen Kognition sowie den zentralen Charakteristika des Konstrukts „Einstellung“ und den damit verbundenen Themen. Abschließend wird der Einfluss von automatisch aktivierten Stereotypen auf Wahrnehmung und Verhalten erörtert, bevor die Verfahren der Datenerhebungen - die Befragung und das Experiment - behandelt werden. Lernziele dieses Lehrbriefes Soziale Wahrnehmung: naive Theorien, Eindrucksbildung, Verarbeitung von Gesichtern Soziale Urteile und Rationalität bei Entscheidungen: Urteilsheuristiken und Erwartungen Soziale Kognition: Aktivierung kognitiver Konzepte, automatische kognitive Konzepte und die Entwicklung der soziokognitiven Neurowissenschaft Einstellung und Verhalten Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung Methoden in der Sozialpsychologie: Befragungen und Experimente Kapitel 1 Soziale Wahrnehmung: naive Theorien, Eindrucksbildung, Verarbeitung von Gesichtern Andreas Kastenmüller, Dieter Frey, Nilüfer Aydin und Peter Fischer Inhaltsübersicht 1.1 Naive Theorien: Der Mensch als naiver Laienwissenschaftler 14 1.2 Attributionstheorien 16 1.2.1 Korrespondenzverzerrungen 18 1.2.2 Unterschiede zwischen handelnden Personen und Beobachtern 19 Eindrucksbildung und Verarbeitung von Gesichtern 20 1.3.1 Holistische Verarbeitung von Gesichtern 20 1.3.2 Soziale Wahrnehmung von Gesichtern 21 1.3.3 Gedächtnis und Gesichter 21 1.4 Schluss 22 Reflexionsaufgaben 23 1.3 14 Kapitel 1 Schlüsselbegriffe Naive Theorien: der Mensch als naiver Laienwissenschaftler Internale und externale Attribution Attributionstheorien: die Theorie der korrespondierenden Schlussfolgerung und das Kovariationsmodell Mögliche Fehler bei der Attribution Eindrucksbildung und Verarbeitung von Gesichtern Warum sind Menschen so, wie sie sind? Warum verhalten sie sich auf eine bestimmte Weise? Oft stellt uns das Verhalten unserer Mitmenschen vor große Rätsel. So fragen wir uns vielleicht, warum sich ein Ehepaar plötzlich getrennt hat, von dem wir über Jahre dachten, dass es glücklich verheiratet sei, oder warum ein ehemaliger Mitschüler, von dem wir dachten friedliebend zu sein, plötzlich kriminell geworden ist. Es liegt eine große Faszination darin, das Verhalten anderer Menschen zu erklären. Wir verbringen viel Zeit damit, Romane zu lesen, ins Kino zu gehen oder uns Reality-TV-Sendungen anzuschauen. Wir reden mit Freunden darüber, warum sich eine Filmfigur auf eine bestimmte Weise verhalten hat oder warum ein gemeinsamer Freund einen bestimmten Beruf ergriffen hat. Aber warum sich Menschen auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, bleibt uns meist verborgen. Das einzige, was wir beobachten, ist ihr Verhalten, d. h. ihre Mimik, ihre Gestik, ihren Tonfall oder ihren Gesichtsausdruck. Man kann aber leider nicht in Menschen hineinsehen und mit ganzer Gewissheit feststellen, wer sie sind, was sie meinen und welche Motive sie leiten. Meist vertrauen wir auf flüchtige Eindrücke oder auf Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens gebildet haben (Aronson, Wilson & Akert, 2008). Im vorliegenden Kapitel soll ein Überblick über klassische und aktuelle Forschungsergebnisse zu diesem Thema gegeben werden. 1.1 Menschen haben ein starkes Bedürfnis, die Ursachen für das Verhalten ihrer Mitmenschen zu ergründen, um ihre soziale Umwelt besser zu verstehen und vorherzusagen Naive Theorien: Der Mensch als naiver Laienwissenschaftler Ein wichtiger Grund, warum wir soviel Zeit damit verbringen, über das Verhalten von anderen Menschen nachzudenken, besteht nach Fritz Heider (1958) darin, weil dies Menschen dabei hilft, ihre soziale Umwelt besser zu verstehen und vorherzusagen (Hogg & Vaughan, 2008). Heider (1958) betrachtet den Menschen als naiven Laienwissenschaftler, der sich – nach dem gesunden Menschenverstand – psychologische Theorien bildet. Er war dabei der Ansicht, dass die Erforschung dieser naiven Theorien von großer Wichtigkeit ist, da diese Theorien das menschliche Verhalten maßgeblich beeinflussen. So haben beispielsweise unterschiedliche Menschen unterschiedliche religiöse Überzeugungen oder glauben an Soziale Wahrnehmung 15 Astrologie und interpretieren somit bestimmte Ereignisse anders bzw. reagieren auf diese anders als Menschen, die diese Überzeugungen nicht teilen. Nach Heider (1958) sind Menschen also intuitive, naive Psychologen, die sich kausale Theorien menschlichen Verhaltens konstruieren. Drei Prinzipien der Konstruktion von naiven Theorien nach Heider 1. Weil Menschen denken, dass ihr eigenes Verhalten auf Motive zurückzuführen ist, versuchen sie, auch die Ursachen und Gründe für das Verhalten von anderen zu ergründen, um deren Motive zu erschließen. Dieses Bedürfnis, Verhalten kausal zu erklären, ist so stark, dass sogar geometrischen Figuren, die sich auf einem Bildschirm zufällig bewegen, bestimmte Motive zugesprochen werden (z. B. das Dreieck verfolgt das Quadrat) als handelte es sich um Menschen, wie eine Studie von Heider und Simmel (1944) zeigen konnte. Drei Prinzipien der naiven Psychologie 2. Menschen suchen bei der Konstruktion ihrer Theorien vorwiegend nach stabilen und überdauernden Entitäten ihrer Umwelt wie beispielsweise Persönlichkeitseigenschaften (traits) oder Fähigkeiten. 3. Beim Attribuieren (d. h. Zuschreiben) von Kausalität von Verhalten unterscheiden Menschen zwischen Persönlichkeitsfaktoren (z. B. Intelligenz, Fähigkeiten etc.) und situativen Faktoren (z. B. Stimmung, Stress). Das Attribuieren auf Persönlichkeitsfaktoren wird auch als internale (oder dispositionale) Attribution, das Attribuieren auf situative Faktoren als externale (situationale) Attribution bezeichnet. So kann es z. B. bei Konflikten mit anderen Menschen von Interesse sein, dass man weiß, ob die andere Person generell Konflikte sucht (internale Attribution) oder ob es einen bestimmten situativen Grund hat, warum der Konflikt auftrat (externale Attribution). Weil Menschen internale Gründe und Intentionen von anderen Menschen nicht klar wahrnehmen können, meint Heider, dass Menschen nur dann auf internale Faktoren schließen können, wenn externale Faktoren ausgeschlossen werden können. Dass aber trotzdem eher auf internale Faktoren attribuiert wird, obwohl externale Faktoren nicht klar ausgeschlossen werden können, davon soll in diesem Kapitel weiter unten berichtet werden. Scherer (1978) konnte sogar zeigen, dass Menschen bei fremden Personen Annahmen über deren Persönlichkeitseigenschaften machten, obwohl sie lediglich ihre Stimme über Telefon gehört hatten (siehe auch Hogg & Vaughan, 2008). Menschen bauen ihre Theorien über andere auf den Informationen auf, die ihnen zur Verfügung stehen (d. h. Merkmale einer Person). Dabei wirken sich jedoch nicht alle Merkmale einer Person gleich auf den wahrgenommenen Gesamteindruck aus. Asch (1946) legte Versuchspersonen eine Liste von sieben Eigenschaften (intelligent, geschickt, fleißig, warm, bestimmt, praktisch, vorsichtig) einer fiktiven Person vor. Die Probanden sollten sich aufgrund dieser Informationen einen Gesamteindruck über diese Person bilden; hier sollten sie aus einer Liste von paarweise gegensätzlichen Merkmalen jenes auswählen, das am ehesten zu der fiktiven Person passt (z. B. großzügig vs. wenig großzügig). Es wurden Internale und externale Attribution 16 Kapitel 1 zwei Gruppen gebildet, wobei einer Gruppe die unveränderte Merkmalsliste vorgelegt wurde. Die andere Gruppe erhielt die gleiche Liste, wobei lediglich eine Eigenschaft (warm) durch eine andere Eigenschaft (kalt) ersetzt wurde; die anderen sechs Eigenschaften blieben konstant. In der Bedingung „kalt“ wurde die Zielperson von 25 % der Probanden als weise und von 34 % als glücklich beschrieben. In der Bedingung „warm“ wurde die Zielperson von 65 % der Probanden als weise und von 90 % als glücklich wahrgenommen. 1.2 Attributionstheorien Heiders Attributionstheorie hat eine Vielzahl von Studien hervorgerufen, auf Basis derer die Attributionstheorie mehrfach verändert und erweitert wurde. Im Folgenden sollen die wichtigsten Attributionstheorien vorgestellt werden. Jones’ und Davis’ Theorie der korrespondierenden Schlussfolgerung Bei der Attribution wird zunächst geprüft, ob ein Verhalten freiwillig erfolgt ist; im zweiten Schritt wird die Zuschreibung auf stabile Persönlichkeitsmerkmale vorgenommen Voraussetzungen korrespondierender Schlussfolgerungen Die Theorie der korrespondierenden Schlussfolgerung (Jones & Davis, 1965; Jones & McGillis, 1976) erklärt, wie Menschen darauf schließen, dass das Verhalten einer Person mit der jeweiligen Persönlichkeitseigenschaft korrespondiert. So wird zum Beispiel erklärt und vorhergesagt, unter welchen Umständen wir darauf schließen, dass eine Person aggressiv ist, wenn sie sich aggressiv verhält. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Menschen eine korrespondierende Schlussfolgerung treffen (d. h. von einer bestimmten Verhaltensweise auf eine Disposition schließen), wenn folgende fünf Voraussetzungen gegeben sind: 1. Wenn eine Person das jeweilige Verhalten freiwillig ausgeführt hat, d. h. es lag kein Zwang (z. B. Befehl) vor (free choice). 2. Wenn das Verhalten zu einer kleinen Anzahl von verschiedenen Effekten führt, z. B. Verhalten A führt zu Freude und Verhalten B führt zu Unglück. Wenn jedoch Verhalten A und B ähnliche Effekte implizieren oder zu unterschiedlichen, aber sehr vielen Effekten führen, dann hat das gewählte Verhalten wenig Vorhersagekraft über die Persönlichkeit der jeweiligen Person (outcome bias). 3. Wenn das Verhalten wenig sozial erwünscht ist, d. h. gegen bestimmte soziale Normen spricht. Zeigt eine Person sozial erwünschtes Verhalten, so hat dies wenig Aussagekraft über die zugrunde liegenden Dispositionen der jeweiligen Person (social desirability). 4. Wenn das Verhalten große Konsequenzen für die ausführende Person mit sich bringt (hedonic relevance). 5. Wenn bei dem Verhalten direkt intendiert ist, dass es einer anderen Person hilft oder schadet (personalism). Soziale Wahrnehmung 17 Kelleys Kovariationsmodell Die wohl bekannteste Attributionstheorie ist das Kovariationsmodell von Kelley (1967, 1973). Nach diesem Modell ziehen Menschen nicht nur eine, sondern mehrere Informationen heran, wenn sie sich einen Eindruck von anderen Personen bilden. Fragt man beispielsweise einen Freund/eine Freundin, ob er/sie beim nächsten Umzug hilft und er/sie sagt „nein“, so fragt man sich meist dabei, warum der Freund/die Freundin nicht hilft. Wie kann man dieses Verhalten erklären? Nach dem Kovariationsmodell zieht man mehrere Aspekte heran, ehe man die Frage nach der Ursache für sich beantwortet. Dabei ist wichtig, wie das Verhalten der jeweiligen Person über die Zeit, andere Menschen, verschiedene Orte etc. kovariiert (z. B. hat mein Freund/meine Freundin anderen Personen beim Umzug geholfen?). Kelley betont, dass wir grundsätzlich drei Arten von Informationen für Kausalattributionen heranziehen: (1) Konsens, (2) Konsistenz und (3) Distinktheit. Man stelle sich vor, Anna geht im Park spazieren, wobei sie auf einen Obdachlosen trifft. Anna gibt dem Obdachlosen 5 Euro. Warum gibt Anna dem Obdachlosen das Geld? Hat es etwas mit Anna, dem Obdachlosen oder mit der Situation zu tun? Nach Kelley (1967, 1973) müssen drei Fragen gestellt werden, ehe diese Kausalattribution vorgenommen werden kann: Drei Arten von Informationen werden als Grundlage für Kausalattributionen herangezogen 1. Konsensusinformation: Wie verhalten sich andere Menschen zum gleichen Stimulus? Im Beispiel würde man die Frage stellen, ob andere Menschen dem gleichen Obdachlosen Geld geben. 2. Konsistenzinformation: Wie oft wurde das Verhalten zwischen dem gleichen Akteur (die Person, dessen Verhalten erklärt werden soll) und dem gleichen Stimulus beobachtet? Beispiel: Gibt Anna diesem Obdachlosen öfter Geld? 3. Distinktheitsinformation: Wie reagiert der Akteur auf andere Stimuli? Beispiel: Gibt Anna anderen Obdachlosen Geld? Nach dem Kovariationsmodell kann man eine klare Kausalattribution vornehmen, wenn die drei Informationsquellen in Beziehung gesetzt werden. Menschen schreiben das Verhalten des Akteurs der Person des Akteurs zu (internale Attribution), wenn Konsensus und Distinktheit gering, die Konsistenz aber hoch ist. Im Beispiel würde man also das Verhalten von Anna ihrer Person zuschreiben, wenn niemand anderes dem Obdachlosen Geld gibt, Anna auch anderen Obdachlosen Geld gibt und Anna oft dem gleichen Obdachlosen Geld gibt. Sind jedoch alle drei Aspekte hoch (Konsens, Distinktheit und Konsistenz), so schreiben Menschen das Attributionen aufgrund von Konsens-, Konsistenzund Distinktheitsinformationen 18 Kapitel 1 Verhalten der Situation und nicht dem Akteur zu (externale Attribution). Wenn im Beispiel viele Menschen dem Obdachlosen Geld geben, Anna anderen Obdachlosen sonst kein Geld gibt und Anna stets nur dem einen Obdachlosen Geld gibt, dann wird Annas Verhalten nicht ihrer Person zugeschrieben, sondern zum Beispiel dem Obdachlosen. Wenn die Konsistenz gering ist, kann jedoch keine klare Kausalattribution (internal versus external) vorgenommen werden. 1.2.1 Menschen attribuieren nicht rational Korrespondenzverzerrungen Nach dem Kovariationsmodell von Kelley wird eine rationale Person vorausgesetzt, die aufgrund bestimmter Informationen bestimmt, ob das Verhalten eines Akteurs internal oder external zu attribuieren ist. Menschen attribuieren jedoch nicht so rational wie man der Theorie nach annehmen könnte. Stellen Sie sich vor, Sie schauen sich ein Fußballspiel Ihres Lieblingsvereins im Fernsehen an. Sie sehen wie der Stürmer Ihres Lieblingsvereins sich vor dem gegnerischen Tor befindet, so dass Sie denken, dass er ein sicheres Tor schießen müsse. Er rutscht aber aus und schießt daneben. Sie denken sich womöglich: „Wie kann das passieren? Wie kann man nur so ungeschickt sein?“ Was Sie jedoch dabei nicht bedacht haben, ist, dass der Rasen vollkommen aufgeweicht und rutschig ist, weil es einige Tage zuvor geregnet hat. Somit ist der Fehlschuss nicht auf den Stürmer, sondern auf den aufgeweichten Rasen zurückzuführen (vgl. Stroebe, Jonas & Hewstone, 2007). Merke: Der fundamentale Attributionsfehler Der fundamentale Attributionsfehler Weil es oft sehr einfach ist, das Verhalten anderer Menschen mit ihrer Persönlichkeit in Beziehung zu setzen, unterschätzen wir oft die Wichtigkeit und den Einfluss der Situation (Korrespondenzverzerrung). Wir Menschen neigen dazu, Verhalten unserer Mitmenschen ihrer Person (im Beispiel die Ungeschicklichkeit des Stürmers) und weniger der Situation zuzuschreiben (im Beispiel der aufgeweichte Rasen). Da dieses Phänomen, das Verhalten von anderen Menschen überproportional und mehr als gerechtfertigt auf die Person des Akteurs zu attribuieren, so häufig auftritt, haben Sozialpsychologen dieser Attributionsverzerrung einen eigenen Namen gegeben: den fundamentalen Attributionsfehler (Ross, 1977). In diesem Zusammenhang zeigten Jones und Harris (1967) Probanden Essays, die angeblich von Studenten einer Diskussionsgruppe verfasst worden waren und die sich für oder gegen den kubanischen Präsidenten Fidel Castro aussprachen. Es wurden zwei Gruppen gebildet. In der ersten Gruppe wurde den Probanden mitgeteilt, dass die Studenten die Essays frei verfasst hatten, d. h. dass diese ihre tatsächliche Meinung widerspiegeln. In der zweiten Gruppe erhielten die Versuchspersonen Soziale Wahrnehmung 19 die Information, dass die Studenten vom Diskussionsleiter die Anweisung erhielten, eine bestimmte Position zu vertreten. Wenig überraschend waren die Probanden der ersten Gruppe der Auffassung, dass die Essays die wahre Meinung der jeweiligen Studenten wiedergaben, d. h. dass ProCastro-Essays von Castro-Befürwortern geschrieben wurden und dass Contra-Castro-Essays von Castro-Gegnern verfasst wurden. Erstaunlicherweise attribuierten die Probanden der zweiten Gruppe die Essays ebenfalls auf die Person der Verfasser, obwohl ihnen zuvor mitgeteilt worden war, dass die jeweiligen Studenten dazu angehalten wurden, eine bestimmte Meinung zu vertreten. Die Versuchspersonen der zweiten Gruppe ignorierten also den Einfluss der Situation, d. h. die Instruktionen des Diskussionsleiters. Warum neigen wir dazu, die Situation zu unterschätzen? Gilbert und Malone (1995) betonen, dass es einfacher ist anzunehmen, dass ein bestimmtes Verhalten einer anderen Person auf die Persönlichkeit zurückzuführen ist statt auf die Situation. Wir sehen meist nur das Verhalten unserer Mitmenschen und kennen nur selten die eigentlichen Beweggründe. Schreit beispielsweise ein Vorgesetzter seinen Mitarbeiter an, so neigen wir dazu anzunehmen, der Vorgesetzte ist aggressiv. Wenn man jedoch weiß, dass der Mitarbeiter schon einige Male zu spät zur Arbeit erschienen ist, so werden wir das Verhalten des Vorgesetzten verstärkt auf die Situation attribuieren (Kenrick, Neuberg & Cialdini, 2007). 1.2.2 Ursachen des fundamentalen Attributionsfehlers Unterschiede zwischen handelnden Personen und Beobachtern Handelnde Personen und Beobachter attribuieren Verhalten meist unterschiedlich. Wenn ein Schuljunge einen anderen schubst, so denkt der Lehrer, dass der ausübende Schüler aggressiv ist und ermahnt ihn. Dieser jedoch behauptet, dass er zuvor von dem anderen Schüler auch geschubst wurde (Stroebe et al., 2007). Wie kommt es dazu, dass die Ursachenzuschreibungen so unterschiedlich vorgenommen werden? Jones und Nisbett (1972) betonen in diesem Kontext, dass Handelnde ihr Verhalten meist der Situation (also variablen Faktoren) zuschreiben, während Beobachter meist auf die Person (also stabile Faktoren) attribuieren. Taylor und Fiske (1975) versuchten, den Ursachen für diese unterschiedlichen Attributionsweisen auf den Grund zu gehen. Sie nahmen an, dass sich die Unterschiede durch die Fokussierung der Aufmerksamkeit erklären lassen. In ihrem Experiment beobachteten jeweils sechs Versuchspersonen zwei männliche Studenten (Student A und Student B), die sich unterhalten sollten. Beide Studenten waren Konföderierte des Versuchsleiters und gingen bei ihrer Unterhaltung („sich kennenlernen“) nach einem Skript vor. Dabei saßen die sechs Probanden so, dass jeweils zwei Probanden das Gesicht des Studenten A (nicht aber das Gesicht Akteur-BeobachterFehler 20 Kapitel 1 des Studenten B) sehen konnten, jeweils zwei Probanden das Gesicht des Studenten B (aber nicht das Gesicht des Studenten A) und je zwei beide Gesichter (Student A und B). Nach der Unterhaltung wurden alle Probanden gefragt, wer der beiden Studenten die führende Rolle (z. B. wer hat die Gesprächsthemen bestimmt?) übernommen hat. Obwohl alle sechs Probanden die gleiche Unterhaltung verfolgt hatten, kamen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen: Es zeigte sich, dass die Probanden dem Studenten die führende Rolle zuschrieben, dessen Gesicht sie während der Unterhaltung gesehen hatten. Die Probanden, die nur das Gesicht des Studenten A sahen, schrieben verstärkt diesem die führende Rolle zu, und die Probanden, die nur das Gesicht des Studenten B sahen, dem Studenten B. Probanden, die beide Gesichter sahen, schrieben beiden Studenten die führende Rolle gleichermaßen zu. Diese unterschiedliche Attribution, die aus der unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektive resultiert, wird als Akteur-Beobachtungs-Fehler (actor-observer-bias) bezeichnet. 1.3 Attraktiven Menschen werden positive Persönlichkeitseigenschaften zugeschrieben Wie das Verhalten von Menschen interpretiert wird und welche Persönlichkeitseigenschaften ihnen zugeschrieben werden, hängt sehr stark vom Gesicht der zu beurteilenden Person ab. Man weiß zum Beispiel, dass Personen mit attraktiven Gesichtern positive Charaktereigenschaften zugeschrieben werden (Dion, Berscheid & Walster, 1972). Die Verarbeitung von Gesichtern hat somit eine hohe soziale Relevanz: So unterziehen sich immer mehr Menschen Schönheitsoperationen im Gesicht (z. B. Facelifting). Oft wurden in der Justizgeschichte Personen fälschlicherweise als Straftäter aufgrund bestimmter Gesichtszüge identifiziert. Im Folgenden möchten wir einen kurzen Überblick zu zentralen Forschungsergebnissen geben. 1.3.1 Gesichter werden in ihrer Gesamtheit wahrgenommen und verarbeitet Eindrucksbildung und Verarbeitung von Gesichtern Holistische Verarbeitung von Gesichtern Das menschliche Gesicht ist durch verschiedene Merkmale gekennzeichnet, z. B. die Position der Augen im Gesicht und deren Größe, die Form des Mundes, die Höhe der Stirn. Sporer (2006) betont, dass Menschen diese Merkmale nicht einzeln, sondern in ihrer Gesamtheit als komplexen Stimulus (holistisch) wahrnehmen und verarbeiten. Dies trifft zumindest für Menschen im Erwachsenenalter zu. Schwarzer und Leder (2003) gehen davon aus, dass Kinder im Vergleich zu Erwachsenen Gesichter weniger ganzheitlich verarbeiten. Neuere Studien konnten aber auch Belege finden, die zeigen, dass Kinder ab sechs Jahren Gesichter holistisch verarbeiten können (Schwarzer, Huber & Dümmler, 2005). Soziale Wahrnehmung 1.3.2 21 Soziale Wahrnehmung von Gesichtern Wie werden Gesichter im sozialen Kontext wahrgenommen? Die bisherige Forschung konzentrierte sich bislang auf zwei Teilbereiche: So wurde erforscht, unter welchen Umständen Gesichter als attraktiv und unter welchen Umständen Menschen als kriminell wahrgenommen werden. In Bezug auf die wahrgenommene Attraktivität von Gesichtern hat sich gezeigt, dass „Durchschnittsgesichter“ am attraktivsten wahrgenommen werden. So haben z. B. Langlois und Roggman (1990) gezeigt, dass 16 übereinander gelegte Gesichter (die Gesichter wurden durch eine spezielle Linse gemittelt) als attraktiver wahrgenommen wurden als acht oder vier übereinander gelegte Gesichter oder als Einzelgesichter (s. auch Sporer, 2006). Langlois et al. (2000) betonen zudem, dass Gesichter, die symmetrisch sind und minimal vom Durchschnittsgesicht abweichen, am attraktivsten wahrgenommen werden. Die Attraktivität kann zudem gesteigert werden, wenn bestimmte Gesichtszüge besonders betont werden. So werden Frauen als verstärkt attraktiv wahrgenommen, wenn sie beispielsweise hohe Wangenknochen aufweisen (als Hinweis sexueller Reife). Bei Männern hingegen wird zum Beispiel ein markantes Kinn (welches die Beschützerrolle signalisiert) als besonders attraktiv erachtet (s. Sporer, 2006). Durchschnittsgesichter werden am attraktivsten wahrgenommen Weniger attraktiven Menschen werden hingegen negative Persönlichkeitseigenschaften und kriminelle Tendenzen zugeschrieben. So werden Menschen mit unsymmetrischen Gesichtszügen, Feuermalen oder großen Narben als negativer eingeschätzt, erhalten weniger Spenden bei Sammelaktionen und es wird verstärkt Abstand zu diesen Menschen gehalten (Sporer, 2006). Menschen mit wenig attraktiven Gesichtern werden zudem verstärkt als Täter von Augenzeugen identifiziert und erhalten strengere Strafen bei Gerichtsurteilen. Unattraktiven Menschen werden verstärkt negative Persönlichkeitsmerkmale zugeschrieben 1.3.3 Gedächtnis und Gesichter Gesichter werden schon in frühester Kindheit erkannt und bis zum Erwachsenenalter bildet sich die Fähigkeit heraus, verschiedene Gesichter zu unterscheiden. Dabei geht zum Beispiel Valentine (1991) davon aus, dass Gesichter in einem multidimensionalen Raum gespeichert werden, der durch verschiedene Dimensionen gekennzeichnet wird (z. B. Höhe der Stirn, Breite des Mundes). Ähnliche Gesichter sind sich auf diesen Dimensionen näher und unterschiedliche Gesichter weiter voneinander entfernt. Sporer (1991) betont, dass sich Gesichter besser einprägen lassen, wenn man sich das zu erinnernde Gesicht ganzheitlich einprägt und nicht die einzelnen Charaktermerkmale. Schooler und Engstler-Schooler Unterscheidung von Gesichtern anhand mehrerer verschiedener Dimension 22 Kapitel 1 (1990) fanden beispielsweise, dass Personen, die einen Film über einen Bankraub sahen und dazu angehalten wurden, Merkmale des Gesichtes des Bankräubers niederzuschreiben, schlechtere Wiedererkennungsleistungen zeigten als Personen, die eine irrelevante Instruktion beim Anschauen des Films erhielten. Own-Race-Bias Ein wichtiges Phänomen in diesem Zusammenhang ist der sogenannte Own-Race-Bias. Begriffsklärung: Own-Race-Bias Der Own-Race-Bias besagt, dass Gesichter von Angehörigen der eigenen Hautfarbe besser erkannt werden können. Das bedeutet, weiße Personen erkennen Gesichter von Weißen besser, während Schwarze Gesichter von schwarzen Personen besser erkennen (z. B. Johnson & Frederickson, 2005). Meissner und Brigham (2001) erklären den Own-Race-Bias mit der Tatsache, dass Menschen meistens mit Personen der gleichen Hautfarbe und der gleichen Altersgruppe zu tun haben. Sangrigoli et al. (2005) legten Asiaten und weißen Personen Bilder von Gesichtern vor. Dabei wurden drei Gruppen gebildet: (1) weiße Franzosen, (2) in Korea aufgewachsene Koreaner und (3) Koreaner, die bei weißen Franzosen in Frankreich aufgewachsen waren. Wie erwartet erkannten Koreaner asiatische Gesichter und Weiße weiße Gesichter besser. Interessanterweise erkannten Asiaten, die in Frankreich aufwuchsen, ebenfalls weiße Gesichter besser. 1.4 Schluss Soziale Wahrnehmungen und Attributionen werden nicht nur als Selbstzweck vorgenommen, sondern sind auch wesentlicher Bestandteil des gesamten gesellschaftlichen Lebens. So bestimmen soziale Wahrnehmungen darüber, ob man mit bestimmten Menschen kooperieren möchte oder nicht, ob bestimmte Personen erfolgreich sind oder ob bestimmte Personen ausgeschlossen werden. Auch das Schicksal ganzer Personengruppen kann davon abhängen, wie sie von anderen Personengruppen sozial wahrgenommen werden. Indem die sozialpsychologische Forschung Grundprinzipien dieser sozialen Wahrnehmung aufdeckt, kann sie dazu beitragen, zum Beispiel Konflikte zu vermeiden und Frieden zu erhalten. Soziale Wahrnehmung 23 Zusammenfassung Nach Heider (1958) werden Menschen als naive Laienwissenschaftler betrachtet, die sich subjektive Theorien darüber bilden, warum andere Menschen bestimmtes Verhalten zeigen (Kausalattribution). Dabei unterscheidet Heider zwischen internaler Attribution („Die Person hat das Verhalten aufgrund ihrer Dispositionen gezeigt“) und externaler Attribution („Die Person hat das Verhalten aufgrund bestimmter Umstände gezeigt“). Kelley (1967) betont, dass die Entscheidung, das Verhalten einer Person internal oder external zu attribuieren, von drei Informationsquellen abhängt: Konsens, Distinktheit und Konsistenz. Dabei neigen Menschen jedoch dazu, den Einfluss der Person zu überschätzen und den Einfluss der Situation zu unterschätzen (fundamentaler Attributionsfehler). Soziale Wahrnehmung hängt zudem von den Gesichtern von Personen ab, deren Verhalten beurteilt werden soll. Hier hat sich gezeigt, dass sogenannte Durchschnittsgesichter als verstärkt attraktiv wahrgenommen werden. Menschen mit attraktiven Gesichtern werden positive Dispositionen zugeschrieben, Menschen mit wenig attraktiven Gesichtern hingegen negative/kriminelle Eigenschaften. Gesichter werden ganzheitlich verarbeitet und abgespeichert. Dabei werden Gesichter besser wiedererkannt, wenn sie die gleiche Hautfarbe und dieselbe Alterskategorie aufweisen wie man selbst (Own-Race-Bias). Gilovich, T., Keltner, D. & Nisbett, R. E. (2011). Social Psychology (2nd Edition). New York: W. W. Norton. Weiterführende Literatur Internale, wenn es eich um andere personen handelt, externale wenn es sich um einen selbst handelt Reflexionsaufgaben 1. Unter welchen Umständen nehmen Menschen nach Kelley internale und unter welchen Umständen externale Attributionen vor? 2. Was ist der fundamentale Attributionsfehler? Warum tritt er auf? 3. Unter welchen Umständen wird ein Gesicht als attraktiv bzw. wenig attraktiv wahrgenommen? 4. Was ist der Own-Race-Bias? Wie kommt er zustande? Lösungshinweise finden Sie auf Seite 138. Verhalten der person zu schreiben, statt der situation. Weil man nicht die ganze situation betrachtet Symmetrie, babyface, gewöhnlich Gesichter der eigenen rasse einfacher zu erkennen. Mehr in kontakt mit Kapitel 2 Soziale Urteile und Rationalität bei Entscheidungen: Urteilsheuristiken und Erwartungen Nilüfer Aydin, Silke Weisweiler, Peter Fischer, Andreas Kastenmüller und Dieter Frey Inhaltsübersicht 2.1 Rationalität bei Entscheidungen 26 2.2 Urteilsheuristiken 26 2.2.1 Leichtigkeit der Abrufbarkeit einzelner Informationen: die Verfügbarkeitsheuristik 27 Urteile unter Rückgriff auf Ähnlichkeit und Merkmalsverteilungen: Die Repräsentativitätsheuristik 29 2.2.3 Anker- und Adjustierungsheuristik 31 2.2.4 Emotionsheuristik („How-do-I-feel-about“ -Heuristik) 34 2.2.5 Simulationsheuristik (Kontrafaktisches Denken) 36 2.3 Einfluss von Erwartungen auf kognitive Verarbeitungsprozesse 39 2.3.1 Schemata 39 2.3.2 Perseveranzeffekt 40 2.3.3 Hypothesentheorie der Wahrnehmung 40 2.3.4 Sich-selbst-erfüllende Prophezeiungen 41 Reflexionsaufgaben 44 2.2.2 26 Kapitel 2 Schlüsselbegriffe 2.1 Das Einbeziehen aller möglicherweise relevanten Informationen bei der Urteilsfindung ist in vielen Situationen nicht möglich Rationalität bei Entscheidungen Verschiedene Arten von Urteilsheuristiken Erwartungen und Hypothesentheorie Schemata Sich-selbst-erfüllende Prophezeiungen Rationalität bei Entscheidungen Im täglichen Leben stellen Entscheidungs- und Urteilsfindungen eine zentrale Herausforderung dar. Häufig werden Urteile in sozialen Situationen unter suboptimalen Bedingungen gefällt, da die optimale Nutzung aller relevanten Informationen für die Entscheidungsfindung in den meisten Fällen nicht möglich ist. Als Folge verzerren Personen unbewusst in ihrer Wahrnehmung bestimmte Ereignisse und Informationen, so dass es zu einem fehlerhaften Urteil kommen kann. Forschung zu sozialer Kognition (Forschung, die sich mit den Prozessen der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen sowie deren Ergebnissen befasst) hat gezeigt, dass die Beachtung, Bewertung und Integration aller möglicherweise relevanten Informationen bei der Urteilsfindung sehr oft nicht möglich ist. Das hat zur Folge, dass die Gesetze der Logik und Rationalität nicht immer relevant sind für die Entscheidungsfindung und das Verhalten von Individuen. Empirische Ergebnisse zeigen, dass Menschen nicht derart rational sind, wie dies beispielsweise das klassische Denken aus der Ökonomie postuliert. Gemäß dem ökonomisch-normativen Ansatz wird eine Entscheidung unter sorgsamer Abwägung aller Informationen und verschiedener Entscheidungsalternativen getroffen, basierend auf den Gesetzen der Logik und Nutzenmaximierung (Edwards, 1955). Entgegen dieser Postulate konnte jedoch in zahlreichen Studien gezeigt werden, dass menschliches Entscheidungsverhalten häufig nicht den Gesetzen logischer Korrektheit entspricht. Dies zeigt sich in der Anwendung unterschiedlicher Strategien zur Entscheidungsfindung. Diese vereinfachenden mentalen Entscheidungsregeln, die eine schnelle und effiziente Urteilsbildung ermöglichen, werden Urteilsheuristiken genannt (Bless & Keller, 2006). Urteilsheuristiken = unaufwändige Nutzung momentan zur Verfügung stehender Informationen für die Urteilsfindung 2.2 Urteilsheuristiken Was genau versteht man nun unter Urteils- bzw. Entscheidungsheuristiken und wozu dienen sie? Menschen greifen in Situationen, in welchen eine Entscheidung oder ein Urteil getroffen werden soll, häufig auf Strategien zurück, die nur ein geringes Ausmaß an kognitiver Kapazität erfordern. Urteilsheuristiken können als eine Art kognitives „Werkzeug“ verstanden Soziale Urteile und Rationalität bei Entscheidungen 27 werden, mit dessen Hilfe momentan zur Verfügung stehende Informationen unaufwändig für die Urteilsfindung herangezogen werden. Zwar hat die Forschung gezeigt, dass Urteilsheuristiken zweckdienlich und einfach sind und oft zu brauchbaren Urteilen führen. Allerdings ist festzuhalten, dass es bei der Anwendung von Urteilsheuristiken auch zu Fehlurteilen und systematischen Verzerrungen kommen kann, weil nicht alle für eine optimale Urteilsbildung erforderlichen Informationen berücksichtigt werden. Dadurch müssen Rückschlüsse, die mit Hilfe von Heuristiken über die Welt gezogen werden, nicht zutreffend sein. Begriffsklärung: Urteilsheuristiken Urteilsheuristiken können als einfache „Daumenregeln“ verstanden werden, mit denen sich Urteile schnell und effizient bilden lassen. Urteilsheuristiken stellen somit vereinfachende Entscheidungsregeln dar, die auf leicht zu erhaltende Informationen angewendet werden und unter geringem Verarbeitungsaufwand ein hinreichend genaues Urteil erlauben. Bahnbrechende Arbeiten von Amos Tversky und Daniel Kahneman in den 1970er Jahren haben verschiedene Formen von Urteilsheuristiken untersucht. Im Folgenden sollen die wichtigsten Urteilsheuristiken vorgestellt und diskutiert werden: Die Verfügbarkeitsheuristik, die Repräsentativitätsheuristik, die Verankerungsheuristik, die Emotionsheuristik und zuletzt die Simulationsheuristik. 2.2.1 Leichtigkeit der Abrufbarkeit einzelner Informationen: die Verfügbarkeitsheuristik Merke Wenn bei der Urteils- und Entscheidungsfindung die Verfügbarkeitsheuristik angewendet wird, greifen Individuen auf Informationen zurück, die leicht aus ihrem Gedächtnis abgerufen werden können. Das bedeutet, je leichter ein Ereignis aus dem Gedächtnis abgerufen werden kann (d. h. je verfügbarer es im kognitiven System ist), desto höher wird die Wahrscheinlichkeit bzw. die Häufigkeit dieses Ereignisses eingeschätzt. Einfacher gesagt: Wir schätzen diejenigen Ereignisse als wahrscheinlicher ein, an die wir uns sehr leicht erinnern können und welche damit leichter aus unserem Gedächtnis abgerufen werden können. Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen: Ein Student, der interessiert ist an der Durchfallwahrscheinlichkeit in einer bestimmten Prüfung, wird diese für umso höher halten, je leichter ihm Fälle von Kommilitonen in den Sinn kommen, die eben diese Prüfung nicht bestanden haben. Die Wahr- Je verfügbarer ein Ereignis im kognitiven System ist, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit dieses betreffenden Ereignisses eingeschätzt 28 Kapitel 2 scheinlichkeitseinschätzung ist abhängig von der Leichtigkeit, mit der relevante Ereignisse abgerufen werden können. Häufig vorkommende oder berichtete Ereignisse sind stärker im Gedächtnis verankert und daher mental leichter verfügbar. Personen, Situationen oder Ereignisse werden aufgrund gemeinsamer charakteristischer Merkmale Kategorien zugeordnet Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser Daumenregeln sind Kategorisierungsprozesse. Kategorisierungsprozesse beziehen sich auf die menschliche Neigung, Personen, Situationen oder Ereignisse aufgrund gemeinsamer charakteristischer Merkmale bestimmten Kategorien zuzuordnen. Beispiel Wenn ich die Person im blauen Overall im Universitätsgebäude als Hausmeister kategorisiert habe, dann kann ich ihre Verhaltensweisen besser verstehen und adäquater auf diese eingehen, weil ich mein gespeichertes Wissen zu Hausmeistertätigkeiten auf diesen konkreten Fall anwenden kann. Ein Element kann nun umso leichter abgerufen werden, je häufiger Elemente aus dieser Kategorie enkodiert wurden. Auf die hier erwähnten Kategorisierungsprozesse wird später noch detaillierter eingegangen werden (vgl. Kapitel 2.3.1). Aus der Anwendung der Verfügbarkeitsheuristik resultieren allerdings auch Fehlurteile, da die Leichtigkeit der Erinnerung durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst wird. Beispielsweise spielt der Umstand eine bedeutende Rolle, wie lange das Ereignis zurückliegt: Erst kürzlich eingetretene Ereignisse werden besser erinnert und sind daher auch leichter abrufbar (recency effect). Auch übt die subjektive Besonderheit des Ereignisses einen Einfluss auf die Verfügbarkeit dahingehend aus, ob das Ereignis besondere Aufmerksamkeit des Individuums erregt hat (salience effect). Auch wenn der Erinnerungs- mit dem Enkodierungskontext übereinstimmt, fällt das Erinnern leichter (congruency effect). In zahlreichen Experimenten von Tversky und Kahneman (1973) ist die mentale Strategie der Verfügbarkeitsheuristik untersucht worden. Im Folgenden wird ein klassisches Experiment vorgestellt. Berühmtheit erleichtert die Verfügbarkeit Probanden wurde eine Liste mit 19 Namen vorgelegt. Variiert wurden die Variablen Geschlecht und Berühmtheit, d. h. in einer Bedingung waren die genannten Frauen sehr berühmt und die genannten Männer weniger berühmt, in der anderen Bedingung verhielt es sich genau umgekehrt. Anschließend wurden die Probanden dazu aufgefordert zu schätzen, ob mehr Frauen oder mehr Männer auf der Liste standen. Die Voraussagen der Verfügbarkeitsheu- Soziale Urteile und Rationalität bei Entscheidungen 29 ristik bestätigten sich in den Befunden dieses Experiments: Dasjenige Geschlecht wurde höher eingeschätzt, welches mehr berühmte Namen beinhaltet hatte. Das bedeutet, dass durch die Anwendung der Verfügbarkeitsheuristik dahingehend Fehlurteile durch die Probanden entstanden sind, dass die Verfügbarkeit durch den Faktor der Berühmtheit beeinflusst wurde und nicht allein durch die Gruppengröße (Anzahl der Männer und Frauen auf der Liste).Unweigerlich haben diese Befunde die Frage aufgeworfen, auf welche Art und Weise die erhöhte Verfügbarkeit Urteils- und Entscheidungsfindungen beeinflusst. Zum einen könnte der Verfügbarkeitseffekt auf der wahrgenommen Leichtigkeit des Abrufs berühmter Namen basieren, d. h. Probanden fiel es leichter sich an berühmte Personen zu erinnern als an weniger berühmte. Zum anderen könnte dieser Effekt auch damit zusammenhängen, dass die Probanden mehr berühmte als nicht berühmte Namen erinnert haben und hieraus folgerten, dass mehr berühmte Namen auf der Liste enthalten waren. Der zweite Erklärungsansatz würde somit davon ausgehen, dass der Inhalt und nicht die Leichtigkeit der Erinnerung den Verfügbarkeitseffekt ausmacht. Schwarz und Kollegen (1991) haben in einer Reihe von Studien untersucht, ob die Menge der Information (inhaltsbasierte Hypothese) oder die Leichtigkeit der Abrufbarkeit (Leichtigkeitshypothese) den vermittelnden Mechanismus der Verfügbarkeitsheuristik ausmacht. Als Ergebnis zeigte sich, dass die empfundene Leichtigkeit der Abrufbarkeit der Information den inhaltsbasierten Effekt übertrifft. Leichtigkeit der Abrufbarkeit von Informationen als vermittelnder Mechanismus der Verfügbarkeitsheuristik Versuchspersonen, die sich in einem Experiment an viele Beispiele für selbstsicheres Verhalten erinnern sollten, bewerteten sich selbst als weniger selbstsicher als Personen, die sich nur wenige Beispiele überlegen mussten („Wenn es mir so schwerfällt, Beispiele für selbstsicheres Verhalten abzurufen, dann kann ich nicht so selbstsicher sein.“). In einer Reihe von Studien konnte dieser gefundene Effekt repliziert und die These von Kahneman und Tversky bestätigt werden (Schwarz, 1998): Die wahrgenommene Leichtigkeit, mit der Informationen abgerufen und erinnert werden, ist somit ein zentraler Faktor bei der Urteils- und Entscheidungsfindung. 2.2.2 Urteile unter Rückgriff auf Ähnlichkeit und Merkmalsverteilungen: Die Repräsentativitätsheuristik Wenn Menschen Beobachtungsfälle danach einordnen, wie typisch sie für eine Kategorie sind oder wie ähnlich eine Person einem bestimmten Prototypen ist, wenden sie die Repräsentativitätsheuristik an (Kahneman & Tversky, 1973; Kahneman & Frederick, 2002). Hierfür ein Beispiel: Wir begegnen einem Studenten mit Aktenkoffer, Krawatte und Anzug. Handelt es sich bei diesem Studenten um einen BWL- oder Soziologiestudenten? Repräsentativitätsheuristik = Urteilsfindung auf Basis von Kategorisierungsprozessen 30 Kapitel 2 Da dieser Student „typisch“, d. h. repräsentativ, für einen BWL-Studenten erscheint, werden sich die meisten bei der Beantwortung der Frage auf die erste Antwortalternative beziehen. Bei dieser Heuristik werden somit Urteile darüber getroffen, wie repräsentativ ein konkreter Fall für ein abstraktes Modell bzw. eine Kategorie ist. Je typischer der konkrete Fall für das Modell, umso größer wird die Wahrscheinlichkeit eingeschätzt, dass der Fall diesem Modell zugehörig ist, und umso eher wird der konkrete Fall der Kategorie zugeordnet. Vernachlässigung der Basisrate Personen oder Sachverhalte nach ihrer Repräsentativität einzuordnen ist zeitökonomisch und führt in vielen Fällen zu guten Schlussfolgerungen. Allerdings kann auch die Anwendung dieser Daumenregel in falschen Schlussfolgerungen resultieren, wenn neben der Repräsentativität andere Faktoren die Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit beeinflussen. Zu diesen Faktoren zählt insbesondere die Information über die sogenannte Basisrate. Diese stellt die Häufigkeitsverteilung in der betreffenden Grundgesamtheit dar. Kahneman und Tversky (1973) wiesen nach, dass die Basisrate in Urteilsfindungen vernachlässigt wird und kaum Berücksichtigung findet, wohingegen die Repräsentativität des Elements ausschlaggebend ist. Merke Die Repräsentativitätsheuristik beschreibt damit das Phänomen, dass Personen bei Urteilsfindungen dazu tendieren, die Verteilung bestimmter Merkmale in der Population zugunsten individueller Informationen zu vernachlässigen. Je ähnlicher eine Person einem typischen Vertreter einer bestimmten Gruppe wahrgenommen wird, desto eher ordnet man die Person dieser Gruppe zu, ohne die Häufigkeitsverteilung in der betreffenden Grundgesamtheit zu berücksichtigen. Das folgende Experiment soll die Vernachlässigung der Basisrate nochmals veranschaulichen: Versuchspersonen sollten Urteile darüber abgeben, ob eine beschriebene Person („Jack“) mit größerer Wahrscheinlichkeit Jurist oder Ingenieur sei. Zuvor war die Hälfte an Probanden darüber informiert worden, dass die beschriebene Person zu 30 % Ingenieur und zu 70 % Jurist sei, der anderen Hälfte wurde vorgegeben, dass Jack zu 70 % Ingenieur und zu 30 % Jurist sei (Basisrate). Den Versuchspersonen wurde vermittelt, dass die beschriebene Person zu ihren persönlichen Merkmalen befragt worden sei (kein Interesse für soziale und politische Themen, in der Freizeit Beschäftigung mit mathematischen Spielen). Die Befunde zeigten, dass unabhängig von der Basisrate der Großteil der Probanden den beschriebenen Jack für einen Ingenieur hielt und dass die Wahrscheinlichkeitsschätzung massiv durch die stereotype Beschreibung beeinflusst wurde. Soziale Urteile und Rationalität bei Entscheidungen 31 In einem weiteren Experiment wiesen Tversky und Kahneman (1983) den sogenannten Konjunktionsfehler (conjunction fallacy) nach: Versuchspersonen wurde eine Beschreibung der fiktiven 31-jährigen Linda gegeben (Single, sehr intelligent mit Abschluss in Philosophie, engagiert in Themen zu sozialer Gerechtigkeit). Die Versuchspersonen sollten daraufhin die Wahrscheinlichkeitsränge der folgenden Aussagen einschätzen: (1) Linda ist Bankkassiererin. (2) Linda ist Bankkassierern und aktiv in der Frauenbewegung. Die zweite Aussage enthält eine zusätzlich zu erfüllende Bedingung gegenüber der ersten und kann daher logischerweise nicht wahrscheinlicher sein (Extensionalitätsprinzip). Die Befunde aus dieser Studie zeigten dennoch, dass 85 % der Probanden auf Basis der Merkmalsbeschreibungen von Linda die zweite Aussage als wahrscheinlicher einschätzten und somit die Wahrscheinlichkeit für ein spezielles Ereignis überschätzten (Konjunktionsfehler). Dieser Ansatz zur Repräsentativitätsheuristik von Tversky und Kahneman (1983) wurde allerdings auch kritisch beurteilt. So argumentieren Gigerenzer und Hoffrage (1995), dass „fehlerhafte“ Entscheidungen zu Wahrscheinlichkeitsangaben dadurch entstehen, dass Personen nicht gut mit dem Wahrscheinlichkeitsbegriff umgehen können. Das Problem der Basisraten-Vernachlässigung zeigte sich weniger, wenn die entsprechenden Informationen nicht als Wahrscheinlichkeiten oder Prozentwerte angeführt wurden, sondern Informationen über die absolute Häufigkeit gegeben wurden. Auch wurde durch Schwarz (1996) darauf hingewiesen, dass die NichtBeachtung der Basisraten möglicherweise dadurch erklärt werden kann, dass Versuchspersonen die Aufgabe aufgrund der Instruktion eher als „psychologische“ denn als „statistische“ Fragestellung betrachteten. Gemäß dieser Argumentation ließen Probanden der psychologischen Beschreibung der Aufgabe mehr Gewicht zukommen als ursprünglich durch die Forscher intendiert und vernachlässigten dadurch „statistische“ Informationen in der Aufgabenbeschreibung. Dies führte zu einer Vernachlässigung der Basisrate durch die Versuchsteilnehmer. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bei der Anwendung der Repräsentativitätsheuristik eine individuelle Persönlichkeitszuschreibung zu einer bestimmten Kategorie stattfindet, ohne die Informationen der Basisrate genügend zu berücksichtigen. 2.2.3 Anker- und Adjustierungsheuristik Diese Urteilsheuristik beinhaltet das Phänomen, dass Urteile bezüglich numerischer Größen in Richtung eines Ausgangswerts (Anker) ausgerichtet werden. Im Verlauf des Urteilsprozesses werden diese verändert Weniger BasisratenVernachlässigung bei Informationen über die absolute Häufigkeit 32 Kapitel 2 Ankerheuristik = Ausrichtung von Urteilen bzgl. numerischer Größen an einem Ausgangswert (adjustiert), um zu einem endgültigen Urteil zu gelangen. Mehrere Experimente von Tversky und Kahneman (1974) konnten dabei darlegen, dass die Adjustierung des Urteils häufig unzureichend ist und zu Urteilen führt, die in Richtung des Ausgangswertes verzerrt sind. Merke Unter Ankereffekt oder Ankerassimilation versteht man also die Annäherung eines Urteils an einen wahrgenommenen Ausgangswert, d. h. (vorhergegangene) quantitative Informationen beeinflussen die Urteilsfindung. Individuen orientieren sich bei der endgültigen Urteilsbildung an diesem Ankerwert. Zur Verdeutlichung nun ein klassisches Experiment zum Ankereffekt: Experiment zum Ankereffekt Probanden wurden zwei Bedingungen zugewiesen und gebeten, die Anzahl afrikanischer UNO-Mitglieder zu schätzen. Bevor die Versuchspersonen ihre Schätzung angaben, wurde durch Drehen eines manipulierten Glücksrades ein Ausgangswert (Anker) vorgegeben (in der einen Bedingung 10 und in der anderen Bedingung 65). Zunächst wurden die Probanden aufgefordert anzugeben, ob der Ankerwert größer oder kleiner ist als der Prozentanteil afrikanischer Staaten in der UNO (relatives Urteil). Im Anschluss sollten konkrete Prozentschätzungen von den Teilnehmern abgegeben werden (absolutes Urteil). Als Befund zeigte sich, dass die Einschätzung der afrikanischen Staaten in der UNO signifikant durch den angeblich zufällig vorgegeben Anker beeinflusst wurde: In der Bedingung mit dem niedrigen Ankerwert (10) wurde die durchschnittliche Schätzung von 25 % abgegeben, in der Bedingung mit dem hohen Ankerwert (65) gaben die Versuchspersonen bis zu 45 % an. Solche Ankereffekte sind in einer Vielzahl von Anwendungsbereichen nachgewiesen worden. So findet sich die Anwendung der Ankerheuristik beispielsweise im juristischen Kontext wieder. Ankereffekt im juristischen Kontext In Analysen realer Gerichtsakten zeigten sich deutliche Korrelationen zwischen Staatsanwaltsforderung (Ankervorgabe) und dem richterlichen Strafurteil: Je höher die Strafforderung durch den Staatsanwalt, desto höher fiel das richterliche Urteil aus (Englich, 2005; Englich, Mussweiler & Strack, 2005; Martin & Alonso, 1997). Weitere Bereiche, in welchen die Anwendung der Ankerheuristik zur Anwendung kommt, sind beispielsweise im Bereich monetärer Verhandlungsführungen zu finden. Durch einen frühzeitig eingebrachten Anker seitens des Verkäufers können bessere Verhandlungsergebnisse zugunsten des Verkäufers zustande kommen als ohne die Anwendung dieser Strategie („first offer effect“, Galinski & Mussweiler, 2001). Soziale Urteile und Rationalität bei Entscheidungen Auch bei der Ankerheuristik kam die Frage auf, welche kognitiven Mechanismen diesem Urteilseffekt zugrunde liegen. Hierbei wurden verschiedene Erklärungsansätze untersucht und diskutiert, wie beispielsweise numerische Primingprozesse. Beim numerischen Priming wird davon ausgegangen, dass sich der Ankereffekt auf die erhöhte Verfügbarkeit des numerischen Stimulus zurückführen lässt, d. h. allein der durch den Anker aktivierte numerische Wert fließt aufgrund seiner kognitiven Verfügbarkeit automatisch in die Schätzung mit ein, folglich ohne Berücksichtigung des inhaltlichen Kontextes oder des Informationsgehalts des Ankers (z. B. Jacowitz & Kahneman, 1995; Wilson, Houston, Etling & Brekke, 1996). In verschiedenen Studien konnten Strack und Mussweiler (1997) jedoch feststellen, dass allein die Aktivierung eines numerischen Wertes nicht ausreicht, um den Ankereffekt herbeizuführen. Mussweiler und Strack (1999) führten mit ihrem Modell selektiver Zulänglichkeit („Selective Accessibility Model“, kurz SAM) einen weiteren Erklärungsansatz ein, der davon ausgeht, dass Ankereffekte durch das Zusammenwirken zweier kognitiver Prinzipien ausgelöst werden: Selektives Hypothesentesten und semantisches Priming (für eine ausführliche Erklärung des PrimingParadigmas vgl. Kapitel 3). Unter selektivem Hypothesentesten, als eine Bedingung des SAM, ist Folgendes zu verstehen: Menschen gehen von einem bestimmten Ausgangswert aus und suchen zunächst Informationen, die mit dem Ausgangswert vereinbar sind bzw. diesen bestätigen. Beispiel für selektives Hypothesentesten Werden Probanden gefragt, ob der Preis für ein Auto in Deutschland über oder unter 30.000 € liegt, führt dies dazu, dass die Probanden kognitiv überprüfen, ob ein Auto durchschnittlich tatsächlich 30.000 € in Deutschland kostet. Hierbei generieren sie Informationen zur Bestätigung dieser Hypothese, wie z. B. „Ein Kleinwagen kann schon über 20.000 € kosten.“ oder „Wenn ich es mir überlege, fahren auf Deutschlands Straßen schon viele Luxuswagen.“ Versuchspersonen wenden während des selektiven Hypothesentestens eine positive Teststrategie an, d. h. sie generieren selektiv Informationen, die mit der Hypothese konform sind. Begriffsklärung: Semantisches Priming Als semantisches Priming, der zweiten Annahme des SAM, wird der Effekt bezeichnet, dass die Darbietung eines Kontextreizes, z. B. ein bestimmter Begriff, die Verarbeitung eines weiteren nachfolgenden Begriffs beeinflusst, falls zwischen beiden Begriffen eine semantische oder kategoriale Beziehung besteht. Kognitive Prinzipien bei Ankereffekten: Selektives Hypothesentesten und semantisches Priming 33 34 Kapitel 2 Individuen reagieren beispielsweise auf das Wort „Feder“ (Zielreiz) schneller, wenn sie vorher das Wort „Vogel“ (Prime) verarbeitet haben. Das SAM besagt nun, dass das positive selektive Hypothesentesten dazu führt, dass das aktivierte semantische Wissen (d. h. das zuvor generierte ankerkonsistente Wissen) für den Urteilsprozess besonders kognitiv verfügbar und zugänglich ist. Dieses Wissen ist folglich bei der Urteilsbildung besonders einflussreich und es kommt zu einer Verzerrung des Urteils in Richtung des Ausgangswerts. Mit anderen Worten: Die Bearbeitung der komparativen Aufgabe (niedriger oder höherer Preis eines Autos als 30.000 €) führt dazu, dass ankerkonsistentes Wissen generiert wird und im Sinne des semantischen Priming für nachfolgende Aufgaben zur Verfügung steht. 2.2.4 Urteile können auf Basis individueller Emotionen zustande kommen Emotionsheuristik („How-do-I-feel-about“-Heuristik) Neben der Ankerheuristik gibt es eine weitere wichtige Heuristik, die aufzeigt, inwiefern auch Gefühle und Stimmungen bei Urteilsfindungen eine Rolle spielen können: Die sogenannte Emotionsheuristik. Begriffsklärung: Emotionsheuristik Es lässt sich ein wichtiger Effekt von Stimmung in Bezug auf das Urteilsvermögen von Probanden berichten. Menschen neigen dazu, bei guter Laune verschiedenste Einstellungsobjekte sowie auch andere Personen positiver zu beurteilen als bei schlechter Laune (Slovic, Finucane, Peters & MacGregor, 2001). Offensichtlich dient ihnen hierbei ihre Stimmungslage als Heuristik für die Beurteilung („how do I feel about it“). Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen in guter Stimmung positivere Urteile abgeben als Menschen in schlechter Stimmung. Subjektive Schwierigkeit zwischen der emotionalen Reaktion auf eine Sache und der möglicherweise zuvor bestehenden Stimmung zu unterscheiden So beurteilen Personen z. B. ihre eigene Lebenssituation positiver, wenn ein sonniger Tag ist (Schwarz & Clore, 1983). Schwarz und Clore vermuteten, dass neben dem indirekten Einfluss über die Verfügbarkeit von stimmungskongruenten Inhalten Stimmungen einen direkten Einfluss auf evaluative Urteile ausüben können (vgl. Abb. 1). Aufgrund der „How-doI-feel-about-it“-Heuristik können Menschen komplexe Urteilsprozesse vereinfachen und so ihre emotionale Reaktion auf das Urteilsobjekt als Informationsbasis heranziehen. Da Stimmungen jedoch einen sehr diffusen Charakter haben, fällt es den Personen oft schwer, zwischen der emotionalen Reaktion auf das Urteilsobjekt und bereits zuvor bestehenden Stimmungszuständen zu unterscheiden. Das hat zur Folge, dass Personen ihre Stimmung oft fälschlicherweise als Reaktion auf das Urteilsobjekt interpretieren, was wiederum zu stimmungskongruenten Urteilen führt. Soziale Urteile und Rationalität bei Entscheidungen Beurteilung der eigenen Lebenssituation bei gutem und schlechtem Wetter 8 sonniger Tag regnerischer Tag 7 6 5 4 3 2 1 situationsspezifische allgemeine FröhStimmung lichkeit im Leben Abbildung 1: Wunsch nach allgemeine Veränderung Lebenszufriedenheit Bei der Beurteilung der eigenen Lebenssituation – an einem sonnigen oder regnerischen Tag – gebrauchten die Teilnehmer der Studie ihre situationsspezifische Stimmung (bzw. das Wetter), um sich ein Urteil über ihre allgemeine Fröhlichkeit, den Wunsch nach Veränderung und die allgemeine Lebenszufriedenheit zu bilden (Emotionsheuristik). Alle Angaben basieren auf einer 10er Skala, wobei 10 immer das positivere Ende der Skala umschrieb (adaptiert von Schwarz & Clore, 1983, Studie 2). Experimente aus dem Bereich der Werbepsychologie zeigen, dass auch Konsumenten bei der Beurteilung und beim Kauf eines Produktes ihre aktuelle Stimmung nutzen, um einen Hinweis auf ihre eigene Einstellung zum Produkt zu bekommen. Dass die eigene Stimmungslage häufig jedoch nicht nur durch das Produkt bedingt ist, wird dabei vernachlässigt. Weiterhin konnte in einigen empirischen Studien nachgewiesen werden, dass auch Werbespots besser erinnert werden, wenn die emotionale Tönung des Spots mit der aktuellen Gefühlslage des Rezipienten zum Zeitpunkt des Abrufs übereinstimmt (vgl. Otto, Euler & Mandl, 2000). Die Emotionsheuristik, die auch Affektheuristik genannt wird, kommt insbesondere dann zum Tragen, wenn eine schnelle und vereinfachte Urteilsbildung erforderlich ist (Schwarz & Clore, 1983). Zusätzlich ist interessant, dass die Nutzung der momentanen Stimmung als Informationsgrundlage nicht notwendigerweise in stimmungskongruenten Urteilen resultieren muss. Unter bestimmten Voraussetzungen kann eine schlechte Stimmung auch positive Urteile bzw. eine gute Stimmung auch negative Urteile hervorrufen (Otto et al., 2000; Bsp.: ein Film, von dem die Personen glaubten, dass er sie in eine negative Stimmung versetzen soll, wurde von Leuten in positiver Stimmung negativer beurteilt als von Personen in schlechter Stimmung). 35 36 Kapitel 2 2.2.5 Kontrafaktisches Denken Simulationsheuristik (Kontrafaktisches Denken) Bei der Simulationsheuristik werden Ereignisse oder Ergebnisse in dem Maß als wahrscheinlich beurteilt, in dem sie simuliert werden können. Ein Anwendungsgebiet für eine solche Heuristik ist das sogenannte kontrafaktische Denken. Kontrafaktisches Denken Mit kontrafaktischem Denken ist der Versuch gemeint, Aspekte geschehener Tatsachen mental umzuändern. Kontrafaktisches Denken (Denken entgegen der Faktenlage) bezieht sich damit auf die Leichtigkeit, mit der sich ein anderer Verlauf der Dinge vorgestellt werden kann. Es geht um die Vorstellung, wie etwas anders hätte ablaufen können. Ohne dass wir etwas willentlich steuern können, kommen dann Gedanken wie z. B. „wenn ich an diesem Abend noch für die Klausur gelernt hätte, hätte ich sie nicht verhauen“ oder „wäre ich zu ihr gefahren, wäre unsere Beziehung nun nicht beendet“ usw. Man findet sich also oft nur schwer mit bestimmten Ereignissen ab und versucht sie daher durch alternative Verläufe gedanklich zu verändern. Dies geschieht häufig bei negativen Erfahrungen, wenn ein Ergebnis z. B. sehr knapp ausgefallen ist. Ein Auslöser kontrafaktischer Gedanken sind somit negative Ereignisse (z. B. eine missratene Prüfung). Ein weiterer Auslöser ist die Knappheit, mit der etwas verfehlt wurde (Meyers-Levy & Maheswaran, 1992). Wenn ein Zug um 2 Minuten verpasst wurde, ist unser Bedauern stärker, als wenn er um 20 Minuten verpasst wurde. Bei einer kurzen Verspätung stellen wir uns vor, wie die Verspätung von 2 Minuten hätte vermieden werden können. Kontrafaktisches Denken kann unterteilt werden in Richtung, Aktion und Fokus einer Handlung Generell gibt es drei Typen kontrafaktischen Denkens (Epstude & Roese, 2008). Der erste Typ teilt kontrafaktisches Denken nach seiner Richtung ein, einmal in aufwärts gerichtetes Denken, also eine positiv gerichtete gedankliche Verbesserung der Situation („Wenn ich … gemacht hätte, dann wäre es jetzt besser.“) und einmal in abwärts gerichtetes Denken, also eine negativ gerichtete gedankliche Verschlechterung der Situation („Es hätte schlimmer kommen können, wenn … gewesen wäre.“). Die Mehrzahl spontaner kontrafaktischer Gedanken entspricht dem aufwärts gerichteten Denken. Der zweite Typ teilt danach ein, ob Personen aktiv oder inaktiv gehandelt haben. Damit ist die Addition oder Subtraktion eines Aspektes vom momentanen Status gemeint („Ich sollte niemals mit dem Rauchen angefangen haben.“ Aktion, oder „Ich hätte Tabletten nehmen sollen.“ keine Aktion). Soziale Urteile und Rationalität bei Entscheidungen 37 Ein dritter Typ kontrafaktischen Denkens unterscheidet, ob der Fokus einer Handlung oder eines Ereignisse bei einem selber oder bei anderen Personen liegt („Ich hätte langsamer fahren sollen“ oder „Der andere Fahrer hätte besser aufpassen sollen“). Untersuchungen dazu zeigen, dass das Erlebnis vor einem kritischen Ereignis in dem Sinne wichtig ist, ob es gewöhnlich war oder nicht. In einem Experiment von Kahneman, Slovic und Tversky (1982) wird ein Autounfall beschrieben, bei dem die Person von einem betrunkenen Fahrer angefahren wurde. Einige Versuchspersonen bekamen die Information, dass die Person ungewöhnlich früh nach Hause fuhr, dabei aber den normalen Weg nahm. Andere bekamen die Information, dass die Person eine ungewöhnliche Route fuhr, sich aber zur üblichen Zeit auf den Weg machte. Die Versuchspersonen wurden nun gebeten, den Unfall mental ungeschehen zu machen. In der kontrafaktischen Simulation wählten sie nun bevorzugt das Ereignis, welches ungewöhnlich war. Im ersten Fall wurde also vermutet, dass der Unfall hätte vermieden werden können, wenn die Person wie üblich erst später nach Hause gefahren wäre, und im zweiten Fall, wenn die übliche Route eingehalten worden wäre. Welche Funktionen hat nun kontrafaktisches Denken? Es wird vermutet, dass es Personen durch die Erkenntnis der Ursachen früherer Entwicklungen in die Lage versetzt, zukünftige (ähnliche) Ereignisse von vorneherein in erwünschtere Bahnen zu lenken. Eine weitere Funktion besteht darin, zumindest mental den schlimmen Ereignissen und den dadurch ausgelösten Affekten zu entfliehen. Weiterhin stellt sich die Frage, wodurch die Effekte kontrafaktischen Denkens vermittelt sind. Dazu bieten sich zwei Mechanismen an, der Kontrastmechanismus und die kausale Inferenz. Kontrasteffekt meint z. B., dass ein Kaffee sich für eine Person heißer anfühlt, wenn sie zuvor ein Eis gegessen hat. Auf die gleiche Weise stellt sich ein Ergebnis schlimmer dar, wenn eine wünschenswertere Alternative möglich gewesen wäre, und besser, wenn eine weniger wünschenswerte Alternative möglich gewesen wäre (vgl. Markman & McMullen, 2003). Ein schönes Beispiel dazu bietet die Untersuchung von Medvec, Madey und Gilovich (1995). Studie zum Kontrasteffekt Die Forscher untersuchten die emotionalen Reaktionen und Einschätzungen von Medaillengewinnern bei den Olympischen Spielen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Silbermedaillengewinner weniger zufrieden mit ihrer Leistung waren als die Bronzemedaillengewinner. Die Gewinner der Silbermedaillen hatten aufwärts gerichtete kontrafaktische Gedanken und dachten daran, wie es wäre, die Goldmedaille gewonnen zu haben. Die Gewinner der Bron- Kontrastmechanismus und kausale Inferenz 38 Kapitel 2 zemedaille überlegten (abwärts gerichtet) dagegen eher, aufgrund welcher Umstände sie gar keine Medaille gewonnen hätten (vgl. Abb. 2). Kontrasteffekt bei Medaillengewinnern 8 7 Silbergewinner Bronzegewinner 6 5 4 3 2 1 Beurteilung der eigenen Leistung Die Teilnehmer beurteilten ihre Gedanken zu ihrer Leistung auf einer 10er Skala, 1 = „Zumindest habe ich …“ (abwärtsgerichtet) bis 10 = „Fast hätte ich …“ (aufwärtsgerichtet). Abbildung 2: Aufwärts- und abwärtsgerichtete kontrafaktische Gedanken von Silber- und Bronzemedaillengewinnern bei den Olympischen Spielen (adaptiert von Medvec, Madey & Gilovich, 1995, Studie 3) Die Effekte kontrafaktischen Denkens könnten jedoch auch durch kausale Inferenz, also einen induktiven Schluss, vermittelt sein (Roese, 1997). Wenn gesagt wird „Wenn ich mehr gelernt hätte, hätte ich die Prüfung geschafft“, wird der kausale Einfluss vom Lernen auf die Noten unterstrichen. So wird einem Einflussfaktor (dem Lernen) eine hohe Bedeutung geschenkt, aber es kann leicht geschehen, dass andere wichtige Einflussfaktoren (ausreichend Schlaf etc.) vernachlässigt werden. Urteilseffekte als Folge kontrafaktischen Denkens Über die beschriebenen Effekte hinaus bieten neuere Forschungsergebnisse noch weitere Alternativen an, um die Verhaltenskonsequenzen kontrafaktischen Denkens zu erklären (z. B. Epstude & Roese, 2008). Abschließend lässt sich festhalten, dass viele der beobachtbaren Urteilseffekte, z. B. zu Urteilen von Schuld, Verantwortung oder Verursachung aus der Wirkung kontrafaktischen Denkens auf Ursachenzuschreibung zu erklären sind. Soziale Urteile und Rationalität bei Entscheidungen 2.3 Einfluss von Erwartungen auf kognitive Verarbeitungsprozesse 2.3.1 Schemata Wie bereits dargestellt, sind kognitive Prozesse in unserem Alltag oft nicht das Ergebnis einer bewussten rationalen Informationsverarbeitung, sondern werden durch mentale Strukturen beeinflusst, die das Wissen über die soziale Welt ordnen und uns ermöglichen, soziale Situationen zeitökonomisch und effektiv einzuschätzen. In diesem Zusammenhang spielen kognitive Schemata eine ausschlaggebende Rolle. Begriffsklärung: Schemata Schemata stellen mentale Strukturen dar, die Personen dazu dienen, das eigene Wissen über die soziale Realität in Kategorien zusammenzufassen (s. Greitemeyer, Fischer & Frey, 2006). Es kann konstatiert werden, dass das gesamte Wissen um die Welt in Schemata abgespeichert, oder mit anderen Worten, kognitiv repräsentiert ist. Die Beurteilung anderer Menschen (Kategorisierung einer Person als typischer Finanzberater) oder des Selbst werden als Personenschemata oder Selbstschemata bezeichnet. Schemata, die sich auf zeitlich geordnete Situationen beziehen (typischer Ablauf eines Restaurantbesuchs) werden als Ereignisschemata oder Scripts bezeichnet. Wenn Schemata sich beispielsweise auf Mitglieder eines Geschlechts oder einer Rasse beziehen, spricht man von Stereotypen (vgl. Kapitel 5). Schemata verknüpfen die Eindrücke aus der sozialen Umwelt zu mentalen Konzepten, so dass sie schneller zugeordnet werden können und zu einer schnelleren Entscheidungsfindung beitragen. Man könnte auch sagen: Menschen haben bestimmte Erwartungen (Hypothesen) an die soziale Realität, welche wiederum unsere Informationsaufnahme und unser Verhalten beeinflussen. Schemata sind deshalb so wichtig, da ohne bereits gebildete Schemata neue Eindrücke nicht zugeordnet und verbunden werden können. Auch helfen sie uns, die Mehrdeutigkeit sozialer Situationen zu erkennen und zu reduzieren. Automatisches Denken in Schemata hilft uns somit, unsere soziale Umwelt kognitiv zu ordnen und soziale Situationen mit bisherigen Erfahrungen in Bezug zu setzen. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass mentale Schematisierungen auch negative Auswirkungen auf menschliches Verhalten ausüben können. Dies soll im Folgenden dargestellt werden. 39 Kognitive Schemata strukturieren das eigene Wissen über die soziale Realität 40 Kapitel 2 2.3.2 Perseveranzeffekt Perseveranzeffekt Bereits bestehende Schemata können weiter bestehen, selbst nachdem sie sich als unzutreffend herausgestellt haben. In einem Experiment von Ross, Lebber und Hubbard (1975) erhielten Versuchsteilnehmer nach der Bearbeitung einer Aufgabe eine fiktive Leistungsrückmeldung. Ihnen wurde entweder mitgeteilt, dass sie sehr gut abgeschnitten hätten oder sehr schlecht. Daraufhin wurden die Versuchsteilnehmer informiert, dass die Rückmeldung in keinem Zusammenhang mit ihren tatsächlichen Leistungen gestanden habe. Dennoch beeinflusste die fiktive Leistungsrückmeldung das spätere Urteil der Versuchspersonen: Die Personen, denen ein positives Feedback rückgemeldet wurde, glaubten, sie hätten mehr Aufgaben richtig gelöst als die Personen, die negatives Feedback erhielten. Auch wenn nachfolgende Informationen eindeutig die Revision des angewandten Schemas nahe legen würden, blieben Schemata bestehen und fanden immer noch Anwendung, auch wenn sie als unzutreffend entlarvt wurden. Dieses unbewusste Eigenleben von Schemata wird als Perseveranzeffekt bezeichnet. In Arbeiten von Greitemeyer und Kollegen (2002) konnte sogar gezeigt werden, dass Erwartungen und Schemata selbst bei eindeutiger und widersprüchlicher Evidenz nur unzureichend revidiert werden. So wurden Probanden gebeten, die Preise zweier Speisekarten eines italienischen Restaurants vor (DM-Preise) und nach der Euroeinführung zu schätzen. Obwohl kein preislicher Unterschied zwischen beiden Speisekartenpreisen bestand, überschätzten Probanden die Preisänderung um etwa 10 %. Als Ausgangspunkt dieser Forschungsreihe diente die nach der Euroeinführung weit verbreitete Stimmung in der deutschen Bevölkerung, dass mit der Einführung des Euro drastische Preissteigerungen eingetroffen seien. Dagegen wies das Statistische Bundesamt mehrfach darauf hin, dass nach der Einführung des Euro keine außergewöhnliche Preissteigerungsrate in Deutschland stattgefunden habe. Hiermit zeigte sich ein äußerst robuster Perseveranzeffekt bezüglich des Schemas „Preissteigerung durch die Euroeinführung“. 2.3.3 Hypothesentheorie der Wahrnehmung Wie die vorherigen Abschnitte zeigen, verarbeiten Personen Informationen häufig nicht rational, sondern neigen zu einer verzerrten Informationsverarbeitung und Urteilsbildung. So verdeutlicht die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung den Einfluss bestimmter Erwartungen und Schemata auf Wahrnehmungsprozesse und setzt Denken, Erinnern und Wahrnehmen in Bezug (Lilli & Frey, 1993). Soziale Urteile und Rationalität bei Entscheidungen 41 Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung Gemäß diesem theoretischen Ansatz beginnt Wahrnehmung bereits vor der Eingabe von Reizinformationen mit der Bereitstellung einer WahrnehmungsErwartungs-Hypothese (perceptual set), die beeinflusst, inwiefern man etwas wahrnimmt und interpretiert. Wie sehr das Wahrnehmungsergebnis durch eine Erwartungshypothese bestimmt wird, hängt zum einen von der Stärke der Hypothese ab, zum anderen auch von der Anzahl verfügbarer Alternativhypothesen (Lilli & Frey, 1993). Das perceptual set, über das eine Person verfügt, entsteht im Sozialisationsprozess und wird durch neue Erfahrungen laufend verändert. Die Bereitstellung dieser Erwartungshypothese beeinflusst, wie nachfolgende Informationen bewertet werden: Informationen werden zumeist im Sinne der subjektiven Erwartung interpretiert und der Hypothese angepasst. Diese Informationen, welche zur Erwartungshypothese konform bewertet werden, bekräftigen die bestehende Erwartung und führen so zur Selbstbestätigung einer Hypothese. Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung In einer klassischen Untersuchung von Kelley (1949) konnte dieser Effekt in der Lehrer-Schüler-Interaktion gezeigt werden: Ein Lehrer wurde seinen Schülern entweder als warmherzig oder als kühl angekündigt. Abhängig von der Erwartungshaltung der Schüler wurde das gleiche Verhalten des Lehrers unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt. Der als warmherzig angekündigte Lehrer wurde als kompetent und sympathisch bewertet, wohingegen der als kühl angekündigte Lehrer als inkompetent und unsympathisch beurteilt wurde. Gemäß der Hypothesentheorie der Wahrnehmung waren die Schüler durch die Bereitstellung der Hypothese „der Lehrer ist sympathisch“ bzw. „nicht sympathisch“ in ihrer Bewertung und Eindrucksbildung maßgeblich beeinflusst worden. Die Hypothesentheorie der Wahrnehmung leistet somit einen grundlegenden Beitrag zur Erklärung von sozialen Wahrnehmungs- und Interpretationsprozessen und verdeutlicht den Einfluss bestehender Erwartungen auf die Wahrnehmung der sozialen Umwelt. Erwartungen und Schemata beeinflussen nicht nur die Eindrucksbildung, sondern können sich auch auf tatsächliches Verhalten auswirken. Durch die Art des Umgangs mit anderen Menschen können mentale Schemata unbeabsichtigt Realität werden. Diese sogenannte sich-selbst-erfüllende Prophezeiung („self-fulfilling prophecy“) soll im folgenden Abschnitt näher erläutert werden. 2.3.4 Sich-selbst-erfüllende Prophezeiungen Unter sich-selbst-erfüllenden Prophezeiungen versteht man folgendes Phänomen: Menschen haben eine bestimmte Erwartung, wie eine andere Person ist. Diese Erwartungen wirken sich darauf aus, wie sie sich Sich-selbst-erfüllende Prophezeiung = Umstand, dass Schemata durch unser Verhalten unbeabsichtigt Realität werden können 42 Kapitel 2 Studien zu LehrerSchüler-Interaktionen verdeutlichen die sich-selbst-erfüllende Prophezeiung dieser Person gegenüber verhalten, was wiederum dazu führt, dass die Person entsprechend der ursprünglichen Erwartung reagiert. In einer der berühmtesten Studien der Sozialpsychologie haben Robert Rosenthal und Lenore Jacobsen (1968) diesen Effekt in der Schüler-Lehrer-Interaktion untersucht und somit die Auswirkungen der Lehrererwartungen auf das Verhalten ihrer Schüler aufgezeigt. Studie zu sich-selbst-erfüllenden Prophezeiungen Hierzu maßen sie den Intelligenzquotienten von Schülern zu Beginn eines neuen Schuljahrs und suggerierten den Lehrern dieser Schüler, dass anhand der Ergebnisse des Intelligenztests Rückschlüsse auf die schulischen Fortschritte im folgenden Schuljahr gezogen werden könnten. Das Testergebnis besagte, dass 20 % ihrer Schüler im kommenden Schuljahr „aufblühen“ würden. Tatsächlich wurden die entsprechenden Schüler per Los bestimmt. Nach einem Dreivierteljahr wurde der Intelligenztest wiederholt und es zeigte sich, dass die Schüler, von denen die Lehrer einen großen Lernfortschritt erwartet hatten, besser im Intelligenztest abschnitten als die Schüler, von denen kein derartiger Lernfortschritt erwartet worden war. Das erstaunliche Ergebnis dieser Studie führt somit vor Augen, dass die Tatsache, dass sich die Lehrer gemäß ihren Erwartungen verhielten, Einfluss auf den Lernfortschritt der Kinder nahm, so dass sich die ursprüngliche Erwartung der Lehrer selbst bewahrheitete. Der Befund von Rosenthal und Jacobsen wurde seither in zahlreichen Experimenten repliziert (Babad, 1993; Jussim & Harber, 2005; Madon, Guyll, Spoth & Willard, 2004). In einem weiteren Experiment konnten Word, Zanna und Cooper (1974) zeigen, dass sich negative Konsequenzen sich-selbst-erfüllender Prophezeiungen auch im Umgang mit Minderheiten zeigen (vgl. Kapitel 5). In einem simulierten Jobinterview wurden weiße gegenüber schwarzen Bewerbern von (weißen) Studenten bevorzugt behandelt. Als Folge der Bevorzugung weißer Studenten durch die Jobinterviewer zeigten die schwarzen Bewerber tatsächlich ein unsichereres Verhalten und wurden als Konsequenz von unabhängigen Beurteilern als weniger kompetent eingeschätzt. Dieses Phänomen lässt sich aber auch in der positiveren Einstellung und Erwartung gegenüber attraktiven Menschen finden: Von physisch attraktiven Personen wird beispielsweise angenommen, sie verfügten über größere soziale Kompetenz als weniger attraktive Menschen. Diese Hypothese führt zu dem Effekt, dass man gut aussehenden Menschen aufgeschlossener begegnet, was wiederum Einfluss auf die tatsächliche soziale Kompetenz der attraktiven Menschen ausübt. Sie werden selbstsicherer und offener auf andere Menschen zugehen als unattraktive Personen, denen aufgrund der Erwartung „unattraktive Menschen sind sozial inkompetenter als attraktive Menschen“ auch weniger Toleranz und Aufgeschlossenheit entgegengebracht wird. Diesem „Teufelskreis“ aus sich-selbst-erfüllender Prophezeiung sind aber auch Grenzen gesetzt. Neuere Untersuchungen konnten zeigen, dass Soziale Urteile und Rationalität bei Entscheidungen 43 unter bestimmten Bedingungen sich-selbst-erfüllende Prophezeiungen mit einer niedrigeren Wahrscheinlichkeit auftreten. So spielt es eine ausschlaggebende Rolle, ob in der sozialen Interaktion das eigentliche Wesen des Individuums zum Ausdruck kommt (Jussim & Harber, 2005). Wenn beispielsweise in einer Interviewsituation der Interviewer bereit und motiviert ist, den Bewerber sorgfältig zu beobachten, nicht unter Zeitdruck steht und abgelenkt ist, wird der Interviewer seine Erwartungen zurückstellen und die eigentliche Persönlichkeit des Bewerbers beurteilen. Zusammenfassung Ziel des vorliegenden Kapitels war es darzustellen, wie Individuen ihre soziale Welt wahrnehmen und interpretieren. Untersuchungen zu sozialen Kognitionen konnten hierbei in zahlreichen Studien zeigen, dass unbewusste und automatisch ablaufende Denkprozesse in der Natur des menschlichen Denkens liegen. Hierbei konnten wir aufzeigen, dass Urteilsheuristiken als mentale Strategien durchaus hilfreich sind, um schnell und effizient seine soziale Welt einzuschätzen, auch wenn es unter „falscher“ Anwendung dieser Strategien zu verzerrten und damit fehlerhaften Urteilen kommt. Beispiele für falsch angewendete Heuristiken finden wir in der Verarbeitung von Informationen durch die Medienberichterstattung: Die Häufigkeit der Medienberichterstattung über bestimmte Ereignisse übt einen starken Einfluss auf Wahrscheinlichkeitsurteile aus. Da beispielsweise über ungewöhnliche Todesarten (Suizide, Naturkatastrophen) häufiger berichtet wird als über „natürliche“ Todesursachen wie z. B. Diabetes oder Herzinfarkte, überschätzen Personen die Auftretenswahrscheinlichkeit der ungewöhnlichen Todesarten systematisch (s. Strack & Deutsch, 2002). Nicht nur durch die falsche Anwendung von Heuristiken kann es zu Fehlurteilen kommen. Auch weichen allgemeine Erwartungen und Schemata ebenfalls von rationalen Entscheidungsmodellen ab und führen zu einer Verzerrung in der Informationsverarbeitung. Die in diesem Kapitel beschriebenen Erwartungen und Hypothesen beziehen sich hierbei nicht nur auf Mikrogebilde (Personen, Gruppen), sondern auch auf Makrogebilde in Wirtschaft und Gesellschaft. Betrachtet man beispielsweise wirtschaftliche Entwicklungen und Konjunkturverläufe, wird schnell die außerordentliche Bedeutung von Erwartungen klar. Je nachdem, ob Mitglieder einer Gesellschaft positive oder negative Erwartungen hinsichtlich ihrer zukünftigen finanziellen Situation haben, werden sie als Konsumenten die wirtschaftliche Entwicklung beeinflussen. Solche Erwartungen spielen sowohl eine Rolle für den KonsumklimaIndex, als auch für den sog. IFO-Index, der die Erwartungen von Unternehmern hinsichtlich der Konjunkturverläufe misst. Ebenso spielen Erwartungen über die Entwicklung von Aktienkursen eine wichtige Rolle für das Verhalten von Börsenakteuren (Frey & Stahlberg, 1990). Dass Menschen wie Alltagstheoretiker mit automatisch ablaufenden Denkmustern ihre soziale Welt ordnen, stellt eine ausschlaggebende Determinante in der täglichen Reiz- und Informationsverarbeitung dar: Ohne Erwartungen, Schemata und Heuristiken wären Personen der Flut von auf sie einstürzenden Informationen hilflos ausgeliefert. Sie führen zwar manchmal zu Fehlurteilen, aber sie ermöglichen erst die effiziente Selektion und Interpretation sozialer Informationen in unserem alltäglichen Leben. 44 Kapitel 2 Weiterführende Literatur Gilovich, T., Griffin, D. & Kahneman, D. (2002). Heuristics and biases: The psychology of intuitive judgment. New York: Cambridge University Press. Olson, J. M., Roese, N. J. & Zanna, M. P. (1986). Expectancies. In E. T. Higgins & A. W. Kruglanski (Eds.), Social psychology: Handbook of basic principles (pp. 211–238). New York: Guilford Press. Verleichtern urteilsfindung, leocht abrufbar, automatisvh Es werden nicht die absolut werte in betravht gezogen Reflexionsaufgaben Unser handeln und denken beeinflusst indirekt das endergebniss 1. Inwiefern helfen uns Heuristiken im Alltag zu Urteilsfindungen zu kommen? 2. Was beinhaltet das Basisratenproblem bei der Repräsentativitätsheuristik? 3. Was versteht man unter dem Phänomen der sich-selbst-erfüllenden Prophezeiung? Lösungshinweise finden Sie auf Seite 138. Kapitel 3 Soziale Kognition: Aktivierung kognitiver Konzepte, automatische kognitive Konzepte und die Entwicklung der soziokognitiven Neurowissenschaft Julia Fischer, Anne Sauer, Peter Fischer und Dieter Frey Inhaltsübersicht 3.1 Einleitung: Was sind soziale Kognitionen? 46 3.2 Priming 47 3.2.1 Semantisches Priming 47 3.2.2 Affektives Priming 48 3.2.3 Prozedurales Priming 49 3.2.4 Wie kommt es zum Primingeffekt? 50 3.2.5 Medienforschung als Beispiel für die praktische Anwendung des Priming-Paradigmas 50 Gedankenlosigkeit und assoziierte automatisierte Prozesse 51 3.3.1 Gefangensein in Kategoriendenken 51 3.3.2 Mechanische und automatische Reaktionen 52 3.3.3 Handeln unter einer einzigen Perspektive 53 3.3.4 Entstehung von Gedankenlosigkeit 54 3.3.5 „Mindfulness“ als Gegenpol zur Gedankenlosigkeit 54 3.3.6 Kritikpunkte an Langers Konzept 55 3.4 Gelungene interdisziplinäre Vernetzung: die soziokognitive Neurowissenschaft 56 3.3 3.4.1 Überblick: Methoden in den Neurowissenschaften 57 3.4.2 Forschungsschwerpunkte in der soziokognitiven Neurowissenschaft 59 Reflexionsaufgaben 62 46 Kapitel 3 Schlüsselbegriffe Betrachtung von Prozessen sozialer Kognitionen aus mehreren Perspektiven Aktivierung soziokognitiver Konzepte (Priming) Rolle automatischer, unbewusster und bewusst gesteuerter kognitiver Prozesse bei sozialen Kognitionen Neurokognitive Grundlagen sozialer Kognitionsprozesse 3.1 Einleitung: Was sind soziale Kognitionen? Während Sie dieses Lehrbriefkapitel lesen und sich so z. B. konzentriert auf Ihre nächste Prüfung vorbereiten, überlegt womöglich Ihre Kommilitonin, wie sie im anstehenden Bewerbungsgespräch einen positiven Eindruck hinterlässt, eine Person in Ihrer Nähe reagiert vielleicht just in diesem Moment aggressiv auf die vermeintlich beleidigende Bemerkung ihres Gesprächspartners und gleichzeitig überlegt sich unter Umständen jemand anderes die Reihenfolge der Argumente, mit denen er in einer Diskussion seine Zuhörer überzeugen möchte. Soziale Kognitionen dienen dazu, sich im sozialen Geschehen angemessen verhalten zu können So unterschiedlich die Verhaltensweisen und Situationen sind, die hier aufgezeigt bzw. die in diesen Beispielen erlebt werden, sie alle haben etwas gemeinsam: Alle Personen – Sie selbst eingeschlossen – versuchen, sich ein möglichst genaues Bild von ihrer Umwelt zu machen. Sie denken – automatisch oder kontrolliert – über ihre Mitmenschen, die sozialen Gefüge, in denen sie sich bewegen, die Konsequenzen der Geschehnisse usw. nach. Es werden sog. soziale Kognitionen angestellt, mit Hilfe derer Sie sich in Ihrer Umgebung zurechtfinden und sich den Gegebenheiten angemessen verhalten können. Sie wählen gezielt Informationen aus Ihrer Umwelt aus, bewerten diese, fällen Urteile und treffen auf dieser Basis Entscheidungen, die z. B. Ihre Einstellungen und Interaktionen nachhaltig beeinflussen. Begriffsklärung: Soziale Kognition Unter sozialen Kognitionen versteht man die Art und Weise, in der Menschen Informationen aus ihrer sozialen Umwelt aufnehmen, abspeichern und weiterverwenden (Hamilton, 2005). Der Mensch als soziales, aktives, bewusst erlebendes und reflektierendes Wesen Innerhalb dieser Forschungsrichtung wird demnach ein Menschenbild gezeichnet, das den Menschen als soziales, aktives, bewusst erlebendes und reflektierendes Wesen beschreibt. Die Themen, die in das Feld der „Sozialen Kognition“ („Social Cognition“) fallen, sind entsprechend vielseitig: Es werden z. B. Gedächtnisprozesse, Schemata, Entschei- Soziale Kognition 47 dungsfindung, Gruppenphänomene, Urteilsprozesse, Heuristiken und kontrafaktisches Denken (vgl. Kapitel 2), Vorurteile und Stereotype (vgl. Kapitel 5), Konzeptbildung und Selbstwahrnehmung (z. B. Bless, Fiedler & Strack, 2004; Fiske & Taylor, 2007) unter diesem Oberbegriff angeführt und erforscht. In den vorangegangenen Kapiteln dieses Lehrbriefes wurde bereits ausführlich auf diverse Prozesse und Phänomene eingegangen, die sich mit den Auswirkungen sozialen Einflusses auf Personen beschäftigen, wie z. B. Eindrucksbildung, Erwartungen und Selbstkonzept. In diesem Kapitel über soziale Kognitionen wird in Ergänzung der vorangegangenen Themen der Schwerpunkt auf die kognitiven Komponenten gelegt. Betrachtet werden im Folgenden Priming und Gedankenlosigkeit als Beispiele kognitiver Prozesse im Forschungsfeld der sozialen Kognitionen. Anschließend wird als Beispiel für fruchtbare interdisziplinäre Vernetzung näher auf die soziokognitive Neurowissenschaft, die neue Zugänge zu (sozialpsychologischen) Fragestellungen eröffnet, eingegangen. 3.2 Priming Der aus dem Englischen stammende Begriff „Priming“ bedeutet wortwörtlich übersetzt soviel wie „Zündung“, „Vorbereitung“ oder „Ladung“. In der Sozialpsychologie wird der Begriff im Sinne einer Bahnung verwendet, die durch vorausgegangene Ereignisse oder Erfahrungen erzeugt wird. Begriffsklärung: Priming Priming bezeichnet im Allgemeinen die Erleichterung einer Reaktion auf einen Zielreiz (Target) aufgrund der vorherigen Darbietung eines Bahnungsreizes (Prime). Dies geschieht durch eine Steigerung der Zugänglichkeit zu bestimmten gespeicherten Informationen im Gedächtnis durch den Prime. Je nachdem, auf welcher Verarbeitungsebene es zur Aktivierung des Targets durch den Prime kommt, lassen sich verschiedene Arten des Priming-Paradigmas unterscheiden. Im Folgenden werden die wichtigsten drei Formen erläutert: semantisches, affektives und prozedurales Priming. 3.2.1 Semantisches Priming Begriffsklärung: Sematisches Priming Unter semantischem Priming wird der Effekt verstanden, dass die Aktivierung eines Wortes die Verarbeitung all jener Worte beschleunigt, die zum ersten Begriff eine semantische oder kategoriale Beziehung aufweisen. Verschiedene Arten des Primings 48 Kapitel 3 Lexikalische Entscheidungsaufgaben Semantische Primingeffekte werden häufig durch eine sogenannte „Lexikalische Entscheidungsaufgabe“ (Meyer & Schvaneveldt, 1971) erforscht: Die Versuchsperson soll in einer Kategorisierungsaufgabe entscheiden, ob es sich bei einem dargebotenen Wort um ein reales Wort (z. B. „Krankenschwester“) oder um ein Pseudowort (z. B. „Knakenschwester“) handelt. Vor dem Wort, auf das die Person reagieren soll (Target), wird der Prime dargeboten. Ist das Primewort mit dem Targetwort semantisch verwandt, wird durch die automatisch ablaufende Aktivierung des Primes auch das Target aktiviert werden, was eine Reaktion beschleunigt. Die Reaktionszeit auf das Targetwort wird dabei als Maß der semantischen Assoziation im kognitiven System zwischen Prime und Target herangezogen. Auf das Wort „Spritze“ wird beispielsweise schneller reagiert, wenn zuvor der Begriff „Krankenhaus“ verarbeitet (gelesen) wurde. 3.2.2 Affektives Priming So wie sich beim semantischen Priming ein Target durch den bedeutungsspezifischen Zusammenhang mit dem Prime aktivieren lässt, so wird beim affektiven Priming ein Target durch die emotionale Ähnlichkeit zum Prime aktiviert. Begriffsklärung: Affektives Priming Beim affektiven Priming handelt es sich um das Phänomen, dass die Verarbeitung eines affektiven Reizes (Target) erleichtert wird, wenn diesem Reiz ein affektiv konsistenter Reiz (Prime) vorausgeht. Fazio, Sanbonmatsu, Powell und Kardes (1986) konnten die in der lexikalischen Entscheidungsaufgabe gefundenen semantischen Primingeffekte auf die Aktivierung von Affekten übertragen: Versuchspersonen reagierten bei Kategorisierungsaufgaben schneller, wenn vor dem zu bewertenden Wort ein Prime präsentiert wurde, der die gleiche Valenz (d. h. den affektiven Wert, z. B. positiv oder negativ) aufwies. Wird beispielsweise als Prime das Wort „Küchenschabe“ dargeboten (oder auch ein Bild einer solchen), sinkt die anschließende Reaktionszeit auf das affektiv verknüpfte Wort „Ekel“. Studien zum affektiven Priming haben unter anderem im Zusammenhang mit der Erforschung von Einstellungen, die bei einfachen Befragungen oft durch soziale Erwünschtheit verzerrt werden, eine hohe praktische Relevanz. Als Primes werden dabei z. B. vorurteilsrelevante Reize präsentiert, um festzustellen, ob sich hierbei automatische – nicht dem vollen Bewusstsein unterliegende – Bewertungstendenzen zeigen. Beispielsweise verwendeten Fazio, Jackson, Dunton und Williams (1995) als Prime Bilder von Personen kaukasischer und afroamerikanischer Herkunft, die jeweils vor positiven und negativen Targetworten (z. B. „gut“ vs. „böse“) präsentiert Soziale Kognition wurden. Es stellte sich heraus, dass (weiße) Versuchsteilnehmer dann schneller reagierten, wenn der Darbietung eines positiven Wortes ein kaukasisches Gesicht im Vergleich zu dem eines Afroamerikaners vorausgegangen war. Bei den Reaktionszeiten auf die negativen Worte verhielt es sich genau umgekehrt. Diese Ergebnisse wurden als automatisch aktivierbare negative Einstellung gegenüber Afroamerikanern interpretiert. Rotteveel, De Groot, Geutskens und Phaf (2001) präsentierten ihren Versuchsteilnehmern auf einer subliminalen Ebene (unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle) emotional belegte Primingreize und konnten zeigen, dass durch einen mit positiven Emotionen behafteten Reiz diejenigen Gesichtsmuskeln verstärkt aktiviert werden, die zum mimischen Ausdruck einer positiven Stimmung (Lächeln etc.) dienen. Aus diesen Ergebnissen wurde geschlossen, dass sich affektives Priming nicht nur auf kognitive Maße und Reaktionszeiten der Probanden auswirkt, sondern sogar auf implizitere affektive Maße wie die Aktivität von Gesichtsmuskeln. 3.2.3 Prozedurales Priming Im Gegensatz zum semantischen und affektiven Priming, die auf inhaltlicher Übereinstimmung zwischen Prime und Target basieren, kommt es beim prozeduralen Priming zu einer Wiederholung der kognitiven Prozedur. Begriffsklärung: Prozedurales Priming Wenn zuvor eine bestimmte Prozedur durch den Prime aktiviert wurde, so wird anschließend dieselbe Verarbeitungsstruktur beim Target schneller durchgeführt, auch wenn der Prime in einem völlig anderen Kontext oder im Zusammenhang mit einem unterschiedlichen Thema präsentiert wurde. Diesen Effekt erforschte Mussweiler (2001) in einer Studie zu sozialen Vergleichsprozessen: Im ersten Teil des Experiments bekamen die Versuchsteilnehmer zwei Landschaftsbilder zu sehen. Die Hälfte der Versuchsteilnehmer wurde angewiesen, nach Unterschieden zwischen den beiden Bildern zu suchen, die andere Hälfte der Probanden sollte möglichst viele Gemeinsamkeiten zwischen den Bildern finden. Im Anschluss daran sollte sich die Versuchsperson mit einer anderen Person bezüglich einer sozialen Kategorie vergleichen. Dabei zeigte sich, dass diejenigen, die darauf geprimed worden waren, nach Unterschieden zu suchen, diese Handlungstendenz auch in der zweiten thematisch vollkommen unterschiedlichen Aufgabe anwandten. Umgekehrt achteten diejenigen Probanden, die in der ersten Aufgabe nach Gemeinsamkeiten gesucht hatten, verstärkt auf Ähnlichkeiten zwis