Einführung in die Entwicklungspsychologie - 4. Vorlesung Bindung
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Universität Siegen
Simon Forstmeier
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Dieses Dokument ist ein Handout zur Vorlesung "Einführung in die Entwicklungspsychologie", insbesondere zum Thema "Bindung". Es enthält Lernziele, Definitionen, Forschungsansätze und die wichtigsten Konzepte rund um die Bindungspsychologie.
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Einführung in die Entwicklungspsychologie 4. Frühe Kindheit: Bindung Prof. Dr. Simon Forstmeier WS 2024/25 uni-siegen.de www.uni-siegen.de Fragen stellen über Particify https://crs.zimt.uni-siegen.de/p/61399211 Vorlesung 4...
Einführung in die Entwicklungspsychologie 4. Frühe Kindheit: Bindung Prof. Dr. Simon Forstmeier WS 2024/25 uni-siegen.de www.uni-siegen.de Fragen stellen über Particify https://crs.zimt.uni-siegen.de/p/61399211 Vorlesung 4 2 Lernziele der heutigen Veranstaltung Am Ende dieser Einheit … … können Sie Bindung und Bindungsverhalten definieren und voneinander unterscheiden. … können Sie die Bindungstheorie von Bowlby einem Laien erklären. … wissen Sie, wie das Fremde-Situation-Paradigma von Mary Ainsworth durchgeführt wird und können die verschiedenen zu beobachtenden Verhaltensweisen interpretieren. … kennen Sie die verschiedenen Bindungsstile, wissen wie sich diese entwickeln und kennen die Langzeitwirkungen. 3 Methoden der Entwicklungspsychologie Bindung: Ursprünge und Begriffe Bindungstheorie und Bindungsforschung Bindungsstile Langzeitwirkungen der Bindungsstile 4 Bindung: Ursprünge und Begriffe Frühe Eltern-Kind-Interaktion und Bindung John Bowlby (1907-1990) Mary Ainsworth (1913-1999) Bindungsforschung – Die Anfänge Waisenhäuser 1930-1940: Sterblichkeitsrate ca. 37% Vergleich: keine Todesfälle in Einrichtungen mit täglichem Kontakt mit Müttern (Spitz, 1945, 1946, 1949) intensive Trauerreaktion, wenn Trennung bei bestehender Bindung (Emde, 1994) Konträr zur vorherrschenden Meinung Konträr zur damaligen Psychoanalyse und Behaviorismus Ungenügende emotionale Fürsorge = Entwicklungsrisiko 7 Bindung - Definition «Eine emotionale Beziehung zu einer bestimmten Person, die räumlich und zeitlich Bestand hat. Meistens werden Bindungen im Hinblick auf die Beziehung zwischen Kleinkindern und den jeweiligen Betreuungspersonen diskutiert; sie treten aber ebenfalls im Erwachsenenalter auf.» (Siegler et al., 2011, S. 417) Bindungstheorie: Urheber John Bowlby (1907-1990) «Theorie, welche die biologische Veranlagung von Kindern postuliert, Bindungen zu Betreuern und Bezugspersonen zu entwickeln, um die eigenen Überlebenschancen zu erhöhen.» (Siegler et al., 2011, S. 418) 8 Bindungs- und Fürsorgesystem Frühe Interaktion zwischen Säuglingen und Bezugspersonen evolutionsbiologisch geprägte Verhaltensprogramme Annahme eines Bindungssystems (Kind) sowie eines Fürsorgesystems (Bezugsperson) Bindungssystem: aktiviert, wenn Sicherheitsbedürfnisse bedroht Ziel: physische/emotionale Nähe und Sicherheit Fürsorgesystem: Befriedigung der Bedürfnisse des Säuglings nach physischer/emotionaler Nähe und Sicherheit 9 Bindungs- und Fürsorgesystem Bindungsverhaltensweisen: Häufigste Bindungsverhaltensweisen: Weinen Lächeln Blickkontakt Frühkindliche Imitationen 10 Copyright © Pearson 2004 Bindungs- und Fürsorgesystem Fürsorgeverhalten als Reaktion auf Bindungsverhalten Sensitivität/Feinfühligkeit (z.B. van den Boom, 1994) Charakteristika sensitiver Bezugspersonen: Konsistente Reaktion Richtige Interpretation Angemessene Reaktion Prompte Reaktion kontrollierbar, vorhersagbar und verlässlich 11 Intuitives Elternprogramm (Papousek & Papousek, 1987, 2002) Verhaltensweisen der Bezugspersonen Evolutionsbiologisch entstanden Intuitiv eingesetzt Spontan umgesetzt Wichtigste Verhaltensweisen: Einhalten eines optimalen Reaktionszeitfensters Verbales und präverbales Verhalten der Eltern Herstellen und Aufrechterhalten von Blickkontakt Regulation des Wachheits- und Erregungszustandes 12 Intuitives Elternprogramm (Papousek & Papousek, 1987, 2002) Entwicklung der Bindung: Biologische Prädisponiertheiten und individuelle Erfahrungen Bindung der Eltern an ihr Kind: frühzeitig Bindung des Kindes an Eltern: später Entwicklungsvoraussetzungen elterliches Fürsorgeverhalten zentral für Art der entstehenden Bindung 13 Bindungstheorie und Bindungsforschung Bowlbys Bindungstheorie Sichere Basis „Bowlbys Begriff dafür, dass die Anwesenheit einer vertrauten Bindungsperson dem Säugling oder Kleinkind ein Gefühl von Sicherheit bietet, das es ihm ermöglicht, die Umwelt zu erforschen.“ (aus Siegler et al., 2011, S. 418) Bindungs- und Explorationsverhalten: Antagonistisches Verhältnis 15 Bowlbys Bindungstheorie Phasen der Bindungsentwicklung nach Bowlby (1969) Bindungsphase Alter Beschreibung Vorphase der Bindung Geburt bis Bindungsverhalten 6 Wochen Phase der entstehenden 6 Wochen bis Zunehmend spezifische Bindung 6 bis 8 Monate Reaktionen auf Bezugspersonen Entwicklung spezifischer Erwartungen Phase der ausgeprägten 6 bis 8 Monate bis spezifische Bindung Bindung 1,5 bis 2 Jahren Trennungsangst Phase reziproker Ab 1,5 inneres Arbeitsmodell Beziehungen bis 2 Jahren Akzeptieren von Trennungssituationen 16 Bowlbys Bindungstheorie Inneres Arbeitsmodell der Bindung: „Die kindliche mentale Repräsentation des Selbst, der Bindungsperson(en) und der Beziehungen im Allgemeinen, die als Ergebnis der Erfahrungen mit den Bezugspersonen entstehen. Das Arbeitsmodell leitet die Interaktionen der Kinder mit den Versorgern und anderen Personen in der Kindheit und später.“ (aus Siegler et al., 2011, S. 419) 17 Bindungstheorie: Forschungen von Mary Ainsworth Empirische Prüfung Bowlbys Theorie «Fremde-Situation»-Paradigma http://psych.wisc.edu/henriques/resources/Images.html Zwei zentrale Maße für die Erfassung der Bindungsqualität: 1. Ausmaß der sicheren Basis 2. Reaktion auf Trennung und Wiedersehen (1913 – 1999) 18 Fremde Situation Paradigma I Epi- Dauer Personen Handlungsablauf sode 1 30 Bezugsperson, Beobachter macht Bezugsperson und Kind mit den Sek. Kind und Räumlichkeiten vertraut und geht Beobachter Exploration und 2 3 Min Bezugsperson Bezugsperson lässt Kind explorieren Nutzung der BP als und Kind oder initiiert Exploration (nach 2 min) sichere Basis 3 3 Min Fremde Person, Fremde Person betritt Raum, verhält sich ruhig Bezugsperson (1Min). Reaktion auf und Kind Unterhaltung mit Bezugsperson (1Min) fremde Person Interaktion mit Kind (1 Min) 4 3 Min Fremde Person Bezugsperson verlässt Raum Trennungsstress und und Kind Reaktion auf Tröstung Phase wird ggf. vorzeitig beendet durch fremde Person 19 Fremde Situation Paradigma II Epi- Dauer Personen Handlungsablauf sode Reaktion auf 5 3 Min Bezugsperson Wiedervereinigung Wiedersehen mit BP, und Kind Reaktion auf das Fremde Person verlässt Raum Gehen der BP Verabschiedung Bezugsperson, verlässt Raum 6 3 Min Kind allein Ggf frühzeitig beendet Trennungsangst 7 3 Min Fremde Person Kind bleibt von Bezugsperson getrennt Fähigkeit, sich von und Kind Fremde Person betritt Raum, kümmert fremder Person sich um Kind; ggbf. frühzeitig beendet beruhigen zu lassen 8 3 Min Bezugsperson Erneute Wiedervereinigung: Bezugsperson begrüßt und Kind Kind und tröstet ggf Reaktion auf fremde Person verlässt Raum Wiedersehen mit BP 20 Bindungsstile Bindungsstile Sichere Bindung Unsicher-ambivalente Bindung Unsicher-vermeidende Bindung Desorganisierte Bindung 22 Bindungsstil «Sichere Bindung» Sichere Bindung: Bezugsperson = sichere Basis in fremder Situation Vermissen der Bezugsperson in Trennungssituationen Freude bei Wiederkehr Durch fremde Person nicht vollständig zu trösten Mögliche Verhaltensursachen seitens der Bezugspersonen: Zuverlässig, schnell positiver Austausch kontrollierbar, vorhersehbar und verlässlich 23 Bindungsstil «Unsicher-vermeidende Bindung» Unsicher-vermeidende Bindung: fremde Situation: Kinder gegenüber Bezugspersonen gleichgültig Bei Trennung: kaum beunruhigt / kaum Kummer bei der Wiederkehr: Vermeiden von Nähe und Interaktion Fremde Person kann auch trösten Mögliche Verhaltensursachen seitens der Bezugspersonen: Bezugsperson oft gleichgültig / emotional unzugänglich Zurückweisung von körperlicher Nähe keine Zuverlässigkeit und Sicherheit 24 Cortisol nach der Fremden Situation Unsicher-vermeidende Kinder erleben Stress, auch wenn sie den nicht zeigen Aus Pinquart, Schwarzer & Zimmermann (2019). Entwicklungspsychologie – Kindes- und Jugendalter. Hogrefe. S. 202 Bindungsstil «Unsicher-ambivalente Bindung» Unsicher-ambivalente Bindung: fremde Situation: Kinder klammern, suchen Nähe Bei Trennung: ängstlich, wütend bis aggressiv Bei Wiederkehr: ambivalentes Verhalten Wütendes /passives Verhalten, wenn mit fremder Person allein Mögliche Verhaltensursachen seitens der Bezugspersonen: Phasen der Zuverlässigkeit und der Unzuverlässigkeit nicht vorhersehbar, nicht erklär- und kontrollierbar Hohe Ängstlichkeit, von Gefühlen überwältigt 26 Bindungsstil «Desorganisierte-desorientierte Bindung» Desorganisierte Bindung: Widersprüchliche Verhaltensweisen Teilweise ungewöhnliches / bizarres Verhalten Keinem der anderen Bindungsmuster zuzuordnen Mögliche Verhaltensursachen seitens der Bezugspersonen: Möglicherweise besonders ungünstige Interaktionserfahrungen Verhalten der Bezugsperson verwirrt / ängstigt Kinder 27 Häufigkeit der Bindungsstile (Meta-Analyse: Madigan et al., 2023) Europa Weltweit Sichere Bindung 56,6% 51,6% Unsicher-vermeidende Bindung 14,8% 14,7% Unsicher-ambivalente Bindung 8,4% 10,2% Desorganisierte Bindung 20,2% 23,5% Keine Unterschiede zwischen Bindung zu Müttern und Bindung zu Vätern Keine Altersunterschiede, keine Geschlechtsunterschiede Bei niedrigem soziodemografischem Status: Mehr vermeidende (17,6%) u. desorganisierte B. (31,3%) Bei misshandelten Kindern (64,9%), Pflege/Adoptivkindern (39,5%), psychisch kranken Eltern (30,8%) mehr desorganisierte Bindung Kulturelle Unterschiede: Nordamerika: weniger sicher (49,7%), mehr desorganisiert (25,4%) im Vergleich mit Europa Asien: mehr sicher (62.2%), weniger vermeidend (8,9%), mehr ambivalent (19,2%), weniger desorganisiert (9,7%) Madigan et al. (2023). Psychological Bulletin, 149(1-2), 99–132. https://doi.org/10.1037/bul0000388 28 Langzeitwirkungen der Bindungsstile Fragen zur Stabilität von Bindungssicherheit https://crs.zimt.uni-siegen.de/p/61399211 Vorlesung 4 30 Zusammenhänge elterliche und kindliche Bindungsmuster Begriffe aus dem Adult Attachment Interview: Autonom: sicher Abweisend: unsicher-vermeidend Verstrickt: unsicher-ambivalent Ungelöst: desorientiert Aus Siegler et al., 2011, S. 423 31 Zusammenhänge elterliche & kindliche Bindungsmuster Positive Zusammenhänge zwischen Bindungssicherheit der Eltern und Bindungssicherheit der Kinder Keine Hinweise auf erbliche Anteile! Lernerfahrungen Transgenerationale Stabilität Diskussion über Effekte im Erwachsenenalter: Position A: Bindungssicherheit in früher Kindheit zentral für später (z.B. Bowlby, 1973) Position B: Bindungssicherheit veränderbar; Stabilität durch stabile Familienstrukturen 32 Bindungssicherheit ursprünglich Monotropieannahme (Bindung an nur eine zentrale Bezugsperson) Keine empirische Bestätigung Bindungen zu mehreren Bezugspersonen Kompensationsmöglichkeit Resilienz: Fähigkeit, eigene Entwicklung trotz ungünstiger Umstände erfolgreich zu bewältigen (Masten & Reed, 2002) 33 https://de.vecteezy.com/vektorkunst/4717246-familie-vater-mutter-kind-gluck-vekto Langzeiteffekte der Bindungssicherheit Auswirkungen einer sicheren Bindung: engere, harmonischere Beziehungen zu Gleichaltrigen Höhere Empathiefähigkeit Mehr prosoziales Verhalten Weniger aggressiv, weniger antisozial Bleibt in späterer Kindheit und Jugendalter bestehen Positiveres Gottesbild 34 Bindungsstile und Liebesbeziehungen im Erwachsenenalter Sichere Bindung im Erwachsenenalter assoziiert mit Weniger Eifersucht (z.B. Buunk, 1997) Mehr Mobilisierung von sozialer Unterstützung (z.B. Simpson, Rholes, & Nelligan, 1992) Stärkerem Vertrauen in den Partner/die Partnerin (Mikulincer, 1998) Befriedigenderen und stabileren Beziehungen (z.B. Simpson, 1990) Stärkeren Ausprägungen von Vertrautheit, Leidenschaft, commitment in Partnerschaften 35 Sensitivitätstrainings Metaanalyse (Bakermans-Kranenburg et al., 2003) Mittlere Effekte auf die Sensitivität Kleine Effekte auf die Bindungssicherheit Beispiel Freiburger Feinfühligkeitstraining – Wissen über Bestandteile von Sensitivität (Wahrnehmung, richtige Interpretation, angemessene/prompte/konsistente Reaktion) – Übung zur Perspektivenübernahme („Sprechen anstelle des Babys“) – Videofeedback Bindungsstile und Gottesbeziehung Gottesbild Gott erfüllt die Kriterien einer Bindungsperson: er ist eine Person, mit der man interagieren und eine persönliche Beziehung haben kann (Kirkpatrick, 1994) Das Gottesbild kann gemessen werden, egal wie gläubig die Person ist, z. B. auf den Dimensionen liebevoll/wertschätzend vs. ablehnend befreiend vs. einschränkend nah vs. entfernt (Benson & Spilka, 1973) Erfahrungen mit beiden Elternteilen als liebevoll liebevolles Gottesbild (Granqvist et al., 2007) 37 "Dieses Foto" von Unbekannter Autor ist lizenziert gem Bindungsstile und Gottesbeziehung Bindungsstil Erwachsener Bindungsstil hängt mit dem Gottesbild zusammen (z. B. Kirkpatrick & Shaver, 1992): Sichere Bindung Gottesbild: eher liebevoll, eher nah (d.h. sichere Bindung an Gott) Unsichere Bindung Gottesbild: eher ablehnend, eher distanziert Beleg für die Korrespondenz-Hypothese, d.h. Bindungsstil bezogen auf Menschen ähnelt dem Bindungsstil bezogen auf Gott 38 Bindungsstile und Gottesbeziehung Bindungsstil in der Kindheit (retrospektiv) Konversion: profunde Zunahme der Bedeutung religiöser Überzeugung, gepaart mit einer persönlichen Erfahrung mit Gott (oder dem Göttlichem) (Granqvist & Kirkpatrick, 2004) Zeitmuster von Konversionen: Graduell: allmähliche, langsame religiöse Entwicklung («damit aufgewachsen») Plötzlich: relativ schnelle religiöse Entwicklung (z. B. als einschneidendes Erlebnis in einer Krisen- oder Umbruchszeit) Bindungsstil hängt mit dem Zeitmuster von Konversionen zusammen (Meta-Analyse v. Granqvist & Kirkpatrick, 2004): Sichere Bindung häufiger graduelle Konversion Unsichere Bindung (vermeidend + ambivalent) häufiger plötzliche Konversion Beleg für die Kompensations-Hypothese, d.h. Gott als sichere Bindungsperson kann als Ersatz für unsichere Bindungspersonen in der Kindheit erlebt werden 39