Entwicklungspsychologie Vorlesung Bindung PDF

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Charlotte Fresenius Hochschule

2024

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attachment theory developmental psychology lecture notes psychology

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These are lecture notes for a developmental psychology course on attachment. It covers topics such as the early development of attachment theory, different attachment types, and the historical context surrounding attachment theory. The document contains dates related to the lectures, locations and so on.

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ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGIE VORLESUNG VI BINDUNG 04.06.2024 1 AGENDA 1. ANFÄNGE DER BINDUNGSFORSCHUNG 2. BOWLBYS BINDUNGSTHEORIE 3. BINDUNGSTYPEN NACH MARY AINSWORTH 4. URSACHEN UND HÄUFIGKEITEN 5. KULTURELLE UNTERSCHIEDE 6...

ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGIE VORLESUNG VI BINDUNG 04.06.2024 1 AGENDA 1. ANFÄNGE DER BINDUNGSFORSCHUNG 2. BOWLBYS BINDUNGSTHEORIE 3. BINDUNGSTYPEN NACH MARY AINSWORTH 4. URSACHEN UND HÄUFIGKEITEN 5. KULTURELLE UNTERSCHIEDE 6. REZEPTION/LIMITATIONEN 2 AKTUELLES  Ab 04.06. Start der Vorlesung dienstags immer um 16:35 Uhr (!)  Ersatztermin für letzte Vorlesung: 13.06.2024, 15:30 – 17:10 Uhr  Raum: 4c OG2 SR1  Für Ausfall meinerseits krankheitsbedingt vorletzte Woche kein extra Termin, sondern Verlängerung der letzten Vorlesungen 3 4 BINDUNG Definition:  Bindung (attachment) wird als die besondere Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern oder Personen, die es beständig betreuen, verstanden. Sie ist im Gefühl verankert und verbindet das Individuum mit der anderen, besonderen Person über Raum und Zeit hinweg (Ainsworth, 1973).  Bindung – eine überdauernde emotionale Beziehung zu einer bestimmten Person, die räumlich und zeitlich Bestand hat. Meistens werden Bindungen im Hinblick auf die Beziehung zwischen Kleinkindern und den jeweiligen Betreuungspersonen diskutiert; sie treten aber ebenfalls im Erwachsenenalter auf (Siegler et. al., 2011) https://www.faminino.de/wp-content/uploads/2017/06/attachment-bindung.jpg 5 BINDUNG Kognitive Voraussetzungen der Bindung:  Objektpermanenz  Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen fremden und vertrauten Personen Unterscheidung zwischen Bindung und Bindungsverhalten:  Bindungsverhalten: Verhaltensweisen des Kindes, um die Nähe der Bezugspersonen zu sichern  Bindung: Emotionales Band zwischen Kind und Bezugsperson https://www.faminino.de/wp-content/uploads/2017/06/attachment-bindung.jpg 6 BINDUNG GESCHICHTLICHE EINORDNUNG  Psychoanalyse  Laut Freud hängen alle späteren Beziehungen von der emotionalen Bindung zur ersten Bezugsperson ab (i.d.R. Mutter)  Aktuelle Forschungen stehen mit dieser Aussage im Einklang  Füttern wurde als primärer Kontext betrachtet, in dem die Bezugspersonen und der Säugling ein enges emotionales Band knüpfen.  Behaviorismus  Wichtigkeit des Fütterns: Säugling entwickelt eine Vorliebe für das sanfte Streicheln der Mutter, Lächeln und tröstenden Worte, weil diese Vorgänge mit dem Abbau von Spannung gekoppelt sind, wenn sie den Hunger des Kindes stillt. 7 BINDUNGSTHEORIE HISTORISCHER HINTERGRUND KINDERPSYCHIATRISCHE UNTERSUCHUNGEN  Rene Spitz: Untersuchungen an Heimkindern  Hospitalismusschäden:  Massive Entwicklungsstörungen und – verzögerungen v.a. im sozial-emotionalen Bereich  Aber auch in kognitiver und körperlicher Entwicklung https://image.jimcdn.com/app/cms/image/transf/none/path/s1f8a79bf5c672055/image/i67281053c25 8c238/version/1550607941/image.png 8 BINDUNGSTHEORIE GESCHICHTLICHE EINORDNUNG HARRY HARLOW(1905 - 1981): VERHALTENSFORSCHUNG  Untersuchung des Sozialverhaltens bei jungen Rhesusaffen, die getrennt von der Mutter und anderen Artgenossen aufgezogen wurden  Entwicklung sozialer Störungen  Konnten nicht mit anderen Artgenossen kommunizieren  Hatten kein Interesse am eigenen Nachwuchs (teilweise sogar aggressiv und Kinder geschlagen Harlow wollte die behavioristische Vorstellung vom simplen, konditionierten Kind widerlegen Zentrale Hypothese: Das Bedürfnis nach intimem Körperkontakt (ankuscheln, streicheln) gehört zu den primären und angeborenen Motiven. Ohne Befriedigung dieses Bedürfnisses folgt eine stark beeinträchtigte Entwicklung (körperlich, geistig, https://encrypted- emotional). tbn0.gstatic.com/images?q=tbn:ANd9GcTTYqB1nM5XJTVEjkMpe7Iy6ISKZAYEHarBwNjWiVaHdV4BVSX5 9 BINDUNGSTHEORIE HISTORISCHER HINTERGRUND HARRY HARLOW(1905 - 1981): VERHALTENSFORSCHUNG Experiment 1: Welche künstliche Mutter präferieren die jungen Affen? Drahtgestell, das unermüdlich Futter zur Verfügung stellt oder Drahtgestell mit Stroh/Handtuch („weiche Plüschmutter“), die keine Milch spendet?  Präferenz der „Plüschmutter“, Aufsuchen der anderen künstlichen Mutter nur zur Stillung des Hungers Experiment 2: Überprüfung der Angst- und Bindungsreaktion durch Konfrontation mit Furcht einflößendem Stimulus (Roboterbär)  Affenkinder der Plüschmutter flohen zu dieser  Affenkinder der Drahtmutter erstarrten und kauerten in der Ecke 10 BINDUNGSTHEORIE HISTORISCHER HINTERGRUND HARRY HARLOW(1905 - 1981): VERHALTENSFORSCHUNG Fazit:  Fütterungssituationen stellen einen wichtigen Kontext für die Entwicklung einer engen Beziehung da, dennoch ist Bindung nicht abhängig von der Befriedigung des Hungers  Befriedigung physischer Grundbedürfnisse (Hunger, Durst, körperliche Hygiene, Schutz vor Kälte oder Hitze) reicht alleine nicht aus, um eine gesunde Entwicklung zu gewährleisten. 11 BINDUNGSTHEORIE BOWLBY (1907-1990) DIE EIGENE GESCHICHTE  Entstammte einer oberen Mittelschichtsfamilie aus England; hatte fünf Geschwister  Sein Vater war ein vielbeschäftigter Chirurg  Seine Mutter sah er nur für eine Stunde am Tag zum Tee  Er hatte ein eigenes Kindermädchen, welches kurzfristig entlassen wurde, als er vier Jahre alt war  Mit sieben Jahren wird er auf ein Internat geschickt, sodass er seine Familie nur noch in den Ferien sah  Ab 1925 Studium der Medizin und Psychologie und Cambridge, sowie psychoanalytische Ausbildung  Nach dem 2. Weltkrieg baute er eine Abteilung für https://cms.bps.org.uk/sites/default/files/styles/responsive/public/765/534/0/media/bowlby.jpg Kinderpsychiatrie auf 12 BINDUNGSTHEORIE BOWLBY (1907-1990) DIE EIGENE GESCHICHTE „Wer in seiner Kindheit in Zeiten der Not eine verständnisvolle Reaktion erlebt hat, wird in der aktuellen Krise auf ähnliches hoffen, während diejenigen, die während der Kindheit Zurückweisung und Missachtung erlebt haben, auch genau dies erwarten werden, wenn sie im Erwachsenenleben verzweifelt sind“ https://cms.bps.org.uk/sites/default/files/styles/responsive/public/765/534/0/media/bowlby.jpg 13 BINDUNGSTHEORIE BOWLBY (1907-1990) EINFLÜSSE AUF DIE THEORIE  Einfluss der Psychoanalyse: Bedeutung der frühen Erfahrung  Einfluss der Ethologie: Konzept vom Kleinkind, das die Bezugsperson als sichere Basis nützt, von der aus es die Umgebung exploriert  Theorie bezieht sich auf:  Harry Harlow  Charles Darwin (Mensch ist mit Verhaltenssystemen ausgestattet, die das Überleben der Spezies sichern. Beim Kind: Bindungsverhalten)  Konrad Lorenz (Der Säugling (wie auch die Jungtiere) verfügt über Verhaltensweisen, die dazu führen, dass Eltern in der Nähe bleiben, vor Gefahr schützen, Explorationsverhalten unterstützen)  Erik Erikson (Lösen von Konflikten als Entwicklungsaufgaben; Langfristige Auswirkungen frühkindlicher Erfahrungen.) https://cms.bps.org.uk/sites/default/files/styles/responsive/public/765/534/0/media/bowlby.jpg 14 BINDUNGSTHEORIE BOWLBY (1907-1990) GRUNDANNAHMEN  Theorie, nach der die emotionale Bindung eines Säuglings an seine Bezugsperson als evolutionär entstandene, dem Überleben dienende Reaktion betrachtet wird (Fürsorge und Schutz vor Gefahren und Fremdem)  Kernannahme: Organisation der Emotionen des Säuglings unterstützt durch mütterliche Feinfühligkeit wird zur Basis für die Entwicklung von Selbstwertgefühl und Beziehung zu anderen. https://cms.bps.org.uk/sites/default/files/styles/responsive/public/765/534/0/media/bowlby.jpg 15 BINDUNGSTHEORIE BOWLBY (1907-1990) GRUNDANNAHMEN Jedes Kind verfügt über angeborene Verhaltensweisen und Signale, die dafür sorgen sollen, dass Bezugspersonen in der Nähe bleiben und eine Bindung aufgebaut werden kann. → Umweltstabiler Aspekt Die Qualität der Bindung ist von den entstehenden kognitiven und emotionalen Fähigkeiten des Kindes und seinen sozioemotionalen Erfahrungen mit seinen Bezugspersonen geprägt. → Umweltvariabler Aspekt https://cms.bps.org.uk/sites/default/files/styles/responsive/public/765/534/0/media/bowlby.jpg 16 BINDUNGSTHEORIE BOWLBY (1907-1990) GRUNDANNAHMEN  Sichere Basis - Bowlbys Begriff dafür, dass die Anwesenheit einer vertrauten Bindungsperson dem Säugling oder Kleinkind ein Gefühl von Sicherheit bietet, das es ihm ermöglicht, die Umwelt zu erforschen. (Siegler et al., 2011)  Die Sichere Basis ist evolutionär adaptiv, dadurch dass durch Bindung die Überlebenschancen des Nachwuchses gesteigert werden.  Außerdem führt die Entwicklung eines primären Bindungssystems zur Vorlage für Bindungssysteme zu anderen Artgenossen im Laufe der individuellen Entwicklung (Innere Arbeitsmodelle) https://cms.bps.org.uk/sites/default/files/styles/responsive/public/765/534/0/media/bowlby.jpg 17 BINDUNGSTHEORIE BOWLBY (1907-1990) BINDUNG VS EXPLORATION  Antagonistisches Verhältnis zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten:  Ein Kind, das Bindungsverhalten zeigt und daher das Fürsorgeverhalten seiner Bezugspersonen auf sich lenken will, kann nicht gleichzeitig die Umwelt erkunden  Etwa zeitgleich mit der Entstehung der Bindung an spezifische Personen: Auftreten des Fremdelns  Mit Entstehen der Bindung Empfinden von Sicherheit bei vertrauten Personen. Unsicherheit und Ängste entstehen dagegen vor allem bei fremden Personen  Die Fremdelreaktion tritt umso stärker auf, je unähnlicher und unvertrauter die fremde Person dem Kind ist 18 BINDUNGSTHEORIE BOWLBY (1907-1990) GRUNDANNAHMEN  Bindungsverhaltenssystem wird vor allem in unangenehmen Situationen aktiviert  → Bindungsperson fungiert als externe Regulationshilfe und Quelle emotionaler Sicherheit  Bindungsverhalten ist gesteuert durch internale Arbeitsmodelle:  Beinhalten Wissen, Erwartungen und Vorstellungen hinsichtlich der Bindungspersonen und des eigenen Selbst  Dienen der Interpretation, Planung und Vorhersage von Interaktionen https://cms.bps.org.uk/sites/default/files/styles/responsive/public/765/534/0/media/bowlby.jpg 19 BINDUNGSTHEORIE BOWLBY (1907-1990) GRUNDANNAHMEN Die kindliche mentale Repräsentation des Selbst, der Bindungsperson(en) und der Beziehungen im Allgemeinen, die als Ergebnis von Erfahrungen mit den Bezugspersonen entstehen. Das Arbeitsmodell leitet die Interaktionen der Kinder mit den Versorgern und anderen Personen in der Kindheit und später. (Siegler et al., 2011) https://cms.bps.org.uk/sites/default/files/styles/responsive/public/765/534/0/media/bowlby.jpg 20 BINDUNGSTHEORIE BOWLBY Kind Bezugsperson Bindungsverhaltenssystem Fürsorgeverhaltenssystem  Wird aktiviert, wenn  Trost und Zuwendung der Kind sich verunsichert, Bezugsperson krank, ängstlich usw.  Bindungsverhalten des Kindes fühlt aktiviert die Umwelt  Kind sucht Nähe der  Unterstützung bei der Bezugsperson Kontaktaufnahme mit Gleichaltrigen 21 BINDUNGSTHEORIE BOWLBY ENTWICKLUNG VON BINDUNG Bindung entwickelt sich in vier Phasen Säugling richtet seine Signale ohne Unterschied an die Vorphase der Umwelt, lässt sich von jedem beruhigen. Bindung Angeborene Signale, z.B. Schreien stellen Kontakt zur Umgebung her, um getröstet zu werden (0-6 Wochen) Selektive Aufmerksamkeit und Vorlieben sind vorhanden. Entstehende Wunsch nach Nähe richtet sich langsam auf spezifische Bindung Personen. Kind wird aktiver, erweitert sein Repertoire an (6 Wochen – Bindungsverhaltensweisen 8 Monate) 22 BINDUNGSTHEORIE BOWLBY ENTWICKLUNG VON BINDUNG Kind sucht aktive Nähe (Hinsehen, Lächeln, Ausgeprägte Bindung Weinen) bei einigen Bezugspersonen (8 Monate – 18/24 beginnt die Mutter oder primäre Bezugsperson bei Abwesenheit zu vermissen (z.B. weint bei Monate) Trennung, Trennungsprotest). Differenzierungs- Reziproke Bindung entwickelt sich (Entwicklung der Sprache, mentale Repräsentationen) und Kind macht organisierte Bemühungen den Kontakt zu Integrierungsphase Bezugspersonen aufrecht zu erhalten. Mit wachsenden geistigen Fähigkeiten gewinnt das Kind durch (18 Monate – 24 Beobachtung und Erfahrung Einblick in die Motive, Gefühle und Interessen der Bindungspersonen und berücksichtigt diese, Monate und länger) wird kompromissfähig (Empathie ab ca. 3 Jahre). Ergebnis: Internales Arbeitsmodell der Bindung (mentale Repräsentation des Selbst im sozialen Kontext) 23 BINDUNGSTHEORIE MARY AINSWORTH  Führte naturalistische Beobachtungen von Eltern und Kindern in Uganda durch (1945)  Untermauerte Bowlbys Theorie mit empirischen Befunden  Entwickelte „Fremde-Situations-Test“ zur Erfassung der Bindungsqualität im frühen Kindesalter 24 BINDUNGSTHEORIE BINDUNGSQUALITÄT FREMDE-SITUATIONS-TEST  Durchführung typischerweise mit Kindern im Alter von 12-18 Monaten  In klassischer Version besteht Test aus mehreren Episoden, in denen die Reaktion eines Kindes auf die Trennung von seiner Bezugsperson und die anschließende Wiedervereinigung beobachtet wird.  Besonderer Fokus auf: Trennung- und Wiedervereinigungsphasen und Interaktion des Kindes mit fremder Person  4 charakteristische Bindungsmuster 25 26 BINDUNGSTHEORIE BINDUNGSQUALITÄT FREMDE-SITUATIONS-TEST Unsicher- Sichere vermeidende Bindung Bindung Unsicher- Desorganisiert- ambivalente desorientierte Bindung Bindung 27 BINDUNGSTHEORIE BINDUNGSQUALITÄT FREMDE-SITUATIONS-TEST Sichere Bindung:  Die Kinder nutzen die Bezugsperson wie eine sichere Basis („secure base“), von der aus sie ihre Explorationen starten und zu der sie bei Verunsicherungen wie in einen sicheren Hafen („safe haven“) zurückkehren  Kinder vermissen Bezugsperson und präferieren sie gegenüber fremder Person  Weinen kann auftreten  Fremde Person kann Kind nicht vollständig trösten  Freude bei Wiederkehr von der Bezugsperson & sofortiges Suchen von Nähe und Kontakt 28 BINDUNGSTHEORIE BINDUNGSQUALITÄT FREMDE-SITUATIONS-TEST Unsicher-vermeidende Bindung:  Kinder verhalten sich gegenüber Bezugsperson indifferent  Bei einer Trennung erscheinen sie äußerlich kaum beunruhigt und zeigen kaum Kummer.  Sie verhalten sich gegenüber der fremden Person unauffällig  Sie meiden die Nähe und Interaktion mit der Bezugsperson bei der Wiedervereinigung. 29 BINDUNGSTHEORIE BINDUNGSQUALITÄT FREMDE-SITUATIONS-TEST Unsicher-ambivalente Bindung  Vor der Trennung suchen die Kinder die Nähe der Bezugsperson und zeigen wenig Explorationsverhalten  Wenn die Bezugsperson nach einer Trennungsphase zurückkehrt, zeigen sie ein wütendes oder ärgerliches Verhalten ihr gegenüber. Viele weinen weiter, auch nachdem sie von der Bezugsperson hochgehoben wurden, und lassen sich kaum trösten.  Sie reagieren wütend oder passiv, wenn sie mit der fremden Person allein gelassen wurden 30 BINDUNGSTHEORIE BINDUNGSQUALITÄT FREMDE-SITUATIONS-TEST Desorganisiert-desorientierte Bindung:  Kinder zeigen widersprüchliche Verhaltensmuster, die keinem der anderen Bindungsmuster entsprechen.  Auch ungewöhnliche und bizarre Verhaltensmuster (z. B. Einfrieren von Bewegungen, unvollständige Bewegungsmuster, Verhaltensstereotypien) sind hier einzuordnen. 31 BINDUNGSTHEORIE DAS KONZEPT DER „FEINFÜHLIGKEIT“  Meist auch „mütterliche Feinfühligkeit“  Definition: Fähigkeit, die kindlichen Signale wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren und prompt und angemessen darauf zu reagieren (Ainsworth et al., 1974, 1978)  Feinfühligkeit steht in Zusammenhang mit vielen positiven Verhaltensweisen des Babys (weinen seltener, zeigen weniger Ärger, sind ausdauernder)  Signifikanter Zusammenhang zwischen Feinfühligkeit und Bindungssicherheit:  Kinder mit feinfühligen Müttern bilden ein Arbeitsmodell der Mutter als responsiv und verfügbar aus  ¾ Kinder mit nicht feinfühligen Müttern bilden ein Arbeitsmodell der Mutter als zurückweisend und nicht verfügbar aus 32 BINDUNGSTHEORIE MERKMALE DER „FEINFÜHLIGKEIT“ 33 BINDUNGSTHEORIE URSACHEN FÜR DAS ENTSTEHEN VERSCHIEDENER BINDUNGSMUSTER Sichere Bindung:  Bezugspersonen reagieren feinfühlig auf die Verhaltenssignale des Kindes  Kind macht die Erfahrung, dass die Umgebung verlässlich ist, was zu einem Gefühl von Sicherheit führt  Bezugspersonen fungieren als „sicherer Hafen“, zu dem Kind jederzeit zurückkommen kann, um seine Bedürfnisse befriedigt zu bekommen 34 BINDUNGSTHEORIE URSACHEN FÜR DAS ENTSTEHEN VERSCHIEDENER BINDUNGSMUSTER Unsicher-vermeidende Bindung:  Eltern reagieren wenig auf das Nähebedürfnis des Kindes, unterstützen dafür den Erkundungsdrang (Autonomie, Selbstständigkeit) zu sehr  Kinder haben gelernt, ihr Nähebedürfnis in unsicheren, neuen, stressigen Situationen nicht mehr zu zeigen.  Obwohl ihr Verhalten so aussieht, als sei es ihnen egal, sind diese Kinder gestresster (Cortisolmessung) als sicher gebundene Kinder in neuen Situationen.  Das Bindungssystem ist unterdrückt ('Vermeidung im Dienste der Nähe'), dafür ist das Explorationssystem zu stark aktiviert. 35 BINDUNGSTHEORIE URSACHEN FÜR DAS ENTSTEHEN VERSCHIEDENER BINDUNGSMUSTER Unsicher-ambivalente Bindung:  Eltern unterstützen den Explorationsdrang des Kindes nicht: Kind fühlt sich schnell in neuer Situation unwohl und gestresst, kann sich nicht gut lösen  schnell alarmierte Kinder, Bindungssystem ist leicht aktivierbar  kaum Beruhigung durch Körperkontakt möglich  Explorationssystem wenig aktiviert 36 BINDUNGSTHEORIE URSACHEN FÜR DAS ENTSTEHEN VERSCHIEDENER BINDUNGSMUSTER Desorganisiert-desorientierte Bindung:  Kann (muss aber nicht) auf besonders ungünstige Interaktionserfahrungen (besonders ängstliches oder beängstigendes Verhalten der Bezugsperson oder im Extremfall sogar Missbrauchserfahrungen) hinweisen.  Inzwischen Reihe von Hinweisen auf individuelle (auch genetische) Dispositionen für die Entwicklung einer desorganisiert-desorientierten Bindung (Lyons-Ruth und Jacobvitz 2008). 37 BINDUNGSTHEORIE BINDUNGSTYPEN - LANGZEITEFFEKTE Sichere Bindung korreliert mit:  Positivere Beziehung zu Gleichaltrigen  Bessere Soziale Skills  Besseres Verständnis für Emotionen anderer  Prosoziales Verhalten: Teilen  Weniger aggressives antisoziales Verhalten  Engere Freundschaften  Soziale Beliebtheit  Schulerfolg → NUR Korrelationen!!! 38 BINDUNGSTHEORIE HÄUFIGKEIT UND STABILITÄT VON BINDUNGSMUSTERN → ABER: die Bindungssicherheit kann sich ändern, wenn sich die Umwelt verändert. → ABER: deutliche kulturelle Unterschiede! 39 BINDUNGSTHEORIE LANGZEITSTABILITÄT DER BINDUNGSMUSTER  Großmann et al. konnten zeigen, dass der Bindungstyp in einer Langzeitstudie von 12 Monaten bis 5 Jahre bei ca. 80 % der Kinder konstant ist.  Verhalten im Alter von 6 Jahren nach einstündiger Trennung (Main & Cassidy, 1988)  Typ „sicher“: gesprächsbereiter, interaktionsinteressiert, offen  Typ „unsicher-vermeiden“: wenig Begrüßungsverhalten, abgewandt  Typ „unsicher-ambivalent“: übertriebene Kleinkindhaftigkeit, dramatisierte Interaktionswünsche  Typ „desorganisiert-desorientiert“: stark kontrollierendes Verhalten  72% wiesen in einer Längsschnittstudie über 20 Jahre eine Bindungsstabilität auf (Waters et al., 2000)  aber auch Studien, die keinen entsprechenden Zusammenhang finden (Becker- Stoll, 1997)  dabei: häufig Mittelschichtskinder, wenig Beziehungsveränderungen 40 BINDUNGSTHEORIE LANGZEITSTABILITÄT DER BINDUNGSMUSTER  Recht hohe Stabilität der Bindungsmuster über die Zeit hinweg  Aber: Häufig Studien in Mittelschichtfamilien, bei denen sich die Familienstrukturen über die Zeit hinweg wenig verändert haben  Unsichere Bindungen sollten nicht überdramatisiert werden: Grundsätzlich können Kinder zu mehreren Bezugspersonen Bindungen entwickelt, auch wenn es häufig eine Hauptbezugsperson gibt  Konsequenz: Kinder, die bei einer Person unsicher gebunden sind, sind nicht auch zwangsläufig bei einer anderen Person unsicher gebunden. Daher ergeben sich teilweise Kompensationsmöglichkeiten 41 BINDUNGSTHEORIE ALTERNATIVE TESTUNGEN 42 BINDUNGSTHEORIE ALTERNATIVE TESTUNGEN Q-SORT-VERFAHREN  Set von 90 Items, die zuvor durch eine Expertengruppe hinsichtlich das Ausmaßes eingeschätzt wurden, in dem sie sichere bzw. unsichere Bindung repräsentieren  Verhaltensbeobachtung des Kindes und Einschätzung des Kindes mit dem Itemset  Vergleich mit den Expertenbeurteilungen: Je häufiger Items zur Einschätzung des Kindes genutzt wurden, die Bindungssicherheit repräsentieren, desto höher ist der Wert, den das Kind für Bindungssicherheit erhält  Einschätzung der Items sowohl durch Beobachter als auch durch die Bezugspersonen möglich 43 BINDUNGSTHEORIE ALTERNATIVE TESTUNGEN Q-SORT-VERFAHREN Vorteile:  Vermeidung emotionaler Belastungen aufseiten des Kindes  Möglichkeit, verschiedene Beurteilerperspektiven zu berücksichtigen  Ähnliche Ergebnisse wie beim Fremde-Situations-Test Nachteile:  Nur Differenzierung zwischen sicherer und unsicherer Bindung  Keine Beobachtung des Verhaltens in Belastungssituation 44 BINDUNGSTHEORIE BINDUNGSMODELLE BEI ERWACHSENEN  Arbeitsmodelle von Bindung im Erwachsenenalter, von denen man annimmt, dass sie auf den Wahrnehmungen der eigenen Kindheitserfahrungen – besonders der Beziehung zu den Eltern – sowie auf der Wahrnehmung des Einflusses dieser Erfahrungen auf das Erwachsenenalter basieren. (Siegler et. al., 2011) 45 BINDUNGSTHEORIE ERHEBUNG DER BINDUNGSQUALITÄT IM ERWACHSENENALTER „Adult Attachment Interview“ (AAI)  Retrospektive Erhebung der Erinnerungen von Erwachsenen an ihre Kindheitsbindungen (z. B. Erinnerung an Trennungssituationen, an Zurückweisungen etc.).  Bindungsmuster:  Die autonome bzw sichere Bindung  Die abweisende Bindung  Die verstrickte Bindung  Die ungelöst-desorganisierte Bindung https://encrypted- tbn3.gstatic.com/images?q=tbn:ANd9GcRtHs_JYwE1iZ6ZByXsbSakah0DWdtBweRmnye6UKKLp1oJFtfH 46 BINDUNGSTHEORIE ERHEBUNG DER BINDUNGSQUALITÄT IM ERWACHSENENALTER  Erhöhte Wahrscheinlichkeit einer transgenerationalen Weitergabe von Bindungserfahrungen: Das, was die Eltern in ihrer Kindheit erlebt haben, geben sie häufig auch in den Interaktionen mit ihren eigenen Kindern weiter  Den frühen Bindungserfahrungen eines Kindes kann Bedeutung zukommen für die spätere soziale und auch kognitive Entwicklung:  Beeinflussung späterer Sozialbeziehungen durch die früheren Bindungserfahrungen, die im inneren Arbeitsmodell gespeichert sind  Beeinflussung der kognitiven Entwicklung durch die höhere Bereitschaft zur Exploration bei sicherer Bindung 47 BINDUNGSTHEORIE EINFLUSSFAKTOREN BINDUNGSQUALITÄT  Autonom-sichere Eltern: offener, glaubwürdiger und kohärenter Bericht  Abwertende Eltern: Idealisierung oder Abwertung; keine genaue Beschreibung möglich  Ambivalente/verstrickte Eltern: widersprüchlicher, nicht kohärenter Bericht  Ungelöste Eltern: merkwürdige Entgleisungen, keine Verarbeitung der Beziehungserfahrungen (häufig Trauma zugrunde liegend)  Bindungsrepräsentation der Hauptbindungsperson hat eine relativ hohe Übereinstimmung mit der Bindungssicherheit des Kleinkindes  Erklärung: die mentalen Bindungsrepräsentationen der Bezugsperson beeinflussen deren Fürsorgeverhalten und haben somit direkten Einfluss auf die Feinfühligkeit 48 BINDUNGSTHEORIE BINDUNGSTYPEN DER ELTERN 49 BINDUNGSTHEORIE HÄUFIGKEIT UND STABILITÄT VON BINDUNGSMUSTERN Was sagt Stabilität der Bindung vorher?  Kinder, die sich von einem unsicheren zu einem sicheren Bindungsmuster hin entwickeln, haben typischerweise gut angepasste Mütter, die positive Beziehungen haben.  Kinder aus Familien mit niedrigen Einkommen, in denen Stresssituationen an der Tagesordnung sind, entwickeln sich für gewöhnlich weg von einem sicheren Bindungsmuster, hin zu einem unsicheren oder anderen Bindungstyp.  Insgesamt behalten sicher gebundene Kinder diese Bindungsqualität häufiger bei als unsichere.  Ausnahme: desorganisierte Bindung behält über das zweite Lebensjahr hinweg eine höhe Stabilität. 50 BINDUNGSTHEORIE KULTURELLE KERNANNAHMEN 1. Universalität: alle Kinder entwickeln eine Bindung an eine Bezugsperson, wenn eine solche vorhanden ist 2. Balance von Bindungssicherheit und Exploration: Ist das Bindungssystem aktiv, dann ist das Explorationssystem inaktiv und umgekehrt 3. Normativität: Das sichere Bindungsmuster ist die Norm, d.h. die am häufigsten vorkommende Bindungsqualität 4. Feinfühligkeit: Unterschiede in der mütterlichen Feinfühligkeit führen zu qualitativen Unterschieden in der Bindungsqualität 5. Kompetenz: Sichere Bindung führt zu kompetenterer Bewältigung von Entwicklungsaufgaben 51 BINDUNGSTHEORIE KULTURELLE UNTERSCHIEDE  It takes a village to raise a child (Kamerun)  Nso-Bauern in Kamerun  Kinder wachsen unmittelbar mit vielen Geschwistern, Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen sowie ihren Großeltern auf (Yovsi et al., 2009)  Kinder haben eine Vielzahl von Personen zur Verfügung, die sich um die Bedürfnisse des Kindes kümmern, trösten und helfen.  Eine Hierarchie von wenigen Bezugspersonen lässt sich im dörflichen Kontext nicht finden (Otto, 2008).  Beng Elfenbeinküste  Kind wird am Tag der Geburt vom ganzen Dorf begrüßt, indem es von einem Arm zum nächsten gereicht wird und so alle potentiellen Bezugspersonen gleich am Tag der Geburt kennen lernt (Gottlieb, 2004).  Kleinkinder gehen offen und interessiert auf neue Personen zu 52 BINDUNGSTHEORIE KULTURELLE UNTERSCHIEDE  Nso: häufigste kindliche Bindungsstrategie ein extrem passives und emotionsloses Verhalten, das aus Sicht der traditionellen Bindungstheorie auf eine wenig adaptive Strategie hinweisen würde  Mütter schätzen diese Passivität der Kinder jedoch, da ruhige Kinder problemlos von verschiedenen Bezugspersonen betreut werden können und dadurch ihren Müttern ermöglichen, ihrer alltäglicher Arbeit nachzugehen  Ideal eines ruhigen und emotionslosen Kindes:  Friedl (1997) berichtet dies von einer iranischen Volksgruppe, Howrigan (1988) von den Maya in Yucatan und Broch (1990) für Einwohner Indonesiens.  Auch andere Studien berichten Befunde, die gegen eine Normativität der sicheren Bindung sprechen. Kindliches Bindungsverhalten stellt immer auch ein Sozialisationsergebnis dar, das von kulturspezifischen Wertesystemen geprägt ist. 53 BINDUNGSTHEORIE KRITIK  Keine kulturübergreifende Gültigkeit  Unklare Rolle der Temperamentsfaktoren  Überbetonung des Konzepts der Feinfühligkeit  Unklare Abgrenzung zwischen „Bindung“ und „Beziehung“  Testungen:  Fremde-Situation-Test Stress für Kind und Bezugsperson  Einmalige Testsituation wenig aussagekräftig  AAI: Repräsentationen retrospektiv zu erfassen birgt Fehlerquellen  Anforderungen einer „guten Mutter“/ guten Bezugsperson lösen Druck aus  Nach wie vor fast nur Untersuchungen mit Müttern 54

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