Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht (HWS 2023/2024) PDF

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Universität Mannheim

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz

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German constitution constitutional law political science

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This document is lecture notes on German constitutional law, focusing on state organization and democracy. It covers topics like the meaning of state power and different types of governing systems. This is part of a higher level course.

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Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 § 2 Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen Art. 20 I GG normiert die sog. verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen (auch Staatsstrukturprinzipien genannt). Danach ist Deutschland ein/eine ▪ Bundesstaat („Bundes...

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 § 2 Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen Art. 20 I GG normiert die sog. verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen (auch Staatsstrukturprinzipien genannt). Danach ist Deutschland ein/eine ▪ Bundesstaat („Bundesrepublik Deutschland“, „Bundesstaat“), ▪ Republik („Bundesrepublik Deutschland“), ▪ Demokratie („demokratischer ... Bundesstaat“) und ▪ Sozialstaat („sozialer Bundesstaat“) A. Demokratie I. Staatsformenmodelle Aristotelische Staatsformlehre Entartete Form Monarchie (Herrschaft einer Person) ▪ absolut (rechtlich nicht gebunden) ▪ konstitutionell (verfassungsrechtlich beschränkt) ▪ parlamentarisch (Staatsgewalt liegt beim Volk und wird durch Parlament ausgeübt) Despotie (Tyrannis) Aristokratie (Herrschaft einer Elite) Oligarchie („Cliquenherrschaft“) Demokratie (Herrschaft des Volkes) Ochlokratie ▪ unmittelbar → mittelbar/repräsentativ, d.h. durch ge- („Pöbelherrschaft“) wählte Repräsentanten ▪ parlamentarisch → präsidentiell, d.h. Präsident wird vom Volk gewählt und nicht vom Parlament Seite 16 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 II. Ausgestaltung des Demokratieprinzips durch das GG 1. Demokratie und Volkssouveränität ▪ Demokratie = Herrschaft des Volkes. Entsprechend normiert Art. 20 II 1 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ ▪ Begriff der Staatsgewalt ➢ = Herrschaftsmacht des Staates über Menschen (Bürger bzw. Einwohner) und Sachen (s. hierzu bereits oben sub § 1 A. II. 2.). ➢ = „jedenfalls alle amtlichen Handlungen mit Entscheidungscharakter“ (BVerfGE 83, 60 [73]; 93, 37 [68]); Einseitigkeit der Entscheidung als prägendes Merkmal. ▪ Da diese Staatsgewalt gem. Art. 20 II 1 GG vom Volke auszugehen hat (Prinzip der Volkssouveränität), ist sie keine Herrschaft der Regierenden aus eigenem Recht, sondern muss sich auf das Volk zurückführen lassen. ▪ Volk ➢ = Gesamtheit aller Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder diesen Personen gleichgestellt sind – vgl. Art. 116 GG (BVerfGE 83, 37 [50 ff.]), also nicht ausländische Staatsangehörige oder Staatenlose ➢ Begründung für diese Beschränkung: • rechtlich: geltendes Verfassungsrecht • politisch: Verknüpfung der Mitgliedschaftsrechte und Mitgliedschaftspflichten (z.B. Wehrpflicht) • (Gegenargument: „No taxation without representation“ – für Steuerpflicht ist Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt maßgeblich, nicht Staatsangehörigkeit – vgl. § 1 I 1 EStG) • Beachte zudem: Unionsbürger (Art. 20 AEUV) genießen - Kommunalwahlrecht (Art. 28 I 3 GG, Art. 20 II lit. b, 22 I AEUV) und - Wahlrecht zum Europäischen Parlament (Art. 20 II lit. b, 22 II AEUV). ➢ Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht (Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913) stellt dabei ab auf: • Abstammungsprinzip (ius sanguinis). Voraussetzung: Mindestens ein Elternteil besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit (§ 4 I StAG). • Geburtsortprinzip (ius soli). Voraussetzung: ein Elternteil hat seit 8 Jahren Aufenthalt im Inland + unbefristetes Aufenthaltsrecht (§ 4 III StAG). • Annahme als Kind durch Deutschen (§ 6 StAG) • Spätaussiedler (§ 7 StAG) • Einbürgerung (§ 8, 10, 12 StAG) ➢ Schutz vor Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit: Art. 16 I GG Seite 17 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 2. Repräsentative Demokratie ▪ GG beschränkt und mediatisiert Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk. ▪ Art. 20 II 2 GG: „Sie (d.i. die Staatsgewalt) wird vom Volke in Wahlen (= Personalentscheidungen) und Abstimmungen (= Sachentscheidungen) und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ ▪ Hieraus folgt: ➢ Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk beschränkt sich auf „Wahlen und Abstimmungen“. ➢ Die konkrete Ausübung der Staatsgewalt erfolgt sodann durch Repräsentationsorgane (Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt, Rechtsprechung). ▪ Das GG verwirklicht damit das Modell einer „repräsentativen Demokratie“. 3. Unmittelbare Demokratie? Fall: Um der zunehmenden Politikverdrossenheit in der Bevölkerung entgegenzuwirken, beschließen Bundestag und Bundesrat mit der erforderlichen 2/3 Mehrheit (vgl. Art. 79 II GG) eine Verfassungsänderung, mit der die Möglichkeit eines Volksbegehrens und Volksentscheids in das GG eingefügt wird. Wäre eine solche Verfassungsänderung zulässig? Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 2) ▪ Verfassungsänderungen des verfassungsändernden Gesetzgebers (pouvoir constitué) sind am Maßstab des Art. 79 III GG zu messen. ▪ Hiernach dürfen die in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze nicht verändert werden. ▪ Allerdings resultiert aus Art. 20 II 2 GG nicht ein Grundsatz des Inhalts, dass jede Form der Ausübung von Staatsgewalt durch die in Art. 20 II 2 GG genannten Organe mediatisiert sein müsste. ▪ Art. 20 II 2 GG lässt vielmehr ausdrücklich eine Ausübung der Staatsgewalt auch durch „Abstimmungen“ zu. ▪ Einführung sog. „plebiszitärer Elemente“ (Volksbegehren, Volksentscheid) in das GG wäre deshalb mit Art. 79 III GG vereinbar. Das GG kennt auch vereinzelt solche „plebiszitären Elemente“ (Art. 29 i.V.m. Art. 118 und Art. 118a GG). ▪ Zahlreiche Landesverfassungen enthalten im Übrigen solche Möglichkeiten der unmittelbaren demokratischen Partizipation (vgl. z.B. Art. 26 V bwLVerf; Art. 73, 74 bayLVerf). ▪ Ob Plebiszite schon nach geltendem Verfassungsrecht des Bundes zulässig sind, ist str., i.Erg. jedoch abzulehnen (mangelnde Bestimmtheit des Art. 20 II 2 GG). Zur Vertiefung: Maurer, Staatsrecht I, § 7 Rn. 31 ff.; Kühling, JuS 2009, 777 ff. Seite 18 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 4. Demokratische Legitimation ▪ Da alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, sie von diesem jedoch in Wahlen und – mediatisiert – durch besondere Organe ausgeübt wird, ist es im Grundsatz erforderlich, dass sich Entscheidungen dieser Organe in einer ununterbrochenen demokratischen Legitimationskette auf das Volk zurückführen lassen müssen. ▪ Man unterscheidet dabei die: ➢ Institutionelle demokratische Legitimation = die Legitimation der Staatsorgane (Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung etc.) durch das GG selbst (auf eine solche Legitimation kann sich die BNetzA im Fall als sog. Bundesoberbehörde nicht berufen). ➢ Personelle demokratische Legitimation = Zurückführung der persönlichen Legitimation des handelnden Amtswalters auf die Wahlentscheidung des Volkes (P z.B. verfügt über eine solche personelle demokratische Legitimation, da er vom Bundeswirtschaftsminister berufen wird und seine Ernennung damit letztlich auf die Wahlentscheidung des Volkes zurückgeführt werden kann). ➢ Sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation = Legitimation des Inhalts der Staatstätigkeit, welche sich im Regelfall • einerseits durch die vom Parlament erlassenen und von der Verwaltung vollzogenen Gesetze vermittelt und • andererseits durch das (Einzel-)Weisungsrecht und die Fach- wie Rechtsaufsicht der vorgeordneten Behörde sichergestellt wird. ▪ Liegen alle drei Formen der Legitimation oder zumindest die personelle und sachlich-inhaltliche Legitimation vor, dann ist die demokratische Legimitationskette zum Wahlvolk hergestellt. ▪ Problematisch sind diejenigen Fälle, in denen es an einer Stelle zum „Bruch“ der Kette kommt. Dann muss dieser Bruch durch andere verfassungsrechtliche Normierungen „geheilt“ werden (Prinzip der Einheit der Verfassung). Fall: Die Deutsche Post AG beantragt bei der hierfür zuständigen Bundesnetzagentur (BNetzA) die Genehmigung für einen neuen Briefbeförderungstarif. Hiernach soll die Beförderung herkömmlicher Briefsendungen bis 20g fortan nicht mehr 0,55 €, sondern 0,58 € betragen. Begründet wird dies mit höheren Energiepreisen und Personalkosten. Der Präsident der BNetzA (P) gibt zu erkennen, dass er die Genehmigung alsbald erteilen wird. In der Öffentlichkeit, aber auch im Bundestag ist man hierüber verstimmt. Aufgrund des medial vermittelten „öffentlichen Drucks“ weist der Bundeswirtschaftsminister P deshalb an, den beantragten Tarif nicht zu genehmigen. P ist hierüber empört, da es sich nach seiner Auffassung bei der BNetzA um eine „autonome Behörde“ handelt, die keinem Weisungsrecht des Ministers unterstehe. Ist diese Sichtweise des P mit Art. 20 II GG vereinbar? Wie könnte P seiner Empörung prozessual Luft verschaffen? Seite 19 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 3) ▪ An sich muss dem Bundeswirtschaftsminister ein (Einzel-)Weisungsrecht gegenüber dem Präsidenten der BNetzA zustehen. ▪ Im Hinblick auf Art. 87f GG und Art. 143a GG wird insoweit die Auffassung vertreten, dass die BNetzA inhaltlich weisungsunabhängig sein müsse (vergleichbar der Bundesbank bzw. EZB – vgl. Art. 88 GG), um in einem ehemaligen Monopolbereich (Post) effektiven Wettbewerb gewährleisten zu können (sehr streitig; Gesetzgeber sieht dies anders – vgl. § 44 PostG i.V.m. § 117 TKG). ▪ Was wäre, wenn die Weisungsfreiheit auf supranationalem Recht beruhte? Zur Vertiefung: Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009, 803 ff.; Geis, Examens-Repetitorium Staatsrecht, S. 3 ff. und BVerwG, ZUM 2021, 70 ff. (Unabhängigkeit der Landesmedienanstalten) und BVerfGE 151, 202 ff. – Europäische Bankenunion (lesen!): 1. Bei der Europäisierung der nationalen Verwaltungsorganisation und der Errichtung von unabhängigen Einrichtungen und Stellen der Europäischen Union bedarf es eines Mindestmaßes an demokratischer Legitimation und Kontrolle (Art. 23 I 3 i.V.m. Art. 79 III i.V.m. Art. 20 I und II GG). 2. Art. 20 I und II GG ist offen für begrenzte Modifikationen der demokratischen Legitimationsvermittlung, durch die Einflussknicke kompensiert werden können. Das gilt insbesondere für eine effektive gerichtliche Kontrolle oder Kontrollrechte, die dem Parlament spezifische Einflussmöglichkeiten auf Behörden vermitteln und es in die Lage versetzen, eine Letztkontrolle durch eine Änderung oder Aufhebung der Rechtsgrundlagen auszuüben. 3. Eine Absenkung des demokratischen Legitimationsniveaus ist nicht unbegrenzt zulässig und bedarf der Rechtfertigung. Die Errichtung unabhängiger Agenturen der Europäischen Union begegnet vor diesem Hintergrund keinen grundsätzlichen Einwänden, bleibt aber aus Sicht des Demokratiegebots prekär. Seite 20 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Bundeskanzler Bundesminister Wahl Amtswalter Bundestag Kreationsakte Wahl Verantwortlichkeit Benennung Volk (Art. 116 I GG) Weisungsrecht 5. Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz ▪ Zum Wesen der Demokratie gehört das Mehrheitsprinzip, welches in heterogenen Gesellschaften gestalterische, in die Zukunft wirkende Entscheidungen überhaupt erst möglich macht. ▪ Das Mehrheitsprinzip ist für die (unterlegene) Minderheit allerdings nur solange und soweit erträglich, wie die Befugnis zur Ausübung der Staatsgewalt auf Zeit vergeben wird, wodurch die momentane Minderheit zumindest die Option erhält, künftig einmal die Mehrheit bilden zu können. ▪ Demokratie bedeutet deshalb stets Ausübung von Staatsgewalt auf Zeit. ▪ Zudem wird die Minderheit durch Verfahrens- und Kontrollrechte geschützt. Hierzu zählen etwa: Seite 21 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 ➢ Abstimmungsquoren bei bedeutenden Fragen (z.B. Verfassungsänderungen – s. Art. 79 II GG) ➢ Partizipationsrechte am politischen Willensbildungsprozess (z.B. Antrags- und Rederechte im Parlament; Recht auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses – vgl. Art. 44 GG) ➢ Anspruch auf Anrufung des Bundesverfassungsgerichts zur Kontrolle von Mehrheitsentscheidungen (vgl. Art. 93 GG) ➢ Parlamentarische Frage- und Informationsrechte (aktuelle Rechtsprechung: BVerfG NVwZ 2018, 51 ff. mit Bezug zur Deutschen Bahn AG und Finanzmarktaufsicht) ▪ Im Übrigen wird die Ausübung der Staatsgewalt durch die Grundrechte beschränkt (vgl. Art. 1 III GG). Grundrechte verwirklichen deshalb ebenfalls einen Minderheitenschutz. Sie sind „Minderheitenrechte“ par excellence! Zur Vertiefung: Pieroth, Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes, JuS 2010, 473 ff. B. Republik Fall: Um der wachsenden Entfremdung der Bürger von der Bundesrepublik Deutschland entgegenzuwirken, beschließen Bundestag und Bundesrat mit der hierfür erforderlichen Mehrheit die Änderung des Grundgesetzes dahingehend, dass statt des Bundespräsidenten ab sofort ein Monarch die Bundesrepublik Deutschland nach außen wie innen repräsentieren soll. Man erhofft sich hierdurch eine stärkere Identifikation der Bürger mit ihrem Staatsoberhaupt und damit mit dem Gemeinwesen. Wäre eine solche Verfassungsänderung mit dem Grundgesetz vereinbar? Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 4) ▪ Art. 79 III GG verbietet Verfassungsänderungen, welche die in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze berühren. ▪ Zu diesen Grundsätzen gehört gem. Art. 20 I GG auch das Staatsstrukturmerkmal „Republik“. ▪ Das verfassungsrechtliche Bekenntnis zur Republik beinhaltet die Absage an das Staatsmodell der Monarchie und letztlich eine Absage an jegliche Alleinherrschaft und Diktatur. ▪ Das Staatsstrukturmerkmal bringt vielmehr das Bekenntnis für eine freiheitlich-demokratische Verfassungsordnung zum Ausdruck. ▪ Auch das Staatsstrukturmerkmal der Republik verbürgt deshalb das Prinzip der Herrschaftsvergabe auf Zeit. Seite 22 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 C. Gewaltenteilung I. Sinn und Zweck der Gewaltenteilung ▪ Art. 20 II 2 GG verwirklicht den Grundsatz der Gewaltenteilung, indem die Ausübung der Staatsgewalt auf Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung übertragen wird. ▪ Neben dieser sog. „horizontalen Gewaltenteilung“ (auf Bundes- bzw. Landesebene) unterscheidet man die sog. „vertikale Gewaltenteilung“ zwischen der Bund-Länder-Ebene. Diese ist Folge des Bundesstaatsprinzips (dazu nachfolgend D.). ▪ Man unterscheidet: ➢ Organisatorische Gewaltenteilung (Art. 20 II 2 GG) und ➢ Personelle Gewaltenteilung (z.B. Art. 137 I GG – Inkompatibilitäten) ▪ Der Gewaltenteilung kommen folgende Funktionen zu: ➢ Rechtsstaatliche Funktion: Verteilung staatlicher Macht auf verschiedene Organe, die sich in ihrer (geteilten) Machtausübung gegenseitig kontrollieren bzw. hemmen => Verhinderung von Machtkonzentration und daraus resultierendem Machtmissbrauch durch ein System von „Checks and Balances“ ➢ Demokratische Funktion: Repräsentation von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen im staatlichen System (vor allem im Bundestag) ➢ Funktion der Arbeitsteilung und Effizienzsteigerung (Wahrnehmung der Aufgabe durch das jeweils „funktionsadäquateste“ Organ) II. Trennung der Staatsfunktionen Art. 20 II 2 GG unterscheidet 3 Staatsfunktionen: 1. Legislative (Gesetzgebung) ▪ Gesetzgebung = Rechtsetzung/Normsetzung, i.d.R. in Form abstrakt-genereller Sollensanordnungen ▪ Parlament ist hierfür demokratisch legitimiert. ▪ Parlamentarischer Gesetzgebung kommt politische Leitfunktion zu. 2. Exekutive (vollziehende Gewalt) ▪ Begriff „vollziehende Gewalt“ umfasst Regierungshandeln (Gubernative i.S.v. Staatsleitung) und Verwaltung (i.S.v. Gesetzesvollzug gegenüber dem Bürger). ▪ Begriff „vollziehende Gewalt“ lässt sich positiv kaum definieren. Deshalb greift ein negatives Begriffsverständnis („Subtraktionsmethode“): => vollziehende Gewalt ist alles, was nicht Gesetzgebung und Rechtsprechung ist (Georg Jellinek). Seite 23 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 3. Judikative (Rechtsprechung) ▪ Rechtsprechung obliegt (wie Verwaltung) Anwendung der Gesetze. ▪ Rechtsprechung = autoritative und damit verbindliche Entscheidung in Fällen bestrittenen oder verletzten Rechts in einem besonderen, durch Unabhängigkeit und Neutralität der entscheidenden Instanz gekennzeichneten Verfahren ▪ Rechtsprechung ist jedoch nicht bloßer „Subsumtionsautomatismus“. Die Judikative darf das Recht fortbilden/weiterentwickeln (auch durch anerkannte methodische Figuren wie die Analogie, die teleologische Reduktion und die richterliche Rechtsfortbildung). III. Zuweisung der Staatsfunktionen an besondere Organe ▪ Art. 20 II 2 GG weist die Staatsfunktionen „besonderen Organen“ zu: ➢ Gesetzgebung → Bundestag und Bundesrat (vgl. Art. 50 u. 77 I GG) ➢ vollziehende Gewalt → Bundesregierung und (Bundes- sowie Landes-)Verwaltung und Kommunen (vgl. Art. 28, 62 u. 83 ff. GG) ➢ Rechtsprechung → Gerichte (vgl. Art. 92 GG) ▪ Im Einzelfall kann die Zuweisung von Staatsfunktionen an die jeweiligen Organe allerdings Schwierigkeiten bereiten: Fall 1: In Vollzug des sog. „NATO-Doppelbeschlusses“ beabsichtigt die Bundesregierung, der Stationierung US-amerikanischer Marschflugkörper (Pershing II), die mit Nuklearsprengköpfen bestückt sind, auf deutschem Hoheitsgebiet zuzustimmen. Die Opposition im Bundestag ist der Auffassung, dass es für eine so weitreichende politische Entscheidung der Zustimmung des Bundestags bedarf. Was ist von dieser Auffassung zu halten? Wie kann „die Opposition“ ihre Rechtsauffassung auf den gerichtlichen Prüfstand stellen? (vgl. BVerfGE 68, 1 ff. – zur Vertiefung: Müller-Terpitz, in: Menzel/Müller-Terpitz [Hrsg.], Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 391 ff.) Fall 2: Seite 24 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Im Rahmen einer auf Art. 6 I GG gestützten Verfassungsbeschwerde kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, dass der Bundesgesetzgeber Familien durch das geltende Steuerrecht nicht ausreichend unterstütze. Insbesondere wird die zu geringe Höhe der Freistellung des Existenzminimums von Kindern bemängelt. Das BVerfG gibt dem Bundesgesetzgeber deshalb auf, im Steuerrecht künftig einen steuerlichen Freibetrag von 24.000 EUR pro Kind vorzusehen. Zudem weist das BVerfG die Richter an, das Kindergeld deutlich zu erhöhen, um die finanzielle Situation der Familien in Deutschland „nachhaltig zu verbessern“. Was ist von dieser Entscheidung zu halten? Quis custodiet custodes? Fall 3: Vor dem Hintergrund, dass Abtreibungen innerhalb der ersten 12 Wochen kaum noch als gesetzliches Unrecht oder gar als moralisch verwerflich angesehen werden, beschließt der Bundestag die Aufhebung des § 218 StGB. Abtreibungen sollen fortan nur noch als Ordnungswidrigkeiten (= Verwaltungsunrecht) durch die örtlich zuständigen Gesundheitsämter der Gemeinden geahndet werden. Wäre ein solches Gesetz verfassungsgemäß? Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 5) Fall 1: Gem. Art. 32 I ist die Pflege auswärtiger Beziehungen Sache des Bundes (Verband) und nach st. Rspr. organschaftlich der Exekutive (Bundesregierung) zugewiesen (Arg.: funktionsadäquates Organ, um flexibel und schnell auf auswärtige Angelegenheiten reagieren zu können. Demgegenüber gibt es keinen sog. Totalvorbehalt des Parlaments in allen politisch wichtigen Angelegenheiten. Vielmehr muss die organschaftliche Zuständigkeit den Normen der Verfassung entnommen werden; sie liegt – wie gesehen – im Fall bei der Exekutive. Die Auffassung der Opposition im Bundestag trifft deshalb nicht zu. Gerichtlich könnte die Opposition ihr Begehren durch ein Organstreitverfahren (Art. 93 I Nr. 1 GG) geltend machen, sofern die Zulässigkeitsvoraussetzungen hierfür erfüllt wären. Die Opposition würde dann prozessstandschaftlich die Rechte des gesamten Bundestages einklagen. Fall 2: Die Entscheidung dürfte in den Zuständigkeitsbereich der Legislative übergreifen, da sie konkrete Vorgaben zur gesetzlichen Ausgestaltung macht. An sich kann das Gericht im Rahmen des Verfahrens ermitteln, ob das Existenzminimum der Kinder gewahrt wird und hierfür auch Zahlenbeträge ermitteln. Es darf dem Parlament allerdings keine konkreten Gestaltungsvorgaben (24.000 €) oder gar politische Vorgaben (deutliche Anhebung des Kindesgeldes) machen. Seite 25 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Rein nationale Entscheidungen des BVerfG, die sich an den Staat richten, sind nicht mehr überprüfbar. Es gibt insoweit keine Instanz, die das Handeln des BVerfG überprüfen könnte. Hier bleibt nur noch eine „politische Lösung“ (Umsetzung oder Ignorierung des Urteils). Fall 3: Nein, das Gesetz wäre in dieser Allgemeinheit nicht verfassungsgemäß, da das BVerfG in seiner Abtreibungsentscheidung (E 39, 1 ff. u. 88, 203 ff.) für den Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens eine strafrechtliche Sanktion eingefordert hat. Der Gesetzgeber verstieße damit gegen § 31 I BVerfGG. Zur Vertiefung: Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 292 ff. IV. Gewaltenverschränkung und Gewaltentrennung ▪ Auch wenn das GG in Art. 20 II 2 GG die Ausübung der Staatsgewalten auf verschiedene Organe verteilt, steht es (Gewalten-)Verschränkungen dennoch nicht strikt ablehnend gegenüber. ▪ Solche Gewaltenverschränkungen können vielmehr gerade zur Verwirklichung einer gegenseitigen Kontrolle und Einwirkung geboten bzw. nützlich sein. ▪ Beispiele: ➢ Personelle Verschränkung: • Mitglieder der Bundes- bzw. Landesregierungen sind i.d.R. zugleich Abgeordnete des Parlaments. • Umgekehrt kennt das GG aber auch Fälle sog. Inkompatibilität (vgl. Art. 55 I, Art. 94 I 3 u. Art. 137 I GG). Hierdurch soll die Unabhängigkeit des Amtswalters und damit die Eigenständigkeit der jeweiligen (Teil-)Staatsgewalt gesichert werden. ➢ Funktionelle Verschränkung: ▪ • Die Exekutive ist unter den Voraussetzungen des Art. 80 I GG zur Gesetzgebung befugt. • Das Exekutivorgan Bundesregierung hat ein Gesetzesinitiativrecht im Bundestag (Art. 76 I GG). • Der Richterwahlausschuss des Bundestages entscheidet über die Besetzung der obersten Bundesgerichtshöfe (Art. 95 II GG). • Der Parlamentarische Kontrollausschuss überwacht die Tätigkeit der Geheimdienste (vgl. Art. 10 II 2 GG – die Bestimmung ist verfassungsrechtlich unbedenklich – vgl. BVerfGE 30, 1 ff. – G 10). Allgemeine Grenze der Gewaltenverschränkung (Art. 79 III GG): Übergriff in den „Kernbereich“ der anderen Staatsfunktion. So darf/dürfen z.B. Seite 26 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 ➢ Gesetzgebung nicht vollständig auf die Exekutive verlagert werden („Ermächtigungsgesetz“ von 1933!), ➢ Verwaltungsvorschriften nicht durch die Parlamente erlassen werden. Seite 27 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 D. Bundesstaat I. Legitimation der Bundesstaatlichkeit und Bundesstaatsmodelle ▪ Die bundesstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ist zum einen historisch hergebracht, wurde zum anderen aber auch von den Alliierten nach dem 2. Weltkrieg eingefordert. ▪ Legitimation der Bundesstaatlichkeit: ➢ Vertikale Gewaltenteilung (Bsp.: Polizeirecht; Medienrecht) ➢ Arbeitsteilige Erledigung staatlicher Aufgaben durch bürgernähere Ebene ➢ „Wettbewerbsföderalismus“ um beste Lösungen ➢ Schaffung „landsmannschaftlicher“ Identifikationsräume ▪ Bundesstaat = Staat, der sich aus Staaten zusammensetzt. D.h.: ➢ Bundesstaaten bestehen aus den Ebenen des Zentralstaats (Bund) und der Gliedstaaten (Länder). ➢ Im staatsrechtlichen (nicht aber im völkerrechtlichen) Sinne verfügen Länder über Staatsqualität. ➢ Länder sind jedoch nicht souverän, d.h. es fehlt ihnen die Fähigkeit, sich selbst eine unabgeleitete Ordnung zu geben, oder aus dem bundesstaatlichen Verbund kraft eigener Entscheidung auszutreten. ▪ Gegenbegriffe: ➢ Einheitsstaat = Staat, in dem es nur eine Staatsgewalt gibt (Zentralstaat) ➢ Staatenbund = Zusammenschluss von Staaten, der aber selbst keine Staatsqualität aufweist ➢ Supranationale Einrichtung = Organisation, auf die die einzelnen Staaten Hoheitsrechte übertragen ▪ • Auch als „Staatenverbund“ (BVerfG für die EU) bezeichnet • Steht zwischen Staatenbund und Bundesstaat (Bsp.: EU, Europäisches Patentamt) Im Übrigen sind die Bundesstaaten (z.B. Australien, Bosnien und Herzegowina, Brasilien, Indien, Kanada, Österreich, Russland, Schweiz oder USA) sehr unterschiedlich ausgestaltet. Es gibt folglich kein allgemeingültiges (universelles) Bundesstaatsmodell. Wie ein Bundesstaat funktioniert, richtet sich stets nach den konkreten verfassungsrechtlichen Vorgaben für diesen Staat, in Deutschland also nach dem GG. II. Ausgestaltung des Bundesstaatsprinzips durch das GG 1. Verteilung der Staatsgewalt ▪ Art. 30 GG als generelle Verteilungsnorm Seite 28 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz ▪ Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Verfassungsrechtliche Konkretisierungen für die: a) Legislative Vgl. Art. 70 ff. GG – dazu später unter § 4 A. b) Exekutive Vgl. Art. 83 ff. GG – dazu später unter § 4 B. c) Judikative Vgl. Art. 92 ff. GG – dazu später unter § 4 C. 2. Bundesstaatliche Grundentscheidungen a) Bundesrecht bricht Landesrecht Fall 1: Um die Mobilität von Familien im Bundesgebiet zu steigern, erlässt der Bund ein „Bundeschulgesetz“, in dem u.a. das G8, das Zentralabitur sowie wesentliche Bildungsinhalte für alle Bundesländer verbindliche festgeschrieben werden. Die Kultusminister der Länder sind hierüber empört und erwägen den Gang nach Karlsruhe. Auf Bundesebene sieht man dies gelassen und verweist auf Art. 31 GG. Zu Recht? Fall 2: 1990 erlässt das Land Rheinland-Pfalz ein Transplantationsgesetz, welches auf den Herz-Kreislauf-Tod für eine Organentnahme abstellt. Im Jahre 1994 wird Art. 74 I Nr. 26 GG in das GG eingefügt. Der Bund erlässt daraufhin Ende der 90er Jahre das Transplantationsgesetz (TPG), welches auf den Hirntod abstellt. Konsequenz für das Landesgesetz? ▪ Art. 31 GG besagt: Kompetenzgerecht und sonst verfassungsgemäß (also wirksam) ergangenes Bundesrecht bricht im Kollisionsfall kompetenzgerecht und sonst verfassungsgemäß (also wirksam) ergangenes Landesrecht. (In Fall 1 scheitert die Wirksamkeit des Bundesgesetzes bereits an Art. 70 GG, da der Bund für derartige Fragen keine Gesetzgebungszuständigkeit besitzt. Eine Brechung kann deshalb mangels wirksamen Bundesrechts gar nicht eintreten.) ▪ Da das GG die Kompetenzräume von Bund und Ländern in Art. 70 ff. GG – zumindest theoretisch – klar scheidet (s. Fall 1), ist der Anwendungsbereich dieser Kollisionsregelung schmal (s. Fall 2 – str., a.A. löst Fall 2 über Art. 72 I GG). ▪ Wirkungen des Art. 31 GG: Seite 29 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 ➢ Aufhebungswirkung (Geltungsvorrang [i.G.z. Anwendungsvorrang des EU-Rechts]): „gebrochenes Landesrecht“ wird unwirksam (nichtig) und lebt auch nach einer eventuellen Beendigung der Kollisionslage nicht mehr auf. ➢ Sperrwirkung (beachte aber die spezielleren Regelungen in Art. Art. 72 III 3, 84 I 3, 125a I 2 u. 125b II GG) ▪ Zudem sind Art. 28 I 1 GG sowie Art. 142 GG „leges speciales“ zu Art. 31 GG. b) Bundestreue Fall: („Deutschland-Fernsehen-GmbH“) Am 25.7.1960 gründete Bundeskanzler Konrad Adenauer gemeinsam mit dem Bundesjustizminister Schäffer die „Deutschland-Fernsehen-GmbH“ mit Sitz in Köln. 12.000 DM des insgesamt 23.000 DM betragenden Stammkapitals übernahm die Bundesrepublik, 11.000 DM Bundesjustizminister Schäffer, der gemäß § 6 der Gesellschaftssatzung „die Interessen der Länder der Bundesrepublik bis zu ihrem Eintritt in die Gesellschaft wahren sollte.“ Aus diesem Grund war Schäffer „verpflichtet, jedem Land, das mit der Bundesrepublik ... ein Verwaltungsabkommen über die Beteiligung an der Gesellschaft abschließt, einen Teilgeschäftsanteil im Nennbetrag von 1000,- DM ... abzutreten“ (§ 7). Der Gesellschaftszweck bestand in der „Veranstaltung von Fernseh-Rundfunksendungen, die den Rundfunkteilnehmern in ganz Deutschland und im Ausland ein umfassendes Bild Deutschlands vermitteln“ sollten (§ 2). Da die SPD-regierten Bundesländer von Anfang an kein Interesse an einem Beitritt zu dieser Gesellschaft signalisierten, verhandelte die Regierung Adenauer intensiv nur mit den CDU-regierten Bundesländern. Wie ist dieses Verhalten verfassungsrechtlich zu bewerten? (BVerfGE 12, 205 ff. – 1. Rundfunkentscheidung – zur Vertiefung: Müller-Terpitz, in: Menzel/Müller-Terpitz [Hrsg.], Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 143 ff.) ▪ Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens (Bundestreue) = Verpflichtung des Bundes wie der Länder (auch untereinander) bei Wahrnehmung ihrer Kompetenzen gebotene und zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundes bzw. die Belange der Länder zu nehmen. ▪ BVerfG in der 1. Rundfunkentscheidung: Bund darf Länder nicht nach parteipolitischen Gesichtspunkten unterschiedlich behandeln (kein „divide et impera“). ▪ Weitere Ausprägungen der Bundestreue: ➢ Beachtung von Auswirkungen einer Kompetenzausübung (Besoldung) ➢ Beachtung völkerrechtlicher Verträge des Bundes bzw. landesstaatlicher Interessen im internationalen Verkehr (für Mitwirkung in EU vgl. seit 1992 Art. 23 GG) ➢ Ergreifen rechtsaufsichtlicher Maßnahmen („atomwaffenfreie Zone“) ➢ Ankündigung, Anhörung und Begründung von/bei Weisungen nach Art. 85 III GG Seite 30 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz ▪ Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 Nota bene: Beim Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens handelt es sich nicht um eine eigenständige, sondern um eine akzessorische Rechtspflicht! Ihr kann deshalb nur im Zusammenhang mit einer rechtmäßigen Kompetenzausübung Bedeutung zukommen. Demgegenüber ist sie nicht im Stande, losgelöst von den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus sich selbst heraus Rechte bzw. Pflichten zu generieren (etwa die Pflicht zu finanziellem Beistand). c) Vielfalt versus Gleichheit Fall: Der baden-württembergische Landtag beschließt, die W-Besoldung der Professorinnen und Professoren durch feste Zulagen zu erhöhen. Hierdurch verdienen die baden-württembergischen Hochschullehrer fortan im Durchschnitt mehr als ihre Kollegen in den anderen Bundesländern. Prof. P aus Berlin wendet sich daraufhin an seinen Dienstherrn mit der Forderung, seine Besoldung auf das baden-württembergische Niveau anzuheben. Was ist davon zu halten? Lösungshinweise: (Lösungshinweisblätter Nr. 6) Aus Art. 3 I GG („Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“) kann P diese Besoldungsanpassung nicht verlangen. Gleichheitsrechte binden ihren Adressaten nur in dem Maße, wie sie für einen bestimmten Lebensbereich zuständig sind. Das Land Berlin ist an Art. 3 I GG deshalb nur in Bezug auf seinen eigenen Kompetenz- bzw. Zuständigkeitsbereich gebunden. Dieser Zuständigkeitsbereich bezieht sich allerdings nur auf die Berliner Landesbeamten. Nur in Bezug auf diese ist das Land Berlin über Art. 3 I GG deshalb zur Gleichbehandlung verpflichtet, nicht aber in Bezug auf Personen (Landesbeamte des Landes BW), die nicht seiner Zuständigkeit unterfallen. Seite 31 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 d) Amtshilfe ▪ Vgl. Art. 35 GG – Exkurs: Amtshilfe durch die Bundeswehr ▪ Amtshilfe nach Art. 35 I GG ➢ Rein technisch-unterstützende Maßnahmen fallen unter den Anwendungsbereich des Art. 35 I GG und sind von den Beschränkungen des Art. 35 II und III GG nicht betroffen. ➢ Art. 87a II GG: Einsatz der Bundeswehr im Inneren nur zulässig, soweit GG dies explizit vorsieht. ➢ Einsatz i.S.d. Art. 87a II GG erfordert, dass „Ressourcen der Streitkräfte als Mittel der vollziehenden Gewalt in einem Eingriffszusammenhang verwendet werden.“ (BVerwG NJW 2018, 716 [722 Rn. 44]) ➢ „Einsatz“ aber nicht erst dann (+), wenn mit konkretem Zwang vorgegangen wird, sondern auch schon dann, wenn mittels personaler und sachlicher Mittel der Streitkräfte ein Einschüchterungseffekt erzeugt wird (BVerfGE 133, 241 [269 f. Rn. 81]) ➢ Aussendung von Jagdflugzeugen zur Aufklärung einer möglichen Gefahr stellt grds. keinen „Einsatz“ i.S.d. Art. 87a II GG dar und ist deshalb eine Form zulässiger Amtshilfe (BVerfGE 133, 241 [269 f. Rn. 81]; BVerwG NJW 2018, 716 [722 Rn. 46]). ▪ (P) Amtshilfe durch den Einsatz spezifischer militärischer Waffen ➢ Nach früherer Auffassung des BVerfG erlaubte es Art. 35 II 2 und III 1 GG dem Bund nicht, die Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen mit spezifisch militärischen Waffen einzusetzen (BVerfGE 115, 118 – Luftsicherheitsgesetz). Nunmehr aufgegeben durch Plenarentscheidung (vgl. hierzu § 16 I BVerfGG) vom 3.7.2012 – 2 PBvU 1/11 (Ls. 2): Art. 35 II 2 und III GG schließen eine Verwendung spezifisch militärischer Waffen bei einem Einsatz der Streitkräfte nach diesen Vorschriften nicht grundsätzlich aus, lassen sie aber nur unter engen Voraussetzungen zu, die sicherstellen, dass nicht die strikten Begrenzungen unterlaufen werden, die einem bewaffneten Einsatz der Streitkräfte im Inneren durch Art. 87a IV GG gesetzt sind. ➢ Begründung: Beschränkung auf – wie bislang angenommen – lediglich polizeiliche Mittel ergibt sich nicht aus Wortlaut des Art. 35 II und III GG. Systematisches Verhältnis dieser Bestimmungen zu Art. 87a IV GG, welcher ebenfalls nicht von vorneherein auf polizeiliche Mittel beschränkt ist. Zweck des Art. 35 II und III GG, in den erfassten Katastrophenfällen eine wirksame Gefahrenabwehr zu ermöglichen (vgl. insb. Art. 35 III 1 GG: „Wirksame Bekämpfung“). Einsatz der Streitkräfte ist nach den vorgenannten Normen und in Abgrenzung zu Art. 87a IV GG aber nur in engen Voraussetzungen zulässig, d.h. nur bei ungewöhnlichen Ausnahmesituationen (vgl. Wortlaut: „Naturkatastrophe oder besonders schwerer Unglücksfall“), nur in den in Art. 87a IV GG nicht geregelten Fällen und nur als ultima ratio (vgl. Art. 35 III 1: „erforderlich“). e) Bundeszwang ▪ Vgl. Art. 37 GG Seite 32 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Staatsorganisationsrecht HWS 2023/2024 ▪ Bsp.: Nichtumsetzung einer EU-Richtlinie durch ein Bundesland ▪ Bundeszwang wurde in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bislang noch nicht ausgeübt. Ein gutes Zeichen 8-)) 3. Änderungsfestigkeit des Bundesstaatsprinzips ▪ Bundesstaatsprinzip ist durch Art. 79 III GG doppelt abgesichert („Gliederung des Bundes in Länder“, „die in den Artikeln [...] 20 niedergelegten Grundsätze“). ▪ Einen Anspruch auf Bestand eines bestimmten Bundeslandes gibt es allerdings nicht (vgl. Art. 29 GG). ▪ Eine Abschaffung des Bundestaatsprinzips ist deshalb nur über den Weeg einer Verfassungsneugebung (pouvoir constituant) möglich. Allerdings lässt Art. 79 III GG Modifikationen am organschaftlichen Mitwirken der Länder auf Bundesebene zu. III. Reformbedürftigkeit des Bundesstaats? ▪ Vorteile des Bundesstaates: s. oben I. ▪ Nachteile des Bundesstaates: ➢ Allgemeines Spannungsverhältnis zwischen Unitarisierung und Heterogenität (Corona!) ➢ Hohe Kosten durch Parallelstrukturen (eigene Regierungsapparate, eigene Landesparlamente etc.) ➢ Gefährdung der Freizügigkeit im Bundesgebiet (unterschiedliches Schulrecht!) ➢ Übertragung von Länderinteressen durch Parteipolitik auf Bundesebene (Bundesrat!) ➢ Gesetzgeberische und bürokratische Schwerfälligkeit bei geteilten Zuständigkeiten (Medienrecht!) ▪ Lösungen: ➢ Stärkere Entflechtung der Bundes- und Landesebene (Föderalismusreform I) ➢ Reform des Länderfinanzausgleichs, Stärkung des „Wettbewerbsföderalismus“ ➢ Neugliederung des Bundesgebiets (Art. 29 GG) Zur Vertiefung: Voßkuhle/Kaufhold, Das Bundesstaatsprinzip, JuS 2010, 873 ff.; Geis, Examens-Repetitorium Staatsrecht I, Fall 5 und 6 Seite 33

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