Skript Staatsrecht II Teil 7 PDF

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Universität Mannheim

2023

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz

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German constitutional law constitutional rights German legal system

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This document is a lecture or study notes on the protections afforded to private property in the German constitution, focusing specifically on the right to privacy in residences and related topics within German legal frameworks.

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Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 b) Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) aa) Schutzbereich Das Grundrecht des Art. 13 GG steht in Zusammenhang mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit und soll die Privatheit der Wohnung als „elementaren Lebensraum“ sichern...

Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 b) Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) aa) Schutzbereich Das Grundrecht des Art. 13 GG steht in Zusammenhang mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit und soll die Privatheit der Wohnung als „elementaren Lebensraum“ sichern (BVerfGE 42, 212 [219]; 51, 97 [110]; 103, 142 [150]). Eine vergleichbare Regelung findet sich in Art. 8 EMRK. Soweit der Schutzbereich des Art. 13 GG beeinträchtigt ist, geht die Vorschrift dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i.V.m. 1 I GG als lex specialis vor. (1) Sachlicher Schutzbereich ▪ Wohnung i.S.d. Art. 13 GG sind alle Räume, die der allgemeinen Zugänglichkeit durch räumliche Abschottung entzogen und zur Stätte privaten Lebens und Wirkens gemacht sind. Dazu zählen neben den Wohnräumen im engeren Sinne auch zur Wohnung gehörende Nebenräume, wie Keller, Garage, abgeschlossene Innenhöfe und Vorgärten (nicht aber das Auto). ▪ Grundsätzlich sind auch Betriebs- und Geschäftsräume in den Wohnungsbegriff einbezogen (BVerfGE 76, 83 [88]; 96, 44 [51]; 120, 274 [309]), wobei jedoch die auf unkontrollierten öffentlichen Zutritt angelegten Räumlichkeiten nicht geschützt sind, soweit und solange sie öffentlich zugänglich, also nicht geschlossen sind. (2) Persönlicher Schutzbereich Träger des Grundrechts ist jeder unmittelbare Besitzer, unabhängig von den Eigentumsverhältnissen, insbesondere der Mieter. Auch ein Mieter, der trotz abgelaufener Kündigungsfrist die tatsächliche Verfügungsgewalt über eine Wohnung noch innehat, ist durch Art. 13 GG geschützt. bb) Eingriff ▪ Eingriff ist jede Verletzung der Privatheit der Wohnung durch körperliches oder sich technischer Hilfsmittel bedienendes unkörperliches Eindringen der staatlichen Gewalt in die Wohnung sowie auch das dortige Verbleiben. ▪ Typische Eingriffsmaßnahmen: ➢ Durchsuchungen (Art. 13 II GG): Durchsuchungen sind nach der Definition des BVerfG „das ziel- und zweckgerichtete Suchen staatlicher Organe nach Personen und Sachen oder zur Ermittlung eines Sachverhalts, um etwas aufzuspüren, was der Inhaber der Wohnung von sich aus nicht offenlegen und herausgeben will“ (BVerfGE 76, 83 [89]). Voraussetzung ist ein körperliches Betreten durch das Durchsuchungsorgan ➢ Lauschangriffe, d.h. der Einsatz technischer Mittel zur Wohnungsüberwachung. Zu unterscheiden sind hierbei der „große Lauschangriff“ zum Zweck der Strafverfolgung (Art. 13 III GG), der „große Lauschangriff“ zum Zweck der Gefahrenabwehr (Art. 13 IV GG) und der „kleine Lauschangriff“ zum Schutz hoheitlich tätiger Personen (Art. 13 V GG – z.B. V-Männer). 90 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 ➢ Online-Durchsuchungen mit einer optischen und/oder akustischen Wohnraumüberwachung. cc) Rechtfertigung ▪ Anforderungen an die Rechtfertigung sind nach Art. 13 II – V, VII GG unterschiedlich, je nachdem, um welchen Eingriff es sich handelt. ▪ Durchsuchungen sind nur unter den Voraussetzungen des Art. 13 II GG verfassungsrechtlich zulässig. Die Durchsuchung darf nur in der gesetzlich vorgeschriebenen Form und nur aus den im jeweiligen Gesetz festgelegten Gründen erfolgen. Die Anordnung der Durchsuchung hat nach Art. 13 II GG ein Richter vorzunehmen; nur in Ausnahmefällen kann eine Durchsuchung aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung auch von anderen Organen, d.h. der Staatsanwaltschaft oder Polizei, verfügt werden, wobei allerdings Gefahr im Verzug bestehen muss. ▪ Der große Lauschangriff zum Zweck der Strafverfolgung darf nach Art. 13 III GG nur bei einem durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdacht einer gesetzlich festgelegten schweren Straftat angeordnet werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts ansonsten unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos wäre. Erlaubt ist in nach dieser Verfassungsbestimmung lediglich eine akustische Wohnraumüberwachung. Die Anordnung hat durch drei, bei Gefahr im Verzug durch einen Richter zu ergehen. ▪ In seinem Urteil zum großen Lauschangriff (BVerfGE 109, 279 ff. – lehrreich hierzu: Sachs, JuS 2004, 522 ff.) hat das BVerfG entschieden, dass der zur Ermöglichung der akustischen Wohnraumüberwachung eingeführte Art. 13 III GG mit Art. 79 III GG vereinbar ist. Zur Unantastbarkeit der Menschenwürde gem. Art. 1 I 1 GG gehört zwar die Anerkennung eines absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Indes verletzt nach Auffassung des Gerichts nicht jede akustische Wohnraumüberwachung den über Art. 79 III GG geschützten Menschenwürdegehalt des Art. 13 I GG. Die Menschenwürdegarantie setzt der Rechtfertigung des großen Lauschangriffs nach Art. 13 III GG allerdings eine weitere Grenze: Gespräche aus dem absolut geschützten Kernbereich der privaten Lebensführung (z.B. mit Arzt, Seelsorger, Strafverteidiger, Kindern oder intime Gespräche mit Lebenspartner/Ehegatten) dürfen generell nicht abgehört werden; Aufzeichnungen hierüber sind abzubrechen bzw. unterliegen einem strikten Verwertungsverbot und sind zu löschen. Das Ganze ist zu protokollieren. ▪ Der große Lauschangriff zum Zweck der Gefahrbekämpfung bedarf einer dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und muss ebenfalls durch einen Richter angeordnet werden. Bei Gefahr im Verzug kann die Anordnung auch durch andere gesetzlich vorgesehene Stellen ergehen; die richterliche Bestätigung ist allerdings unverzüglich nachzuholen. Art. 13 IV GG erlaubt nicht nur eine akustische, sondern auch eine optische Überwachung. ▪ Für den kleinen Lauschangriff vgl. die Voraussetzungen in Art. 13 V GG. 91 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz ▪ Staatsrecht – Grundrechte Sonstige Eingriffe und Beschränkungen Voraussetzungen des Art. 13 VII GG zulässig. HWS 2023 sind unter den Zur Vertiefung: Schoch, Die Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 GG, JURA 2010, 22 ff.; Peilert, BVerfGE 109, 279 – Großer Lauschangriff, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 717 ff; ggf. ergänzen: VGH Baden-Württemberg, BeckRS 2022, 8043 (Flüchtlingsunterkunft als Wohnung i.S.d. Art. 13 GG) 92 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 c) Unverletzlichkeit des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG) aa) Vorbemerkungen ▪ Obwohl der Wortlaut etwas anderes vermuten ließe, handelt es sich bei Art. 10 I GG um ein einheitliches Grundrecht. Geschützt wird die Vertraulichkeit des Kommunikationsvorgangs. Die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Kommunikationsmedien beruht lediglich auf der historischen Entwicklung des Nachrichtenverkehrs. ▪ Art. 10 GG ist lex specialis zu Art. 2 I GG sowie zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG), insb. zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung! Die Abgrenzung zu Art. 13 GG hängt davon ab, ob der Geheimnisschutz durch Ausnutzung der postalischen oder fernmeldetechnischen Übermittlung oder durch Eindringen in die durch Art. 13 GG geschützte räumliche Sphäre beeinträchtigt wird („Online-Durchsuchung“!). bb) Schutzbereiche (1) Persönlicher Schutzbereich ▪ Träger des Grundrechts ist jedermann, also jede natürliche Person, auch Minderjährige; juristische Personen und Personenvereinigungen werden nach Maßgabe des Art. 19 III GG geschützt. ▪ Nicht geschützt hingegen ist die die Kommunikation übermittelnde Einrichtung. (2) Sachlicher Schutzbereich ▪ Das Briefgeheimnis verwehrt es der öffentlichen Gewalt, vom Inhalt eines Briefs oder einer sonstigen Sendung Kenntnis zu nehmen, die erkennbar eine individuelle Mitteilung befördert. Darunter fallen nicht nur Briefe im eigentlichen Sinn, sondern auch Telegramme, Postkarten und Pakete, nicht aber offene Drucksachen. Bei verschlossenen Sendungen ist ausreichend, dass diese eine individuelle Mitteilung enthalten können. Der Schutz beginnt mit dem Aufgeben durch den Absender und endet mit dem Erhalt durch den Empfänger. ▪ Das Postgeheimnis schützt die Kommunikation bei Inanspruchnahme von Postdienstleistungen (= die körperliche Übermittlung von Informationen und Kleingütern durch ein Massentransportnetz). Das Postgeheimnis überschneidet sich insoweit deutlich mit dem Briefgeheimnis, erfasst aber anders als dieses auch Sendungen, die keine individuellen schriftlichen Mitteilungen befördern. ▪ Das Fernmeldegeheimnis erfasst die unkörperliche Übermittlung von Informationen über ein Fernmeldeverkehrsnetz. Das Grundrecht ist entwicklungsoffen und schützt neben dem traditionellen Telefon-, 93 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Telegramm- und Funkverkehr auch die Fernkommunikation mittels neuer Medien (Mobilfunk und Internet und damit auch E-Mail und SMS). Allerdings schützt dieses Grundrecht lediglich das Vertrauen des Einzelnen darin, dass eine Fernkommunikation, an der er beteiligt ist, nicht von Dritten zur Kenntnis genommen wird, nicht aber das Vertrauen der Kommunikationspartner zueinander. Der Schutz endet mit der Beendigung des Übertragungsvorgangs, weshalb einmal in den Machtbereich des Empfängers gelangte Informationen nicht über Art. Art. 10 I GG, sondern nur über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt werden. ▪ Art. 10 GG greift generell nur dann ein, wenn es um die Übermittlung an einen bestimmten Empfänger geht, nicht bei Übermittlung an die Allgemeinheit. ▪ Der Schutz des Grundrechts bezieht sich sowohl auf den Inhalt der Kommunikation als auch auf diesbezügliche Informationen über Ort, Zeit sowie Art und Weise. In tatbestandlicher Hinsicht schützt Art. 10 I GG mithin den Kommunikationsvorgang als solchen, den Kommunikationsinhalt sowie die Kommunikationsumstände. ▪ Entsprechend formuliert § 88 I TKG für das Fernmeldegeheimnis: „Dem Fernmeldegeheimnis unterliegen der Inhalt der Telekommunikation und ihre näheren Umstände, insbesondere die Tatsache, ob jemand an einem Telekommunikationsvorgang beteiligt ist oder war. Das Fernmeldegeheimnis erstreckt sich auch auf die näheren Umstände erfolgloser Verbindungsversuche.“ Entsprechendes regelt § 39 PostG für das Postgeheimnis. cc) Eingriff ▪ Ein Eingriff in Art. 10 GG liegt vor, wenn die öffentliche Gewalt den Inhalt, die Tatsache oder die Umstände der geschützten Kommunikation erhebt oder vom Kommunikationsmittler erheben lässt, speichert, verwertet oder weitergibt. Die bloße Verhinderung von Kommunikation stellt dagegen noch keinen Eingriff in Art. 10 GG dar. ▪ Typische Eingriffe liegen insbesondere vor, wenn zu Staats- und Verfassungsschutzzwecken sowie zur Verhinderung oder Aufklärung schwerer Kriminalität die Telekommunikation abgehört und das Abgehörte aufgezeichnet, gespeichert, ausgewertet oder übermittelt wird (nicht zu verwechseln mit dem Lauschangriff, bei dem nicht die Fernmeldeleitung „angezapft“ wird – s.o. sub c). ▪ Auch schützt Art. 10 I GG vor einer sechsmonatigen sowie vorsorglich anlasslosen Speicherung von TK-Verkehrsdaten durch private Diensteanbieter (sog. Vorratsdatenspeicherung – vgl. hierzu BVerfGE 121, 1 ff. u. 125, 260 ff.), da es sich hierbei um Daten handelt, die sich auf die Umstände eines TK-Vorgangs beziehen (Wer hat wann mit wem wie lange auf welche Art und Weise kommuniziert?). 94 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 ▪ Im Bereich der Fernkommunikation über das Internet (z.B. E-Mail oder Chat) liegt, da Art. 10 I GG lediglich vor einer unautorisierten Kenntnisnahme durch Dritte schützt, nur dann ein Eingriff vor, wenn eine staatliche Stelle eine Telekommunikationsbeziehung von außen überwacht, ohne selbst Kommunikationsteilnehmer zu sein, nicht aber, wenn eine staatliche Stelle selbst eine Telekommunikationsbeziehung zu einem Grundrechtsträger aufnimmt. Ein Eingriff ist daher zu verneinen, wenn etwa ein Teilnehmer eines geschlossenen Chats der für die Verfassungsschutzbehörde handelnden Person seinen Zugang freiwillig zur Verfügung gestellt hat und die Behörde in der Folge diesen Zugang nutzt. Erst recht scheidet ein Eingriff in das Telekommunikationsgeheimnis aus, wenn die Behörde allgemein zugängliche Inhalte ermittelt, etwa indem sie offene Diskussionsforen oder nicht zugangsgesicherte Webseiten einsieht (vgl. BVerfG 120, 274 ff. – Online-Durchsuchung). ▪ Nota bene: ➢ Bis zur vollständigen Liberalisierung des TK-Sektors war Art. 10 I GG ein nahezu ausschließlich staatsgerichtetes Abwehrrecht (Status-Negativus-Grundrecht). ➢ Es schützte den Bürger nicht nur vor einer präventiven oder repressiven Ausspähung seiner Kommunikationsvorgänge; auch gegen das Staatsunternehmen „Deutsche Bundespost“ vermittelte Art. 10 I GG Schutz (Postgeheimnis), der insbesondere deshalb erforderlich war, weil hier ein besonderes Näheverhältnis privater Kommunikation zur staatlichen Sphäre bestand. ➢ Seit der Liberalisierung des Kommunikationssektors ab dem 1.1.1998 hat diese Status-Negativus-Funktion an Bedeutung verloren. ➢ Zwar ist sie nach wie vor von Relevanz im Hinblick auf staatliche Gefahrenabwehr- bzw. Strafverfolgungsmaßnahmen. Da die Telekommunikations- und Postdienstleistungen mittlerweile jedoch als privatwirtschaftliche (vgl. Art. 87f II 1, Art. 143b GG) Tätigkeiten erbracht werden, bedient sich der Bürger für solche Vorgänge nunmehr privater Unternehmen, die grundrechtsberechtigt, nicht aber grundrechtsverpflichtet sind. ➢ Dies hat allerdings nicht zu einer abnehmenden Bedeutung des Art. 10 I GG für den grundrechtlichen Schutz der Bürger geführt. Lediglich seine Funktion hat sich verschoben: Nunmehr ist die Schutzpflichtenfunktion des Grundrechts stärker in den Vordergrund getreten. Der Staat hat die Bürger vor einer Kenntnisnahme privater TK-Vorgänge durch die privaten Unternehmen zu schützen. Diesem Schutzauftrag ist er mit § 3 95 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 TTDSG (Fernmeldegeheimnis) und § 39 PostG (Postgeheimnis) nachgekommen. dd) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung ▪ Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis steht nach Art. 10 II 1 GG unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt und kann damit durch formelles (Parlaments-)Gesetz oder aufgrund einer formell-gesetzlichen Grundlage durch Rechtsverordnung, Satzung oder Verwaltungsakt eingeschränkt werden. Das Erfordernis einer formell-gesetzlichen Grundlage gilt auch im „besonderen Gewaltverhältnis“ (Sonderstatusverhältnis), z.B. bei Inhaftierten (BVerfGE 33, 1 ff. – Strafgefangene). ▪ Ähnlich wie im Geltungsbereich des Art. 13 GG ist auch bei Art. 10 GG eine Überwachung (hier der Telekommunikation) ausgeschlossen, soweit sie den durch Art. 1 I GG absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung betrifft. ▪ Wie sich e contrario aus Art. 10 II 2 GG ergibt, ist dem Betroffenen ein heimlicher Eingriff mitzuteilen, sobald der Zweck der Überwachung nicht mehr beeinträchtigt wird und ihm kein anderweitiger Auskunftsanspruch zusteht. ▪ Art. 10 II 2 GG eröffnet zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung oder des Bestands bzw. der Sicherung des Bundes oder eines Landes die Möglichkeit, durch Gesetz Abhör- und Überwachungsmaßnahmen vorzusehen, ohne dass diese dem Betroffenen mitzuteilen sind. Der Gesetzgeber hat hiervon durch das G 10-Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses Gebrauch gemacht. Auf eine Benachrichtigung kann auch hier nicht generell verzichtet werden; vielmehr ist diese nachzuholen, sobald keine Gefährdung des Zwecks oder der genannten Schutzgüter mehr droht, es sei denn die Daten wurden sogleich als irrelevant vernichtet (BVerfGE 30, 1 ff. – G 10 I;100, 313 [397 ff.] – G 10 III). ▪ Nota bene: Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung eine sechsmonatige sowie vorsorglich anlasslose Speicherung von TK-Verkehrsdaten durch private Diensteanbieter nicht für schlechthin mit Art. 10 GG unvereinbar erklärt. Auf einen etwaigen Vorrang der RL, auf die diese Vorratsdatenspeicherung zurückzuführen war, kam es deshalb nicht an (der EuGH hält im Übrigen die Vorratsdatenspeicherrichtlinie im Hinblick auf Art. 114 AEUV [= ex-Art. 95 EG] für kompetenziell unbedenklich [vgl. hierzu ZJS 3/2009, S. 298 f.], hat aber ähnliche Bedenken hinsichtlich der Datensicherheit geäußert; vgl. EuGH, Urt. v. 8.4.2014, Az. C 293/12 und C 594/12). Allerdings verlangte das BVerfG – gestützt auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit –, dass die gesetzliche Ausgestaltung einer solchen Datenspeicherung dem besonderen Gewicht des mit der Speicherung verbundenen Grundrechtseingriffs angemessen Rechnung trägt. Erforderlich seien hinreichend anspruchsvolle und 96 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 normenklare Regelungen hinsichtlich der Datensicherheit, der Datenverwendung, der Transparenz und des Rechtschutzes. Insbesondere sollen der Abruf und die unmittelbare Nutzung der Daten deshalb nur verhältnismäßig sein, wenn sie überragend wichtigen Aufgaben des Rechtsgüterschutzes dienen. Im Bereich der Strafverfolgung setzt dies einen durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdacht einer schweren Straftat voraus, für die Gefahrenabwehr und die Erfüllung der Aufgaben der Nachrichtendienste dürfen sie nur bei Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für eine gemeine Gefahr zugelassen werden. Eine nur mittelbare Nutzung der Daten zur Erteilung von Auskünften durch die TK-Diensteanbieter über die Inhaber von Internetprotokolladressen soll hingegen auch unabhängig von begrenzenden Straftaten- oder Rechtsgüterkatalogen für die Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und die Wahrnehmung nachrichtendienstlicher Aufgaben zulässig sein. Fall 1: Durch Gesetz zur Änderung der StPO vom 6.8.2002 wurde § 100i in die StPO eingeführt. §100i I StPO regelt zwei technisch unterschiedliche Ermittlungsmaßnahmen, die unter dem Stichwort „IMSI-Catcher“ diskutiert werden. Maßnahmen nach § 100i I Nr. 1 StPO ermöglichen die Ermittlung der Gerätenummer (IMEI: International Mobile Equipment Identity) eines Mobilfunkendgeräts (Mobiltelefon) oder der Kartennummer (IMSI: International Mobile Subscriber Identity) einer SIM-Karte (Subscriber Identity Module). § 100i I Nr. 2 StPO erlaubt die genaue Standortbestimmung eines Mobiltelefons. Ziel der Maßnahmen ist das Auffinden eines Beschuldigten oder Verurteilten zum Zwecke der vorläufigen Festnahme oder Ergreifung aufgrund eines Haftoder Unterbringungsbefehls. Voraussetzung hierfür ist neben der ungefähren Kenntnis des Standorts, dass die IMSI, die IMEI oder die Telefonnummer des gesuchten Mobiltelefons bekannt sind. Diese dürfen nicht erst aufgrund einer Maßnahme nach § 100i I Nr. 1 StPO ermittelt werden, da der Gesetzeswortlaut als Erhebungszweck nur eine Überwachung nach § 100a StPO zulässt. Allerdings sind nach § 100i IV 4 StPO die TK-Dienstleister zur Mitteilung der IMSI und IMEI verpflichtet. Die Feststellung des Standorts erfolgt dadurch, dass eine durch den „IMSICatcher“ aufgebaute virtuelle Funkzelle nach dem Mobiltelefon der Zielperson durchsucht wird. Dabei kann die Suche aufgrund der bereits bekannten Daten von vornherein auf Mobiltelefone beschränkt werden, die dasselbe Netz wie das gesuchte Endgerät verwenden. Auch bei dieser Methode werden nacheinander für einen kurzen Augenblick sämtliche im Einzugsbereich der simulierten Funkzelle befindlichen und im selben Netz angemeldeten Mobiltelefone erfasst und sofort wieder aussortiert. Ist das gesuchte Mobiltelefon erfasst, sind zur genauen Positionsbestimmung weitere Messungen von verschiedenen Standorten aus erforderlich. Mit ihrer am 17.7.2003 eingegangenen Verfassungsbeschwerde greift B die genannte Regelung an. Er rügt ausschließlich eine Verletzung von Art. 10 GG. B sei durch § 100i StPO selbst, gegenwärtig und unmittelbar in diesem Grundrecht betroffen und verletzt. 97 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Was ist von dieser Behauptung zu halten? (vgl. BVerfG, MMR 2006, 805 ff.) Fall 2: Die Staatsanwaltschaft führte ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugs und Untreue gegen die Beschuldigten S und G. Mit Beschluss vom 9.2.2006 ordnete das AG im Zuge dieser Ermittlungen die Durchsuchung der Wohnung des (unbeteiligten) B an, um Unterlagen und Datenträger aufzufinden. Das AG setzte hinzu: „Ferner wird gem. §§ 100g, 100h StPO die Auswertung von ggf. zu beschlagnahmenden Datenträgern, insbesondere von Textdateien und EMail-Verkehr, angeordnet.“ B nutzte für den Zugriff auf seine E-Mails das sog. Internet Message Access Protocol (IMAP). Empfangbare E-Mails werden hierbei nicht standardmäßig auf einen lokalen Rechner übertragen, sondern blieben auch nach dem Abruf in einem zugangsgesicherten Bereich auf dem Mailserver des Providers gespeichert. Zum Abruf der E-Mails ist eine Internetverbindung herzustellen. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung wies B die Ermittlungspersonen auf diese Sachlage hin und stellte eine Internetverbindung her. Dann verwahrte er sich aber gegen einen Zugriff auf die Mails, weil der Durchsuchungsbeschluss dies nicht zulasse. Das AG ordnete daraufhin mit Beschluss vom 16.3.2006 gem. §§ 94, 98 StPO die Beschlagnahme der Daten auf dem E-Mail-Account des B bei dessen EMail-Provider selbst an. Zur Begründung führte es aus, dass die auf dem EMail-Account des B gespeicherten Daten Beweismittel in dem nicht gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahren seien. Noch am selben Tag wurden beim Provider die gesamten etwa 2.500 E-Mails des B, die seit Jahresbeginn 2004 bis zum 16.3.2006 gespeichert worden waren, auf einen Datenträger kopiert und den Ermittlungsbehörden übergeben. B steht auf dem Standpunkt, dass für eine Beschlagnahme seiner E-Mails auf dem Mailserver des Providers eine Anordnung nach § 100a StPO erforderlich gewesen wäre, die mangels Verdachts einer dort genannten Katalogtat gegen ihn nicht hätte ergehen können. Zu Recht? (vgl. BVerfG, Beschluss v. 16.6.2009 – 2 BvR 902/06, BeckRS 2009 35860) Lösungshinweise Fall 1: (Lösungshinweisblätter Nr. 19) ▪ B ist beschwerdebefugt, soweit er geltend macht, als unbeteiligter Dritter jederzeit in den Bereich eines „IMSI-Catchers“ geraten zu können. Es fehlt an der Möglichkeit, den Vollzugsakt anzugreifen, da die Betroffenen keine Kenntnis davon erlangen können. In diesem Fall gestattet das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz ebenso wie in jenen Fällen, in denen die grundrechtliche Beschwer ohne vermittelnden Vollzugsakt durch das Gesetz selbst eintritt. ▪ Fraglich ist jedoch, ob ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 10 I GG vorliegt. Das BVerfG hat dies mit der Begründung verneint, dass die Datenerhebung nach § 100i StPO nicht im Zusammenhang mit einem Kommunikationsvorgang stehe und auch nicht den Kommunikationsinhalt i.S.d. Art. 10 I GG betreffe. Denn die Feststellung einer Geräte- oder 98 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Kartennummer eines im Bereich einer simulierten Funkzelle befindlichen Mobiltelefons durch den Einsatz eines „IMSI-Catchers“ sei unabhängig von einer tatsächlichen stattfindenden oder zumindest versuchten Kommunikation zwischen Menschen. Beim Einsatz des „IMSI-Catchers“ kommunizierten ausschließlich technische Geräte miteinander. Es fehle dementsprechend an einem menschlich veranlassten Informationsaustausch, der sich auf Kommunikationsinhalte bezieht. Das Aussenden der Daten erfolgt also unabhängig von einem konkreten Kommunikationsvorgang oder vom Aufbau einer Kommunikationsverbindung. Diese rein technische Kommunikation zwischen Geräten weise allerdings nicht das spezifische Gefahrenpotential auf, vor dem Art. 10 I GG Schutz gewährleisten wolle. Art. 10 I GG folge nicht dem rein technischen TK-Begriff des TKG, sondern knüpfe personal an den Grundrechtsträger und dessen Schutzbedürftigkeit aufgrund der Einschaltung Dritter in den Kommunikationsvorgang an. Das BVerfG verneinte deshalb auch einen Verstoß gegen das Zitiergebot (Art. 19 I 2 GG). ▪ Allerdings würden die technischen Kommunikationsdaten durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG) geschützt. Jedoch beruhe dieser Eingriff auf einer wirksam zustande gekommenen gesetzlichen Grundlage und sei auch nicht unverhältnismäßig. Angesichts der geringen Eingriffsintensität sei es zudem nicht unverhältnismäßig, auf die Benachrichtigung betroffener Dritter zu verzichten, da dies eine Deanonymisierung der Betroffenen erforderte, was als (zusätzlicher) schwerwiegender Eingriff zu qualifizieren sei. Lösungshinweise Fall 2: (Lösungshinweisblätter Nr. 20) ▪ Der Fall warf die grundsätzliche Frage der Abgrenzung von Art. 10 I GG zu Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG auf. B stand insoweit auf dem Standpunkt, dass Art. 10 I GG zur Anwendung kommen muss, weil der Kommunikationsvorgang noch nicht abgeschlossen sei. Die Instanzgerichte vertraten demgegenüber die Auffassung, dass es sich auch bei Abspeicherung von E-Mails beim Provider um einen abgeschlossenen Kommunikationsvorgang handle, auf den nicht Art. 10 I GG, sondern Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG Anwendung findet. ▪ Das BVerfG stellte insoweit zunächst fest, dass die Sicherstellung und Beschlagnahme von auf dem Mailserver eines Providers zwischen- und endgespeicherten E-Mails am Grundrecht auf Gewährleistung des Fernmeldegeheimnisses aus Art. 10 I GG zu messen sind. Zwar erstrecke sich der Grundrechtsschutz nicht auf die außerhalb eines laufenden Kommunikationsvorgangs im Herrschaftsbereich des Kommunikationsteilnehmers gespeicherten Inhalte und Umstände der Kommunikation. Der Schutz des Fernmeldegeheimnisses ende insoweit in dem Moment, in dem die E-Mail beim Empfänger angekommen und der Übertragungsvorgang beendet sei (vgl. BVerfGE 115, 166; 120, 274). Demgegenüber seien die auf dem Mailserver des Providers vorhanden EMails nicht im Herrschaftsbereich des Kommunikationsteilnehmers, sondern des Providers gespeichert. Hieraus folgerte das BVerfG einen „Mangel an 99 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Beherrschbarkeit“ der Daten, was die besondere Schutzbedürftigkeit durch das Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 I GG rechtfertige. ▪ Da die auf dem Mailserver des Providers gespeicherten E-Mails durch Art. 10 I GG geschützt seien, sei der Zugriff auf sie nicht am Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu messen, da sich Art. 10 I GG insoweit als speziellere Garantie darstelle. ▪ Allerdings ermöglichten die strafprozessualen Regelungen der §§ 94 ff. StPO grundsätzlich die Sicherstellung und Beschlagnahme von E-Mails, die auf dem Mailserver des Providers gespeichert sind. § 94 StPO könne ohne Verfassungsverstoß als Ermächtigung auch zu Eingriffen in Art. 10 I GG verstanden werden, zumal diese Bestimmung hinsichtlich der Sicherstellung und Beschlagnahme von auf dem Mailserver des Providers gespeicherten E-Mails dem Gebot der Normenklarheit und Normenbestimmtheit genüge. Zudem sei die Regelung verhältnismäßig, da es hier um einen offenen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis gehe. Zur Vertiefung: Müller-Terpitz, BVerfGE 30, 1 – Abhörurteil, in: Menzel/MüllerTerpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 184 ff.; Heckmann, BVerfGE 125, 260 - Vorratsdatenspeicherung, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 887 ff. d) Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 GG) aa) Vorbemerkungen ▪ Art. 6 GG enthält sowohl ein Grundrecht als auch eine Institutsgarantie. Die Rechtsinstitute Ehe und Familie sind notwendig auf Definition und Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angewiesen, wobei sich Grenzen der Ausgestaltung daraus ergeben, dass auch gegenüber dem definierenden bürgerlichen Recht die Höherrangigkeit der Verfassung und insb. die verbindlichen Maßstäbe der Institutsgarantie selbst zu wahren sind. ▪ Überdies enthält Art. 6 GG auch eine wertentscheidende Grundsatznorm, die den Staat verpflichtet, Ehe und Familie durch geeignete Maßnahmen zu fördern und ihm untersagt, Ehe und Familie zu schädigen oder sonst zu beeinträchtigen (BVerfGE 28, 324 [347]). ▪ Als Grundrechte statuieren Art. 6 I und II 1 GG Abwehrrechte und schützen das eheliche und familiäre Zusammenleben gegen Eingriffe des Staates. Art. 6 II 2 GG beinhaltet einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt und Art. 6 III GG eine Schranke für Eingriffe in das Elternrecht. Für das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern sind Art. 6 II und III GG leges speciales gegenüber Art. 6 I GG. Art. 6 I und IV GG formulieren mit dem Schutz von Ehe und Familie und dem Anspruch der Mutter auf Schutz und Fürsorge zudem Schutzrechte gegenüber dem Staat, die allerdings der einfachgesetzlichen Konkretisierung bedürfen. 100 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 bb) Schutzbereiche (1) Persönlicher Schutzbereich ▪ Träger des Grundrechts aus Art. 6 I GG ist jedermann, also jede natürliche Person, auch Ausländer und Staatenlose. Eine wesensmäßige Anwendbarkeit auf juristische Personen gem. Art. 19 III GG hingegen scheidet aus. ▪ Träger des Elterngrundrechts (Art. 6 II GG) sind die Eltern (einschließlich der Adoptiveltern), nicht aber die Pflegeeltern. Keine Grundrechtsträger sind auch Großeltern, Stiefeltern sowie Vormünder (bejahend aber BVerfGE 34, 165 [200] bei zu Vormündern bestellten Großeltern). (2) Sachlicher Schutzbereich ▪ Dem Ehebegriff des Art. 6 I GG liegt das Bild der weltlichen heterosexuellen bürgerlich-rechtlichen Ehe zugrunde, die in der rechtlich vorgesehenen Form, d.h. vor dem Standesbeamten, geschlossen wird (BVerfGE 53, 224 [245]). Vom Schutzbereich der Ehe sind deshalb nichteheliche oder eheähnliche Lebensgemeinschaften sowie gleichgeschlechtliche Verbindungen wie die eingetragene Lebenspartnerschaft ausgenommen; diese sind jeweils nur über Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG geschützt. Unter den Ehebegriff fallen jedoch die sog. hinkende Ehe, bei der eine im Ausland geschlossene Ehe den Anforderungen des deutschen Rechts nicht genügt und die Schein-, Namens- oder Aufenthaltsehe. Die bürgerlich-rechtliche Ehe ist die Einehe, jedoch kann auch die in einigen ausländischen Rechtsordnungen zulässige Mehrehe unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Familie unter Art. 6 I GG fallen. (ggf. ergänzen: mwN Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 828.) ▪ Der Schutzbereich der Ehe reicht von der Eheschließung mit einem selbst gewählten Partner über das eheliche Zusammenleben bis zur Ehescheidung. Der Schutz der Ehe reicht aber im Ehescheidungsfolgenrecht, vor allem in Gestalt des nachehelichen Unterhaltsrechts, über die Beendigung der Ehe hinaus. Des Weiteren erfasst der Schutz aus Art. 6 I GG auch die negative Eheschließungsfreiheit, also die Entscheidung, keine Ehe eingehen zu wollen (a.A. BVerfGE 56, 363, 384 – Schutz nur über Art. 2 I GG). ▪ Familie i.S.d. Art. 6 I GG ist das umfassende rechtliche Beziehungsverhältnis zwischen Eltern und Kindern, unabhängig davon ob die Eltern miteinander verheiratet sind oder nicht und ob die Kinder homolog oder heterolog gezeugt wurden, minderjährig oder volljährig, Adoptiv-, Stief- oder Pflegekinder sind. Es gilt insoweit der 101 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Grundsatz: „Familie ist, wo Kinder sind“ (Müller-Terpitz, JZ 2006, 991 [993]). Wie im Bereich der hinkenden Ehe (s.o.) wird auch hier die Familienqualität nicht dadurch ausgeschlossen, dass Formfehler bei der Begründung der Adoptiv- oder Pflegeelternschaft bestehen. Unter den Familienbegriff fallen auch gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit Kindern sowie in Beistandsgemeinschaft lebende Verwandte. ▪ Das geschützte Verhalten reicht von der Familiengründung bis in alle Bereiche des familiären Zusammenlebens und mit dem Pflichtteilsrecht sogar darüber hinaus. In den Schutzbereich fällt auch die freie Entscheidung der (prospektiven) Eltern, ob, wann und wie viele Kinder sie haben wollen (sog. Fortpflanzungsfreiheit – a.A.: Schutz über Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG). ▪ Das Elternrecht ist nach Art. 6 II 1 GG nicht nur Grundrecht, sondern zugleich auch Pflicht der Eltern („dienendes Grundrecht“; „Elternverantwortung“), weshalb hier auch nicht die negative Freiheit bestehen kann, das Elternrecht nicht auszuüben. Der Schutzbereich des Elternrechts umfasst die freie Entscheidung über die Pflege, d.h. die Sorge für das körperliche Wohl des Kindes, und die Erziehung, sprich die geistige und seelische Entwicklung, inklusive Weltanschauung bzw. Religion, Bildung und Ausbildung. Die Rechtsbefugnisse der Eltern beginnen spätestens mit der Geburt, nehmen mit wachsendem Alter des Kindes ab und enden mit dessen Volljährigkeit. cc) Eingriff ▪ = alle staatlichen Maßnahmen, die Ehe und Familie oder das Elternrecht beschränken, schädigen, stören oder sonst (erheblich) beeinträchtigen. ▪ Beispiele: Eheverbote, Strafbarkeit des Inzests (BVerfGE 120, 224 ff. – Geschwisterbeischlaf – offen gelassen). In der Ausweisung von Ausländern, die in der Bundesrepublik verheiratet sind oder hier Kinder haben, und in der Verweigerung des Nachzugs von Ehegatten und Familienangehörigen liegt nicht grundsätzlich ein Eingriff, da für Ausländer der Aufenthalt in der Bundesrepublik nicht grundrechtlich gewährleistet ist. Diese Maßnahmen stellen aber dann einen Eingriff in das Ehe- und Familiengrundrecht dar, wenn es aus besonderen Gründen nicht möglich oder zumutbar ist, die Ehe- oder Familiengemeinschaft im Ausland zu verwirklichen. ▪ Da der Schutz von Ehe und Familie sowie das Elternrecht auf Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt und angewiesen sind (normgeprägte Grundrechte!), ist nicht jede ehe- oder familienbezogene Regelung schon ein Eingriff. Zu den ausgestaltenden Regelungen gehören die Normen des Ehe- und Familienrechts (z.B. § 1353 I 2 BGB – eheliche Lebensgemeinschaft, § 1631 II 2 BGB – Verbot entwürdigender Erziehungsmaßnahmen); zu den eingreifenden 102 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Regelungen die Bestimmungen anderer Rechtsgebiete, soweit sie Ehe und Familie beschränken (klassischer Eingriff: die in den Schulgesetzen verankerte Schulpflicht). Eine Definition des Ehe- und Familienbegriffs kann dann in einen Eingriff umschlagen, wenn diese Definition den verfassungsrechtlichen Ehe- und Familienbegriff verkürzt. ▪ Die Unterscheidung zwischen definierenden bzw. ausgestaltenden Regelungen und staatlichen Maßnahmen mit Eingriffscharakter ist bedeutsam, weil Ehe und Familie nach Art. 6 I GG vorbehaltlos gewährleistet sind und lediglich im Hinblick auf das Elternrecht mit Art. 6 II 2 GG ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt besteht. dd) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung ▪ Eingriffe in die vorbehaltlosen Schutzbereiche von Ehe und Familie sind allein zum Schutze kollidierenden Verfassungsrechts (verfassungsimmanente Schranken!) möglich. Im Übrigen darf der Staat nur definitorisch die Schutzbereiche ausgestalten. Soweit die o.a. Ausweisung eines Ausländers oder die Verhinderung des Familiennachzugs keinen Eingriff in Art. 6 I GG darstellt und folglich nur an Art. 2 I GG zu messen ist, ist nach Ansicht des BVerfG Art. 6 I GG dennoch als „wertentscheidende Grundsatznorm“ in die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einzustellen und insoweit das Bestehen ehelicher bzw. familiärer Bindungen zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 1 [41]). ▪ Eingriffe in das Elternrecht lassen sich zum einen auf der Basis des in Art. 6 II 2 GG festgelegten staatlichen Wächteramts rechtfertigen. Die zu rechtfertigenden Beeinträchtigungen bedürfen – wie bei allen Grundrechtseingriffen – einer gesetzlichen Grundlage und sind nur zum Wohle des Kindes zulässig (qualifizierter Gesetzesvorbehalt). Zum anderen sind Eingriffe in das Elternrecht durch kollidierendes Verfassungsrecht, v.a. die Schulhoheit des Staates aus Art. 7 I GG, gerechtfertigt. Im Jugendstrafrecht rechtfertigt das BVerfG Eingriffe in das Elternrecht durch das „Verfassungsgebot des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes“ (BVerfGE 107, 104, [119]). ▪ Die Trennung des Kindes von den Eltern ist ausschließlich unter den besonderen Voraussetzungen des Art. 6 III GG zulässig, d.h. bei Versagen der Erziehungsberechtigten „in Form von schwerwiegendem Fehlverhalten und bei erheblicher Gefährdung des Kindeswohls“ (BVerfGE 107, 104 [118]) oder bei drohender Verwahrlosung der Kinder „die auch Ausdruck in schwerwiegenden Straftaten finden kann“ (BVerfG a.a.O.). Art. 6 III GG ist nicht nur im Zeitpunkt der Entziehung der Kinder bedeutsam, sondern auch dann, wenn über die Aufrechterhaltung der Trennung zu entscheiden ist. 103 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 Fall 1: Der Deutsche Bundestag beschließt Ende 2000 das „Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften“, welches am 16.2.2001 ausgefertigt und verkündet wird und am 1.8.2001 in Kraft tritt. Ziel dieses Gesetzes ist es, die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare abzubauen und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, ihrer Partnerschaft einen rechtlichen Rahmen zu geben. Hierzu wird für gleichgeschlechtliche Paare das Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft geschaffen, dessen Rechtsfolgen zum Teil der Ehe nachgebildet sind, aber sich bisweilen auch von diesen unterscheiden. Die Regierungen der Bundesländer Bayern, Sachsen und Thüringen sind der Auffassung, dass die Einführung eines solchen an die Ehe angenäherten Instituts mit Art. 6 I GG unvereinbar sei. Insbesondere sei aus der Institutsgarantie des Art. 6 I GG und dem Schutz von Ehe und Familie als wertentscheidender Grundsatznorm ein „Abstandsgebot“ herzuleiten, welches einen Exklusivitätsschutz der Ehe fordere und ein Verbot der Schaffung von Parallelinstituten statuiere, die der Ehe gleichkommen. Ist die Auffassung der Landesregierungen zutreffend? (BVerfGE 105, 313 – Lebenspartnerschaftsgesetz) Fall 2: Das deutsche Einkommensteuerrecht ist vom Grundsatz der Individualbesteuerung geprägt, wonach jede einzelne natürliche Person, die von ihr erwirtschafteten Einkünfte nach einem für Einzelpersonen festgelegten Einkommensteuertarif zu versteuern hat. Der Einkommensteuertarif ist dabei progressiv angelegt, d.h. je höher das zu versteuernde Einkommen ist, desto höher ist auch der effektive Steuersatz. In Durchbrechung dieses Grundsatzes der Individualbesteuerung sah § 26 EStG 1951 eine Zusammenveranlagung unter Zusammenrechnung der Einkommen der Ehegatten mit Anwendung des Einkommensteuertarifs auf die Summe der Einkommen vor. Ist dieses Besteuerungsverfahren mit Art. 6 I GG vereinbar? (BVerfGE 6, 55 – Steuersplitting) Lösungshinweise zu Fall 1: (Lösungshinweisblätter Nr. 21) Art. 6 I GG verbürgt das Recht auf ungehinderten Zugang zur Ehe, also die Freiheit, eine Ehe mit einem selbst gewählten Partner schließen zu können (vgl. BVerfGE 31, 58 [67]; 76, 1 [42]). Dieses Recht wird durch die Lebenspartnerschaft nicht berührt, denn jeder ehefähigen Person steht auch nach Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft der Weg in die Ehe offen. Ebenso beeinflusst das Gesetz weder unmittelbar noch mittelbar die Freiheit verschiedengeschlechtlicher Paare, eine Ehe zu begründen. Da ihnen die eingetragene Lebenspartnerschaft verschlossen bleibt, können sie durch dieses Institut nicht vom Eheschluss abgehalten werden. Mit der Ergänzung des 104 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 § 1306 BGB um das Ehehindernis des Bestehens einer Lebenspartnerschaft (Gesetz v. 15.12.2004, BGBl. I S. 3396) wurde die bei Erlass des Lebenspartnerschaftsgesetzes überdies bestehende Problematik beseitigt, ob eine bestehende Lebenspartnerschaft eine spätere Eheschließung verhindert oder durch diese aufgelöst wird. Durch diese Ergänzung wird zwar die Eheschließungsfreiheit beschränkt; dies entspricht aber dem Schutz der Ehe, der es als naheliegend erscheinen lässt, sie nur denjenigen zu öffnen, die nicht bereits anderweitig in einer Partnerschaft gebunden sind (so bereits BVerfGE 105, 313 [344]). Zu dem durch die Institutsgarantie des Art. 6 I GG geschützten Gehalt der Ehe gehört die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft, begründet auf freiem Entschluss unter Mitwirkung des Staates, in der Mann und Frau in gleichberechtigter Partnerschaft zueinanderstehen und über die Ausgestaltung ihres Zusammenlebens frei entscheiden können. Die Ehe als Institut ist in ihren verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien und ihrer Ausgestaltung durch die Einführung der Lebenspartnerschaft selbst nicht betroffen, da ihr rechtliches Fundament keine Änderung erfahren hat, vielmehr haben sämtliche Regelungen, die der Ehe einen rechtlichen Rahmen geben und das Institut mit Rechtsfolgen ausstatten, nach wie vor Bestand. Der Institutsgarantie kann, gerade weil sie sich nur auf die Ehe bezieht, kein Verbot entnommen werden, gleichgeschlechtlichen Partnern die Möglichkeit einer rechtlich ähnlich ausgestalteten Partnerschaft zu eröffnen. Die in Art. 6 I GG verkörperte Wertentscheidung gebietet dem Gesetzgeber, die Ehe durch geeignete Maßnahmen zu fördern und alles zu unterlassen, was die Ehe schädigt oder sie sonst beeinträchtigt, insbesondere sie gegenüber anderen Lebensformen schlechter zu stellen. Auch diese grundgesetzliche Wertentscheidung ist durch Einführung der Lebenspartnerschaft nicht verletzt, da dem Institut der Ehe keine Einbußen durch ein Institut drohen, das sich an Personen wendet, die miteinander keine Ehe eingehen können. Das Gesetz entzieht der Ehe zudem keine Förderung, die sie bisher erfahren hat, sondern es nimmt lediglich eine andere Lebensgemeinschaft unter rechtlichen Schutz und weist ihr Rechte und Pflichten zu. Insbesondere kann der Wertentscheidung des Art. 6 I GG kein Abstandsgebot der Ehe gegenüber anderen Formen partnerschaftlicher Lebensgestaltung entnommen werden. Dem Gesetzgeber ist es zwar wegen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe aus Art. 6 I GG nicht verwehrt, diese gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen (vgl. BVerfGE 6, 55 [76]). Dem gegenüber lässt sich daraus kein korrespondierendes Gebot herleiten, andere Lebensformen gegenüber der Ehe zu benachteiligen. Etwas anderes würde allerdings dann gelten, wenn der Gesetzgeber in Konkurrenz zur Ehe ein anderes Institut mit derselben Funktion schaffen und dieses etwa mit denselben Rechten und geringeren Pflichten versehen würde, sodass beide Institute austauschbar wären. Hierdurch würde der Gesetzgeber seinen Förderauftrag aus Art. 6 I GG verletzten und die Ehe der Gefahr aussetzen, ihre Funktion einzubüßen. Überdies liegt auch keine Verletzung von Art. 3 I GG darin, dass nichtehelichen Lebensgemeinschaften verschiedengeschlechtlicher Personen und verwandtschaftlichen Einstandsgemeinschaften die Rechtsform der 105 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 eingetragenen Lebenspartnerschaft verwehrt ist, da das Merkmal der Gleichgeschlechtlichkeit ein Differenzierungskriterium begründet, welches eine ungleiche Behandlung rechtfertigt (vgl. zum Ganzen BVerfGE 105, 313 [342 ff.] = FPR 2002, 576 ff. m. Anm. Kemper). Lösungshinweise zu Fall 2: (Lösungshinweisblätter Nr. 22) Art. 6 I GG als wertentscheidende Grundsatznorm begründet für den Staat positiv die Aufgabe, Ehe und Familie nicht nur vor Beeinträchtigungen durch andere Kräfte zu bewahren, sondern auch durch geeignete Maßnahmen zu fördern, und negativ das Verbot, die Ehe zu schädigen oder sonst zu beeinträchtigen. Die Kumulierung der Ehegatteneinkünfte für Zwecke der Einkommensteuer führt wegen des progressiven Einkommensteuertarifs zur steuerlichen Mehrbelastung der Ehe und stellt nach den vorstehenden Maßstäben einen störenden Eingriff in die Ehe dar, welcher insoweit nicht mit Art. 6 I GG vereinbar ist. Die Zusammenveranlagung lässt sich insbesondere nicht damit rechtfertigen, dass ansonsten Familien mit nur einem Einkommensbezieher, vor allem kinderreiche Familien, bei denen ein Partner „zwingend“ zu Hause bleiben muss, benachteiligt würden, da dieser Nachteil genauso jedem anderen Steuerpflichtigen gegenüber besteht, der für eine geringere Zahl von Personen aufzukommen hat als der allein verdienende Partner und die Zusammenveranlagung insbesondere den Alleinverdienerfamilien gar nicht nützt, sondern lediglich einen Teil der Ehepaare höher belastet. Des Weiteren kann die Zusammenveranlagung auch nicht mit der zur damaligen Zeit angeführten Notwendigkeit begründet werden, „die Ehefrau ins Haus zurückzuführen“ (sog. Edukationseffekt). Zwar bestehen an sich keine verfassungsrechtlichen Bedenken, mit einer Steuer außer der Erzielung von Einkünften auch andere Zwecke zu verfolgen; dies kann allerdings nur dann gelten, wenn diese Nebenzwecke selbst verfassungsrechtlich neutral sind und mit verfassungsrechtlich unbedenklichen Steuern verfolgt werden. Der vorgenannte Zweck ist in dieses Hinsicht nicht mit dem Gebot des Schutzes von Ehe und Familie in Art. 6 I GG vereinbar, welches die Gestaltung der Privatsphäre und damit auch die Entscheidung darüber, ob eine Ehefrau sich ausschließlich dem Haushalt widmet, ob sie dem Mann im Beruf hilft oder ob sie eigenes marktwirtschaftliches Einkommen erwirbt, den Ehegatten selbst überlässt und in der Konsequenz dem der Gesetzgeber die Ausübung eines unmittelbaren oder mittelbaren Zwangs zu einer bestimmten Gestaltung der privaten Sphäre der Ehe untersagt (vgl. zum Ganzen BVerfGE 6, 55 [70 ff.]). Das Bundesverfassungsgericht hatte in dieser Entscheidung das Ehegattensplitting als verfassungsgemäße Alternative erwähnt (BVerfGE 6, 55, [80]), welches alsdann auch ab 1958 eingeführt wurde. Das Splittingverfahren folgt dem Bild der intakten Durchschnittsehe als Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft und stellt keine Steuervergünstigung dar (BVerfGE 61, 319 [346 f.]). Beim Splittingverfahren werden die Einkünfte der Ehegatten zusammengerechnet (§ 26b EStG) und für den hälftigen Betrag der reguläre Steuertarif ermittelt, der alsdann verdoppelt wird (§ 32a V EStG). Dieses Verfahren hat zur Folge, dass das zu 106 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 versteuernde Einkommen der Ehegatten einem niedrigeren Steuersatz unterliegt, als wenn die Ehegatteneinkommen zusammengerechnet nach dem progressiv steigenden Grundtarif besteuert würden und stellt den Zustand her, der bestünde, wenn die Ehegatten gleich viel verdienen und einzeln veranlagt würden. In der Konsequenz bietet es keinerlei Vorteile, wenn beide Ehegatten ein gleich hohes Einkommen haben, zu einer deutlichen Begünstigung führt es allerdings bei großen Unterschieden zwischen den Einkommen, insbesondere bei Alleinverdienerehen (sog. „Millionärsgattinneneffekt“). Zur Vertiefung: Wernsmann, BVerfGE 6, 55 – Ehegattensplitting, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 91 ff.; Beyerbach, BVerfGE 105, 313 – Lebenspartnerschaftsgesetz, in: Menzel/Müller-Terpitz, Verfassungsrechtsprechung, 3. Aufl. 2017, S. 698 ff.; ggf. ergänzen: Haydn-Quindeau: Die „Ehe für alle“ – ein Verstoß gegen die Institutsgarantie des Art. 6 I GG?, NJOZ 2018, 201; Heiderhoff, Aktuelle Fragen zu Art. 6 GG: Flüchtlingsfamilien, Regenbogenfamilien, Patchworkfamilien – und das Kindergrundrecht, NZFam 2020, 320; ggf. als Klausur auch: Ludwigs/Kuhn, Referendarexamensklausur – Öffentliches Recht: Grundrechte – Ehe für alle, JuS 2018, 629 107 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 3. Schutz der Kommunikationsfreiheit ▪ Art. 5 I 1 Alt. 1 GG: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten (...).“ (= sog. allg. Meinungs[äußerungs]freiheit) ▪ Enge Verknüpfung der allg. Meinungsfreiheit mit Art. 5 I 1 Alt. 2 GG (Informations- bzw. Rezipientenfreiheit) sowie Art. 5 I 2 GG (Rundfunk-, Presse- und Filmfreiheit; = Medienfreiheiten – vgl. ferner Art. 18 I 1 GG). ▪ Während Art. 5 I 1 GG die individuelle Kommunikationsfreiheit (sog. Individualkommunikation) verbürgt, gewährleistet Art. 5 I 2 GG darüber hinausgehend die institutionalisierte Kommunikationsfreiheit (sog. Massenkommunikation). a) Allgemeine Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 I 1 Alt. 1 GG) aa) Schutzbereich ▪ Persönlicher Schutzbereich: Art. 5 I 1 GG = sog. Jedermann-Grundrecht (Menschenrecht) => auf Staatsangehörigkeit kommt es nicht an. Das Grundrecht gilt i.Ü. nicht nur für natürliche, sondern auch für juristische Personen i.S.d. Art. 19 III GG. ▪ Sachlicher Schutzbereich: ➢ Geschützt werden grds. nur Meinungsäußerungen (= Werturteile), nicht aber Tatsachenmitteilungen (= wertneutrale, dem Beweis zugängliche Informationen). Meinungen sind durch die subjektive Beziehung des Einzelnen zum Inhalt seiner Aussage geprägt. Für sie ist das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens kennzeichnend. Insofern lassen sie sich auch nicht als wahr oder unwahr erweisen. ➢ Auf Wert (wertvoll oder wertlos), Richtigkeit (wahr oder unwahr), polemische Zuspitzung („Damals: Holocaust – heute: Babycaust“ ggf. ergänzen BVerfG NJW 2018, 2858 (bestätigend zu BVerfGE 90, 241 (Ausschwitzlüge) auch Holocaust Leugnung ist keine Meinung)), Gefährlichkeit oder Harmlosigkeit, Begründetheit bzw. Grundlosigkeit oder Vernünftigkeit (Rationalität) bzw. Emotionalität der Meinungsäußerung kommt es nicht an; es muss sich auch nicht um eine politische Meinung handeln. ➢ Die Bürger sind dabei rechtlich auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrundeliegenden Wertsetzungen persönlich zu teilen (kein Zwang zu Werteloyalität). Geschützt sind deshalb auch Äußerungen, die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen (auch außerhalb des grundgesetzlichen Rahmens). Auch rechtsradikales oder nationalsozialistisches Gedankengut wird deshalb vom Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG umfasst. Das GG vertraut insoweit auf bürgerliches Engagement, den freien politischen Diskurs sowie die Bildung und Erziehung in den Schulen (Art. 7 I GG), 108 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte um derartigem Gedankengut Tatbestandsverständnis). HWS 2023 entgegenzutreten (= weites ▪ Ausnahmsweise werden Tatsachenmitteilungen aber dann durch Art. 5 I 1 GG geschützt, wenn sie zugleich Grundlage einer Meinungsäußerung sind. Grenze: unwahre Tatsachenbehauptungen („AuschwitzLeugnung“) oder falsche Zitate (enges Tatbestandsverständnis). ▪ Geschützt wird die „positive“ wie die „negative“ Meinungsäußerungsfreiheit, d.h. die Freiheit, eine bestimmte Meinung nicht äußern zu müssen, sofern der Empfänger diese Meinungsäußerung dem Äußernden als eigene zurechnen würde (BVerfGE 95, 173 – Tabakwerbung; dort vom Gericht verneint, da der Hinweis „Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit“ ersichtlich nicht dem Zigarettenproduzenten, sondern den EU-Gesundheitsministern zuzurechnen war). ▪ Sonderproblematik: Schutz von Meinungskundgabe zugrunde liegt: Boykott-Aufrufen, denen ➢ Aufruf ist von Art. 5 I 1 GG geschützt, wenn er als Mittel des geistigen Meinungskampfs in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage eingesetzt wird (BVerfGE 7, 198 ff. – Lüth). ➢ Aufruf ist nicht geschützt, wenn er nicht nur auf geistige Argumente gestützt wird, sondern sich darüber hinaus solcher Mittel bedient, die den Angesprochenen die Möglichkeit nehmen, ihre Entscheidung in voller innerer Freiheit und ohne wirtschaftlichen Druck zu treffen (BVerfGE 25, 256 ff. – Blinkfüer). bb) Schranken ▪ Art. 5 II GG: „Diese Grundrechte finden ihre Schranke in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“ (= qualifizierter Gesetzesvorbehalt). ▪ Begriff des „allgemeinen Gesetzes“: ➢ = sowohl formelles als auch materielles Parlamentsgesetz, Rechtsverordnung, Satzung). Gesetz (d.h. ➢ Üblicherweise kombiniert BVerfG sog. „Sonderrechts-“ (Häntzschel, Rothenbücher) und „Abwägungslehre“ (Smend): Ein allgemeines Gesetz ist deshalb eine beschränkende Vorschrift, die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche richtet (Sonderrechtslehre), sondern dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dient (Abwägungslehre – BVerfGE 7, 198 ff. – Lüth). Dieses Rechtsgut muss in der Rechtsordnung allgemein und damit unabhängig davon geschützt sein, ob es durch Meinungsäußerungen oder auf andere Weise verletzt werden kann. 109 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 ➢ Nota bene: Zu diesen allgemeinen Gesetzen zählt das BVerfG auch die beiden anderen in Art. 5 II GG genannten Rechtsgüter (Ehre, Jugend). ➢ Das BVerfG greift den Abwägungsaspekt zudem detailliert im Rahmen der Verhältnismäßigkeit (i.e.S.), d.h. auf der Ebene der Schranken-Schranken auf. Es kommt mithin zu einer doppelten Berücksichtigung dieses Aspekts im Rahmen des „allgemeinen Gesetzes“ (abstrakte Prüfung) und im Rahmen der Angemessenheitsprüfung (konkrete Prüfung). ➢ In einer jüngeren Entscheidung (Rudolf-Heß-Entscheidung – s. oben) hat das BVerfG allerdings festgestellt, dass unter bestimmten Voraussetzungen auch nicht allgemeine Gesetze mit Art. 5 I und II GG vereinbar sein können. Angesichts des sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat, und der als Gegenentwurf hierzu verstandenen Entstehung der Bundesrepublik Deutschland sei Art. 5 I und II GG für Bestimmungen, die der propagandistischen Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft Grenzen setzen, eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts immanent (BVerfG, Urt. V. 4.11.2009 – 1 BvR 2150/08, Rn. 64 ff. = BVerfGE 124, 300 ff.) cc) Schranken-Schranke ▪ Bei der Rechtssetzung und Rechtsanwendung haben Gesetzgeber und Rechtsanwender (Exekutive, Judikative) die „wertsetzende Bedeutung“ des Art. 5 I 1 GG zu beachten (= sog. „Wechselwirkungslehre“). ▪ Zudem rechtfertige das GG kein allgemeines Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die (rein) geistige Wirkung seines Inhalts. Vielmehr sei es erforderlich, dass Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verließen und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlügen (BVerfG, Urt. v. 4.11. 2009 – 1 BvR 2150/08, Rn. 67 = BVerfGE 124, 300 ff.). ▪ Bei mehrdeutigen Äußerungen („Soldaten sind Mörder“, „Kinder-Mord im Mutterschoß”) ist laut BVerfG zu differenzieren: ➢ Nachträgliche Sanktionierung einer Meinungsäußerung (strafrechtliche Verurteilung, Schadensersatz, Widerruf): Sanktion kommt nur in Betracht, wenn die dem Äußernden günstigeren Deutungsmöglichkeiten mit hinreichender Begründung ausgeschlossen werden können („im Zweifel für die Meinungsfreiheit“). 110 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 ➢ Zukunftsgerichteter Unterlassensanspruch: Der Äußernde muss den Inhalt seiner mehrdeutigen Aussage klarstellen; tut er dies nicht, ist zu prüfen, ob eine oder mehrere der möglichen Deutungsvarianten zu einer rechtswidrigen Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Betroffenen führen („im Zweifel für das Persönlichkeitsrecht“ – vgl. BVerfGE 114, 339 ff. – Stolpe; BVerfG, NJW 2006, 3769 – Babycaust; jetzt dazu aber EGMR XXX, Aufhebung der Entscheidung).vermutlich meinen Sie: EGMR, NJW 2019, 1127 (Verurteilung eines Abtreibungsgegners) ▪ In Fällen von Schmähkritik (= Äußerungen, die primär auf eine Herabsetzung der Person, nicht aber auf eine Auseinandersetzung in der Sache zielen) bzw. Formalbeleidigungen (unangemessene Ausdrucksweisen) muss Meinungsäußerungsfreiheit allerdings hinter Ehren- bzw. Persönlichkeitsschutz zurücktreten. Bsp.: Darstellung der ehemaligen Präsidentin des Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach neben einem SS-Offizier und einem Kreuzritter mit folgender Bildunterschrift: „Es steht vor uns das letzte Problem, das gelöst werden muss und gelöst werden wird. Es sind die letzten Vermögensrückgabeforderungen, die wir in Europa zu stellen haben, aber es sind die Forderungen, von denen wir nicht abgehen“ (= abgewandeltes Hitler-Zitat aus seiner Sportpalast-Rede in Berlin am 26.9.1938; vgl. OLG Köln, AfP 2009, 156 ff.). Allerdings muss es möglich bleiben, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt auch ohne Furcht vor staatlichen Sanktion scharf kritisieren zu können (z.B. Bezeichnung eines Amtsträgers als „Winkeladvokat“; vgl. BVerfGK, DVBl. 2013, 1382 ff. m. Anm. Armin Steinbach). ▪ Zensurverbot (Art. 5 I 3 GG) = ➢ Schranken-Schranke zu Art. 5 II GG (kann also nicht durch Abwägung überwunden werden). ➢ Verbot der Vorzensur, d.h. der präventiven Vorschaltung eines behördlichen Verfahrens, welches die Äußerung bzw. Abfassung, Herstellung oder Verbreitung einer Meinung oder eines Werks von einer behördlichen Vorprüfung oder Genehmigung ihres/seines Inhalts abhängig macht (= formales Zensurverständnis). Fall: Gestützt auf § 15 I VersG („Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umstände die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.“) verbot das zuständige Landratsamt eine für den 20.8.2005 angemeldete Rudolf-HeßGedenkkundgebung in Wunsiedel. Zur Begründung führte es an, dass die Gefahr der Verwirklichung des § 130 IV StGB bestehe („Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in 111 Prof. Dr. R. Müller-Terpitz Staatsrecht – Grundrechte HWS 2023 einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.“). Nach erfolgloser Klage gegen dieses Versammlungsverbot vor den Verwaltungsgerichten erhebt M, der die Versammlung angemeldet hatte, Verfassungsbeschwerde zum BVerfG, verstirbt aber noch vor dessen Entscheidung. Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde? (BVerfGE 124, 300 ff.) Lösungshinweise (Lösungshinweisblätter Nr. 23) Die Verfassungsbeschwerde ist durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass der Beschwerdeführer vor der Entscheidung des BVerfG verstirbt. Diese Frage ist im Prozessrecht des BVerfG (BVerfGG) nicht explizit geregelt. Da es einem allgemeinen prozessualen Rechtsprinzip entspricht, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Rechtsbehelfs/Rechtsmittels zum Zeitpunkt der Entscheidung (noch) vorliegen müssen, spricht dies für eine Erledigung der Verfassungsbeschwerde. Hierfür spricht ferner, dass es sich bei der Verfassungsbeschwerde im Prinzip um einen Rechtsbehelf zur Durchsetzung höchstpersönlicher Rechte des Beschwerdefüh

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