Persönlichkeitspsychologie Zusammenfassung SS24 PDF

Summary

Dieser PDF-Dokument bietet eine Zusammenfassung der Persönlichkeitspsychologie für das Sommersemester 2024. Es deckt Themen ab wie die Unterscheidung zwischen differentieller und Persönlichkeitspsychologie, verschiedene Persönlichkeitsdefinitionen und Paradigmen. Der Text erklärt verschiedene Theorien und Konzepte im Bereich der Persönlichkeitspsychologie.

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BEARBEITUNGSZEITRAUM 1 PERSÖNLICHKEITSPSYCHOLOGIE STUDIENBRIEF UNTERSCHEIDUNG ZWISCHEN DIFFERENTIELLER UND PERSÖNLICHKEITSPSYCHOLOGIE  Allgemeine Psychologie sucht nach Gesetzmäßigkeiten, die für alle Menschen gleichermaßen gelten  Differentielle Psychologie o Sucht nach Unterschieden zwis...

BEARBEITUNGSZEITRAUM 1 PERSÖNLICHKEITSPSYCHOLOGIE STUDIENBRIEF UNTERSCHEIDUNG ZWISCHEN DIFFERENTIELLER UND PERSÖNLICHKEITSPSYCHOLOGIE  Allgemeine Psychologie sucht nach Gesetzmäßigkeiten, die für alle Menschen gleichermaßen gelten  Differentielle Psychologie o Sucht nach Unterschieden zwischen Personen bzw. Personengruppen anhand psychischer und biologischer Merkmale / Faktoren o Ist variablenorientiert o Nutzt Variations- und Korrelationsforschung [vgl. Sterns Schema]  Persönlichkeitspsychologie o Untersucht die einzigartige Organisation von psychischen Merkmalen innerhalb einer Person. Wirkung von Motiven, Emotionen, Kognitionen. o Ist personenorientiert o Nutzt Psychographie und Komparationsforschung [vgl. Sterns Schema]  Persönlichkeitspsychologie dient oft als Oberbegriff für beide Aspekte der Persönlichkeits- und differentiellen Psychologie WAS IST PERSÖNLICHKEIT?  In der Alltagspsychologie wird der Persönlichkeitsbegriff in einem evaluativen Sinn gebraucht  In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Persönlichkeit wird der Begriff im deskriptiven Sinn gebraucht  Alltags- und wissenschaftliche Psychologie verwenden auch häufig Begriffe wie Charakter, Temperament und Typus o Charakter  aufgeprägte Eigentümlichkeit einer Person, woran man sie erkennt und wodurch sie sich von anderen unterscheidet o Temperament  Ererbte Merkmale, die sich auf die drei As‘ beziehen [Affekt, Aktivierung und Aufmerksamkeit] o Typus  Ausprägungsmuster von Persönlichkeitsmerkmalen in eine Art Klassifikation [z.B.: sanguinisch, phlegmatisch, cholerisch, melancholisch]  Persönlichkeitsdefinition beinhaltet u.a. folgende drei Merkmale: o Relativ Zeitstabil  Persönlichkeitsmerkmale werden über die Zeit hinweg als stabil erachtet o Transsituative Konsistenz  Persönlichkeitsmerkmale werden über verschiedene Situationen hinweg als stabil erachtet o Reaktionskonsistenz  Reaktionen sind auf verschiedenen „Kanälen“ analog [Bericht im Fragebogen steht im Einklang mit Erleben und körperlicher Reaktion]  Allports Definition der Persönlichkeit: o Persönlichkeit ist die dynamische Organisation jener psychophysischen Systeme innerhalb des Individuums, die sein charakteristisches Verhalten und Denken bestimmen  Vier Disziplinen der differentiellen Psychologie von William Stern anhand eines einfachen Schemas o Großbuchstaben = Personen o Kleinbuchstaben = Merkmale o Je nach Untersuchungsebene werden entweder ein oder wenige Merkmale an vielen Personen untersucht (= Differentielle Psychologie) oder ein oder weniger Personen an vielen Merkmalen untersucht (= Persönlichkeitspsychologie)  Cattell hat dieses Schema um eine dritte Dimension erweitert [= Situation / zeitliche Achse]  Cattells Würfel o Aus diesem Würfel ergeben sich 6 definierte Untersuchungstechniken in der Persönlichkeitspsychologie o Es wird jeweils eine Dimension konstant gehalten und zwei weitere Dimensionen untersucht o Beispiel: R-Technik: Zwei Merkmale werden über verschiedene Personen untersucht [Korrelationsdesign] o Beispiel: P-Technik: Zwei Merkmale werden über verschiedene Situationen untersucht [Konstanthaltung: eine Versuchsperson] PARADIGMEN UND THEORIEN DER PERSÖNLICHKEIT  Paradigmen stehen über Theorien und Methoden und beschreiben eine gemeinsame Auffassung über Gegenstand, Normen und Regeln zu gewissen Sachverhalten  Persönlichkeitspsychologie umfasst derzeit 6 verschiedene Paradigmen [Einzelheiten dazu im Kapitel 2 von Asendorpf]: o Eigenschaftsparadigma o Informationsverarbeitungsparadigma o Dynamisch-Interaktionistisches Paradigma o Neurowissenschaftliches Paradigma o Molekulargenetisches Paradigma o Evolutionspsychologisches Paradigma  Jedes Paradigma hat eigene konzeptuelle und methodische Wege um menschliches Erleben und Verhalten zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen und zu ändern  In der Literatur wird häufig von Persönlichkeitstheorien gesprochen (folgen strengen wissenschaftlichen Standards)  Quasi-Paradigmen wäre hier angebrachter PERSÖNLICHKEITSMERKMALE UND BEREICHE  Zuordnung von Persönlichkeitsmerkmalen in bestimmte Bereiche interindividueller Differenzen  Weber & Rammsayer klassifizieren Persönlichkeitsunterschiede in drei Bereiche:  Durch die Querbeziehungen zu Geschlecht, Biologie und Kultur können entsprechende Unterschiedsforschungen durchgeführt werden INTEGRATION: PERSÖNLICHKEITSTHEORIEN ALS QUASI-PARADIGMEN UND PERSÖNLICHKEISMERKMALE ALS DOMAIN- PROGRAMME  Theo Herrmann (1976) unterscheidet zwischen Quasi-Paradigmen und Domain-Programmen in der inhaltlichen Strukturierung der Persönlichkeitspsychologie  Entweder kann ein Paradigma sämtliche Merkmale aus methodischer und konzeptueller Sicht beleuchtet werden oder ein Persönlichkeitsmerkmal kann aus Perspektive verschiedener quasi-paradigmatischer Programme untersucht werden (= Domain-Programm) ANTHROPOLOGISCHE GRUNDANNAHMEN IN PERSÖNLICHKEITSTHEORIEN  Alltägliches und psychologisches Denken basiert auf Grundannahmen über die menschliche Natur  Hjelle & Ziegler (1992) haben 9 bipolare anthropologische Grundannahmen formuliert: o Freiheit vs. Determiniertheit o Rationalität vs. Irrationalität o Ganzheitlichkeit vs. Elementarismus o Konstitutionalismus vs. Environmentalismus o Veränderbarkeit vs. Unveränderbarkeit o Subjektivität vs. Objektivität o Proaktivität vs. Reaktivität o Homöostase vs. Heterostase o Erkennbarkeit vs. Unerkennbarkeit  Schneewind (1982) und Laux fügen weitere Dimensionen hinzu o Historizität vs. Ahistorizität o Sozialität vs. Asozialität o Idiographisches vs. nomothetisches Vorgehen  Die Positionen zwischen den Polen sollen ein konkretes Menschenbild charakterisieren und können unter drei thematischen Rubriken gruppiert werden: o Was determiniert das Verhalten des Menschen? o Wie veränderbar ist der Mensch? o Wie soll man den Menschen untersuchen?  Die letzte hinzugefügte Dimension beschreibt kein Verhalten an sich, sondern ein Vorgehen o Idiographisch  Beschreibung der menschlichen Einzigartigkeit o Nomothetisch  Naturwissenschaftliche Herangehensweise in der Suche nach Gesetzmäßigkeiten  Roberts & Yoon (2022) schlagen vier maßgebliche Analyseeinheiten für die Persönlichkeitspsychologie vor: o Persönlichkeitseigenschaften (Schwerpunkt) o Motivation (Inhalt von Modul 3b) o Fertigkeiten / Fähigkeiten (Schwerpunkt) o Narrative Identität (kurze Abhandlung im Modul) ASENDORPF – KAPITEL 1  Persönlichkeit  Gesamtheit von Persönlichkeitseigenschaften [Besonderheiten in der körperlichen Erscheinung und Regelmäßigkeiten im Erleben und Verhalten] ALLTAGSPSYCHOLOGIE  Alltagspsychologie  System tradierter Überzeugungen über menschliches Erleben und Verhalten und deren Ursachen  Laucken (1974): Analyse von Gesprächen, Film und Büchern bzgl. alltagspsychologischer Erklärungen zur Persönlichkeit o Alltagspsychologie der Persönlichkeit basiert auf Dispositionstheorie o Disposition  Überdauernde Merkmale einer Person, die eine Person in einer bestimmten Situation disponiert ein bestimmtes Verhalten zu zeigen o Dispositionen sind Verhaltensregelmäßigkeiten und kein Verhalten o Regeln der Intuition und Systematik bei der Interpretation von Persönlichkeitseigenschaften [analog der Verwendung von Grammatikregeln beim Sprechen]  Körperliche Merkmale werden neben Dispositionen ebenfalls verwendet, um Erleben und Verhalten von Personen zu beschreiben  Dispositionen lassen sich horizontal und vertikal verknüpfen: o Horizontale Verknüpfung: Bestimmte Dispositionen treten besonders neben anderen gleichzeitig auf [z.B. schöne Menschen sind eher intelligent] o Vertikale Verknüpfung: Bestimmte Dispositionen umfassen i.S.v. allgemeineren Dispositionen auch speziellere Eigenschaften [z.B. Angst  Prüfungsangst]  Alltagspsychologische Annahmen: o Körperliche Persönlichkeitseigenschaften kommen durch Vererbung und Disposition zustande [z.B. Lachfalten] o Verhaltensdispositionen werden durch Vererbung und Lernverhalten bestimmt o Vererbte Dispositionen sind schwer zu ändern  Alltagspsychologische Wissensstruktur ist zweckdienlich im täglichen Umgang mit anderen Menschen o Flexibilität des Verhaltens wäre ohne Alltagspsychologie stark eingeschränkt o Einflussmöglichkeiten auf andere Menschen wären kaum vorhanden o Gefühl der Sicherheit wird vermittelt, indem wir glauben zu wissen, wer der andere Mensch ist PSYCHOLOGISCHES PERSÖNLICHKEITSKONZEPT  Wissenschaften müssen gewissen Qualitätskriterien genügen  Alltagspsychologie wird der wissenschaftlichen Psychologie gegenübergestellt: o Explizitheit Begriffe und Aussagen werden genau definiert Alltagspsychologische Begriffe werden nicht klar formuliert und auch schwammig verwendet o Widerspruchsfreiheit Wissenschaftliche Theorien und Aussagen widersprechen sich nicht Alltagspsychologische Konzepte stehen oftmals im Widerspruch und verwenden auch öfter Scheinerklärungen o Vollständigkeit Alle bekannten Begriffe und Phänomene einer Theorie sollten erklärt werden können Alltagspsychologische Konzepte erklären fast alle beobachtbaren Phänomene o Sparsamkeit Verwendung möglichst weniger Grundbegriffe Alltagspsychologie verwendet eine schiere Masse an Begriffen o Produktivität Theorien sollen neue Fragestellungen erzeugen und die Forschung voranbringen Alltagspsychologie würde sich in ihrer riesigen Komplexität eher verzetteln statt neue Ideen hervorzubringen o Anwendbarkeit Theorien sollen sich praktisch anwenden lassen können Alltagspsychologie ist durchaus anwendbar im Hinblick auf praktische Verwendung  Psychologie ist eine empirische Wissenschaft [= Erfahrungswissenschaft], ihr liegen zudem noch zwei weitere Kriterien zugrunde: o Empirische Verankerung: - Beobachtung von theoretischen Konstrukten, die nicht direkt beobachtbar, aber über das Verhalten erschließbar sind - Hierfür werden entsprechende Messverfahren verwendet, die eine Operationalisierung der Konstrukte erfordern - Empirische Verankerung besteht aus den operationalen Definitionen und einem Bedeutungsüberschuss [z.B. spezifische Situationen] - In der Alltagspsychologie werden demgegenüber nur geringe Anforderungen gestellt [unpräzise & schwammig bzgl. Verhaltensregelmäßigkeit] - Oftmals liegt alltagspsychologischen Erklärungen ein Zirkelschluss zugrunde: Ein Verhalten, wird durch das Verhalten selbst erklärt o Empirische Prüfbarkeit: - Erwartung an Wissenschaften ist die empirische Prüfbarkeit der getroffenen Aussagen / Hypothesen - Alltagspsychologische Aussagen können immunisiert und angepasst werden, dass sie grundsätzlich immer auf das beobachtete Verhalten passen  Persönlichkeitspsychologie  empirische Wissenschaft von den individuellen Besonderheiten von Menschen in ihrer körperlichen Erscheinung, ihrem Erleben und Verhalten o Zeitlich stabile Eigenschaften o Individuelle Besonderheit [bei Personen ähnlichen Alters und gleicher Kultur / passende Referenzpopulation] o Normalvariante [Pathologische Befunde dürfen keinen Einfluss auf die Untersuchung nehmen]  Persönlichkeit  Nicht-pathologische Individualität eines Menschen in körperlicher Erscheinung, Verhalten und Erleben im Vergleich zu einer Referenzpopulation von Menschen gleichen Alters und gleicher Kultur ASENDORPF – KAPITEL 2  Wissenschaftsparadigma  Einigermaßen zusammenhängendes, von vielen Wissenschaftlern geteiltes Bündel aus theoretischen Leitsätzen, Fragestellungen und Methoden, das längere historische Perioden in der Entwicklung einer Wissenschaft überdauert  Paradigmen können sich weiterentwickeln, mit anderen Paradigmen koexistieren und ein neues kann ein altes Paradigma ablösen (= Paradigmenwechsel)  Es werden sechs geläufige Paradigmen in der Persönlichkeitspsychologie beschrieben  Alle Paradigmen sind nicht historisch aufeinander aufbauend, jedoch besitzen sie einige Querverbindungen  Die Auflistung erfolgt anhand der Forschungsaktivitäten innerhalb der jeweiligen Paradigmen EIGENSCHAFTSPARADIGMA  Basiert auf alltagspsychologischem Eigenschaftskonzept  Berücksichtigt charakteristische körperliche Merkmale und Verhaltensweisen, die durch wiederholte Beobachtungen erschlossen werden  Referenzpopulation ähnlicher Personen (gleiches Alter / gleicher kultureller Hintergrund), um Unterschiede zu betrachten (differentieller Ansatz)  Individualität wird mit Vergleich durch vergleichbare Personen hervorgehoben  Betrachtung vieler verschiedener Eigenschaften ermöglicht ein umfassendes Persönlichkeitsprofil VON STERNS SCHEMA ZU CATTELLS WÜRFEL  William Stern präsentiert das Eigenschaftsparadigma, das auf der Differentiellen Psychologie basiert  Francis Galton und Alfred Binet beschäftigten sich vor Stern mit Eigenschaftsunterschieden  Stern verbindet die variablenorientierte Sichtweise (differentielle Psychologie) mit der personenorientierten Sichtweise (Persönlichkeitspsychologie)  Gilt als Grundlagenarbeit für das Eigenschaftsparadigma  Untersuchung von intraindividueller und interindividueller Variationen von Eigenschaften  Schema ignoriert die zeitliche Komponente von Eigenschaften  Raymond Cattell erweitert Sterns Schema um eine zeitliche Dimension [je nach Interpretation  s.u.]  Persönlichkeit eines Menschen wird als zeitlich stabiles Persönlichkeitsprofil in vielen Merkmalen betrachtet  Persönlichkeitseigenschaft wird als Merkmal betrachtet, das zeitlich stabil ist und unterschiedliche Ausprägungen bei Personen aufweist  Wenn sich alle Personen innerhalb eines Merkmals ändern würden, würde sich die Rangfolge der Person nicht ändern (= Stabilität des Merkmals) KOVARIATIONSWÜRFEN = INTERPRETATION VON MESSGELEGENHEITEN:  Kovariationswürfel ermöglicht verschiedene Interpretationen von „Messgelegenheiten“  Cattell definiert Messgelegenheit als Wiederholung der Merkmalsmessung mit ähnlichem Verfahren (= längsschnittliches Studiendesign)  Unterschiedliche Interpretationen von „Messgelegenheit“ eröffnen Möglichkeiten für Studien zur Persönlichkeitsentwicklung o Langfristige Stabilität - Untersuchung durch Längsschnittstudien - Ähnliche Persönlichkeitsprofile derselben Kohorte gelten als Indikator für Stabilität o Transsituative Konsistenz - Sind Unterschiede in einer Eigenschaft zwischen verschiedenen Situationen ähnlich? - Alltagspsychologisch erwartete Konsistenz ist geringer als erwartet - Allport und Mischel haben die niedrige transsituative Konsistenz untersucht  Mischel schloss daraus, dass verhalten mehr durch Situationen als durch Persönlichkeitseigenschaften bedingt sei  Spätere Erkenntnisse zeigen jedoch, dass individuelle Eigenschaften trotz variablen Verhalten transsituativ sein können - Niedrige transsituative Konsistenz kann mit stabilen individualtypischen Situationsprofilen einhergehen o Reaktionskohärenz - Personen reagieren in verschiedenen Situationen innerhalb einer Eigenschaft ähnlich (biologisch-physiologische Komponente) - Ähnliche Probleme bei der Reaktionskohärenz wie bei transsituativer Konsistenz bei Untersuchungen gefunden - Physiologische Stressreaktionen zeigen oft niedrige Reaktionskohärenz - Individuelle Reaktionshierarchien erklären jedoch die Vielfalt der Stressreaktionen  Einige Personen reagieren unter Stress mit bestimmten physiologischen Reaktionen wie Blutdruck, Herzfrequenz oder Schwitzen  Es gibt zeitstabile individualtypische Reaktionsprofile, ähnlich wie individuelle Situationsprofile INFORMATIONSVERARBEITUNGSPARADIGMA  Menschliches Erleben und Verhalten basiert auf Informationsverarbeitung im Nervensystem  Reize aus der Umwelt und dem eigenen Körper werden über Sinnesorgane empfangen und in andere Informationen umgewandelt  Diese Prozesse nutzen Informationen aus dem Gedächtnis, um Verhalten und Erleben zu steuern  Persönlichkeitsdispositionen basieren auf individuellen, zeitlich stabilen Parametern der Informationsverarbeitung und Gedächtnisinhalten  Beispiele für Anwendungen: Intelligenz, Einstellungen, Temperamentforschung, Motivationsforschung und Selbstkonzeptforschung INTELLIGENZFORSCHUNG  Francis Galton unternahm erste Versuche zur Erfassung von Intelligenz durch Tests für visuelle, akustische und Gedächtnisleistungen o 1884 errichtete der ein anthropometrisches Labor, wo Ausstellungsbesucher gegen Gebühr getestet wurden o Zusammenhänge zwischen den Testergebnissen waren jedoch gering  70 Jahre später wurden deutliche Zusammenhänge zwischen Intelligenz und Parametern in einfachen kognitiven Aufgaben entdeckt o Arthur Jensen fand 1979 einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Reaktionszeit bei Entscheidungsaufgaben o Ted Nettelbeck entdeckte 1982 ähnliche Zusammenhänge für visuelle Inspektionszeit o Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung bei einfachen Aufgaben (= Mental Speed) wurde als Hauptmessgröße identifiziert  Ab den 1950er Jahren wurde die Erfassung von Intelligenz durch Gedächtnisleistungen wieder aufgegriffen, insbesondere Bestimmung Arbeitsgedächtniskapazität o George A. Miller (1956) postulierte, dass Erwachsene etwa 7 +/- 2 Elemente gleichzeitig im Gedächtnis behalten könnten o Kyllonen und Christal (1990) fanden engen Zusammenhang zwischen der Kapazität der Arbeitsgedächtnisses und verbalen / mathematischem Denken  Intelligenzunterschiede hängen also mit der Geschwindigkeit elementarer Informationsverarbeitungsprozesse und der Arbeitsgedächtniskapazität zusammen EINSTELLUNGSFORSCHUNG  Persönlichkeitspsychologie nutzt Informationsverarbeitungsmodelle zur Einstellungsforschung  Einstellungen sind individuelle Bewertungen von Objekten auf einer positiv-negativ Skala  Frühe Forschungen zeigten geringe Zusammenhänge zwischen erfragten Einstellungen und beobachtetem Verhalten  Wicker (1969) und Mischel (1968) schlossen, dass individuelles Verhalten hoch situationsabhängig sei /nicht durch einheitliche Einstellungen vorhersagbar seien o Einstellungsforschung begann, implizite Einstellungen zu erforschen, die nicht bewusst erfragt werden können, aber dennoch Verhalten beeinflussen o Freud postulierte bereits früh unbewusste Prozesse, die unser Verhalten steuern, was auch für Einstellungen gelten könnte o Affektives Priming wurde genutzt, um implizite Einstellungen zu erfassen o Fazio (1986) zeigte, dass Einstellungsobjekte als Primes Reaktionen auf ähnlich bewertete Worte beschleunigen und auf gegensätzlich bewertete Worte verlangsamen  Greenwald (1998) entwickelte Implizite Assoziationstests (IAT) zur zuverlässigeren Messung impliziter Einstellungen o IATs zeigen eine höhere zeitliche Stabilität als affektives Priming o Sie zeigen jedoch immer noch niedrigere Stabilität als erfragte Einstellungen und Persönlichkeitsbeurteilungen in Fragebögen DYNAMISCH-INTERAKTIONISTISCHES PARADIGMA  Untersuchung der Persönlichkeitsentwicklung im Lebensverlauf  Betonung der Wechselwirkungen von Persönlichkeit und Umwelt und die Dynamik dieser Interaktionen über die Zeit  Fokus liegt auf den Veränderungen der Persönlichkeitsmerkmale / seltener: Untersuchung zu Veränderungen von Persönlichkeitsprofilen insgesamt  Dynamisch-Interaktionistische Sichtweisen entwickelten sich langsam aus einseitigen Betrachtungsweisen heraus (Einfluss aus Psychoanalyse, Behaviorismus, Bindungstheorie)  Paradigma integriert Persönlichkeits- und Umwelteinflüsse BINDUNGSTHEORIE  Sigmund Freud legte den Grundstein für die Psychoanalyse und betonte die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen, insbesondere mit der Mutter, für die Entwicklung der Persönlichkeit  In den 1950er Jahren wurde diese Ideen in den psychoanalytischen Objektbeziehungstheorien weiter vertieft (phantasierte oder reale Beziehung zu primären Bezugspersonen sei prägend für die spätere Persönlichkeit und Beziehungsgestaltung)  John Bowlby verband diese Idee mit evolutionären und systemischen Konzepten o Postulat eines angeborenen Bindungssystems, das bei Gefahr Nähe zur primären Bezugsperson sicherstellt und im zweiten Lebensjahr aktiv wird o Erfahrungen in dieser Zeit prägen die Erwartungen des Kindes an Schutz und Unterstützung im Erwachsenenalter o Mary D. Ainsworth entwickelte den Fremde-Situations-Test, um Bindung bei Säuglingen zu diagnostizieren (ängstlich-ambivalent, vermeidend, sicher) o Bindungskonzept konnte später auf Erwachsene übertragen werden (verschiedene Methoden wie das Adult Attachment Interview (=AAI))  Frühe Bindungserfahrungen prägen nicht alleine die späteren Beziehungen, sondern auch emotionale Beziehungserfahrungen  Bindungsforschung entwickelte sich zu einer dynamisch-interaktionistischen Sichtweise  Innere Arbeitsmodelle für Beziehungstypen stehen in Wechselwirkung mit Beziehungserfahrungen und verändern sich dadurch kontinuierlich LERNTHEORIE  Lerntheorie untersucht Persönlichkeitsunterschiede durch unterschiedliche Lernerfahrungen  Es werden drei Arten des Lernen unterschieden: o Klassisches Konditionieren (Iwan Pawlow)  Reiz-Reaktionslernen o Operantes Konditionieren (B.F. Skinner)  Lernen aus Konsequenzen o Beobachtungslernen (A. Bandura)  soziales Lernen durch Beobachtung anderer Personen  Traditionelle Annahme, dass Lernende Opfer ihrer Lernbedingungen seien (insbesondere im Behaviorismus durch Watson)  Erklärung von Persönlichkeitsunterschieden durch Lernen ist komplex, da die Lerngeschichte einer Person schwer rekonstruierbar ist und Erinnerungen an die Kindheit oft an aktuelle Persönlichkeitsmerkmale angepasst werden (Rückschaufehler)  Individuen lernen nicht gleich schnell und erfolgreich, und Vorwissen beeinflusst den Lernfortschritt  Klassische Lernerklärungen halten einer genaueren Analyse oft nicht stand, da sie nicht die dynamischen Wechselwirkungen zwischen Lernfähigkeit, Interessen, Wissen und Erfahrungen berücksichtigen  Beispiele wie das Spielen typisch männlicher Spiele zwischen Vätern und Söhnen zeigen, dass Persönlichkeitsentwicklung nicht allein durch Lernerfahrungen gesteuert wird, sondern auch genetische und individuelle Faktoren eine Rolle spielen VERHALTENSGENETIK  Forschung zum genetischen Einfluss auf Persönlichkeitsunterschiede hat sich im Lauf der Zeit zum dynamisch-interaktionischen Verständnis entwickelt  Francis Galton gilt als Begründer der Verhaltensgenetik [Untersuchung des Einfluss von Vererbung auf Intelligenz]  Verhaltensgenetik sucht nach genetischen Einflüssen auf Persönlichkeitsunterschiede durch den Vergleich mit genetisch verwandter Familienmitglieder  Ronald A. Fisher entwickelte Methoden zur quantitativen Bestimmung der Stärke des genetischen Einflusses  Verhaltensgenetik war historisch durch Fehlinterpretationen von Darwins Evolutionstheorie und den Missbrauch durch die Eugenik belastet und Skandale wie die möglichen Verfälschungen von Zwillingsdaten durch Cyril L. Burt führten zu einem schlechten Ruf  In den 1970er Jahren erfuhr die Verhaltensgenetik Aufschwung und zählt heute zu den anspruchsvollsten Gebieten der Persönlichkeitsforschung  Feststellung, dass Persönlichkeitsunterschiede sowohl durch genetische als auch durch Umweltfaktoren bedingt sind  Robert R. Plomin zeigte in einer bahnbrechenden Arbeit 1977, dass genetische und Umwelteinflüsse wechselseitig voneinander abhängig sind [bestimmte Genome sind in bestimmten Umwelten besonders häufig anzutreffen]  Im Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung interagieren genetische und Umweltfaktoren dynamisch miteinander, wobei auch Umweltbedingungen genetische Einflüsse beeinflussen können [z.B. Prinzip der Methylierung]  Verhaltensgenetik betont demnach die dynamische Wechselwirkung zwischen genetischen und Umweltbedingungen in der Persönlichkeitsentwicklung NEUROWISSENSCHAFTLICHES PARADIGMA  Informationsverarbeitung im menschlichen Körper basiert hauptsächlich auf dem Nervensystem (ZNS + PNS)  Nervenzellen (Neurone) sind die grundlegende Einheit des Nervensystems o Afferente Neurone senden Informationen über den Zustand des Körpers zum Gehirn o Efferente Neurone kontrollieren den Körper o Interneurone vermitteln zwischen afferenten und efferenten Nerven  Neurowissenschaft beschäftigt sich mit der Informationsübertragung im Nervensystem o Persönlichkeitspsychologie versucht, Unterschiede auf neurobiologischer Ebene zu erklären o Unterschiede betreffen hierbei nicht nur das Nervensystem, sondern auch andere biologische Systeme: Muskulatur, Herz-Kreislauf, Hormone, Immunsystem  Geschichte der Neurowissenschaften und des neurowissenschaftlichen Paradigmas in der Persönlichkeitspsychologie ist geprägt von der Entwicklung von immer sensibleren Messmethoden (fMRT, EEG)  Anwendungen des neurowissenschaftlichen Paradigmas sind: Intelligenz, Temperament und Geschlechtsunterschiede TEMPERAMENTSUNTERSCHIEDE  Temperament besteht aus Persönlichkeitseigenschaften, der „drei A der Persönlichkeit“: o Affekt o Aktivierung o Aufmerksamkeit  Erste Beschäftigung durch den griechischen Arzt Galen (ca. 130 – 200 n.Chr.), der sich auf die Theorie der vier Körpersäfte nach Hippokrates bezog: o Blut = Sanguiniker o Schleim = Phlegmatiker o Gelbe Galle = Choleriker o Schwarze Galle = Melancholiker  Wilhelm Wundt (1900) erweiterte diese Typenlehre zu einem zweidimensionalem Modell: o Stärke der Gemütsbewegung o Schnelligkeit des Wechsels der Gemütsbewegung  Hans Eysenck als Psychiater in einer Londoner Psychiatrie untersuchte mittels Fragebögen das Temperament der Patienten und untersuchte Dimensionen, die dem Schema von Wundt gut entsprachen: o Extraversion (extravertiert – introvertiert)  Stärke der Gemütsbewegung o Neurotizismus (instabil – stabil)  Schnelligkeit des Wechsels der Gemütsbewegung  Hans Eysenck schuf eine neurowissenschaftliche Theorie zur Erklärung von Extraversion und Neurotizismus o Schlaf-Wach-Regulation und Aufmerksamkeitssteuerung durch Aktivität des aufsteigenden retikulären aktivierenden Systems (ARAS) im Hirnstamm o Introvertierte = niedrige physiologische Aktivierungsschwelle / niedriges Aktivierungspotential verursacht Reaktion eher als bei Extravertierten o Nicht-linearer Zusammenhang zwischen Aktivierungspotential und emotionaler Qualität o Zusammenhang zwischen Neurotizismus und dem limbischen System [emotional labile Menschen sollten eher auf angst- oder stressauslösende Situationen mit limbischer Aktivierung reagieren] o These jedoch schwer zu testen, da damalige Untersuchungsmethoden nicht geeignet waren (EEG kann Aktivitätsmuster des limbischen Systems nicht erfassen)  Aus Forschung durch Eysenck ließen sich zwei Forschungsstränge ableiten: o Temperamentunterschiede durch multivariate Psychophysiologie - Gleichzeitige Messung verschiedener physiologischer Parameter - Jochen Fahrenberg  Ambulantes Monitoring - Fehlende Reaktionskohärenz physiologischer Reaktionen o Temperamentunterschiede auf bestimmte neurophysiologische Systeme - Jeffrey Gray (1982) – zwei neurowissenschaftlich beschreibbare Verhaltenssysteme (BIS = behavioral inhibition system) / BAS = behavioral activation system)  Gehemmtheit = E-N+ (introvertiert / instabil) / E+N- (extravertiert / stabil)  Impulsivität = E+N+ (extravertiert / instabil) / E-N- (introvertiert / stabil) - Richard A. Depue (1999) – Hinzufügen einer dritten Temperamentsdimension (Kontrolliertheit [Überkontrolle – Unterkontrolle])  Unterschiede in neurochemischen Systemen vermittelt durch die Neurotransmitter Dopamin, Noradrenalin und Serotonin INTELLIGENZ  Intelligenzunterschiede neuroanatomisch zu erfassen war lange Zeit nicht erfolgreich / neure Methoden mit fMRT zur Messung des Hirnvolumens ermöglicht es  Überzufälliger Zusammenhang zwischen Gehirnvolumen und Testintelligenz  EEG-Messungen ermöglichen die Feststellung von Nervenleitgeschwindigkeit  Forschung der neuronalen Effizienz  Feststellung, dass intelligente Menschen mit zunehmender Vertrautheit mit einer Aufgabe weniger Neurone beanspruchen und somit weniger Energie brauchen  Kausalfrage ist jedoch unklar: Sind intelligente Menschen deshalb intelligenter, weil sie ein größerer und effektiveres Gehirn haben oder andersrum?  Es gibt hierbei keine rein biologistische bzw. psychologistische Sichtweise  Analog dynamisch-interaktionischem Paradigma  Interaktionistischer Einfluss MOLEKULARGENETISCHES PARADIGMA  Gregor Mendel untersuchte Vererbungsregeln für Merkmale an Erbsen im Klostergarten (1866 veröffentlichte er die Ergebnisse)  Erst in den 1940er Jahren wurde die Vererbungslehre mit der Verhaltensgenetik und der Evolutionstheorie verknüpft zur modernen Synthese der Evolutionsbiologie  Variation innerhalb biologischer Arten wurde in der Variation einzelner Gene in Form qualitativ unterschiedlicher Allele beschrieben  Entdeckung der DNA (Desoxyribonukleinsäure) in Form einer Doppelhelix eröffnete weitere Möglichkeiten zur Erforschung des Genoms  Individuelle Besonderheiten in der Persönlichkeit = individualtypisches Allelmuster o Einzelne Allele erklären kaum Normalvarianten der Persönlichkeit o IQ-QTL (Intelligenz-Quantitative Trait Loci)  bestimmte Persönlichkeitseigenschaften (z.B. Intelligenz) werden durch viele häufige Allele bedingt o Dieses Vorgehen ließ sich jedoch nicht bestätigen  Genomweite Assoziationsstudien (GWAS) untersucht Basenpaare und versucht sie bestimmten Persönlichkeitseigenschaften zuzuordnen o Mehrere Millionen SNPs (= Single Nucleotide Polymorphism) bedingen ein statistisches Problem o Ergebnisse aller untersuchten SNP-Effekte müssen simultan berücksichtigt werden o Yang et al. (2010)  Analyse von 300 000 SNPs  Körpergröße konnte zu über 50% genetisch aufgeklärt werden  Ansatz der Genom-Umwelt-Interaktion o Genetische Wirkungen hängen von bestimmten Umweltbedingungen und die Wirkung einer Umweltbedingung von den Allelen des Gens ab o Avshalom Caspi (2002)  erste Hinweise auf eine spezifische Gen-Umwelt-Interaktion in der Persönlichkeitsentwicklung o Interaktion zwischen zwei Allelen bei einem bestimmten Stimulus fördert die Ausprägung einer bestimmten Persönlichkeitseigenschaft EVOLUTIONSPSYCHOLOGISCHES PARADIGMA  Postulat, dass menschliches Erleben und Verhalten als Produkt der Evolution betrachtet werden können o Prozess erstreckt sich über viele Millionen Jahre und beinhaltet die genetische Anpassung von Lebewesen an ihre Umwelt o Menschen sind demnach primär an die Umwelt der evolutionären Vorfahren angepasst und nicht zwangsweise der gegenwärtigen Umgebung  Evolutionstheorie geht auf Charles Darwin (1859) zurück [Vielfalt der Arten durch Variation und natürliche Auslese] o In dieser Zeit war nicht klar, was genau variiert, vererbt oder ausgewählt wird [Genetik füllte diese Lücke später  Allele werden vererbt, variiert und ausgewählt] o Es konkurrieren verschiedene Allele in der natürlichen Auslese und je nach Umwelt ändert sich jeweils ihre Häufigkeit aufgrund Fortpflanzungschancen (Fitness) o Umwelt beeinflusst die Reproduktion von Allelen, die somit „natürlich ausgewählt“ werden o Natürliche Auslese ist der entscheidende Mechanismus, der Allele, Gene und Lebewesen an die Umwelt anpasst  Sexuelle Selektion (Darwin, 1871): o Intrasexuelle Selektion bezieht sich auf die Rivalität innerhalb der Geschlechter, um Sexualpartner zu gewinnen und Rivalen abzuschirmen o Intersexuelle Selektion bezieht sich auf die sexuelle Attraktivität beim anderen Geschlecht o Natürliche Auslese basiert auf dem Fortpflanzungserfolg von Allelen, der bei Menschen wesentlich von der intra- und intersexuellen Selektion abhängt  William D. Hamilton (1964)  die Fitness eines Individuums basiert auf zwei Komponenten: o Fortpflanzungserfolg der eigenen Allele o Fortpflanzungserfolg der Allele von genetisch Verwandten (inklusive Fitness)  Edward O. Wilson (1975)  Soziobiologie als Evolutionsbiologie des Sozialverhaltens o Anwendung evolutionsbiologischer Prinzipien auf das Sozialverhalten verschiedener Tierarten o Führte zu Kontroversen unter den Sozialwissenschaftlern (wg. Ignoranz biologischer Einflüsse in sozialen Phänomenen) o Kritik aufgrund von Spekulationen über optimal angepasstes Verhalten in einer hypothetischen Umwelt der Vergangenheit und dem Mangel an Beweisen genetischer Einflüsse auf das Verhalten o Soziobiologen unterschieden zwischen ultimativen und proximaten Erklärungen: - Ultimativ  basieren auf Selektionsdruck und beschreiben, wie sich Individuen unter den angenommenen Umweltbedingungen der evolutionären Vergangenheit verhalten haben sollen - Proximat  beschreiben die Mechanismen, die Individuen tatsächlich dazu gebracht haben, sich so zu verhalten - Vollständige und überzeugende evolutionsbiologische Erklärungen erfordern sowohl ultimative als auch proximate Erklärungen, die durch Angabe von proximaten Mechanismen unterstützt werden o Untersuchung von Neyer und Lang (2003) zum Zusammenhang zwischen genetischem Verwandtschaftsgrad „r“ und der beurteilten emotionalen Nähe zu Bezugspersonen bei 1 365 älteren Deutschen - Klarer Zusammenhang zwischen genetischer Ähnlichkeit und emotionaler Nähe - Proximater Mechanismus, der aufgrund emotionaler Nähe zu Hilfe führt, würde die inklusive Fitness erhöhen - Interessanterweise war jedoch die emotionale Nähe zum genetisch nicht verwandten Partner besonders hoch - Dies legt nahe, dass die Daten besser durch einen proximaten Mechanismus erklärt werden können, der besagt, dass man Vertrauten hilft, da vertraute Personen eher genetisch verwandt sind (mit Ausnahme des Partners) o Erklärungen menschlichen Erlebens und Verhaltens beziehen sich auf biologische ultimative und psychologisch proximate Erklärungen  In den letzten Jahren liegt der Fokus der evolutionspsychologischen Forschung zunehmend auf proximaten Erklärungen  John Tooby und Lea Cosmides (1990)  Prägung des Begriffs „evolvierter psychologischer Mechanismus“ o Abgrenzung von Evolutionspsychologie zur Soziobiologie o Entstehung des evolutionspsychologischen Paradigmas der Persönlichkeitspsychologie o EPM – Evolvierter Psychologischer Mechanismus: - Bereichsspezifischer proximater Mechanismus, der ultimativ verständlich ist - Es wird von ihm angenommen, dass er genetisch vererbt wird  Persönlichkeitsunterschiede werden aus dieser evolutionspsychologischen Perspektive vor allem auf zwei Prinzipien zurückgeführt: o Frequenzabhängige Selektion - Die Fitness eines Gens hängt von seiner Häufigkeit in der Population ab - Geschlechterverhältnis  eigentlich sind nur wenige Männer notwendig, doch ist das Geschlechterverhältnis im frühen Erwachsenenalter 1:1 - Frequenzabhängige Selektion führt nicht zwangsläufig zu gleichen Proportionen konkurrierender Gene, sondern sie müssen langfristig koexistieren, da die Fitness des einen Gens abnimmt, wenn sein Anteil in der Population zunimmt, bis sie geringer ist als die des anderen Gens o Konditionale Entwicklungsstrategien - Evolvierte psychologische Mechanismen, die die Individualentwicklung in unterschiedliche Richtungen lenken, abhängig von den typischen Umweltbedingungen unserer evolutionären Vorfahren - Ein Beispiel dafür ist die Brücke, die Draper und Harpending (1982) zwischen väterlicher Fürsorge im Kindesalter und der sexuellen Reifung von Mädchen schlugen. - Sie argumentierten, dass die väterliche Fürsorge ein Indikator für die künftige soziale Umwelt der Mädchen sei. Daher sei es für Mädchen adaptiv, sich bei wenig Fürsorge schnell zur Geschlechtsreife zu entwickeln, um möglichst viele Kinder gebären zu können. Bei viel Fürsorge sollten sie sich eher Zeit lassen, um nach Partnern mit vielen Ressourcen zu suchen, um das Überleben ihrer Kinder zu sichern. - Diese Vorhersagen wurden empirisch weitgehend bestätigt, und ein evolvierter psychologischer Mechanismus hierfür ist die Beschleunigung der weiblichen Reifung durch Geruchsstoffe nicht verwandter männlicher Artgenossen, wie bei verschiedenen Säugetierarten nachgewiesen. - Ellis und Garber (2000) fanden in Übereinstimmung damit heraus, dass die erste Regelblutung besser durch die Dauer des Zusammenlebens mit Stiefvätern und Freunden der Mutter vorhergesagt wurde als durch die Dauer der Abwesenheit des leiblichen Vaters. RAUTHMANN – KAPITEL 3.2.2 – KONSTITUTIONSPSYCHOLOGISCHE STRÖMUNGEN  Konstitutionstypologien suchen nach Zusammenhängen zwischen körperlicher Konstitution und psychologischen Merkmalen  Fokussierung auf Ableitung von Typen [Personengruppen]  Ansätze beziehen sich insbesondere auf frühe Temperamentslehren und körperbaubezogene Ansätze [bilden Vorläufer des biologischen Paradigmas] FRÜHE TEMPERAMENTLEHREN  Temperament wurde in philosophischer und frühmedizinischer Auseinandersetzung mit Persönlichkeit im Sinne von Menschentypen klassifiziert  Sie sind Vorläufer einer biologisierten Persönlichkeitsforschung verstanden werden und suchen nach Unterschieden in biologischen Stoffen  Hippokrates und Galenos » Humoralpathologie / Viersäftelehre auf Basis der Elementtheorie von Empedokles » Vier Körpersäfte können aufgrund eines Mangels oder Überflusses körperliche Probleme hervorrufen [Streben nach einem ausgewogenen Verhältnis] » Die Körpersäfte nehmen biologische Prozesse als Ursache für Temperament an:  Immanuel Kant » Entwicklung einer eigenen Temperamentslehre basierend auf Hippokrates und Galenos » Kant interessierte sich nicht für das physiologische Temperament, sondern für das psychologische Temperament » Annahme einer Kreuzung von Temperamentsmodalität (Gefühl vs. Tätigkeit) und Erregbarkeit vs. Abspannung an  vier unterschiedliche Temperamentstypen ohne Möglichkeit von Mischtypen » Biologische Ursachen spielten bei Kant somit keine Rolle  Wilhelm Wundt » Führte erstmals eine dimensionale Beschreibung von Temperament ein aus der auch Temperamenttypen abgeleitet werden konnten » Heutige Ansätze in der Persönlichkeitspsychologie vertreten ebenfalls dimensionale Ansätze » Unterscheidung zwischen „Stärke des Affekts“ und „Schnelligkeit des Wechsels von Affekten“ » Auch heute ist der Affekt einer von drei Bestandteilen des Temperaments (drei A’s = Affekt, Aufmerksamkeit, Aktivierung) KÖRPERBAUBEZOGENE ANSÄTZE  Körperbaubezogene Ansätze sind ein Abkömmling psychognostischer Ansätze bei denen der Körperbau und die Körperform im Vordergrund stehen  Kretschmer und Sheldon nahmen in ihren typologischen Ansätzen einen Zusammenhang zwischen Körperbau und Persönlichkeit an:  Ernst Kretschmer: » Auf Basis von Beobachtungen als Psychiater legte er bedeutsame Zusammenhänge zwischen Körperbau und psychischen Störungen dar » Er trennte dabei bereits zwischen Temperament (biologisch fundiert) und Charakter (Umweltbedingt) » Psychische Prozesse seien von der Biologie beeinflusst  auch dieser Ansatz wird noch heute vertreten » Auf Basis der Beobachtung leitet Kretschmer vier Typen ab, wobei außer dysplastisch alle übrigen Typen einen charakteristischen Körperbau aufweisen: > Leptosom > Pyknisch > Athletisch > Dysplastisch » Kretschmer prägte die Kontinuitätshypothese, die besagte, dass es einen fließenden Übergang von „normal = gesund“ zu „abnormal = krank“ gibt » Er unterstrich auch, dass es keine „Eins-zu-Eins-Ableitung“ von Körperbau und Persönlichkeit gibt (aufgrund von Umwelteinflüssen) » Problematik des Ansatzes: > Mangelhafte Tests [keine statistischen Tests, sondern nur deskriptive Zahlenangaben] > Mangelnde Generalisierbarkeit [limitierte Aussagen auf „reine“ Typen] > Subjektivität [höchst subjektives Vorgehen aufgrund bloßer Betrachtung] > Alterskonfundierung [Korrelation zwischen Körperbau und Temperament könnte auch durch das Alter konfundiert sein] > Übertragbarkeit [lassen sich Befunde von psychiatrischen Patienten auch auf gesunde Personen übertragen?]  William H. Sheldon: » Ziel: Auffinden grundlegender Dimensionen (Primärfaktoren) der körperlichen Konstitution und des Temperaments » Ausgangspunkt seiner Untersuchungen im Gegensatz zu Kretschmer waren gesunde Personen » Untersuchung an 4 000 männlichen Studierenden ergab drei körperliche Primärfaktoren, die auf die pränatale Keimblatt-Ausbildung abstellte: > Endomorphie [Entoderm]  Rundlich, bauchig, weich, stattlich > Mesomorphie [Mesoderm]  Muskulös, starke Knochenentwicklung, sehnig, dicke Haut, fester Körper > Ektomorphie [Ektoderm]  Zart, zerbrechlich, schwach, dünn » Klassifikation nach 7-stufiger Likert-Skala, jedoch Typologie in jene Klasse, die überwiegt » Mischungen waren somit möglich (7 x 7 x 7 = 343 Mischungsmöglichkeiten) / Mischformen wurden Somatotypen genannt » 50 Primärfaktoren des Temperaments wurden mit Hilfe von Fragebogenuntersuchungen aus 650 Merkmalen extrahiert  ebenfalls drei Primärfaktoren: > Viscerotonia > Somatotonia > Zerebrotonia » Erfassung dieser Temperamenttypen über seine „Scale for Temperament“ » Auffinden hoher Konvergenzen zwischen Somatotyp und Temperamenttyp » Problematik des Ansatzes: > Mangelhafte Generalisierbarkeit [Limitation innerhalb der Stichproben (z.B. nur männliche Studierende)] > Beurteilungsverzerrung [Beurteilung durch Sheldon selbst  common method bias] > Mangelhafte psychometrische Güte der Messinstrumente [geringe Reliabilität der Messinstrumente] > Mangelhafte Replikation [Korrelationen in späteren Replikationen sind deutlich geringer] > Keimblätter [Einfluss der Keimblätter auf den späteren Konstitutionstyp ist nicht haltbar] DIAGNOSTIK STUDIENBRIEF – KAPITEL 1 + KAPITEL 2  Psychologische Diagnostik stellt eine Querschnittsdisziplin dar, da sie Grundlagen- und Anwendungsfächer durchzieht  Im Rahmen der diagnostischen Datenerhebung gilt das Prinzip „Garbage-In, Garbage-Out“; wer Datenmüll erhebt, erhält Datenmüll als Resultat  Ziel der Diagnostik ist die sachgemäße und valide Feststellung von psychischen Zuständen und Eigenschaften o Sie kann Leider mindern und finanzielle Verluste verhindern o Sie kann im Rahmen einer Ressourcenorientierung Potentiale von Individuen und Gruppen aufdecken  Von Psychologen wird erwartet, dass sie kompetent im Rahmen der Diagnostik sind WAS IST PSYCHOLOGISCHE DIAGNOSTIK?  Im Rahmen der vielschichtigen Definitionen [s.u. Definition von Schmidt-Atzert] werden einige Punkte besonders hervorgehoben: o Methodenlehre im Dienste der angewandten Psychologie o Gezielte und regelgeleitete Sammlung und Verarbeitung von Daten, die für die Bearbeitung einer Fragestellung relevant sind o Fragstellung der Diagnostik: Beschreibung, Klassifikation, Erklärung und Vorhersage von Unterschieden zwischen und innerhalb von Personen o Sie bezieht sich sowohl auf Einzelpersonen als auch auf Gruppen o Sie bereitet Entscheidungen nach wissenschaftlichen Kriterien und ethischen Standards vor o Psychologische Diagnostik wird als Prozess aufgefasst: - Klärung der Fragestellung - Auswahl der einzusetzenden Verfahren - Anwendung und Auswertung dieser Verfahren - Interpretation und Gutachtenerstellung - Festsetzen der Intervention / Maßnahmenvorschlag  Enge Verbindung zwischen Diagnostik und Intervention [fließende Übergänge, da Intervention bereits z.T. bei Diagnostik beginnen kann]  Diagnostisches Dreieck: Diagnostik Methoden Kulturelle, soziale, wirtschaftliche und technischen Rahmenbedingungen GESCHICHTE DER PSYCHOLOGISCHEN DIAGNOSTIK  Erste Diagnostik wurde vermutlich im alten China vor 3 000 Jahren zur Auswahl von Beamten in Form von Leistungstests betrieben  Erste Periode (experimentelle Vorgehensweisen): o Fundierung der Psychologie als Wissenschaft und Messung allgemeiner psychischer Gesetzmäßigkeiten im 19. Jahrhundert durch Gustav Theodor Fechner o Systematische Erforschung und Erfassung von interindividuellen Unterschieden von Francis Galton i.S. von biologischer Fundierung kognitiver Fähigkeiten o Pionier der Intelligenzmessung war James McKeen Cattell  Entwicklung des Mental Test o Kritik von Wissler (1901) beendete die erste Periode der Entwicklung psychologischer Diagnostik aufgrund geringer Korrelationen zwischen Tests und Zeugnis o Eysenck (1985) erhob nachträglich Kritik an Wissler aufgrund mangelnder Reliabilität, fraglicher Kriterien, nicht-repräsentativer Stichproben etc.  Zweite Periode (praktische Problemstellungen): o Ebbinghaus [experimenteller Gedächtnisforscher] hat auch pragmatische Forschung im Hinblick auf konkrete Aufgabenstellungen durchgeführt o Alfred Binet führte im Auftrag der französischen Regierung standardisierte Intelligenztests durch, um lernschwache Schüler zu identifizieren; Einführung des Intelligenzalters o William Stern entwickelte dies zum Intelligenzquotienten (IQ) weiter  Merkmale der 1. und 2. Periode der Diagnostik: Erste Periode Zweite Periode Einfache Aufgaben mit schwacher Beziehung zum interessierenden Merkmal Komplexere Aufgaben mit enger Beziehung zum interessierenden Merkmal Einfache Vorgänge mit hoher Zuverlässigkeit wurden erfasst Messung komplexer Vorgänge auf Kosten einer geringeren Reliabilität Fokus auf die individuelle Leistung Fokus auf die Beziehung einer Leistung zur Leistung einer Vergleichsgruppe Erfassung mit wenigen Items Kombination von vielen einzelnen Aufgaben Annahme einer biologischen Grundlage Annahme von Umwelteinflüssen  Weitere wichtige Meilensteine innerhalb der Persönlichkeitspsychologie: o Personal Data Sheet  Woodworth (1918) = erster Persönlichkeitsfragebogen mit 116 Items [Eignungsfeststellung von Rekruten während des ersten Weltkriegs] o Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI)  McKinley (1943) o Rorschach-Test  Rorschach (1921) = umstrittenes projektives Verfahren für die qualitative Erhebung von Persönlichkeitsmerkmalen o Theorien und Modelle über Persönlichkeitsmerkmale: - Giant Three - Big Five - HEXACO-Modell - 16 PF GESELLSCHAFTSPOLITISCHE RAHMENBEDINGUNGEN  Psychologische Diagnostik wirft neben vielen Vorteilen auch ethische Fragen auf  Psychologie wurde während des 2. Weltkrieges zur beruflichen Disziplin, jedoch wurde die psychologische Diagnostik in der Wehrmacht 1942 ausgesetzt  In sozialistischen Ländern (z.B. DDR) gab es Vorbehalte der psychologischen Diagnostik gegenüber aufgrund des sozialistisch-normativen Menschenbildes  Nach Wottawa (2002) unterliegt psychologische Diagnostik den Strömungen des Menschenbildes: o Seit 1789 gibt es im 60-Jahresintervall eine Überbetonung von „Gleichheit“ o In den Jahren dazwischen steht Leistung im Blick  Derzeit (20er Jahre) steht die psychologische Diagnostik erneut in Kritik bzgl. des Ableismus [Diagnostik psychischer Störungen als Stigma für Betroffene Personen]  Psychologische Diagnostik hilft der Gesellschaft jedoch auch in den Punkten: o Überforderungen von einzelnen Personen aufgrund einer Fehlbesetzung zu vermeiden o Potentiale von Menschen zu identifizieren o Prozedurale Fairness und Objektivität ggü. den Menschen [alle zu testenden Personen erhalten denselben Test] o Stigmatisierung ist nicht immer negativ konnotiert [z.B. Identifikation eines Hochrisikotäters] PFLICHTLITERATUR – SCHMIDT-ATZERT – KAPITEL 1 DEFINITION  Diagnostik (griechisch = diagignoskein = gründlich kennenlernen, entscheiden, beschließen)  Definition:  Beantwortung von Fragestellungen o Prozess der psychologischen Diagnostik wird durch einen Auftrag in Gang gesetzt o Fragestellung kann eine Beschreibung, Klassifikation, Erklärung oder Vorhersage betreffen  Gezielte Erhebung von Informationen o Es werden nur solche Informationen erhoben, die für die Beantwortung der Fragestellung relevant sind  Erleben und Verhalten von Individuen oder Gruppen o Gegenstand der Diagnostik ist das Erleben und Verhalten von Menschen o Einfluss von Umwelt und Situationen sind ebenfalls Gegenstand der Untersuchung  Relevante Bedingungen o Bei Nützlichkeit können auch relevante Nebenbedingungen erfasst werden (z.B. Lebensumstände und Situationen) o Menschliches Erleben und Verhalten ist nicht nur auf die Eigenschaften des Menschen zurückzuführen, sondern auch auf die Randbedingungen  Informationen werden konform der Fragestellung interpretiert o Manche Informationen können mehrdeutig sein o Erhobene Informationen werden innerhalb der Diagnostik anhand der Fragestellung interpretiert  Psychologisches Wissen o Diagnostischer Prozess wird geleitet durch Fachwissen (z.B. Kenntnisse von Symptomen einer psychischen Störung) o Interpretation der Ergebnisse erfordert ebenfalls psychologisches Wissen  Verwendung wissenschaftlicher Methoden o Werkzeuge psychologischer Diagnostik unterliegen gewissen wissenschaftlicher Gütekriterien o Verwendung von Tests, Fragebögen oder Erfassungsmethoden, die diesen Gütekriterien nicht genügen, sollen und dürfen im Rahmen psychologischer Diagnostik nicht verwendet werden ANWENDUNGSGEBIETE UND FRAGESTELLUNGEN  Diagnose vor Behandlung: Grundprinzip in Medizin und Psychologie  Psychologische Diagnostik ist essenziell für effektive Entscheidungen und Maßnahmen  Studie von Roth & Herzberg (2008): o 27% Arbeitszeit wird für Diagnostik aufgewendet o Unterschiede in Anwendungsfeldern: Höchster Anteil in der Forensik und Verkehrspsychologie, niedrigster in klinischer Psychologie  Bedeutung der Diagnostik wird auch in Aufgabenbeschreibungen / Stellenausschreibungen in verschiedenen psychologischen Berufen unterstrichen  Datenbank in O*net (https://www.onetonline.org/) zeigt, dass 20%-30% der Tätigkeit von klinischen, Schul- und Arbeits- und Organisationspsychologen der Diagnostik zuzuordnen sind BEISPIELE FÜR FRAGESTELLUNGEN:  Klinische Psychologie: Kategoriale Diagnostik mit Hilfe des ICD-10 / Nutzung von Interviews und Fragebögen zur Symptomerfassung  Gesundheitspsychologie: Einsatz von Fragebögen, Interviews und Verhaltensbeobachtungen zur Erfassung von Gesundheitsverhalten und Stressbewältigung  Pädagogische Psychologie: Verwendung von Leistungstests, Schulreifetests und Fragebögen zur Diagnose von Leistungsproblemen und Fördermaßnahmen  A&O-Psychologie: Interviews, Assessment-Center, Persönlichkeitsfragebögen zur Personalauswahl und -entwicklung  Forensische Psychologie: Interviews, Persönlichkeitstests und Aktenanalysen zur Beurteilung von Glaubwürdigkeit von Zeugen, Verantwortlichkeit und Rückfall  Verkehrspsychologie: Medizinisch-Psychologische Gutachten und Leistungstests zur Beurteilung der Fahreignung  Weitere: Entwicklungs-, Geronto- und Neuropsychologie in Form von Tests, Interviews und Beobachtungen VERÄHLTNIS ZU ANDEREN DISZIPLINEN DER PSYCHOLOGIE  Psychologische Diagnostik basiert auf Konstrukten, Theorien und Forschungsergebnissen aus verschiedenen Bereichen der Psychologie  Beispiel: Intelligenzdiagnostik: o Entwicklung von Tests basierend auf Erkenntnissen der differentiellen Psychologie o Auswahl passender Testtypen abhängig von Intelligenzmodellen o Interpretation von Testergebnissen im Kontext von Anwendungsbereichen wie Bildung und Beruf o Forschung zur Intelligenz profitiert von der Existenz guter Tests und liefert wiederum Erkenntnisse für andere Disziplinen  Psychologische Diagnostik berücksichtigt und nutzt Forschungsergebnisse aus verschiedenen Anwendungsfeldern, um konkrete Fragestellungen zu beantworten  Enge Verbindung zwischen Diagnostik und Anwendungsgebieten der Psychologie: QUERSCHNITTSDISZIPLIN ZIELE DER PSYCHOLOGISCHEN DIAGNOSTIK  Psychologische Diagnostik zielt darauf ab, konkrete Fragestellungen zu beantworten, die in verschiedenen Anwendungsbereichen auftreten  Ziele der psychologischen Diagnostik können nach Inhaltsbereichen (z.B. Forensik, Klinik, A&O, etc.) und abstrakten Zielen unterteilt werden  Im Rahmen der Definition werden die Ziele Beschreibung, Klassifikation, Erklärung und Vorhersage thematisiert: o Beschreibung: - Erfassung von Verhaltensweisen oder Merkmalen durch Verhaltensbeobachtung oder Interviews - Jede Form der Diagnostik ist im ersten Schritt eine Beschreibung, die interpretiert und im Sinne der Klassifikation, Erklärung oder Vorhersage genutzt wird o Klassifikation: - Einteilung von Phänomenen in genau definierte und voneinander abgegrenzte Kategorien (z.B. Klassifikation psychischer Störungen) - Auch Dimensionen können aus pragmatischen Gründen in Form von Kategorien eingeteilt werden (z.B. Hochbegabung mit IQ >=130) - Solche Klassen sind meist künstlich und folgen theoretischen Überlegungen o Erklärung: - Suche nach Ursachen für beobachtetes Verhalten oder Phänomene - Ziel der Erklärung beinhaltet die Aufarbeitung der Vorgeschichte - Diagnostisches Interview oder Analyse von vorhandenen Akten sind in solchen Fällen geeignet - Gegenwärtiges Verhalten und Erleben suchen nach auslösenden Bedingungen - Erklärungen sind meist plausibel aber noch keine Beweise für die tatsächliche Ursache o Vorhersage: - Einschätzung künftiger Entwicklungen oder Ereignisse - Prognosen beruhen auf Wahrscheinlichkeiten und sind nie vollständig exakt, da die Varianz nie vollständig aufgeklärt werden kann - Unvorhergesehene Faktoren (z.B. Verlust eines Partners) können die Vorhersage beeinträchtigen  Trotz begrenzter Vorhersagegenauigkeit bieten Prognosen auf Basis von Forschungsergebnissen eine Orientierung und sind oft besser als zufällige oder uninformierte Einschätzungen! DER DIAGNOSTISCHE PROZESS  Definition des diagnostischen Prozesses: Abfolge von Maßnahmen zur Gewinnung diagnostisch relevanter Informationen und deren Integration zur Beantwortung einer Fragestellung  Der diagnostische Prozess umfasst mehr als nur die Anwendung diagnostischer Instrumente; er beinhaltet den gesamten Entscheidungsprozess von der Formulierung der Fragestellung bis zur Beantwortung  Schritte des Prozesses: o Formulierung der globalen Fragestellung - Klienten kommen mit Fragen aus ihrem Leben zu Psychologen - Zunächst ist eine Auftragsklärung durchzuführen: Präzisierung, Modifikation oder Ablehnung der Fragestellung - Gründe, zur Ablehnung einer Fragestellung könnten sein: > Mangel an Sachkunde oder Kompetenz > Unvereinbarkeit mit Gewissen oder gesetzlichen Vorschriften > Mangelnde Neutralität des Psychologen > Geringer Erkenntnisgewinn im Vergleich zu Belastungen oder Kosten - Mögliche Anpassungen der Fragestellung: > Präzisierung oder Modifikation bei unklarem Umfang des Auftrags > Beratung und Rücksprache mit der auftraggebenden Person bei unklaren oder unklar beantwortbaren Fragestellungen o Differenzierung der globalen Fragestellung in Teilfragen („psychologische Fragen“) - Komplexe Fragestellungen werden in psychologische Fragen zerlegt, um das Problem zu lösen - Anknüpfung sowohl an den individuellen Fall sowie Nutzung von allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnissen - Verwendung von (Vor-) Informationen wie Protokolle von Gesprächen, Gerichtsakten oder frühere Gutachten - Zerlegung in psychologische Fragen als hypothesengeleitetes Vorgehen - Erfordert sowohl Fachwissen als auch Berufserfahrung - Auswahl der relevanten Faktoren unter Berücksichtigung der Maxime: „so viel wie möglich, aber so wenig wie möglich“ - Psychologische Fragen müssen durch geeignete diagnostische Verfahren aufklärbar sein - Es muss geklärt werden, wie die psychologischen Fragen zu einem Gesamturteil verrechnet werden (entweder müssen alle Fragen als „symptomatisch“ beantwortet werden oder eine „Mindestanzahl“) o Auswahl der besten diagnostischen Instrumente für die Teilfragen - Auffinden der am besten geeignetsten diagnostischen Instrumente (Tests, Interviews, Verhaltensbeobachtungen) - Auswahlkriterien: > Gütekriterien der Tests (Reliabilität und Validität) > Aktuelle Normen > Zumutbarkeit > Zeitaufwand - Hohe Ansprüche an die Güte der verwendeten Instrumente stellen, da sie die Grundlage zur Beantwortung der psychologischen Fragen bilden - Empfehlung: Mindestens zwei verschiedene Instrumente für jede psychologische Frage einsetzen (multimethodales Vorgehen) o Durchführung und Auswertung der diagnostischen Instrumente - Professionelle Anwendung und Auswertung der ausgewählten Instrumente zur Beantwortung der Teilfragen - Beherrschung gängiger Praktiken zur Vorbereitung, Durchführung, Auswertung und Interpretation von diagnostischen Instrumenten - Kompetenzen für psychologische Tests sind in Richtlinien der International Test Commission festgelegt - Es gibt auch wissenschaftlich fundierte Empfehlungen zur Durchführung und Auswertung von diagnostischen Interviews und Verhaltensbeobachtungen o Integration der Ergebnisse zur Beantwortung der Teilfragen und er globalen Fragestellung - Idealerweise beantworten die Ergebnisse aus Schritt 4 die psychologischen Fragen, die dann zu einer einheitlichen Aussage zusammengeführt werden - Die Aussagen zu den psychologischen Fragen werden in die Antwort auf die globale Fragestellung integriert, bekannt als diagnostische Urteilsbildung - Uneindeutige oder widersprüchliche Ergebnisse können die Urteilsbildung erschweren und weitere Datenerhebungen erforderlich machen - Der diagnostische Prozess ist keine Einbahnstraße; Rückschleifen können nötig sein (z.B. bei uneindeutigen Ergebnissen) - Spezifische Anwendungsfelder der psychologischen Diagnostik können Modifikationen des diagnostischen Prozesses einfordern - Beispiele für nicht stringent durchgeführte diagnostische Prozesse:  Es gibt verschiedene Modellvorstellungen des diagnostischen Prozesses, die idealisiertes Vorgehen von Diagnostikern darstellen, jedoch nicht die reale Praxis abbilden (normative Ansätze) MEILENSTEINE IN DER GESCHICHTE DER PSYCHOLOGISCHEN DIAGNOSTIK  SIEHE ÜBERSICHT IM BUCH GESETZLICHE RAHMENBEDINGUNGEN UND ETHISCHE RICHTLINIEN  Die psychologische Diagnostik unterliegt rechtlichen Bestimmungen, die einer Normpyramide nach Joussen (2004) folgen  Ein Recht über dem anderen hat immer Vorrang / bei Widersprüchen entscheidet das ranghöhere Gesetz  Höhere Gesetze sind allgemeiner formuliert als niedrigere Gesetze GESETZLICHE GRUNDLAGEN  Menschenwürde und Privatsphäre o Im Recht der Europäischen Union ist Artikel 8 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention relevant o Artikel 8 schützt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens o Diagnostische Verfahren können Informationen erlangen, die Betroffene nicht preisgeben möchten o Das Grundgesetz nennt zwei relevante Werte für die psychologische Diagnostik: - Schutz der Menschenwürde (Artikel 1) - Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2) o Gutachten sollten keine herabsetzenden Formulierungen enthalten, sondern neutrale Beschreibungen verwenden o Psychologen können durch diagnostische Untersuchungen die Freiheit einer Person einschränken, was besonders wichtig ist bei Entscheidungen wie Sicherheitsverfahrung oder Zwangseinweisung  Geheimnisse, Schweigepflicht und Datenschutz o Im Strafgesetzbuch (StGB) sind Paragraphen zum Geheimnisverrat für Psychologen relevant, z.B. §203 StGB Die Verletzung von Privatgeheimnissen kann mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bestraft werden o Ein Geheimnis umfasst Informationen, die nur einer beschränkten Anzahl von Personen bekannt sind und an deren Geheimhaltung der Betroffene ein persönliches oder wirtschaftliches Interesse hat o Schweigepflicht gilt während der Berufsausübung und schützt auch gegenüber anderen Berufsgruppen o Die Weitergabe persönlicher Informationen ist nur mit Zustimmung der Betroffenen zulässig o Die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) regelt die Sammlung und Speicherung personenbezogener Daten o Personenbezogene Daten dürfen nur für den vorgesehenen Zweck erhoben werden und müssen vor unrechtmäßiger Verarbeitung geschützt werden o Betroffene Personen haben Rechte wie Auskunftsrecht, Recht auf Berichtigung, Löschung, Einschränkung der Verarbeitung und Widerspruchsrecht o Internationale Richtlinien fordern die vertrauliche Behandlung von Testergebnissen und sichere Verwahrung von Testmaterial  Offenbarungspflicht o Unter bestimmten Bedingungen besteht eine Offenbarungspflicht gem. §138 StGB: - Wer von geplanten oder von Ausführung einer schweren Straftaten erfährt und diese nicht meldet, kann mit bis zu 5 Jahren Haft bestraft werden - Hochverrat, Landesverrat, Mord, Totschlag, Raub, sowie für andere schwere Straftaten o Die Offenbarung muss rechtzeitig erfolgen, bevor die Ausführung oder der Erfolg der Straftat nicht mehr abwendbar ist o Personen, die leichtfertig von einer Straftat erfahren und keine Anzeige erstatten, können ebenfalls bestraft werden o Entscheidend ist, dass die Straftat noch abwendbar ist. Wenn jemand beispielsweise gesteht, gerade jemanden im Affekt getötet zu haben, besteht keine Offenbarungspflicht  Rechtliche Regelungen für spezifische Anwendungsfelder der psychologischen Diagnostik o Psychologische Diagnostik unterliegt spezifischen rechtlichen Rahmenbedingungen je nach Anwendungsfeld: - Psychologische Psychotherapie > Psychotherapeutengesetz > Im Kontext der Psychotherapie dürfen nur approbierte psychologische Psychotherapeuten diagnostisch tätig sein - Eignungsdiagnostik und berufliche Leistungsbeurteilung > Betriebsverfassungsgesetz > Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates - Verkehrspsychologische Diagnostik > Begutachtungsrichtlinien der Bundesanstalt für Straßenwesen o Internationale Regelungen sind auch zu beachten, besonders bei Personalauswahlverfahren in multinationalen Unternehmen, wo unterschiedliche rechtliche Anforderungen gelten können ETHISCHE RICHTLINIEN  Ethische Richtlinien, herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e. V. (DGPs) und dem BDP, dienen als verbindliche Regeln für das professionelle Verhalten von Psychologinnen und Psychologen  Der Umgang mit Daten, Gutachten und Untersuchungsberichten sowie die Verantwortung gegenüber Klienten werden in diesen Richtlinien behandelt  Die Richtlinien betonen die Wichtigkeit von Sorgfalt, Transparenz, Einsichtnahme, und die Vermeidung von Gefälligkeitsgutachten  Psychologen müssen ein Vertrauensverhältnis wahren, über Maßnahmen aufklären und Einwilligung einholen  Verstöße gegen die ethischen Richtlinien können zum Ausschluss aus dem Berufsverband führen  Die Richtlinien sind teilweise an denen der American Psychological Association (APA) angelehnt und betonen die Beachtung ethischer Prinzipien  Die Internationalen Richtlinien für die Testanwendung der International Test Commission legen Standards für ethisch korrekte Testanwendung fest  Bei der Nutzung neuer Technologien für die Datenerhebung müssen verantwortungsvolle Maßnahmen zur Wahrung der Privatsphäre getroffen werden. Der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten hat hierzu Empfehlungen formuliert STUDIENBRIEF – KAPITEL 3 GRUNDLAGEN DES DIAGNOSTISCHEN PROZESSES UND DER DIAGNOSTISCHEN URTEILSBILDUNG  Prozess der psychologischen Diagnostik ist nicht unkompliziert und erfordert hohes Maß an fachlicher Kompetenz  Verschiedene Wissenskomponenten müssen miteinander verknüpft werden  Handlungstheoretisches Modell von Kaminksi (1970): sequentieller Arbeitsprozess mit Rückmeldungsschleifen (siehe auch Pflichtliteratur): o Eingangsdaten und Datenbeschaffung o Hypothesenbildung und -bearbeitung o Hypothesenbeurteilung (i.S. von Tauglichkeit / Bewertbarkeit) o Planung der Datenbeschaffung o Praktische Phase  Das Modell zeigt die Komplexität des diagnostischen Prozesses und die Nähe zum wissenschaftlichen Arbeiten  Kritischer Aspekt des diagnostischen Prozesses ist die Urteilsbildung: o Paramorphes Modell: Diagnostizierende Person wird selbst zur Versuchsperson gemacht, um zu untersuchen, wie Psychologen zu Ergebnissen gelangen. o Versuch, diagnostischen Prozess als solchen abzubilden in Form linearer und Konfigurationsmodelle: o LINEARE MODELLE: - Wechselseitige Kompensation verschiedener Variablen - Das Zielkriterium muss erreicht werden, unabhängig davon, ob die eine oder andere Variable erfüllt wird o KONFIGURATIONSMODELLE: - „Wenn… , dann…“ Regeln - Können im Rahmen eines Flussdiagramms aufgezeigt werden o Prüfung der Validität ist nicht Ziel paramorpher Modelle im Hinblick auf die Urteilsfindung o Ziel ist es, die Transparenz und Konsistenz der Entscheidungsregeln zu fördern  Am Ende des diagnostischen Prozesses sollen die Ergebnisse (und Urteile) transparent kommuniziert werden o Im Regelfall wird ein schriftliches Gutachten eingefordert o Es umfasst die Verschriftlichung des Gutachtenprozesses und ist im Aufbau ähnlich zum empirischen Forschungsberichts o Richtlinien und allgemeine Vorgaben zur Gutachtenerstellung müssen berücksichtigt werden MOODLE-BOOK  Diagnostik ist in vielen Bereichen der Psychologie wichtig und zugleich vielfältig einsetzbar  Es gibt Rahmenbedingungen, die auf fast alle diagnostischen Tätigkeiten zutreffen o Ablauf des diagnostischen Prozesses kann als Rahmenbedingung definiert sein [je nach Zielsetzung kann das Prozedere jedoch unterschiedlich aussehen] o Spezifisches Qualitätsstandards [bspw. analog des Diagnostik- und Testkuratorium der Föderation Deutscher Psychologenvereinigung]  Erster Kontakt zwischen Diagnostiker und Auftraggeber stellt den Beginn des diagnostischen Prozesses dar  Definition des diagnostischen Prozesses: Abfolge von Maßnahmen zur Gewinnung diagnostisch relevanter Informationen und deren Integration zur Beantwortung einer Fragestellung  Merkmale des diagnostischen Prozesses: o Zeitliche, organisatorische, strategische und personale Erstreckung zwischen allgemeiner und psychologischer Fragestellung sowie derer Beantwortung o Beantwortung erfolgt in Form einer Diagnose oder Prognose o Beantwortung von Teilfragestellungen können neue Fragen aufwerfen, sodass eine Verschachtelung von Fragestellung und Beantwortung entstehen kann o Beantwortung der Fragestellung ist zugleich Ausgangspunkt für eine Entscheidungshilfe GRUNDLEGENDE KOMPETENZEN  Diagnostischer Prozess ist nicht geradlinig, simpel oder unstrukturiert  Erfordert hohes Maß an fachlicher Kompetenz, die ständig weiterentwickelt werden sollte  Berufsethische Richtlinien legen die erforderliche Kompetenz fest  In der Praxis führen auch fachfremde Personen diagnostische Prozesse durch  Fachliche Kompetenzen nach Modellen von Kaminski (1970) und Jäger (2006): o Kompetenzwissen: Einschätzung der eigenen Kompetenz und Kenntnis über andere kompetente Fachpersonen o Bedingungswissen: Wissen über Einflüsse, die Erleben und Verhalten verursachen o Änderungswissen: Wissen über Einflüsse, die Erleben und Verhalten modifizieren können o Technologisches Wissen: Auswahl geeigneter Erhebungs- und Auswertungsmethoden o Vergleichswissen: Einordnung individuellen Verhaltens im Kontext einer Vergleichsgruppe o Gewissen: Wissen über nicht tolerierbare Zustände und bedingt erforderliche Veränderungen o Erfahrung in Anwendung und Auswertung diagnostischer Verfahren ist ebenfalls wichtig SCHRITTE DES DIAGNOSTISCHEN PROZESSES  Der Ablauf des diagnostischen Prozesses ähnelt grob dem einer empirischen Erhebung  Beginnt mit einer Fragestellung, die präzisiert und in psychologische Terminologie übersetzt wird  Aufstellung von Hypothesen basierend auf der Fragestellung und vorhandenen Informationen  Prüfung der Hypothesen mittels geeigneter diagnostischer Verfahren.  Daten sollten nach den Prinzipien der Sparsamkeit und Eignung erhoben werden  Häufig betrifft der diagnostische Prozess nur eine zu untersuchende Person, kann aber auch Gruppen einschließen  Fokus liegt auf der Überprüfung idiografischer Hypothesen (einzelfallbezogen)  Im Unterschied zu empirischen Studien gibt es die Möglichkeit und Notwendigkeit, im Verlauf des Prozesses weitere Hypothesen zu untersuchen  Diagnostischer Prozess kann mehrere Teiluntersuchungen umfassen.  Ergebnisse des diagnostischen Urteils müssen in die Sprache der auftraggebenden Partei übersetzt und mitgeteilt werden. AUFTRAGSANNAHME UND GLOBALE FRAGESTELLUNG  Der diagnostische Prozess beginnt mit der Kontaktaufnahme durch die auftraggebende Person und einem formulierten Auftrag  Aufträge können informell oder formell übermittelt werden und können aus verschiedenen Anwendungsfeldern stammen  Die Aufgabe des Diagnostikers ist es, die globale Fragestellung zu identifizieren und zu bewerten, ob sie beantwortet werden kann  Es geht auch um die Abwägung, ob die Diagnostikerin oder der Diagnostiker in der Lage ist, die Frage zu beantworten  Die globale Fragestellung kann um- oder neu formuliert werden, um die diagnostische Aufgabe zu konkretisieren oder einzugrenzen  Laienhafte Formulierungen der Fragestellung können in eine wissenschaftliche und diagnostisch beantwortbare Fragestellung übersetzt werden  Die finale Formulierung der Fragestellung sollte mit der auftraggebenden Person abgestimmt werden  Wenn die Diagnostikerin oder der Diagnostiker sich nicht in der Lage sieht, die Fragestellung zu beantworten, kann der Auftrag abgelehnt oder an eine fachlich geeignete Person weitergeleitet werden FORMULIERUNG PSYCHOLOGISCHER FRAGEN  Globale Fragestellungen müssen in psychologische Fragen zerlegt werden, um konkrete Vorgehensweisen zu ermöglichen  Anforderungen an psychologische Fragen: o Psychologische Fragen müssen aus der globalen Fragestellung nachvollziehbar hergeleitet werden o Jede aus der globalen Fragestellung hergeleitete psychologische Fragestellung muss einzeln begründet werden o Sie sollten grundlegend mit Hilfe diagnostischer Verfahren operationalisierbar sein o Jedoch sollen sie auf keine Anwendung diagnostischer Verfahren vorgreifen  Die Formulierung kann in Form von Hypothesen oder neutraler (z.B. bei Exploration) gestaltet werden, abhängig von der Art der Untersuchung  Das Herausarbeiten von psychologischen Fragen erfordert fachspezifisches Wissen zur Erklärung oder Veränderung von Erleben und Verhalten AUSWAHL VON MESSINSTRUMENTEN  Auswahl von Messinstrumenten ist entscheidend für die Beantwortung psychologischer Fragen  Datenbanken wie PSYNDEX Tests, Pearson Clinical und andere bieten eine Vielzahl verfügbarer Verfahren  Kontext des Verfahrens ist wichtig, z.B. Forschungszwecke vs. Praxisdiagnostik  Testgütekriterien wie Reliabilität, Validität und Testökonomie müssen berücksichtigt werden  Verfahren sollten relevante Konzepte erfassen und geringe Messfehler aufweisen  Drei Fragen zur Auswahl: o Was soll das Verfahren messen? - Betrifft die Validität des Verfahren (Kann der Test das messen, was ich zu messen beabsichtige?) - Sicherstellung, dass das Verfahren das relevante Konzept oder Merkmal erfasst, dass in der psychologischen Fragestellung von Interesse ist - Beispiel: Intelligenztest soll die kognitive Leistungsfähigkeit messen und nicht ein anderes Merkmal wie z.B. emotionale Intelligenz o Ist das Verfahren für diese Person angemessen? - Frage bzgl. der Geeignetheit des Tests für die zu testende Person - Folgt das Verfahren gewissen Normen, die auf demografische Merkmale der Person zutreffen (z.B. Alter, Geschlecht, kulturelle Zugehörigkeit) - Ist der Anwendungskontext berücksichtigt (mögliche erforderliche Standardisierung) - Akzeptanz der Person gegenüber dem Verfahren ist wichtig, um sicherzustellen, dass sie sich während des Tests wohl fühlt und Ergebnisse nicht durch Widerstand erzeugt werden o Ist das Verfahren für diese Fragestellung geeignet? - Eignung des Verfahrens für die spezifische Fragestellung - Ist das Verfahren für einen Statusbericht (Diagnose) oder eine Vorhersage (Prognose) geeignet - Validität und Reliabilität des Verfahrens müssen im Hinblick auf die Fragestellung geprüft werden - Bei Prognosen zukünftiger Leistungen ist eine angemessene Kriteriumsvalidität und Stabilität des Merkmals erforderlich - Verfahren sollte große Robustheit ggü. Verfälschungen sein (z.B. durch bewusste Veränderung der zu testenden Person) - Erfasst das Verfahren alle relevanten Aspekte der Fragestellung  Mögliche Konsequenzen des diagnostischen Urteils müssen berücksichtigt werden, besonders bei schwerwiegenden Folgen  Wenn Operationalisierung der Fragestellung nicht möglich ist, muss dies kommuniziert werden und gegebenenfalls die Frage neu formuliert oder an andere Experten weitergeleitet werden PLANUNG, DURCHFÜHRUNG UND AUSWERTUNG DER UNTERSUCHUNG  Planung der Untersuchung: o Durchführungsort beachten (Kriterien betreffen die Ökonomie, Ökologie und den Komfort in der Testsituation) o Entscheidung zwischen Gruppen- oder Einzeltestung (entsprechende Vorkehrungen sind hierfür zu treffen) o Auswahl und Vorbereitung der Testmaterialien o Festlegung der Reihenfolge der Verfahren  Durchführung: o Standardisierung vor Ort oder teilweise von zu Hause aus o Zeitaufwand bei Gruppen- vs. Einzeluntersuchung o Möglichkeit der Durchführung als Papier- und Bleistiftverfahren oder Computertest o Bestimmung der Reihenfolge basierend auf Belastbarkeit und Anforderungen der Person o Einhaltung von Manuals und Schaffung angemessener Testumgebungen o Aufklärung der untersuchten Person über den Zweck, die Verfahren, die Dauer, Schweigepflicht, Freiwilligkeit usw.  Datenschutz: o Beachtung der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO)  Auswertung: o Fachliche Kompetenz und Sorgfalt erforderlich o Verwendung von Testauswertungsprogrammen zur Unterstützung o Auswertung gemäß Testgütekriterien, Testmanualen und psychometrischen Grundlagen INTEGRATION DER ERGEBNISSE  Psychologische Fragen erfordern oft die Integration von Ergebnissen verschiedener Verfahren  Die Trennung von Fakten und Interpretation ist wichtig im diagnostischen Prozess und der Forschung  Interpretation und Integration finden im Befundteil eines Gutachtens statt  Alle verfügbaren Informationen werden genutzt  erfordert Fachwissen über Verhalten und angewandte Verfahren  Idealerweise stimmen alle Informationen überein, aber Widersprüche können auftreten  Widersprüche können durch zusätzliche Untersuchungen erklärt werden.  Offenheit für verschiedene Interpretationen ist wichtig, aber die vorgeschlagene Interpretation muss gut begründet sein  Eine Stellungnahme am Ende des Prozesses integriert die Befunde zur übergeordneten Fragestellung  Die Stellungnahme sollte klar, vollständig und alleinstehend verständlich sein SCHLEIFEN UND SICHTWEISEN  Der diagnostische Prozess nach Jäger (2006) ist nicht streng sequenziell, sondern beinhaltet Rückmeldungsschleifen und Anpassungen  Kaminski (1970) bietet ein Modell, das auch Rückmeldungen und ein sequentielles Vorgehen mit Zielkriterien beinhaltet, insbesondere für interventionsbezogene Diagnostik  Das Modell umfasst Phasen wie Fragestellung, Hypothesenbildung, Planung der Datenerhebung und praktische Umsetzung  Unterscheidung zwischen diagnostischer und praktischer Schleife, die sich auf theoretische Aspekte und konkrete Handlungen konzentrieren o Die praktische Phase kann Interventionen oder diagnostische Entscheidungen beinhalten o Handlungstheoretisches Modell unterscheidet zwischen Arbeits- und Kontrollhandlungen  Jäger (2006) betont, dass der Prozess aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden muss: o Kommunikation o prozesshaftes Geschehen o technologischer Bezug  Diagnostik sollte transparent, nachvollziehbar und objektiv sein, da der diagnostische Prozess hauptsächlich dem Informationsaustausch dient  Veränderungen beim Diagnostiker und bei untersuchter Person können während des Prozesses auftreten und müssen berücksichtigt werden  Technologischer Prozess beinhaltet Planung und Festlegung des diagnostischen Vorgehens, sowohl deskriptive als auch normative Orientierung sind relevant DIAGNOSTISCHE URTEILSBILDUNG  Diagnostische Urteilsbildung ist eine Schlüsselkompetenz im diagnostischen Prozess  Sie kann als Gesamtprozess von der Fragestellung bis zur Beantwortung oder als Integration von Ergebnissen definiert werden  Beauducel und Leue (2014) differenzieren zwischen verschiedenen Entscheidungen: o Terminale Entscheidungen Diagnostischer Prozess ist nach Durchführung beendet o Investigatorische Entscheidungen Weitere Fragen sind Überprüfungen nach Beantwortung der Eingangsfrage werden erforderlich  Schmitt und Gschwender (2006) differenzieren zudem zwischen: o Kompensatorischen Entscheidungen Schwächen durch einzelne Merkmale können durch Stärken anderer Merkmale ausgeglichen werden o Konjunktiven Entscheidungen Mindestleistungen bei einzelnen oder mehreren Merkmalen werden festgelegt  Der letzte Schritt des diagnostischen Prozesses, die Integration und Interpretation der Ergebnisse, kann je nach Fragestellung und Verfahren variieren und erfordert Fachwissen und Erfahrung  Fehler, Verzerrungen und affektive Reaktionen seitens der Diagnostiker können die Urteilsbildung beeinflussen  Die Güte dieses Schrittes und der daraus resultierenden Entscheidungen sind schwer zu bewerten, daher ist eine transparente Darstellung des Prozesses vorteilhaft PARAMORPHE MODELLE Selbstverständlich, hier ist eine ausführlichere Zusammenfassung des obenstehenden Textes in Stich- und Unterstichpunkten:  Paramorphe Modelle: o Transparente Darstellung der diagnostischen Urteilsbildung o Fokussierung auf Entscheidungsregeln, nicht auf kognitive Prozesse o Entlehnt den Begriff "paramorph" aus der Mineralogie o Ziel: Nachbildung der Entscheidungsprozesse von Diagnostikern  Lineare Modelle: » Grundlage: Regressionsanalysen » Können Haupteffekte, kurvilineare Beziehungen und Interaktionen abbilden » Haupteffekte: "je mehr, desto mehr" oder "je weniger, desto weniger" Gedanke » Kurvilineare Beziehungen: „Quadratische Funktionen in Abhängigkeit der Gewichtung einzelner Faktoren“ » Interaktionistische Beziehungen: „Einfluss eines Faktors auf einen anderen Faktor“ » Beispiel: Untersuchung von Roszkowski et al. (1983) zur Diagnose einer leichtgradigen Intelligenzminderung  Konfigurationsmodelle: » Darstellung von Entscheidungen als Abfolge von Wenn-Dann-Regeln » Erlauben einen sequenziellen Ablauf der Entscheidungsregeln » Können kompensatorische oder konjunktive Beziehungen zwischen Variablen aufzeigen » Beispiel: Abbildung von Entscheidungsregeln durch Pfad- oder Flussdiagramme o Erstellung und Prüfung: - Erfordern komplexe statistische Prozeduren und menschliche Intervention - Konfigurationsmodelle werden im Allgemeinen von Diagnostikern eher akzeptiert als lineare Modelle - Begründung: Näher am praktischen Entscheidungsprozess  Fazit: o Paramorphe Modelle bieten einen Ansatz zur transparenten Darstellung der diagnostischen Urteilsbildung o Lineare Modelle und Konfigurationsmodelle sind zwei Formen paramorpher Modelle o Während lineare Modelle auf Regressionsanalysen basieren und verschiedene Beziehungen abbilden können, stellen Konfigurationsmodelle Entscheidungen als Wenn-Dann-Regeln dar o Trotz des höheren Aufwands bei der Erstellung und Prüfung werden Konfigurationsmodelle von Diagnostikern eher akzeptiert, da sie den praktischen Entscheidungsprozess besser widerspiegeln VORTEILE EXPLIZITER MODELLE  Skepsis gegenüber modellbasierten Entscheidungsprozessen bei Diagnostikerinnen und Diagnostikern (Krohne et al., 2023b)  Explizite Modelle ermöglichen prinzipiell überprüfbare und korrigierbare Urteile (Amelang & Schmidt-Atzert, 2006) o Urteilskorrektur durch Explikation, jedoch kann die Korrektheit des Urteils selbst nicht immer überprüft werden o Validität des Urteils kann nicht in allen Fällen überprüft werden o Möglichkeit der empirisch geleiteten Modifikation von Entscheidungsregeln erhöht Validität laut Krohne et al. (2023b).  Transparenz als großer Vorteil expliziter Modelle (Krohne et al., 2023b). o Nachvollziehbare Entscheidungen und rationale Begründung des Systems o Anpassung und Optimierung des Urteilssystems möglich  Erfahrungsaustausch und Innovation durch Transparenz und explizite Entscheidungsregeln (Wottawa et al., 1982). o Vereinheitlichung des Vorgehens und Förderung von Innovationen o Lernmöglichkeiten für diagnostische Anfängerinnen und Anfänger  Adaptierbarkeit expliziter Modelle deckt Redundanzen auf und reduziert diagnostische Untersuchungen (Krohne et al., 2023b) o Ökonomische Vorteile und Entlastung der untersuchten Personen und Diagnostikerinnen/Diagnostiker o Delegierung oder Automatisierung von Teilen des diagnostischen Prozesses bei ähnlichen Fällen möglich  Paramorphe Modelle ermöglichen konsistente Entscheidungen über viele Fälle hinweg und erhöhen Fairness (Krohne et al., 2023b) o Objektive Entscheidungen und höheres Maß an Fairness o Vorhandensein eines paramorphen Modells garantiert jedoch allein keine Testfairness, da auch das Modell unfair sein kann GUTACHTENERSTELLUNG  Ziel des Gutachtens ist es, den gesamten diagnostischen Prozess transparent und nachvollziehbar darzustellen  Das Gutachten beantwortet eine oder mehrere Fragestellungen vom Auftraggeber  Die formale Gestaltung des Gutachtens sollte den Qualitätsstandards entsprechen und alle Schritte des diagnostischen Prozesses dokumentieren  Es ist wichtig, eine einheitliche Verwendung von Konventionen beizubehalten, um die Transparenz des Gutachtens zu gewährleisten  Das Gutachten sollte sich auf einen bestimmten Aspekt des Verhaltens oder Erlebens der Person konzentrieren und nicht die gesamte Persönlichkeit umfassen  Zeitformen sollten korrekt verwendet werden, um zwischen Ergebnissen und Interpretationen zu unterscheiden  Empfehlungen sollten nur aufgenommen werden, wenn zuvor vereinbart  Die Qualität eines Gutachtens kann anhand verschiedener Kriterien bewertet werden, darunter die Nachvollziehbarkeit und Transparenz des diagnostischen Prozesses  Es gibt spezifische Qualitätsstandards für bestimmte Arten von Gutachten, insbesondere in familienrechtlichen oder kriminalprognostischen Bereichen  Trotz Richtlinien kann die Qualität von Gutachten in der Praxis mangelhaft sein, daher ist es wichtig, bei der Erstellung und Bewertung von Gutachten auf deren Qualität zu achten BEARBEITUNGSZEITRAUM 2 PERSÖNLICHKEITSPSYCHOLOGIE STUDIENBRIEF – KAPITEL 2 KORRELATION & VARIANZ  Korrelationskoeffizient r bildet den linearen Zusammenhang zwischen zwei Variablen in einem Wertebereich von -1 - +1 ab, wobei Werte nahe 0 signalisieren, dass beide Variablen nicht zusammenhängen  Interkorrelationen innerhalb einer Gruppe von Variablen in der Persönlichkeits- und differentiellen Psychologie sind die Grundvoraussetzung für faktorenanalytische Verfahren (z.B. explorative Faktorenanalyse [M6a])  Verhaltensgenetische Verfahren basieren auf Korrelationsrechnungen (z.B. Stärke der Zusammenhänge von Merkmalen zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingen) und der Möglichkeit Varianzen zu addieren (z.B. Schätzung von Anteilen der Gesamtvarianz, die auf erbliche Einflüsse zurückgehen [Heritabilität])  Pionier der Korrelationsrechnung (Sir Francis Galton) beschäftigte sich insbesondere mit der Vererbung psychologischer Eigenschaften und Fähigkeiten. Kritisch wurde er jedoch gesehen als Verfechter der Eugenik und der damit einhergehenden Auffassung der Verbesserung der Menschheit durch Zuchtauswahl SELBST- UND FREMDBILD  Selbst- und Fremdbild sind nicht unbedingt deckungsgleich  große Bedeutung für die Persönlichkeitspsychologie o Dem Einzelnen können gewissen Aspekte nicht bewusst sein, die anderen jedoch auffallen o Es könnte auch Dinge geben, die einem selbst bewusst sind, die anderen hingegen nicht offensichtlich sind  Asymmetrisches Verhältnis von Person-Beobachter-Perspektive lässt sich im Johari-Fenster schematisch darstellen:  Daraus resultieren auch verschiedene Untersuchungsmethoden: o Selbstberichtsverfahren  Fragebogenuntersuchungen („sich selbst bekannt“) o Fremdbeurteilungsverfahren  Fragebogen- und Beobachtungsuntersuchung („anderen bekannt“) o Implizite Verfahren (z.B. IAT)  Implizite Assoziationstests (IAT) = „weder sich selbst noch anderen bekannt“ SOZIALE ERWÜNSCHTHEIT  Frage, ob Personen neben der eigenen Bewusstheit über einen Aspekt auch gewillt oder in der Lage sind eine zutreffende adäquate Antwort zu geben  Betrifft die Frage nach „sozialer Erwünschtheit“  Konzeptualisierung durch Paulhus (1984)  Zergliederung des Konzepts in zwei Komponenten: o Selbsttäuschung (= Self-Deception)  unabsichtliche Neigung, sich in einer positiven Weise zu beschreiben (idealisierte Form des eigenen Selbst) o Eindrucksvermittlung (= Impression Management)  Intentionale Abschwächung negativer Eigenschaften  Paulhus entwickelte einen Fragebogen zur Aufdeckung solcher Täuschungsversuche (= Balanced Inventory of Desirable Responding [BIDR]) PROJEKTIVE TESTS  Projektion  Abwehrmechanismus eingeführt durch Freud in der Psychoanalyse Impulse und Wünsche, die aus dem Unterbewussten aufsteigen aber nicht zugelassen werden können, anderen Personen zuzuschreiben  Annahme projektiver Verfahren: diffuse Anregungsbedingung (z.B. Tintenklekse beim Rorschach-Test) führen zu spontanen Äußerungen  Aufschluss über Trieb  Allerdings sind diese Verfahren wie viele Inhalte der Psychoanalyse empirisch kaum zu prüfen MOODLE-BOOK (FAKTORENANALYTISCHE GRUNDLAGEN)  VERWEIS AUF MODUL 6a DIAGNOSTIK STUDIENBRIEF – KAPITEL 4 ARTEN, DIMENSIONEN UND ZIELSETZUNGEN  Selektionsdiagnostik o Auswahl geeigneter Personen oder Bedingungen o Personenselektion  Anforderungen sind fix und die Personen sind variabel (welche Person entspricht am ehesten den Anforderungen) o Bedingungsselektion  Anforderungen sind variabel und die Person ist fix (unter welchen Bedingungen passen am besten auf das Profil der Person) o Basiert auf dem Eigenschaftsmodell  Modifikationsdiagnostik o Mittelpunkt klinisch-psychologischer Fragestellungen o Welche Erlebens- und Verhaltensweisen (= Verhaltensmodifikation) oder externen Bedingungen (= Bedingungsmodifikation) müssen verändert werden o Basiert auf verhaltensdiagnostischen Prinzipien  Eigenschaftsmodell o Personen können auf bestimmten Dimensionen miteinander verglichen werden (z.B. Intelligenz, soziale Kompetenz, Gewissenhaftigkeit) o Individuelle Ausprägungen einer Eigenschaft werden zu den Ausprägungen einer Normstichprobe in Beziehung gesetzt  Abschätzung von unter-, über- oder durchschnittlichen Werten auf der interessierenden Dimension o Prognosen sind aufgrund der Annahme zeitlicher Stabilität und transsituativen Konsistenz möglich  Verhaltensdiagnostik o Verhalten ist erlernt, variiert von Situation zu Situation und lässt sich verändern o Identifikation derjenigen situativen Bedingungen, die bestimmte Verhaltensweisen aufrechterhalten bzw. auslösen  Eigenschafts- und Verhaltensdiagnostik und die damit einhergehende Selektion oder Modifikation lassen sich 4-dimensional darstellen (inkl. Zielsetzungen): o Status- vs. Prozessdiagnostik - Status = Erfassung eines Ist-Zustands / Messung mehrerer stabiler Eigenschaftsausprägungen zur probabilistischen Vorhersage von Erleben und Verhalten - Prozess = Veränderung interessierender Verhaltensweisen im Zeitverlauf / Registrierung von Verhalten zu mehreren Zeitpunkten o Normorientierung vs. Kriteriumsorientierung - Eigenschaftsdiagnostik setzt individuelles Testergebnis mit dem Durchschnittswert einer Normstichprobe in Beziehung (möglichst repräsentativ) - Verhaltensdiagnostik setzt ein vorgegebenes Verhaltensziel (= Kriterium) und untersucht die Veränderung im Zeitverlauf auf das Ziel hin o Testen vs. Inventarisieren - Ermittlung von Eigenschaftsausprägungen aufgrund einer Stichprobe aus einer Grundgesamtheit zur Erfassung einer latenten Eigenschaft - Vollständige Inventarisierung des gesamten, für die Fragestellung relevanten Verhaltensrepertoires und der damit verbundenen auslösenden Bedingungen o Diagnostik als Messung vs. Diagnostik als Information für und über Behandlung - Ziel der Eigenschaftsmessung: Ausprägung eines Persönlichkeitsmerkmals vor dem Hintergrund bestimmter Testgütekriterien - Ziel der Verhaltensdiagnostik: Informationen zu erfassen, die helfen sollen, eine bestimmte Interventionsmaßnahme auszuwählen und/oder deren Effektivität zu bestimmen  Selektionsdiagnostik (Eigenschaftsmodell) kann vor dem Hintergrund der vier Dimensionen als normorientierte Statusdiagnostik zur Messung des Ausprägungsgrades von Eigenschaften dienen  Modifikationsdiagnostik (Verhaltenstheorie) kann als kriteriumsorientierte Prozessdiagnostik zur Entscheidungs- und Behandlungsoptimierung eingesetzt werden  In den meisten Bereichen kann die Selektionsdiagnostik in eine Modifikationsdiagnostik mehr oder weniger fließend übergehen KLINISCHE VS. STATISTISCHE URTEILSBILDUNG  Art der Integration muss festgelegt werden, wenn Daten aus mehreren Quellen zur Beantwortung diagnostischer Fragen herangezogen werden  Unterscheidung von zwei Arten von Datenerhebung / Messung und zwei Arten der Kombination von Daten durch Paul Meehl (1954): o Datenerhebung - Psychometrische Datenerhebung [Verwendung von Tests bzw. standardisierten Verfahren mit numerischen Auswertungsregeln] - Nicht-Psychometrische Datenerhebung [Eindrücke auf Seiten des Diagnostikers] o Datenkombination - Formell/Statistisch [Kombination und Gewichtung von Vorhersagevariablen (meist durch multiple Regression) anhand von statistischen Beziehungen] - Informell/Klinisch [Intuition und auf klinische / praktische Erfahrungen basierende Informationsverarbeitung  Kombination zwischen Datenerhebung und Datenkombination: Psychometrische Datenerhebung Nicht-Psychometrische Datenerhebung formell / statistisch Ergebnisse wissenschaftlicher Tests können mittels Angaben aus einem Interview werden mit Hilfe Gleichung zur Abschätzung einer numerischer Zuordnungen / numerischer Schlüssel Auftretenswahrscheinlichkeit für ein Verhalten ausgewertet eingesetzt werden informell / klinisch Intuitive Verwendung von Testergebnissen für die Beurteilung einer Person durch Interview und durch Diagnosestellung verwendet Intuition  Der Begriff „klinisch“ meint hierbei keine exklusive Verwendung dieser Kombinationsmethoden im klinisch-psychiatrischen Bereich; Formen der Datenkombinationen finden sich in vielen verschiedenen Anwendungsbereichen der Psychologie  Studien und Meta-Analysen zeigen eine höhere Validität der Daten (größerer Korrelationskoeffizient mit äußerem Kriterium) mit statistisch/formeller Datenkombinationsmethodik (oftmals der informell/klinischen Datenkombination überlegen) (z.B. Sarbin (1942) und Goldberg (1965)).  Meta-Analysen zur informellen Datenkombination (z.B. Spengler & Pilipis (2015) zeigen keine nennenswerten Zusammenhänge zwischen individueller Expertise und der Validität der Einschätzung (zurückzuführen auf Urteilsfehler oder Inkonsistenzen bei der Anwendung informeller Methoden)  Formell/statistische Datenkombinationsmethoden können jedoch auch fehleranfällig sein, im Fall einer Einzelfalldiagnostik  Oftmals ist eine Kombination aus formeller und informeller Datenkombination sinnvoll (informell meint dabei eine regelgeleitete Integration von informell-klinischer Urteilsbildung)  Neuere Untersuchungsmethoden (z.B.: Shelder-Westen-Assessment-Procedure (SWAP) von Hock et al. (2023)) verbinden informell-klinische mit formell- statistischen Datenkombinationsmethoden ENTSCHEIDUNGSMODELLE UND CUT-OFF WERTE  Paramorphe Modelle beschränken sich auf die Abbildung des diagnostischen Prozesses, Krumm et al. (2021) unterscheiden drei konkrete Entscheidungsstrategien, von denen auf Basis von Vorannahmen eine ausgewählt werden kann, um zu einer diagnostischen Entscheidung zu kommen  Entscheidungsstrategien: o Kompensatorische Entscheidungsstrategie  Gegenseitiges Ausgleichen einzelner Variablen möglich o Disjunkte Entscheidungsstrategie  Entscheidung kann durch eine von mehreren Variablen bestimmt werden (ODER-Verknüpfung) o Konjunktive Entscheidungsstrategie  Mindestausprägungen in mehreren Variablen werden benötigt  Cut-Off Werte sind in der Diagnostik wichtig und spielen im Rahmen von Entscheidungen eine wesentliche Rolle  Durch die Wahl der Cut-Off Werte können potenziell zwei Arten von irrtümlichen Entscheidungen auftreten: o ALPHA-Fehler  Annahme eines vermuteten Zustands, obwohl er nicht zutrifft (falscher Alarm) o BETA-Fehler  Annahme, dass ein vermuteter Zustand nicht vorliegt, obwohl er zutrifft (falsche Zurückweisung)  Cut-Off Werte müssen in Vorhinein sinnvoll und sorgfältig ausgewählt werden EVALUATION DES DIAGNOSTISCHEN VORGEHENS  Nutzen / Wert des diagnostischen Vorgehens kann durch formative (bezogen auf den Prozess) bzw. summative (bezogen auf das Ergebnis) Evaluation abgeschätzt werden o Formative Evaluation - Einhalten von Qualitätsstandards für jeden Schritt - Erleben und Akzeptanz der angewandten Methoden durch die Klienten - Verwendung von standardisierten Verfahren ggü. informellem Austausch sind zu präferieren o Summative Evaluation - Abgleich zwischen getroffener Entscheidung und dem Kriterium in der Realität - In der Praxis jedoch selten möglich, da entsprechende Daten oftmals fehlen  Stärke der Korrelation zwischen diagnostischer Entscheidung und dem gewählten Kriterium hat allein stehend wenig Aussagekraft für den tatsächlichen Nutzen  Brodgen-Cronbach-Gleser Formel inkludiert Kosten zur Anwendung und andere Faktoren, um Evaluation zu betreiben SCHMIDT-ATZERT – KAPITEL 5 DIAGNOSTISCHE STRATEGIEN  Auf diagnostischen Daten aufbauenden Konzeption, mit deren Hilfe der Diagnostiker das angestrebte Ziel zu erreichen versucht o Frage: Wie kann das angestrebte Ziel unter gesetzten Randbedingungen erreicht werden? o Diagnostischer Prozess dient dabei als Grundgerüst, das je nach Kontext und Bedingung durch komplexe Entscheidungen erweitert werden muss  Verschiedene Strategien zur Erreichung bestimmter Ziele werden diskutiert: o Status- und Veränderungsdiagnostik o Selektion vs. Modifikation o Strategien der Integration von Daten zu einer diagnostischen Entscheidung o Einstufige vs. mehrstufige diagnostische Entscheidungen STATUS- und VERÄNDERUNGSDIAGNOSTIK  Häufig wird Diagnostik durchgeführt, um zu prüfen, ob eine Intervention erforderlich ist  Diagnostik erfolgt daher notwendigerweise vor der Intervention (bezeichnet als „Eingangsdiagnostik“); im Allgemeinen als „Statusdiagnostik“ bezeichnet  Im Unterschied führt eine Veränderungsdiagnostik Messungen zu zwei oder mehr Zeitpunkten durch, um z.B. die Wirkung einer Intervention zu erfassen o Feststellung, ob sich der gewünschte Zustand einstellt durch regelmäßige Erfolgskontrollen o 2 Aspekte durch Erfolgskontrollen müssen jedoch beachtet werden: - Verbesserung

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