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Differentielle psych Einführung 1.pdf

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Andreas Mokros Christian Blötner...

Andreas Mokros Christian Blötner Karl-Heinz Renner Timo Heydasch Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik Kurseinheit 1: Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie: Eine Einführung Fakultät für Psychologie lnHXDXSDaU6UI5e8P3tfQcpYjF4ClhUNEwHP1pZ2r1PM9eNkcjtlNMSKNRO3ZX6YNpLSzUUOrUeA8vb0KtNXbw== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 EINFÜHRUNG ZUM KURS................................................................................................. 3 1 EINFÜHRUNG UND GRUNDBEGRIFFE............................................................................... 6 1.1 WAS IST PERSÖNLICHKEIT?................................................................................................... 7 1.2 PARADIGMEN UND THEORIEN DER PERSÖNLICHKEIT................................................................ 10 1.3 PERSÖNLICHKEITSMERKMALE UND -BEREICHE......................................................................... 11 1.4 INTEGRATION: PERSÖNLICHKEITSTHEORIEN ALS QUASI-PARADIGMEN UND PERSÖNLICHKEITSMERKMALE ALS DOMAINPROGRAMME................................................................................................................ 12 1.5 ANTHROPOLOGISCHE GRUNDANNAHMEN IN PERSÖNLICHKEITSTHEORIEN.................................... 13 2 METHODEN DER PERSÖNLICHKEITSFORSCHUNG............................................................ 16 2.1 KORRELATION UND VARIANZ............................................................................................... 16 2.2 SELBST- UND FREMDBILD................................................................................................... 17 2.3 SOZIALE ERWÜNSCHTHEIT.................................................................................................. 17 2.4 PROJEKTIVE TESTS............................................................................................................. 18 3 INTELLIGENZ.................................................................................................................. 20 3.1 WAS IST INTELLIGENZ?...................................................................................................... 21 3.2 INTELLIGENZTHEORIEN....................................................................................................... 23 3.2.1 Die 2-Faktoren -Theorie der Intelligenz von Spearman........................................... 23 3.2.2 Das Modell mehrerer Primärfaktoren von Thurstone............................................. 25 3.2.3 Das Intelligenzmodell nach Wechsler..................................................................... 28 3.2.4 Die Theorie der fluiden und kristallinen Intelligenz nach Cattell............................. 29 3.2.5 Das Facetten-Modell der Intelligenz nach Guilford................................................. 32 3.2.6 Das Berliner Intelligenzstrukturmodell (BIS) von Jäger........................................... 34 3.2.7 Die Three-Stratum-Theory von Carroll.................................................................... 36 3.2.8 Resümee.................................................................................................................. 39 3.3 ERBLICHKEIT DER INTELLIGENZ: ANLAGE VERSUS UMWELT........................................................ 43 3.3.1 Quantitative Verhaltensgenetik.............................................................................. 48 3.3.2 Molekulare Verhaltensgenetik................................................................................ 49 3.4 DER FLYNN-EFFEKT........................................................................................................... 53 3.5 DER DUNNING-KRUGER-EFFEKT.......................................................................................... 55 3.6 MENSCHLICHE VERSUS KÜNSTLICHE INTELLIGENZ.................................................................... 56 4 PERSÖNLICHKEITSDIMENSIONEN UND PERSÖNLICHKEITSSTRUKTUR..............................58 4.1 EINFÜHRUNG................................................................................................................... 58 4.2 DAS FÜNF-FAKTOREN-MODELL DER PERSÖNLICHKEIT.............................................................. 59 4.2.1 Persönlichkeitsstruktur im FFM............................................................................... 60 4.2.2 Instrumente zur Erfassung der Big Five................................................................... 64 4.3 DAS HEXACO-PERSÖNLICHKEITSMODELL............................................................................. 66 4.4 BIOLOGISCHE PERSÖNLICHKEITSTHEORIEN............................................................................. 67 4.4.1 PEN-Modell nach Eysenck....................................................................................... 68 4.4.2 Reinforcement Sensitivity Theory nach Gray.......................................................... 69 4.4.3 Biosoziale Theorie nach Cloninger.......................................................................... 71 4.5 STABILITÄT UND VERÄNDERUNG VON PERSÖNLICHKEIT............................................................ 72 Ac7DNpj/rZWXUYVZT5Q+9e/VhfaaBuh5o0QJE3TK7VSzYdy/l7QYh7C0iZpPjhkio2zbHaMfRX84oQoXByAplw== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 2 5 GESCHLECHTSUNTERSCHIEDE........................................................................................ 77 5.1 GESCHLECHT, GENDER, GESCHLECHTSSTEREOTYPE: EINE BEGRIFFSKLÄRUNG................................ 77 5.2 GESCHLECHTSUNTERSCHIEDE BEI KOGNITIVEN LEISTUNGEN UND PERSÖNLICHKEITSEIGENSCHAFTEN... 79 5.3 FRAGLICHE MESSINVARIANZ................................................................................................ 81 5.4 INTERPRETATION............................................................................................................... 81 5.5 GESCHLECHTSSTEREOTYPE.................................................................................................. 83 6 META-THEORIEN ZU EIGENSCHAFTEN............................................................................ 85 6.1 DIE PERSON-SITUATION-DEBATTE........................................................................................ 85 6.2 DIE VIER ISMEN................................................................................................................ 86 6.3 DIE KOGNITIV-AFFEKTIVE SYSTEMTHEORIE DER PERSÖNLICHKEIT................................................. 89 7 ZITIERTE LITERATUR...................................................................................................... 90 k/Q+EFzPdF31ft6B2TZ+/yY7v86UT4XaqY9cS4b65V2R0ksq0IFiYorpaC7q/7UaKpg7QUV3t6MDGq3h0iHKVw== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie 3 Einführung zum Kurs Bitte lesen Sie diese Einführung sorgfältig durch! Der Studienbrief „Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie: Eine Einfüh- rung“ ist Bestandteil des Kurses 36610 (Differentielle Psychologie, Persönlich- keitspsychologie und Diagnostik), vermittelt theoretisches Wissen zu Grundkon- zepten der Differentiellen Psychologie und Persönlichkeitsforschung und verfolgt mehrere Ziele: (1) Einführung in grundlegende Begriffe, Strukturierungsprinzipien und Grundannahmen von Persönlichkeitstheorien, (2) Darstellung grundlegender Methoden der Persönlichkeitsforschung, (3) Vermittlung von Kenntnissen über strukturelle Modelle der Intelligenz und der Persönlichkeit sowie (4) Betrachtung von Geschlechtsunterschieden im Hinblick auf Persönlichkeitsmerkmale. Der vor- liegende Studienbrief ist eine Fortschreibung von Studienbriefen, die ursprünglich von Karl-Heinz Renner und Timo Heydasch verfasst wurden. Das didaktische Konzept des Kurses basiert – im Hinblick auf den Themenbereich „Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie“ – auf drei Säulen: - Säule 1: Dieser Studienbrief gibt Ihnen einen Überblick zu den genannten Themen und soll als roter Faden für die Pflichtliteratur dienen (tlw. auch als Ergänzung der Pflichtliteratur). - Säule 2: In der Pflichtliteratur, die zu jedem Thema angegeben ist, erhalten Sie maßgebliche weiterführende Informationen. Bei der Pflichtliteratur han- delt es sich um Kapitel aus zwei Lehrbüchern, die als eBooks über die Bib- liothek der FernUniversität verfügbar sind, sowie ein Moodle-Book. - Säule 3: In einer Moodle-Umgebung zu diesem Kurs können Sie Fragen zu den einzelnen Themen des Kurses stellen und gemeinsam diskutieren. Da- bei werden Sie von der Modulbetreuung unterstützt. Mit dem Kursbestandteil sind vier Lehrziele verknüpft, nämlich Ihnen zu vermit- teln,...... warum die Beschäftigung mit Persönlichkeit ein Bestandteil der wissenschaftli- chen (und nicht nur der Alltags-)Psychologie ist,... mit welchen Methoden diese wissenschaftliche Beschäftigung erfolgt,... welche maßgeblichen Beschreibungssysteme (strukturell) und welche Erklä- rungsmodelle (dynamisch) entwickelt worden sind; der Fokus liegt dabei auf Ei- genschaftsmodellen bzw. -theorien, und... inwiefern Erkenntnisse über Persönlichkeit Einfluss haben auf angewandte As- pekte der psychologischen Tätigkeit (z.B. Diagnostik und Intervention). Die Betreuung für diesen Kurs wird schwerpunktmäßig über die virtuelle Lehr-Ler- numgebung Moodle realisiert. Wir empfehlen Ihnen dringend sich in Moodle anzu- melden. Sie finden den Zugang zu Moodle unter: dLOmErs6o//5DLGqrZJmOm9JuOqTFJGebbbSJdPuLeWg+0qDTYKlNsli0VXC0PswNMPHYvgKyCRg6x2dAZnPGQ== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 4 Einführung zum Kurs https://moodle-psy.fernuni-hagen.de Die Lernumgebung zu diesem und zu den anderen Kursbestandteilen dieses Moduls werden im Sommersemester in der Regel jeweils Anfang April und im Winterse- mester jeweils Anfang Oktober freigeschaltet. Pflichtliteratur Begleitend zu diesem Studienbrief werden Kapitel aus zwei Lehrbüchern voraus- gesetzt, und zwar aus: Asendorpf, J. (2019). Persönlichkeitspsychologie für Bachelor (4. Aufl.). Springer. und Rauthmann, J. F. (2017). Persönlichkeitspsychologie: Paradigmen – Strömungen – Theorien. Springer. Außerdem wird vorausgesetzt, dass Sie sich mit dem folgenden Moodle-Book be- schäftigt haben: Blötner, C., Segbert, L.-M. & Mokros, A. (2023). Einführung in faktorenanalyti- sche Verfahren für die Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie. Konkret besteht die Pflichtliteratur zu diesem Studienbrief neben dem vorgenann- ten Moodle-Book aus den folgenden Kapiteln bzw. Unterkapiteln: aus: Asendorpf (2019): Kap. 1: Persönlichkeit in Alltag, Wissenschaft und Praxis Kap. 2: Kurze Geschichte der Persönlichkeitspsychologie aus: Rauthmann (2017) Kap. 3 Vorwissenschaftliche Ansätze* o Kap. 3.2.2 Konstitutionstypologische Strömung Kap. 7: Kognitives Paradigma* o Kap. 7.2.1: Intelligenzforschung Kap. 8 Dispositionales Paradigma* o Kap. 8.2.1 Stabilität und Konsistenz o Kap. 8.2.4 Hans Jürgen Eysenck bis Kap. 8.2.7 Weitere taxonomi- sche Modelle, S. 247-281 Kap. 9 Biologisches Paradigma* o Kap. 9.2 Neurowissenschaftliche Strömung o Kap. 9.3 Genetische Strömung (Einleitung, S. 373f.) o Unterkapitel 9.3.1 Quantitative Verhaltensgenetik o 9.3.2 Molekulargenetische Persönlichkeitsforschung Kap. 10: Transaktionales Paradigma* o Kap. 10.2.3 Walter Mischel und Yuichi Shoda * Anm.: Daraus nur das/die nachfolgend genannte(n) Unterkapitel D/kxkjVerGXJab8jO93s+MURMgr4dEJowrPSLjw6CWZgnmDbVcLbf+qujZ/A9v7P36bi+p+ydBgC+X833JGT3w== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie 5 Lernziele Im Einzelnen sollten Sie nach Bearbeitung des Kursbestandteils (bestehend aus die- sem Studienbrief, der Pflichtliteratur und der Moodle-Umgebung) unter anderem … Differentielle Psychologie und Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn voneinander abgrenzen können, mit zentralen Definitionen von Persönlichkeit vertraut sein und die Begriffe Charakter, Temperament und Typus einordnen können, Konzepte der Differentiellen Psychologie (wie Gewohnheiten, Zustände o- der das Begriffspaar nomothetisch-idiographisch...) kennen, wissenschaftliche von naiven Verhaltenstheorien abgrenzen können, mit wesentlichen Schritten in der Geschichte der Persönlichkeits- und Dif- ferentiellen Psychologie vertraut sein, Methoden der Persönlichkeitsforschung kennen (unter besonderer Beach- tung von Korrelationsrechnung und Faktorenanalyse), Definitionen und Modelle der Intelligenz kennen, einschließlich weiterer Befunde zur Intelligenz, strukturelle Persönlichkeitsmodelle (v.a. Big Five/Fünf-Faktoren- und HE- XACO-Modell, aber auch die Theorien von Cattell und Eysenck) kennen, einige zentrale Verfahren zur Persönlichkeitsmessung kennen (z.B. NEO- PI-R, 16PF, HEXACO-PI-R, …) mit den biologischen Persönlichkeitstheorien von Eysenck, Gray und Clon- inger vertraut sein, die Begriffe Personismus, Situationismus, Interaktionismus und Dispositio- nismus (sowie das Modell der kognitiv-affektiven Persönlichkeitssysteme von Mischel und Shoda) kennen, mit Befunden zur Stabilität und Veränderung von Persönlichkeitseigen- schaften und Intelligenz vertraut sein, Erblichkeitsschätzungen sowie quantitative und molekulare verhaltensge- netische Designs einordnen können, Wissen zu genetischen Einflüssen auf Intelligenz und Persönlichkeit erwor- ben haben sowie empirische Befunde und Erklärungsansätze zu Geschlechtsunterschieden kennen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Erarbeitung des Studienbriefs und viel Spaß beim Studieren! Andreas Mokros THdTdBI6HSuktRzh1jWCGEciMPi81LrSPihoWWv964E2OHEiAsPLXIAlO48mZd3/19dLu6fZwsDLGS6WbUj9Yg== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 6 Einführung und Grundbegriffe 1 Einführung und Grundbegriffe Nach einem berühmten Diktum von Kluckhohn und Murray (1953, S. 53) ist jeder Mensch in gewisser Hinsicht… wie alle anderen Menschen wie einige andere Menschen wie kein anderer Mensch. Ziel der Differentiellen Während die Allgemeine Psychologie nach Gesetzmäßigkeiten sucht, die für na- Psychologie hezu alle Menschen gelten (…wie alle anderen Menschen, z.B. Lerngesetze, Sprachfähigkeit), ist es das Ziel der Differentiellen Psychologie Unterschiede zwi- schen einzelnen Personen oder Gruppen von Personen auf bestimmten Dimensio- nen bzw. Merkmalen zu identifizieren: Einige Menschen sind z.B. ängstlicher als andere oder intelligenter, extravertierter, offener, optimistischer. Auch Unter- schiede in biologischen Faktoren, z.B. Genvariationen, sogenannte Polymorphis- men oder Sequenzvariationen, werden in der Persönlichkeitsforschung berücksich- tigt. Zudem untersucht die Differentielle Psychologie, mit welchen anderen Merkmalen solche interindividuellen Unterschiede auf einer bestimmten Dimen- sion assoziiert sind. Dabei geht es auch um die Frage, welche Konsequenzen bzw. „outcomes“ in der Zukunft mit welchen Persönlichkeitsmerkmalen vorhergesagt werden können (individual differences that make a difference). Zum Beispiel wer- den die Merkmale akademische Intelligenz und Gewissenhaftigkeit, aber auch so- ziale und emotionale Kompetenzen als Prädiktoren für Studien- und Berufserfolg analysiert. Persönlichkeitspsycho- Die Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn untersucht die einzigartige Orga- logie im engeren Sinn nisation von psychischen Merkmalen innerhalb einer Person (wie kein anderer Mensch). Wie wirken bestimmte Motive, Emotionen und Kognitionen bei einer Person zusammen? Persönlichkeit in diesem Sinn umfasst Strukturen und Prozesse und spiegelt „nature“ (genetische Anlagen) und „nurture“ (Erfahrung, Umwelt) wi- der. In diesem Sinne ist die Differentielle Psychologie eher variablenorientiert, während die Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn eher personenorientiert ist. In der Begrifflichkeit des Pioniers dieser psychologischen Disziplin, William Stern (1921): Die Differentielle Psychologie nutzt Variations- und Korrelationsfor- schung – ein Merkmal bzw. mehrere Merkmale stehen im Vordergrund und werden an vielen Individuen verglichen. Die Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn nutzt hingegen Psychographie und Komparationsforschung – ein Individuum bzw. mehrere Individuen sind im Fokus und werden hinsichtlich vieler Merkmale be- schrieben/verglichen. Allerdings dient der Begriff Persönlichkeitspsychologie der Einfachheit halber auch als Oberbegriff für beide Aspekte, für die Differentielle Psychologie und die k2gUc8zOej37rHVlEhJqDan+cmp1J6ICrp7up1Rcs/Ak3zNovcU69J5X2+0dJA6ZDFsoT25Wi1ZW6eHkc90hjQ== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie 7 Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn. Wie in der Bezeichnung des zustän- digen Lehrgebiets wird auch im Rahmen des vorliegenden Studienbriefs der Begriff Persönlichkeitspsychologie gelegentlich im Sinne eines Oberbegriffs verwendet. Man findet aber auch die Bezeichnung „Differentielle Psychologie und Persönlich- keitsforschung“, etwa im Titel des Lehrbuchs von Hagemann et al. (2022. 1.1 Was ist Persönlichkeit? Da der Begriff Persönlichkeit auch in der Alltagssprache verwendet wird, weiß je- Evaluative und deskrip- der und jede von Ihnen intuitiv, was damit gemeint ist bzw. gemeint sein könnte. tive Bedeutung Allerdings wird Persönlichkeit im Alltag oft wertend im Sinne einer Auszeichnung oder charismatischen Wirkung gebraucht. Man sagt, jemand habe eine schillernde oder charismatische Persönlichkeit und meint damit, dass jemand eine in der Regel positive Ausstrahlung hat und andere beeindruckt. In der Psychologie wird der Be- griff Persönlichkeit aber nicht in diesem evaluativen Sinn gebraucht, sondern rein deskriptiv. Menschen haben nicht mehr oder weniger Persönlichkeit! Die Persön- lichkeit jedes Menschen ist Gegenstand der Forschung, unabhängig von der charis- matischen Wirkung. Der Begriff Persönlichkeit und seine Wurzel Person stammen vom lateinischen per- persona sona. In der römischen Antike wies der Begriff persona gegensätzliche Bedeutun- gen auf: Einerseits Maske, äußerer Schein, das Nichtwesenseigene sowie die Rolle, die ein Schauspieler auf der Bühne spielt. Persona bedeutete aber auch das Innere, das Wahre, das Wesentliche, den Schauspieler hinter der Maske als einen Menschen mit besonderen persönlichen Eigenschaften. Im Alltag und auch in der Wissenschaft finden sich neben Persönlichkeit auch die Begriffe Charakter, Temperament und Typus. Das aus dem Griechischen stammende Wort Charakter bedeutet das „Eingeritzte, Charakter Eingedrückte, Eingeprägte“. Im übertragenen Sinn ist damit nach Aristoteles „die einer Person aufgeprägte Eigentümlichkeit, woran man sie erkennt und wodurch sie sich von anderen unterscheidet“ (Koch, 1960, S. 7, zitiert nach Laux, 2008) ge- meint. Theophrast, ein Schüler von Aristoteles, unterscheidet in seinem gleichna- migen Buch 30 Charaktere, die eigentlich ausschließlich menschliche Schwächen widerspiegeln (z.B. der Unaufrichtige, der Gefallsüchtige, der Nörgler, der Prahler, der Geizige). Ganz anders und mit eindeutig positiver Konnotation hat der Charak- terbegriff in der sogenannten Positiven Psychologie eine Renaissance erfahren. In dieser psychologischen Bewegung werden Charakterstärken (z.B. Kreativität, Neu- gier, Bereitschaft zu vergeben, Humor, Spiritualität) und Tugenden (z.B. Weisheit und Wissen, Menschlichkeit, Transzendenz) betont (vgl. Peterson & Seligman, 2004). Das Wort Temperament stammt aus dem Lateinischen und kennzeichnet das rich- Temperament tige Verhältnis gemischter Stoffe. In der antiken griechischen Medizin wurde an- genommen, dass das Mischungsverhältnis der Körpersäfte Blut, Schleim sowie gel- ber und schwarzer Galle die physische und psychische Konstitution des Menschen 2AzoitmwJOpI9ctB8W1YOXoOcyOcf513Jv7APoqudu8mh86Gwm4kbIUazSCv98d7T3zRA8jLS5PGjRW5nUhLGQ== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 8 Einführung und Grundbegriffe sowie Gesundheit und Krankheit bestimme. Heute wird der Begriff Temperament im Sinne ererbter Merkmale verwendet, die sich auf die Bereiche Affekt, Aktivie- rung und Aufmerksamkeit (sogenannte „Drei A der Persönlichkeit“, Asendorpf, 2019, S. 85) beziehen und besonders den Stil, also das „Wie“ des Verhaltens be- treffen (vgl. Laux, 2008, S. 52); es geht also darum, ob jemand z.B. langsam oder schnell, kontrolliert oder impulsiv handelt. Anstelle von Persönlichkeits- wird ins- besondere dann von Temperamentsfaktoren gesprochen, wenn eine Abgrenzung zu Intelligenz und Leistungsvariablen intendiert ist (Laux, 2008). Typus Der Begriff Typus schließlich bedeutet im Griechischen Schlag und kennzeichnet in erster Linie ein Ausprägungsmuster von bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, ein Persönlichkeitsprofil, das z.B. mit Hilfe der Clusteranalyse identifiziert werden kann (Moosbrugger & Frank, 1992). In der Klassifikation der Methoden der Diffe- rentiellen Psychologie von William Stern korrespondiert das Typen-Konzept mit der Komparationsforschung (mehrere Merkmale an zwei oder mehreren Indivi- duen). Die bekannteste historische Typologie sind die vier Temperamentstypen des Hippokrates, die auf den vier Körpersäften basieren. Demnach sei der sanguinische Typ (Blut) sorglos und augenblicksbezogen, der phlegmatische Typ (Schleim) langsam und untätig, der Cholerische (gelbe Galle) aufbrausend und leicht erregbar und der Melancholische (schwarze Galle) besorgt und pessimistisch. Eine überzeu- gende endokrinologische bzw. neurowissenschaftliche Fundierung für diese und andere Temperamentslehren steht bis heute aus (Asendorpf & Neyer, 2012). Persönlichkeitsdefini- In Lehrbüchern der Differentiellen und Persönlichkeitspsychologie findet man ver- tion von Herrmann: zeit- schiedene Definitionen für den Begriff Persönlichkeit. Bereits vor über 30 Jahren liche Stabilität und transsituative Konsis- hat Herrmann (1991) zahlreiche Definitionen von Persönlichkeit zusammengetra- tenz gen, gesichtet und versucht, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu extrahieren. Hier ist sein Ergebnis: „Die Mehrheit heutiger Persönlichkeitsdefinitionen fasst Persönlichkeit auf als ein bei jedem Menschen einzigartiges, relativ stabiles und den Zeitablauf überdauerndes Verhaltenskorrelat“ (Herrmann, 1991, S. 29). Dem- nach ist Persönlichkeit etwas „hinter“ dem Verhalten (Verhaltenskorrelat), also ein hypothetisches Konstrukt, das nicht direkt beobachtet werden kann. Zudem wird auf die Einzigartigkeit und die zeitliche Stabilität hingewiesen. Die zeitliche Stabi- lität eines Erlebens- und Verhaltensmusters ist neben der transsituativen Konsistenz eine wichtige Bedingung dafür, dass ein Merkmal als Persönlichkeitsmerkmal oder Eigenschaft Eigenschaft bezeichnet werden kann. Demnach muss ein bestimmtes Erlebens- und Verhaltensmuster über die Zeit immer wieder (zeitliche Stabilität) und zudem nicht nur in einer bestimmten, sondern in verschiedenen Situationen (transsituative Kon- sistenz) auftreten. Die Definition von Herrmann spiegelt eher die Zielsetzungen der Differentiellen Psychologie wider. Im Rahmen dieser differentiellen Perspektive werden auch Geschlechterunterschiede und Persönlichkeitsmerkmale im Kultur- vergleich untersucht. Neben langfristiger Stabilität und situationsübergreifender (transsituativer) Konsis- tenz führt Asendorpf (2019) die sogenannte Reaktionskohärenz als drittes Merkmal psychologischer Eigenschaften an. Damit ist gemeint, dass die Reaktionen auf ver- schiedenen „Kanälen“ analog sind, also beispielsweise über erhöhte Ängstlichkeit PVI9LT/hHAUDwz62/toM5jXwxTKYeZ5IFzDEyRnIJqPFB5ozE823e1L7KSTFPtoIkX6htVtw7Yywxh+BldIpvg== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie 9 zu berichten (im Fragebogen), in entsprechenden Situationen schneller einen erhöh- ten Puls zu haben und solche Situationen eher zu meiden, die als angstauslösend gelten. Dabei ist aber wiederum zu bedenken, dass das Zusammenspiel solcher In- dikatoren sehr individuell ausgestaltet sein kann. Eine komplexere, eher der Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn entspre- Persönlichkeitsdefini- chende Definition hat dagegen Pervin (1996) vorgeschlagen: tion von Pervin: kom- plexe Organisation Persönlichkeit ist die komplexe Organisation von Kognitionen, Emotionen und Ver- halten, die dem Leben einer Person Richtung und Zusammenhang gibt. Die Persön- lichkeit umfasst wie der Körper Strukturen und Prozesse und spiegelt nature und nurture wider. Persönlichkeit schließt die Auswirkungen der Vergangenheit, ebenso wie die Konstruktionen der Gegenwart und der Zukunft ein. (Pervin, 1996, S. 414; Übers. d. Verf.) Diese einzigartige intraindividuelle Organisation ist ein von verschiedenen Autoren Intraindividuelle Orga- immer wieder betontes konstitutives Definitionsmerkmal der Persönlichkeitspsy- nisation als Forschungs- ziel chologie. So lautet Allports vielzitierte Definition des Begriffs Persönlichkeit wie folgt: Persönlichkeit ist die dynamische Organisation jener psychophysischen Systeme in- nerhalb des Individuums, die sein charakteristisches Verhalten und Denken bestim- men. (Allport, 1961, S. 28; Übers. d. Verf.) Die einzigartige Organisation der Persönlichkeit ist ein faszinierender und zugleich weitgehend ungeklärter Gegenstand der Differentiellen Psychologie und Persön- lichkeitsforschung, ein Desiderat (Ziel) in Theorie und Forschung. Anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Deutschen Gesellschaft für Psychologie wurden Ver- treter/innen aller Grundlagen- und Anwendungsfächer gebeten, die letzten 100 Jahre ihres Faches zu kommentieren und zu reflektieren. Als Vertreter des Faches Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diag- nostik kam Manfred Amelang u.a. zu folgendem Resümee, das die Forschungs- und Erkenntnislücke bzgl. der intraindividuellen Organisation von Persönlichkeit deut- lich unterstreicht: Es bleibt festzuhalten: Wir verfügen schon seit langem über ein Übermaß an Instru- menten, die es erlauben, Personen voneinander zu unterscheiden. (…) Definitiv aber besteht ein beklagenswertes Defizit dahingehend, dass sich die Persönlichkeitspsycho- logie während der zurückliegenden Jahrzehnte viel zu wenig und nur mit unzulängli- chen Mitteln um Individualität im Sinne von Stern und die inhaltliche Kohärenz der Person gekümmert hat (Amelang, 2005, S. 40). Der deutsche Psychologe William Stern (1911) hat vier Disziplinen der Differenti- Vier Disziplinen der ellen Psychologie ausgemacht und anhand eines einfachen Schemas beschrieben, Differentiellen Psycho- logie in dem Personen als Spalten und Merkmale als Zeilen einer Matrix beschrieben werden (vgl. Asendorpf, 2019). Je nachdem, ob ein Merkmal (Variationsforschung) oder zwei und mehr Merkmale an vielen Personen verglichen werden (Korrelati- onsforschung) oder ob ein Individuum hinsichtlich vieler Merkmale (Psychogra- phie) beziehungsweise zwei oder mehr Individuen im Hinblick auf viele Merkmale qNd/kqCrvDsOfIM9BeSvJkJJ2VaYi4wx64osvdkdCBVLv03mKCoDFBvyoE0EeInsfiaRYMx5Tk4ahdKZ6FgU5Q== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 10 Einführung und Grundbegriffe verglichen werden (Komparationsforschung), bieten sich unterschiedliche Zugänge für die Persönlichkeitsforschung. Cattell hat dieses Schema dreidimensional zum Kovariationswürfel sogenannten Kovariationswürfel erweitert, und zwar um die zeitliche Achse (Mess- gelegenheiten). Thematisiert wird die intraindividuelle Organisation beispielsweise im New Big Five-Ansatz von McAdams und Pals (2006) oder im Interaktionismus von Walter Mischel (1968). Eine Definition von Persönlichkeit, die auf Mischels Vorstellung des kognitiv-affektiven Persönlichkeitssystems aufbaut, lautet: Die Persönlichkeit des Individuums manifestiert sich daher als ein unterscheidbares und stabiles Muster von Verhaltensvariation, das zustande kommt, indem die Person aus einer Situation in eine andere gelangt. (Shoda & Mischel, 2000, S. 421; Übers. d. Verf.) Mit dem Begriff des kognitiv-affektiven Persönlichkeitssystems (engl.: cognitive Interaktionismus, CAPS affective personality system; CAPS) bringt Mischel zum Ausdruck, dass wir uns dann in verschiedenen Situationen weitgehend gleichförmig verhalten, wenn wir diese Situationen kognitiv als einander ähnlich wahrnehmen und emotional als ei- nander ähnlich empfinden, auch was Stimmung und Motive betrifft. Wie der Schriftsteller Ödön von Horváth so treffend formuliert hat: „Ich bin nämlich eigent- lich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu“. 1.2 Paradigmen und Theorien der Persönlichkeit Paradigma In der Wissenschaftstheorie steht der Begriff Paradigma für eine Auffassung über die untersuchten Sachverhalte, die zahlreiche Wissenschaftler/innen miteinander teilen, und die bestimmte Normen und Regeln nahelegt, wie die noch ungelösten Probleme zu bearbeiten sind (Kuhn, 1962/1993). Demnach ist ein Paradigma etwas, das über den Theorien und Methoden einer wissenschaftlichen Fachdisziplin steht. In der Psychologie wird der Begriff Paradigma allerdings manchmal auch anders verwendet, nämlich um eine bestimmte Versuchsanordnung in einem Experiment zu bezeichnen. Wenn man die erste (wissenschaftstheoretische) Definition des Begriffs Paradigma zugrunde legt, dann lassen sich für die Persönlichkeitspsychologie sechs verschie- dene Paradigmen voneinander abgrenzen (Asendorpf, 2019; Asendorpf & Neyer, 2012), nämlich das Eigenschafts-, das Informationsverarbeitungs-, das dynamisch- interaktionistische, das neurowissenschaftliche, das molekulargenetische und das evolutionspsychologische Paradigma. Die stark physiologisch orientierte Persön- lichkeitstheorie von Hans-Jürgen Eysenck würde demnach unter das neurowissen- schaftliche Paradigma subsumiert; der weiter oben erwähnte Interaktionismus i.S. von Walter Mischel hingegen unter das Eigenschaftsparadigma. (Anm.: Bitte kom- men Sie nicht durcheinander, weil der Begriff Interaktion auch noch anderweitig auftaucht, nämlich im dynamisch-interaktionistischen Paradigma! Damit ist die Wechselwirkung von Persönlichkeit und Umweltbedingungen im Hinblick auf die T37AXxRddEF7MW1lGFbrWW286/5yeIrDc11pdIf3Ker1qCaIV2jjnoWiFMzqLySNgavi2awoVj9SkaLa91667Q== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie 11 Persönlichkeitsentwicklung gemeint, wie sie etwa in der Bindungstheorie von Bow- lby beschrieben wird.) In verschiedenen Paradigmen und Theorien zur Persönlich- keit werden unterschiedliche konzeptuelle und methodische Wege vorgeschlagen, um Persönlichkeit bzw. Persönlichkeitsmerkmale zu beschreiben und zu erklären sowie persönlichkeitsbedingtes Erleben und Verhalten vorherzusagen und auch die Frage zu klären, ob und durch welche Bedingungen Persönlichkeitsveränderungen möglich sind. Geht man davon aus, dass unter der „Schirmherrschaft“ eines Para- digmas – also eines Leitbildes, das theoretische Leitsätze, Fragestellungen und Me- thoden spezifiziert – mehrere Theorien und Konstrukte entwickelt werden können, dann ist es in der Tat gerechtfertigt, von persönlichkeitspsychologischen Paradig- men zu sprechen. In den meisten Lehrbüchern der Persönlichkeitspsychologie ist aber von Theorien und nicht von Paradigmen die Rede. In diesem Studienbrief wird ebenfalls in erster Linie von Persönlichkeitstheorien gesprochen und damit die ge- nerelle Gepflogenheit aufgegriffen. Gelegentlich wird im Folgenden anstelle von Paradigma aber auch der von Theo Herrmann geprägte (vorsichtigere) Begriff des Quasi-Paradigmas aufgegriffen. 1.3 Persönlichkeitsmerkmale und -bereiche Persönlichkeitsmerkmale wie Ängstlichkeit lassen sich bestimmten Bereichen inte- rindividueller Differenzen zuordnen, wobei diesbezüglich unterschiedliche Vor- schläge zur Klassifikation vorliegen. So klassifizieren Weber und Rammsayer (2005) Persönlichkeitsunterschiede im Bereich der Fähigkeiten und Kompetenzen, im emotional-kognitiven und im sozialen Bereich (s. Abb. 1-1). Abbildung 1-1: Klassifikation von Persönlichkeitsunterschieden nach Weber und Rammsayer (2005). Quer zu diesen Persönlichkeitsbereichen liegen Geschlechtsunterschiede sowie bi- ologisch und kulturell bedingte Persönlichkeitsvariationen, die bei jedem der hier gelisteten Persönlichkeitsmerkmale zusätzlich berücksichtigt werden können. Zum PZlozGfPYVUcnrplYwRTrq6ODcnsnOz4ukz1RlFrsv+rKzAnwFyJQ60OBO26KVCytcXfLhFvlOXR+L9uz3S0Fg== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 12 Einführung und Grundbegriffe Beispiel kann untersucht werden, ob für das Merkmal Intelligenz Geschlechtsun- terschiede vorliegen und ob Intelligenzunterschiede auch mit biologischen oder kul- turellen Bedingungen variieren. 1.4 Integration: Persönlichkeitstheorien als Quasi-Paradig- men und Persönlichkeitsmerkmale als Domainpro- gramme Für die inhaltliche Strukturierung der Persönlichkeitspsychologie ist die Unter- scheidung zwischen Quasi-Paradigmen und Domain-Programmen von Theo Herr- mann (1976) sinnvoll. Unter der Schirmherrschaft eines persönlichkeitspsycholo- gischen Quasi-Paradigmas bzw. einer Persönlichkeitstheorie können verschiedene Persönlichkeitsmerkmale thematisiert und untersucht werden. So lassen sich bei- spielsweise die Merkmale Angst, Aggression, Kontrollüberzeugungen, Selbstregu- lation u.a. aus der Perspektive der sozial-kognitiven Persönlichkeitstheorie be- schreiben und erklären (vgl. Abb. 1-2). Abbildung 1-2: Sozial-kognitives Quasi-Paradigma. Umgekehrt kann ein- und dasselbe Persönlichkeitsmerkmal auch aus unterschied- lichen quasi-paradigmatischen Perspektiven untersucht werden. Theo Herrmann spricht in diesem Fall von Domain-Programmen. Beispielsweise liegen psychody- namische, sozial-kognitive und eigenschaftstheoretische Ansätze zur Domäne Ängstlichkeit vor, die sich teilweise ergänzen, in einigen zentralen Punkten aber auch widersprechen (vgl. Abb. 1-3). wVqN5Ao5ZwIJDNwP4UNKsBhSHWPN1ZsO15S3fffsHnEm/beox4wc3QjxUvOU3ICqhDO5o/+dV/Ov7XOJpa+p1Q== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie 13 Abbildung 1-3: Domain-Programm Ängstlichkeit. 1.5 Anthropologische Grundannahmen in Persönlichkeitstheo- rien Alltägliches und psychologisches Denken über den Menschen basiert auf bestimm- ten Grundannahmen über die menschliche Natur (Hjelle & Ziegler, 1992). Diese Grundannahmen beeinflussen die Art und Weise, wie Individuen andere Personen wahrnehmen, behandeln und, was den Bereich der Forschung betrifft, wie psycho- logische Theorien und Therapien konstruiert werden. Hjelle und Ziegler (1992) haben diese anthropologischen Grundannahmen in Form Zwölf bipolare von neun bipolaren Dimensionen formuliert, die im Folgenden in der deutschen Dimensionen Übersetzung von Schneewind (1982) aufgelistet werden: 1. Freiheit vs. Determiniertheit 2. Rationalität vs. Irrationalität 3. Ganzheitlichkeit vs. Elementarismus 4. Konstitutionalismus vs. Environmentalismus 5. Veränderbarkeit vs. Unveränderbarkeit 6. Subjektivität vs. Objektivität 7. Proaktivität vs. Reaktivität 8. Homöostase vs. Heterostase 9. Erkennbarkeit vs. Unerkennbarkeit Schneewind (1982) fügt diesen neun Dimensionen zwei weitere hinzu, nämlich: „Historizität vs. Ahistorizität“ und „Sozialität vs. Asozialität“. Zusätzlich schlägt Laux (persönliche Mitteilung) die Berücksichtigung der Dimension „Idiographi- sches Vorgehen vs. nomothetisches Vorgehen“ vor. Die jeweiligen Positionen zwi- schen den Polen dieser Dimensionen charakterisieren ein konkretes Menschenbild. Nach Auffassung von Renner (1994) können die insgesamt zwölf Dimensionen un- ter drei thematischen Rubriken gruppiert werden: 516LvRPSWGasvWKi/85yZh7fd4K1l9TFkIKMPB7jjAR2i56mu3whgg/GVdBcYSXBFHOqrk+GaCS0nGslBiQ9wA== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 14 Einführung und Grundbegriffe Drei thematische 1. Was determiniert das Verhalten des Menschen? Rubriken 2. Wie veränderbar ist der Mensch? 3. Wie soll man den Menschen untersuchen? Exemplarisch sei die erste Dimension (Freiheit vs. Determiniertheit) aufgegriffen. Hjelle und Ziegler (1992) werfen damit die Frage auf, inwieweit das Verhalten ei- nes Menschen von internen oder von externen Faktoren determiniert sei, die außer- halb seiner bewussten Kontrolle liegen. Hjelle und Ziegler setzen Freiheit mit be- wusster Handlungsplanung und bewusstem Denken gleich. Nach dieser Definition handelt ein Mensch dann frei, wenn er sein Handeln bewusst plant und daraufhin entsprechend ausführt. Es ist aber hypothetisch durchaus denkbar, dass das Verhal- ten eines Menschen vollständig von früheren Erfahrungen, inneren Zuständen und äußeren Gegebenheiten bedingt ist – eine Vorstellung, die dem Gedankenexperi- ment des Laplace’schen Dämons entspricht: Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren Zustandes und andererseits als die Ursache dessen, der folgen wird, betrach- ten. Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte, von denen die Natur belebt ist, sowie die gegenseitige Lage der Wesen, die sie zusammensetzen, kennen würde, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen einer Analyse zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie die des leichtesten Atoms ausdrücken: nichts würde für sie ungewiss sein und Zukunft wie Vergangenheit ihr offen vor Augen liegen. (Pierre-Simon de Laplace, 1814/1986) Die Persönlichkeitstheorie der Freud’schen Psychoanalyse legt einen solchen De- terminismus nahe, indem bestimmte Handlungen Ausdruck von Trieben und Kon- flikten des Unbewussten (des Es) sein sollen. Tatsächlich scheint das berühmte Ex- periment des Neurowissenschaftlers Benjamin Libet ebenfalls darauf hinzuweisen, dass der freie Wille nur eine Illusion sei – Versuchspersonen gaben an, wann sie eine Fingerbewegung initiiert hatten; tatsächlich war das Bereitschaftspotential im Elektroenzephalogramm aber bereits vorher nachzuweisen (Libet et al., 1983). (Li- bet selbst hielt sein Experiment übrigens nicht für einen Nachweis, dass es den freien Willen nicht gebe; er ging vielmehr davon aus, dass Versuchspersonen durchaus ein Veto gegen aufsteigende Handlungsimpulse einlegen könnten. Aller- dings ist ein solches Veto offenbar nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt möglich [Schultze-Kraft et al., 2016].) Die letzte (von Laux hinzugefügte) Dimension „Nomothetisch vs. idiographisch“ bezieht sich nicht darauf, wie Verhalten entsteht, sondern wie Persönlichkeit er- forscht werden sollte. Soll eine Theorie den Menschen durch genaue Beschreibung seiner Einzigartigkeit erforschen (idiographisches Vorgehen) oder soll der Versuch unternommen werden, allgemeine Beurteilungsregeln aufzustellen, die in unter- schiedlicher Ausprägung für alle gelten (nomothetisches Vorgehen)? Das Begriffs- paar nomothetisch/idiographisch geht ursprünglich auf den Philosophen Wilhelm Windelband (1915) zurück und wurde bereits von Allport (1937) auf die Psycholo- gie angewandt. Windelband schrieb: LXOcpAcKyLCYP726odrd+dJvhosf1C2+Bgt4GZImR1BkOyrFuqz+CWQzXYxyPsfRHP0/x6q9zs7xeXwi1J4tMA== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 3383571 Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie 15 So dürfen wir sagen: die Erfahrungswissenschaften suchen in der Erkenntnis des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt; sie betrachten zu einem Teil die immer sich gleichbleibende Form, zum anderen Teil den einmaligen, in sich bestimmten Inhalt des wirklichen Geschehens. Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Er- eigniswissenschaften; jene lehren, was immer ist, diese was einmal war. Das wissen- schaftliche Denken ist - wenn man neue Kunstausdrücke bilden darf - in dem einen Falle n o m o t h e t i s c h, in dem anderen i d i o g r a p h i s c h. (Windelband, 1915, S. 145; Hervorhebungen im Original) Verwendet man zur Veranschaulichung literarische oder filmische Beispiele, dann ist der Film Boyhood (Linklater, 2014), der das Erwachsenwerden seines Protago- nisten über den Zeitraum von 12 Jahren hinweg zeigt, eindeutig idiographisch. (Vgl. hierzu die psychologische Studie „One boy‘s day“ von Barker & Wright, 1951, in welcher der Tagesablauf eines Jungen vom Aufstehen bis zum Zubettge- hen durch Beobachter/innen minutiös aufgezeichnet wurde.) Ebenso das Werk „Ulysses“ von James Joyce über einen Tag im Leben des (fiktiven) Protagonisten Leopold Bloom. Standardisierte Persönlichkeitsfragebogen, deren Konzeption auf der Annahme basiert, alle Versuchspersonen würden die Items gleich interpretieren und auch die sprachlichen Anker der Antwortskala (sowie deren Abstände) in glei- cher Weise auffassen, sind hingegen nomothetisch. Roberts und Yoon (2022) geben vier Domänen als maßgebliche Analyseeinheiten für die Persönlichkeitspsychologie an: Persönlichkeitseigenschaften Motivation Fertigkeiten/Fähigkeiten Narrative Identität

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