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36610-1_PersDiffPsyEinfuehrung_WiSe2425.pdf

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Andreas Mokros Christian Blötner Karl-Heinz Renner...

Andreas Mokros Christian Blötner Karl-Heinz Renner Timo Heydasch Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik Kurseinheit 1: Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie: Eine Einführung Fakultät für Psychologie c8Ef6SqsoajX1pXbSr4mZfuay9pzSIE8tweRfg5NZnALcBicdK1aGA35R20uF7INy8002aml3wdk6PCjv3BcxQ== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbrei- tung sowie der Übersetzung und des Nachdrucks, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der FernUniversität reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir weisen darauf hin, dass die vorgenannten Verwertungsalternativen je nach Ausgestaltung der Nutzungsbedingungen bereits durch Einstellen in Cloud- Systeme verwirklicht sein können. Die FernUniversität bedient sich im Falle der Kenntnis von Urheberrechtsverletzungen sowohl zivil- als auch strafrechtlicher Instrumente, um ihre Rechte geltend zu machen. Der Inhalt dieses Studienbriefs wird gedruckt auf Recyclingpapier (80 g/m2, weiß), hergestellt aus 100 % Altpapier. Uy3SGenX0Hk9qx4y2GLq5mkTjwxgC7C+ew4hVNxtB+AULk4JPkQxrW8mBsj21f4FXHgI/TAlOScD46TtkpSJOA== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 3 EINFÜHRUNG ZUM KURS.................................................................................................... 5 1 EINFÜHRUNG UND GRUNDBEGRIFFE................................................................................. 8 1.1 WAS IST PERSÖNLICHKEIT?................................................................................................... 9 1.2 ABGRENZUNG ZWISCHEN DER WISSENSCHAFTLICHEN PSYCHOLOGIE UND DER ALLTAGS- ODER LAIENPSYCHOLOGIE......................................................................................................................... 12 1.3 PARADIGMEN UND THEORIEN DER PERSÖNLICHKEIT................................................................ 15 1.4 PERSÖNLICHKEITSMERKMALE UND -BEREICHE......................................................................... 16 1.5 INTEGRATION: PERSÖNLICHKEITSTHEORIEN ALS QUASI-PARADIGMEN UND PERSÖNLICHKEITSMERKMALE ALS DOMAINPROGRAMME................................................................................................................ 17 1.6 ANTHROPOLOGISCHE GRUNDANNAHMEN IN PERSÖNLICHKEITSTHEORIEN.................................... 18 2 METHODEN DER PERSÖNLICHKEITSFORSCHUNG............................................................. 21 2.1 KORRELATION UND VARIANZ............................................................................................... 21 2.2 SELBST- UND FREMDBILD................................................................................................... 22 2.3 SOZIALE ERWÜNSCHTHEIT.................................................................................................. 23 2.4 PROJEKTIVE TESTS............................................................................................................. 23 3 INTELLIGENZ.................................................................................................................... 24 3.1 WAS IST INTELLIGENZ?...................................................................................................... 25 3.2 INTELLIGENZTHEORIEN....................................................................................................... 27 3.2.1 Die Zwei-Faktoren -Theorie der Intelligenz von Spearman..................................... 28 3.2.2 Das Modell mehrerer Primärfaktoren von Thurstone............................................. 30 3.2.3 Das Intelligenzmodell nach Wechsler..................................................................... 32 3.2.4 Die Theorie der fluiden und kristallinen Intelligenz nach Cattell............................. 34 3.2.5 Das Facetten-Modell der Intelligenz nach Guilford................................................. 37 3.2.6 Das Berliner Intelligenzstrukturmodell (BIS) von Jäger........................................... 39 3.2.7 Die Three-Stratum-Theory von Carroll.................................................................... 41 3.2.8 Resümee.................................................................................................................. 44 3.3 ERBLICHKEIT DER INTELLIGENZ: ANLAGE VERSUS UMWELT........................................................ 48 3.3.1 Quantitative Verhaltensgenetik.............................................................................. 53 3.3.2 Molekulare Verhaltensgenetik................................................................................ 54 3.4 DER FLYNN-EFFEKT........................................................................................................... 58 3.5 DER DUNNING-KRUGER-EFFEKT.......................................................................................... 60 3.6 MENSCHLICHE VERSUS KÜNSTLICHE INTELLIGENZ..................................................................... 61 4 PERSÖNLICHKEITSDIMENSIONEN UND PERSÖNLICHKEITSSTRUKTUR.............................. 63 4.1 EINFÜHRUNG................................................................................................................... 63 4.2 DAS FÜNF-FAKTOREN-MODELL DER PERSÖNLICHKEIT.............................................................. 64 4.2.1 Persönlichkeitsstruktur im FFM............................................................................... 65 4.2.2 Instrumente zur Erfassung der Big Five................................................................... 69 4.3 DAS HEXACO-PERSÖNLICHKEITSMODELL............................................................................. 71 4.4 BIOLOGISCHE PERSÖNLICHKEITSTHEORIEN............................................................................. 72 4.4.1 PEN-Modell nach Eysenck....................................................................................... 73 4.4.2 Reinforcement Sensitivity Theory nach Gray.......................................................... 74 4.4.3 Biosoziale Theorie nach Cloninger.......................................................................... 76 twM2oyQxlPJxtO4TKxVYiLw4xf4AnVncxpPivx3JfwsjH98FUlETDAdrcpCi7S6924QRxxKpNM3GG7G+c1wpHw== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 4 4.5 STABILITÄT UND VERÄNDERUNG VON PERSÖNLICHKEIT............................................................. 77 5 GESCHLECHTSUNTERSCHIEDE...........................................................................................82 5.1 GESCHLECHT, GENDER, GESCHLECHTSSTEREOTYPE: EINE BEGRIFFSKLÄRUNG................................ 82 5.2 GESCHLECHTSUNTERSCHIEDE BEI KOGNITIVEN LEISTUNGEN UND PERSÖNLICHKEITSEIGENSCHAFTEN... 84 5.3 FRAGLICHE MESSINVARIANZ................................................................................................ 85 5.4 INTERPRETATION............................................................................................................... 86 5.5 GESCHLECHTSSTEREOTYPE.................................................................................................. 88 6 META-THEORIEN ZU EIGENSCHAFTEN..............................................................................89 6.1 DIE PERSON-SITUATION-DEBATTE........................................................................................ 89 6.2 DIE VIER ISMEN................................................................................................................ 90 6.3 DIE KOGNITIV-AFFEKTIVE SYSTEMTHEORIE DER PERSÖNLICHKEIT................................................. 93 7 ZITIERTE LITERATUR.........................................................................................................94 NTgaxYubg7MkLrrvtTD15vzBQA6Ibn3G3a+SmdsN9Z4ve+i2dL5QM+pCXWJ1bu3fjZVH7Y513uEJmDSBPZbywQ== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie 5 Einführung zum Kurs Bitte lesen Sie diese Einführung sorgfältig durch! Der Studienbrief „Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie: Eine Einfüh- rung“ ist Bestandteil des Kurses 36610 (Differentielle Psychologie, Persönlich- keitspsychologie und Diagnostik), vermittelt theoretisches Wissen zu Grundkon- zepten der Differentiellen Psychologie und Persönlichkeitsforschung und verfolgt mehrere Ziele: (1) Einführung in grundlegende Begriffe, Strukturierungsprinzipien und Grundannahmen von Persönlichkeitstheorien, (2) Darstellung grundlegender Methoden der Persönlichkeitsforschung, (3) Vermittlung von Kenntnissen über strukturelle Modelle der Intelligenz und der Persönlichkeit sowie (4) Betrachtung von Geschlechtsunterschieden im Hinblick auf Persönlichkeitsmerkmale. Der vor- liegende Studienbrief ist eine Fortschreibung von Studienbriefen, die ursprünglich von Karl-Heinz Renner und Timo Heydasch verfasst wurden. Das didaktische Konzept des Kurses basiert – im Hinblick auf den Themenbereich „Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie“ – auf drei Säulen: - Säule 1: Dieser Studienbrief gibt Ihnen einen Überblick zu den genannten Themen und soll als roter Faden für die Pflichtliteratur dienen (tlw. auch als Ergänzung der Pflichtliteratur). - Säule 2: In der Pflichtliteratur, die zu jedem Thema angegeben ist, erhalten Sie maßgebliche weiterführende Informationen. Bei der Pflichtliteratur han- delt es sich um Kapitel aus zwei Lehrbüchern, die als eBooks über die Bib- liothek der FernUniversität verfügbar sind, sowie ein Moodle-Book. - Säule 3: In einer Moodle-Umgebung zu diesem Kurs können Sie Fragen zu den einzelnen Themen des Kurses stellen und gemeinsam diskutieren. Da- bei werden Sie von der Modulbetreuung unterstützt. Mit dem Kursbestandteil sind vier Lehrziele verknüpft, nämlich Ihnen zu vermit- teln,...... warum die Beschäftigung mit Persönlichkeit ein Bestandteil der wissenschaftli- chen (und nicht nur der Alltags-)Psychologie ist,... mit welchen Methoden diese wissenschaftliche Beschäftigung erfolgt,... welche maßgeblichen Beschreibungssysteme (strukturell) und welche Erklä- rungsmodelle (dynamisch) entwickelt worden sind; der Fokus liegt dabei auf Ei- genschaftsmodellen bzw. -theorien, und... inwiefern Erkenntnisse über Persönlichkeit Einfluss haben auf angewandte As- pekte der psychologischen Tätigkeit (z.B. Diagnostik und Intervention). Die Betreuung für diesen Kurs wird schwerpunktmäßig über die virtuelle Lehr-Ler- numgebung Moodle realisiert. Wir empfehlen Ihnen dringend sich in Moodle anzu- melden. Sie finden den Zugang zu Moodle unter: 0FFYvwbH/Z8boTETksXoo71Kgi6Xh5f+d8W5yov7yshExDDxVu7d7c21Qvu4Dak//kbd3Nsn6V+I2NbXwsBb7g== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 6 Einführung zum Kurs https://moodle.fernuni-hagen.de Die Lernumgebung zu diesem und zu den anderen Kursbestandteilen dieses Moduls werden im Sommersemester in der Regel jeweils Anfang April und im Winterse- mester jeweils Anfang Oktober freigeschaltet. Pflichtliteratur Begleitend zu diesem Studienbrief werden Kapitel aus zwei Lehrbüchern voraus- gesetzt, und zwar aus: Asendorpf, J. (2019). Persönlichkeitspsychologie für Bachelor (4. Aufl.). Springer. und Rauthmann, J. F. (2017). Persönlichkeitspsychologie: Paradigmen – Strömungen – Theorien. Springer. Außerdem wird vorausgesetzt, dass Sie sich mit dem folgenden Moodle-Book be- schäftigt haben: Blötner, C., Segbert, L.-M. & Mokros, A. (2024). Einführung in faktorenanalyti- sche Verfahren für die Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie. Konkret besteht die Pflichtliteratur zu diesem Studienbrief neben dem vorgenann- ten Moodle-Book aus den folgenden Kapiteln bzw. Unterkapiteln: aus: Asendorpf (2019) Kap. 2 Kurze Geschichte der Persönlichkeitspsychologie aus: Rauthmann (2017) Kap. 3 Vorwissenschaftliche Ansätze* o Kap. 3.2.2 Konstitutionstypologische Strömung Kap. 8 Dispositionales Paradigma* o Kap. 8.1.2 Stabilität und Konsistenz o Kap. 8.2.3 Raymond B. Cattell bis Kap. 8.2.7 Weitere taxonomische Modelle, S. 247-281 Kap. 9 Biologisches Paradigma* o Kap. 9.2 Neurowissenschaftliche Strömung o Kap. 9.3 Genetische Strömung (Einleitung, S. 373f.) o Unterkapitel 9.3.1 Quantitative Verhaltensgenetik o 9.3.2 Molekulargenetische Persönlichkeitsforschung Kap. 10: Transaktionales Paradigma* o Kap. 10.2.3 Walter Mischel und Yuichi Shoda * Anm.: Daraus nur das/die nachfolgend genannte(n) Unterkapitel SFqsl2MUsdEPYd6ev4mGil0Cnnessj85tPkwcJVHhHrbbmSo6YrTkhtDRiHax2mFaG8gn/JWg/0quMmX2fu9xA== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie 7 Lernziele Im Einzelnen sollten Sie nach Bearbeitung des Kursbestandteils (bestehend aus die- sem Studienbrief, der Pflichtliteratur und der Moodle-Umgebung) unter anderem … Differentielle Psychologie und Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn voneinander abgrenzen können, mit zentralen Definitionen von Persönlichkeit vertraut sein und die Begriffe Charakter, Temperament und Typus einordnen können, Konzepte der Differentiellen Psychologie (wie Gewohnheiten, Zustände oder das Begriffspaar nomothetisch-idiographisch...) kennen, wissenschaftliche von naiven Verhaltenstheorien abgrenzen können, mit wesentlichen Schritten in der Geschichte der Persönlichkeits- und Dif- ferentiellen Psychologie vertraut sein, Methoden der Persönlichkeitsforschung kennen (unter besonderer Beach- tung von Korrelationsrechnung und Faktorenanalyse), Definitionen und Modelle der Intelligenz kennen, einschließlich weiterer Befunde zur Intelligenz, strukturelle Persönlichkeitsmodelle (v.a. Big Five/Fünf-Faktoren- und HE- XACO-Modell, aber auch die Theorien von Cattell und Eysenck) kennen, einige zentrale Verfahren zur Persönlichkeitsmessung kennen (z.B. NEO- PI-R, 16PF, HEXACO-PI-R, …) mit den biologischen Persönlichkeitstheorien von Eysenck, Gray und Clon- inger vertraut sein, die Begriffe Personismus, Situationismus, Interaktionismus und Dispositio- nismus (sowie das Modell der kognitiv-affektiven Persönlichkeitssysteme von Mischel und Shoda) kennen, mit Befunden zur Stabilität und Veränderung von Persönlichkeitseigen- schaften und Intelligenz vertraut sein, Erblichkeitsschätzungen sowie quantitative und molekulare verhaltensge- netische Designs einordnen können, Wissen zu genetischen Einflüssen auf Intelligenz und Persönlichkeit erwor- ben haben sowie empirische Befunde und Erklärungsansätze zu Geschlechtsunterschieden kennen. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Erarbeitung des Studienbriefs und viel Spaß beim Studieren! Andreas Mokros und Christian Blötner ik3iZTV06kjkGNI3fXVBSAIEgFlY3dteOJnY6bgXnVVncMEtkk4HHpzhGBpuKYQZo4QqIiwvTMyKWQuly9V5BA== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 8 Einführung und Grundbegriffe 1 Einführung und Grundbegriffe Nach einem berühmten Diktum von Kluckhohn und Murray (1953, S. 53) ist jeder Mensch in gewisser Hinsicht… wie alle anderen Menschen wie einige andere Menschen wie kein anderer Mensch. Ziel der Differentiellen Während die Allgemeine Psychologie nach Gesetzmäßigkeiten sucht, die für na- Psychologie hezu alle Menschen gelten (…wie alle anderen Menschen, z.B. Lerngesetze, Sprachfähigkeit), ist es das Ziel der Differentiellen Psychologie Unterschiede zwi- schen einzelnen Personen oder Gruppen von Personen auf bestimmten Dimensio- nen bzw. Merkmalen zu identifizieren: Einige Menschen sind z.B. ängstlicher als andere oder intelligenter, extravertierter, offener, optimistischer. Auch Unter- schiede in biologischen Faktoren, z.B. Genvariationen, sogenannte Polymorphis- men oder Sequenzvariationen, werden in der Persönlichkeitsforschung berücksich- tigt. Zudem untersucht die Differentielle Psychologie, mit welchen anderen Merkmalen solche interindividuellen Unterschiede auf einer bestimmten Dimen- sion assoziiert sind. Dabei geht es auch um die Frage, welche Konsequenzen bzw. „outcomes“ in der Zukunft mit welchen Persönlichkeitsmerkmalen vorhergesagt werden können (individual differences that make a difference). Zum Beispiel wer- den die Merkmale akademische Intelligenz und Gewissenhaftigkeit, aber auch so- ziale und emotionale Kompetenzen als Prädiktoren für Studien- und Berufserfolg analysiert. Persönlichkeitspsycho- Die Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn untersucht die einzigartige Orga- logie im engeren Sinn nisation von psychischen Merkmalen innerhalb einer Person (wie kein anderer Mensch). Wie wirken bestimmte Motive, Emotionen und Kognitionen bei einer Person zusammen? Persönlichkeit in diesem Sinn umfasst Strukturen und Prozesse und spiegelt „nature“ (genetische Anlagen) und „nurture“ (Erfahrung, Umwelt) wi- der. In diesem Sinne ist die Differentielle Psychologie eher variablenorientiert, während die Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn eher personenorientiert ist. In der Begrifflichkeit des Pioniers dieser psychologischen Disziplin, William Stern (1921): Die Differentielle Psychologie nutzt Variations- und Korrelationsfor- schung – ein Merkmal bzw. mehrere Merkmale stehen im Vordergrund und werden an vielen Individuen verglichen. Die Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn nutzt hingegen Psychographie und Komparationsforschung – ein Individuum bzw. mehrere Individuen sind im Fokus und werden hinsichtlich vieler Merkmale be- schrieben/verglichen. Allerdings dient der Begriff Persönlichkeitspsychologie der Einfachheit halber auch als Oberbegriff für beide Aspekte, für die Differentielle Psychologie und die Ph/cr4OGjcWdzE3nRRUJO8XDZADE9lP0e5DsUPx6etdx63gVIwXkhEGJqU713t/nMLVDkb24Afk6wiY0F+jWNA== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie 9 Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn. Wie in der Bezeichnung des zustän- digen Lehrgebiets wird auch im Rahmen des vorliegenden Studienbriefs der Begriff Persönlichkeitspsychologie gelegentlich im Sinne eines Oberbegriffs verwendet. Man findet aber auch die Bezeichnung „Differentielle Psychologie und Persönlich- keitsforschung“, etwa im Titel des Lehrbuchs von Hagemann et al. (2022. 1.1 Was ist Persönlichkeit? Da der Begriff Persönlichkeit auch in der Alltagssprache verwendet wird, weiß je- Evaluative und deskrip- der und jede von Ihnen intuitiv, was damit gemeint ist bzw. gemeint sein könnte. tive Bedeutung Allerdings wird Persönlichkeit im Alltag oft wertend im Sinne einer Auszeichnung oder charismatischen Wirkung gebraucht. Man sagt, jemand habe eine schillernde oder charismatische Persönlichkeit und meint damit, dass jemand eine in der Regel positive Ausstrahlung hat und andere beeindruckt. In der Psychologie wird der Be- griff Persönlichkeit aber nicht in diesem evaluativen Sinn gebraucht, sondern rein deskriptiv. Menschen haben nicht mehr oder weniger Persönlichkeit! Die Persön- lichkeit jedes Menschen ist Gegenstand der Forschung, unabhängig von der charis- matischen Wirkung. Der Begriff Persönlichkeit und seine Wurzel Person stammen vom lateinischen per- persona sona. In der römischen Antike wies der Begriff persona gegensätzliche Bedeutun- gen auf: Einerseits Maske, äußerer Schein, das Nichtwesenseigene sowie die Rolle, die ein Schauspieler auf der Bühne spielt. Persona bedeutete aber auch das Innere, das Wahre, das Wesentliche, den Schauspieler hinter der Maske als einen Menschen mit besonderen persönlichen Eigenschaften. Im Alltag und auch in der Wissenschaft finden sich neben Persönlichkeit auch die Begriffe Charakter, Temperament und Typus. Das aus dem Griechischen stammende Wort Charakter bedeutet das „Eingeritzte, Charakter Eingedrückte, Eingeprägte“. Im übertragenen Sinn ist damit nach Aristoteles „die einer Person aufgeprägte Eigentümlichkeit, woran man sie erkennt und wodurch sie sich von anderen unterscheidet“ (Koch, 1960, S. 7, zitiert nach Laux, 2008) ge- meint. Theophrast, ein Schüler von Aristoteles, unterscheidet in seinem gleichna- migen Buch 30 Charaktere, die eigentlich ausschließlich menschliche Schwächen widerspiegeln (z.B. der Unaufrichtige, der Gefallsüchtige, der Nörgler, der Prahler, der Geizige). Ganz anders und mit eindeutig positiver Konnotation hat der Charak- terbegriff in der sogenannten Positiven Psychologie eine Renaissance erfahren. In dieser psychologischen Bewegung werden Charakterstärken (z.B. Kreativität, Neu- gier, Bereitschaft zu vergeben, Humor, Spiritualität) und Tugenden (z.B. Weisheit und Wissen, Menschlichkeit, Transzendenz) betont (vgl. Peterson & Seligman, 2004). Das Wort Temperament stammt aus dem Lateinischen und kennzeichnet das rich- Temperament tige Verhältnis gemischter Stoffe. In der antiken griechischen Medizin wurde an- genommen, dass das Mischungsverhältnis der Körpersäfte Blut, Schleim sowie gel- ber und schwarzer Galle die physische und psychische Konstitution des Menschen yOhCxD/wwMAEyBal2wd7RLS8r6HBv262oqzSLkS690RrV4TwC/GYvcedA7G6uLKsB8Qb7rqV/jpg13MIwaVM5A== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 10 Einführung und Grundbegriffe sowie Gesundheit und Krankheit bestimme. Heute wird der Begriff Temperament im Sinne ererbter Merkmale verwendet, die sich auf die Bereiche Affekt, Aktivie- rung und Aufmerksamkeit (sogenannte „Drei A der Persönlichkeit“, Asendorpf, 2019, S. 85) beziehen und besonders den Stil, also das „Wie“ des Verhaltens be- treffen (vgl. Laux, 2008, S. 52); es geht also darum, ob jemand z.B. langsam oder schnell, kontrolliert oder impulsiv handelt. Anstelle von Persönlichkeits- wird ins- besondere dann von Temperamentsfaktoren gesprochen, wenn eine Abgrenzung zu Intelligenz und Leistungsvariablen intendiert ist (Laux, 2008). Typus Der Begriff Typus schließlich bedeutet im Griechischen Schlag und kennzeichnet in erster Linie ein Ausprägungsmuster von bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, ein Persönlichkeitsprofil, das z.B. mit Hilfe der Clusteranalyse identifiziert werden kann (Moosbrugger & Frank, 1992). In der Klassifikation der Methoden der Diffe- rentiellen Psychologie von William Stern korrespondiert das Typen-Konzept mit der Komparationsforschung (mehrere Merkmale an zwei oder mehreren Indivi- duen). Die bekannteste historische Typologie sind die vier Temperamentstypen des Hippokrates, die auf den vier Körpersäften basieren. Demnach sei der sanguinische Typ (Blut) sorglos und augenblicksbezogen, der phlegmatische Typ (Schleim) langsam und untätig, der Cholerische (gelbe Galle) aufbrausend und leicht erregbar und der Melancholische (schwarze Galle) besorgt und pessimistisch. Eine überzeu- gende endokrinologische bzw. neurowissenschaftliche Fundierung für diese und andere Temperamentslehren steht bis heute aus (Asendorpf & Neyer, 2012). Persönlichkeitsdefini- In Lehrbüchern der Differentiellen und Persönlichkeitspsychologie findet man ver- tion von Herrmann: zeit- schiedene Definitionen für den Begriff Persönlichkeit. Bereits vor über 30 Jahren liche Stabilität und transsituative Konsis- hat Herrmann (1991) zahlreiche Definitionen von Persönlichkeit zusammengetra- tenz gen, gesichtet und versucht, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu extrahieren. Hier ist sein Ergebnis: „Die Mehrheit heutiger Persönlichkeitsdefinitionen fasst Persönlichkeit auf als ein bei jedem Menschen einzigartiges, relativ stabiles und den Zeitablauf überdauerndes Verhaltenskorrelat“ (Herrmann, 1991, S. 29). Dem- nach ist Persönlichkeit etwas „hinter“ dem Verhalten (Verhaltenskorrelat), also ein hypothetisches Konstrukt, das nicht direkt beobachtet werden kann. Zudem wird auf die Einzigartigkeit und die zeitliche Stabilität hingewiesen. Die zeitliche Stabi- lität eines Erlebens- und Verhaltensmusters ist neben der transsituativen Konsistenz eine wichtige Bedingung dafür, dass ein Merkmal als Persönlichkeitsmerkmal oder Eigenschaft Eigenschaft bezeichnet werden kann. Demnach muss ein bestimmtes Erlebens- und Verhaltensmuster über die Zeit immer wieder (zeitliche Stabilität) und zudem nicht nur in einer bestimmten, sondern in verschiedenen Situationen (transsituative Kon- sistenz) auftreten. Die Definition von Herrmann spiegelt eher die Zielsetzungen der Differentiellen Psychologie wider. Im Rahmen dieser differentiellen Perspektive werden auch Geschlechterunterschiede und Persönlichkeitsmerkmale im Kultur- vergleich untersucht. Neben langfristiger Stabilität und situationsübergreifender (transsituativer) Konsis- tenz führt Asendorpf (2019) die sogenannte Reaktionskohärenz als drittes Merkmal psychologischer Eigenschaften an. Damit ist gemeint, dass die Reaktionen auf ver- schiedenen „Kanälen“ analog sind, also beispielsweise über erhöhte Ängstlichkeit c9WThfXsmDkMYqwNj0nMiJE8nDoDHFzKcpnO0p4E5zkG/cx/EnVxReiC+5wFiNmM58uSJH9O+RR8An+Ts6+Z1g== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie 11 zu berichten (im Fragebogen), in entsprechenden Situationen schneller einen erhöh- ten Puls zu haben und solche Situationen eher zu meiden, die als angstauslösend gelten. Dabei ist aber wiederum zu bedenken, dass das Zusammenspiel solcher In- dikatoren sehr individuell ausgestaltet sein kann. Eine komplexere, eher der Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn entspre- Persönlichkeitsdefini- chende Definition hat dagegen Pervin (1996) vorgeschlagen: tion von Pervin: kom- plexe Organisation Persönlichkeit ist die komplexe Organisation von Kognitionen, Emotionen und Ver- halten, die dem Leben einer Person Richtung und Zusammenhang gibt. Die Persön- lichkeit umfasst wie der Körper Strukturen und Prozesse und spiegelt nature und nurture wider. Persönlichkeit schließt die Auswirkungen der Vergangenheit, ebenso wie die Konstruktionen der Gegenwart und der Zukunft ein. (Pervin, 1996, S. 414; Übers. d. Verf.) Diese einzigartige intraindividuelle Organisation ist ein von verschiedenen Autoren Intraindividuelle Orga- immer wieder betontes konstitutives Definitionsmerkmal der Persönlichkeitspsy- nisation als Forschungs- ziel chologie. So lautet Allports vielzitierte Definition des Begriffs Persönlichkeit wie folgt: Persönlichkeit ist die dynamische Organisation jener psychophysischen Systeme in- nerhalb des Individuums, die sein charakteristisches Verhalten und Denken bestim- men. (Allport, 1961, S. 28; Übers. d. Verf.) Die einzigartige Organisation der Persönlichkeit ist ein faszinierender und zugleich weitgehend ungeklärter Gegenstand der Differentiellen Psychologie und Persön- lichkeitsforschung, ein Desiderat (Ziel) in Theorie und Forschung. Anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Deutschen Gesellschaft für Psychologie wurden Ver- treter/innen aller Grundlagen- und Anwendungsfächer gebeten, die letzten 100 Jahre ihres Faches zu kommentieren und zu reflektieren. Als Vertreter des Faches Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diag- nostik kam Manfred Amelang u.a. zu folgendem Resümee, das die Forschungs- und Erkenntnislücke bzgl. der intraindividuellen Organisation von Persönlichkeit deut- lich unterstreicht: Es bleibt festzuhalten: Wir verfügen schon seit langem über ein Übermaß an Instru- menten, die es erlauben, Personen voneinander zu unterscheiden. (…) Definitiv aber besteht ein beklagenswertes Defizit dahingehend, dass sich die Persönlichkeitspsycho- logie während der zurückliegenden Jahrzehnte viel zu wenig und nur mit unzulängli- chen Mitteln um Individualität im Sinne von Stern und die inhaltliche Kohärenz der Person gekümmert hat (Amelang, 2005, S. 40). Der deutsche Psychologe William Stern (1911) hat vier Disziplinen der Differenti- Vier Disziplinen der ellen Psychologie ausgemacht und anhand eines einfachen Schemas beschrieben, Differentiellen Psycho- logie in dem Personen als Spalten und Merkmale als Zeilen einer Matrix beschrieben werden (vgl. Asendorpf, 2019). Je nachdem, ob ein Merkmal (Variationsforschung) oder zwei und mehr Merkmale an vielen Personen verglichen werden (Korrelati- onsforschung) oder ob ein Individuum hinsichtlich vieler Merkmale (Psychogra- phie) beziehungsweise zwei oder mehr Individuen im Hinblick auf viele Merkmale G3Nsrq9EdTWF3NfhVCHUAZL2gFQ4OuVVoSEr9CwV/RiN5XnOHF9Sw2Hh2DPJbY5lnh8p8k48kHdQcAeI7q/QAQ== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 12 Einführung und Grundbegriffe verglichen werden (Komparationsforschung), bieten sich unterschiedliche Zugänge für die Persönlichkeitsforschung. Cattell hat dieses Schema dreidimensional zum Kovariationswürfel sogenannten Kovariationswürfel erweitert, und zwar um die zeitliche Achse (Mess- gelegenheiten). Thematisiert wird die intraindividuelle Organisation beispielsweise im New Big Five-Ansatz von McAdams und Pals (2006) oder im Interaktionismus von Walter Mischel (1968). Eine Definition von Persönlichkeit, die auf Mischels Vorstellung des kognitiv-affektiven Persönlichkeitssystems aufbaut, lautet: Die Persönlichkeit des Individuums manifestiert sich daher als ein unterscheidbares und stabiles Muster von Verhaltensvariation, das zustande kommt, indem die Person aus einer Situation in eine andere gelangt. (Shoda & Mischel, 2000, S. 421; Übers. d. Verf.) Interaktionismus, CAPS Mit dem Begriff des kognitiv-affektiven Persönlichkeitssystems (engl.: cognitive affective personality system; CAPS) bringt Mischel zum Ausdruck, dass wir uns dann in verschiedenen Situationen weitgehend gleichförmig verhalten, wenn wir diese Situationen kognitiv als einander ähnlich wahrnehmen und emotional als ei- nander ähnlich empfinden, auch was Stimmung und Motive betrifft. Wie der Schriftsteller Ödön von Horváth so treffend formuliert: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu“. 1.2 Abgrenzung zwischen der wissenschaftlichen Psychologie und der Alltags- oder Laienpsychologie Vor dem Hintergrund der zuletzt erörterten Sachverhalte lohnt sich ein Vergleich zwischen dem wissenschaftlichen Verständnis und dem Laienverständnis von Per- sönlichkeit. Im Alltagsverständnis werden viele Merkmalen und Informationsquel- len automatisch und weitestgehend unbewusst herangezogen, um „die Persönlich- keit“ eines Menschen zu beschreiben oder Urteile über eine Person oder Personengruppe zu bilden. Dazu gehören oft auch allgemeine körperliche Merk- male wie der Körperbau, die physische Erscheinung oder das Vorhandensein spe- zifischer körperlicher Auffälligkeiten (z.B. ob jemand Tattoos oder Piercings hat). Frühe Forschungsansätze griffen diese Gegebenheiten auf und versuchten, auf Ba- sis körperlicher Merkmale Rückschlüsse auf die Wesensart von Menschen zu zie- hen. Letztlich erwies sich aber die Lehre der Körpersäfte ebenso wie etwa die von Gall begründete Phrenologie (d.h. der Schluss von der Schädelform auf „Wesens- züge“) oder die Typologie von Kretschmer (d.h. „Körperform“ als Indikator von Persönlichkeit) als wissenschaftlich unhaltbar (vgl. Hagemann et al., 2022, Kapitel 1). In Übereinstimmung mit der (wissenschaftlichen) Konzeption von Persönlich- keit als System latenter Merkmale erscheint es daher angemessen, körperliche Merkmale aus der unmittelbaren Definition der Persönlichkeit auszuschließen. Si- cherlich können bestimmte Persönlichkeitsmerkmale Auswirkungen auf die kör- perliche Erscheinung oder „Modifikationen“ (z.B. gefärbte Haare, auffälliger Klei- dungsstil) ebendieser haben, sind aber nicht als Teil der Persönlichkeit zu verstehen, vVVXxI9GD7gfUXRW8Vii5fRRdoPdkn8rTRoFh2yECkykODFmI8fxjtv2qqiXrdw448QAoxsCSFRnJnzomKDxbg== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie 13 sondern eher als Korrelate oder Auswirkungen davon. Dies wird beispielsweise auch daran deutlich, dass für Persönlichkeitsmerkmale im engeren Sinne relative Stabilität über die Zeit und relative Konsistenz über Situationen hinweg angenom- men wird (Asendorpf, 2020; McDonald & Letzring, 2020). In dem Sinne sollte auch getrennt werden zwischen dem „wahren Wesen“ einer Person (also wie sie selbst ihre Welt für gewöhnlich sieht und wie sie sich für gewöhnlich verhält) und wie sie von anderen wahrgenommen wird. Interindividuelle Unterschiede wurden seit Anbeginn der Menschheit zur Verhal- Kriterien für tensvorhersage und zur Bewertung von Personen in Bezug auf das soziale Gefüge Theorien genutzt (vgl. Asendorpf, 2019). Vor diesem Hintergrund ist die Frage legitim, in- wiefern es eines wissenschaftlichen Zugangs zur Persönlichkeit bedarf, wenn die Alltags- oder Laienpsychologie sich scheinbar über tausende von Jahren hinweg „bewährt“ hat. Asendorpf (2019) führt sechs allgemeine Kriterien zur Bewertung von wissenschaftlichen oder empirischen Theorien an, in denen sich Laientheorien vielfach nicht bewähren können. Die nachfolgenden Darstellungen sind an A- sendorpf (2019, Kapitel 1) angelehnt, werden stellenweise aber noch ausdifferen- ziert. Explizitheit bezieht sich auf die klare, eindeutige Definition von Begriffen oder das Ausmaß eines geteilten Verständnisses. Auf der einen Seite ist die empirische Psy- chologie vielfach mit jingle und jangle fallacies konfrontiert (Hodson, 2021). Das heißt, dass bei Verwendung desselben Namens für ein Merkmal nicht notwendiger- weise derselbe konzeptuelle Inhalt vorliegen muss (jingle fallacy; siehe beispiels- weise die Konzeptionen von Verträglichkeit in den Big Five- und HEXACO-Mo- dellen in Kapitel 4) oder dass sich unterschiedlich benannte Merkmale empirisch dann doch als identisch herausstellen (jangle fallacy). Allerdings ist davon auszu- gehen, dass in der Alltagspsychologie noch stärkere jingle und jangle fallacies an- zutreffen sind, die jedoch nicht überprüft, geschweige denn hinterfragt werden. In- sofern lässt sich annehmen, dass die Laien- oder Alltagspsychologie das Kriterium der Explizitheit deutlich stärker verletzt als die empirische Psychologie. Widerspruchsfreiheit meint, dass aus einer Theorie keine miteinander inkompatib- len Aussagen abgeleitet werden sollen. Bezogen auf die Rollen von Persönlichkeits- merkmalen für die interpersonelle Kompatibilität in romantischen Partnerschaften finden sich in der Alltagspsychologie etwa die entgegengesetzten Behauptungen „gleich und gleich gesellt sich gern“ (d.h., dass für eine hohe Beziehungsqualität oder „Passung“ eine hohe Ähnlichkeit der wie auch immer gearteten Persönlich- keitsprofile zweier Personen vorliegen solle) und „Gegensätze ziehen sich an“ (d.h., dass sich die Persönlichkeitsprofile der romantischen Partner idealiter ergänzen sol- len, also eine niedrige Ähnlichkeit für die Beziehung vorteilhaft sei). Aufgrund die- ses nur exemplarisch gemeinten Gefüges, das prinzipiell mit allen Beobachtungen vereinbar ist, ist die Widerspruchsfreiheit in der Alltagspsychologie nicht gegeben. Empirische Theorien können diese beiden gegenläufigen Propositionen aufgreifen und sogenannte boundary conditions definieren. Das heißt, dass Bedingungen ex- pliziert werden, unter denen entweder Kongruenz („gleich und gleich gesellt sich 9XsE79o8AQxMF7TRc14FxqrWPOUQr6oNTt8bLO/qV5+/0y57808QIEejtce3G7KikdYVpgG4Xro4DSfIG2BqPw== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 14 Einführung und Grundbegriffe gern“) oder Diskrepanz („Gegensätze ziehen sich an“) in den Persönlichkeitsprofi- len förderlich ist. Vollständigkeit meint, dass die Theorie Phänomene innerhalb des Gegenstandsbe- reichs erklären kann. In Bezug auf dieses Kriterium sieht Asendorpf (2019) eine Stärke der Alltagspsychologie, da sie durch einen breit angelegten, oftmals anek- dotischen Erfahrungsschatz gespeist wird. Allerdings geht das hohe Maß des An- spruchs zur umfänglichen Erklärung realer Phänomene zulasten der zuletzt thema- tisierten Widerspruchsfreiheit. Eng verbunden mit der Explizitheit ist das Kriterium der Sparsamkeit. Eine Theorie ist sparsam, wenn sie ein strikt limitiertes Vokabular für die zu erklärenden Einhei- ten und Phänomene ihres Gegenstandsbereichs aufweist. Da die Alltagspsychologie den Anspruch hat, nahezu alles erklären zu können, ist ihr Vokabular nahezu unbe- grenzt. Im Vergleich dazu weist eine wissenschaftliche Theorie einen engeren Rah- men von Phänomenen auf, die sie zu erklären beabsichtigt und kommt dadurch auch mit weniger Begriffen aus. Praktischerweise senkt die verbale und konzeptuelle Sparsamkeit auch die Gefahr von Widersprüchen innerhalb der Theorie. Produktivität bedeutet, dass neue Fragestellungen abgeleitet werden können. Auf- grund des naiven Anspruchs der Laienpsychologie, jedes menschliche Verhalten bereits anhand intuitiver Wertungen und Einstufungen erklären zu können, ist die Laienpsychologie sozusagen zum Stillstand verdammt. Dies macht alltagspsycho- logische Erklärungen häufig zirkulär, indem eine Annahme mit sich selbst erklärt wird. Als Beispiel führt Asendorpf (2019, S. 8) an, dass die Laienpsychologie die durch eine Person ausgeübte Gewalt mit Aggression zu erklären versuchen könnte und die Aggression auf die ausgeübte Gewalt selbst zurückführt. Definitionen im Sinne wissenschaftlicher Theorien weisen in der Regel einen Bedeutungsüber- schuss auf. Das bedeutet, dass ihre Konstrukte in der Regel nie vollständig definiert sind. Auf Basis der theoretisch-inhaltlichen Konzeption der Konstrukte können da- her Hypothesen zu Sachverhalten formuliert werden, die nicht unmittelbar in der Konzeption enthalten sind. Als Beispiel sei das aversive Persönlichkeitsmerkmal Machiavellismus erwähnt. Es ist unter anderem gekennzeichnet durch ein negatives Menschenbild und Misstrauen in die Motive anderer Menschen. Obwohl die Erken- nung von Fehlinformationen kein unmittelbares Charakteristikum von Machiavel- lismus ist, zeigte sich, dass Personen mit hohen Ausprägungen in Machiavellismus „wahre“ Information besser von Fehlinformationen unterscheiden können als Per- sonen mit niedrigen Ausprägungen in Machiavellismus — und das unabhängig von ihrer Intelligenz (Blötner & Bergold, 2023). Dieses Beispiel veranschaulicht, dass aufgrund des Bedeutungsüberschusses von Theorien immer neue Phänomene un- tersucht werden können, was die wissenschaftliche Psychologie im Gegensatz zur Laienpsychologie produktiv macht. Anwendbarkeit betrifft das Ausmaß, in dem eine Theorie einfach und schnell zur Erklärung alltäglicher Phänomene genutzt werden kann. Aufgrund der langen Ge- schichte und der Beliebtheit laienpsychologischer Erklärungen ist ihre Anwendbar- keit sicherlich gegeben, wenngleich dies nicht mit ihrer Richtigkeit oder Angemes- senheit verwechselt werden darf. yS+HX+/fP/j3fvlSjnzWktAPIZQyrotDctMnQdOIIqQXwpCtS5VoNc1VbPCBbqh1pE1apHb6P16mp5rBeykacQ== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 Persönlichkeits- und Differentielle Psychologie 15 Darüberhinausgehend merkt Asendorpf (2019) an, dass empirische Wissenschaften — anders als Laientheorien — streng zwischen den interessierenden Konstrukten und den Verfahren trennen, die zu ihrer Erfassung genutzt werden: Während die Alltagspsychologie etwa Schlagen und Treten unmittelbar als Aggression versteht, fasst die wissenschaftliche Perspektive diese Phänomene als manifeste Indikatoren für das latente Merkmal Aggression auf. Wichtig ist hierbei, dass ein angenomme- ner Indikator faktisch unspezifisch sein und mehr als ein latentes Konstrukt abbil- den kann. Laienpsychologische Ansätze berücksichtigen alternative „kausale“ Er- klärungen jedoch in der Regel nicht. Die Problematik mangelnder Spezifizität eines Indikators für nur ein Merkmal wird im Moodle-Book zu faktorenanalytischen Ver- fahren detailliert erörtert (Stichwort Kreuzladungen). Asendorpf (2019) bezeichnet weiterhin die empirische Verankerung und die empi- rische Prüfbarkeit als Zusatzkriterien, die ausschließlich empirische Wissenschaf- ten charakterisieren. Das Kriterium der empirischen Verankerung postuliert, dass theoretische Konstrukte sich direkt oder indirekt messen oder beobachtbar machen lassen. Dieses Kriterium spricht explizit die Notwendigkeit der Operationalisierung latenter Konstrukte an. Auf den ersten Blick scheint zwar auch die Alltagspsycho- logie empirisch verankert zu sein, weil Menschen im Alltag „Daten“ durch naive Beobachtungen gewinnen. Im Vergleich zur wissenschaftlichen Perspektive sind jedoch die Zuordnungsregeln von Indikatoren zu „Konstrukten“ unklar, unpräzise und nicht validiert in dem Sinne, dass die naive Alltagspsychologie ihre „Daten“ willkürlich und selektiv auswählt (geringe Inhaltsvalidität). Außerdem stellt die Alltagspsychologie keine konkreten Forderungen an die Regelmäßigkeit des Auf- tretens bestimmter Indikatoren, um auf ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal schlie- ßen zu lassen. Empirische Prüfbarkeit bezieht sich auf die Forderung nach der Validierung oder Falsifizierung von Aussagen einer Theorie anhand von Beobachtungsdaten. Auf- grund der bereits thematisierten mangelnden Explizitheit und der willkürlichen em- pirischen Verankerung sind solche Tests jedoch nicht möglich. Die wissenschaftli- che Psychologie verschreibt sich dagegen dem Falsifikationsprinzips von Karl Popper, sodass jede wissenschaftliche Theorie so formuliert sein muss, dass sie prinzipiell widerlegbar ist. 1.3 Paradigmen und Theorien der Persönlichkeit In der Wissenschaftstheorie steht der Begriff Paradigma für eine Auffassung über Paradigma die untersuchten Sachverhalte, die zahlreiche Wissenschaftler/innen miteinander teilen, und die bestimmte Normen und Regeln nahelegt, wie die noch ungelösten Probleme zu bearbeiten sind (Kuhn, 1962/1993). Demnach ist ein Paradigma etwas, das über den Theorien und Methoden einer wissenschaftlichen Fachdisziplin steht. In der Psychologie wird der Begriff Paradigma allerdings manchmal auch anders verwendet, nämlich um eine bestimmte Versuchsanordnung in einem Experiment zu bezeichnen. h3ed5yHrAuAhPfzSlO5c+4ZG4SowacjKwuJHRMH4oKUZiP+CvLJ1TqVOEhvksfcxXYs10EGt8j0Ktvra2TPE4g== Urheberrechtlich geschützt. Persönliche Kopie für Matrikelnummer 9108645 16 Einführung und Grundbegriffe Wenn man die erste (wissenschaftstheoretische) Definition des Begriffs Paradigma zugrunde legt, dann lassen sich für die Persönlichkeitspsychologie sechs verschie- dene Paradigmen voneinander abgrenzen (Asendorpf, 2019; Asendorpf & Neyer, 2012), nämlich das Eigenschafts-, das Informationsverarbeit

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