Geschichte Kapitel 1.4: Das Jahr 1917 und die Träger der Revolutionen PDF
Document Details
Uploaded by Deleted User
Tags
Summary
Dieses Kapitel behandelt die Ursachen, den Verlauf und die Träger der Revolutionen von 1917 in Russland. Es beleuchtet die wachsende Krise im Zarenreich vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs, die soziale und wirtschaftliche Spannungen und den Aufstieg der Bolschewiki. Die Februar- und Oktoberrevolutionen werden ausführlich analysiert.
Full Transcript
## 1.4 Das Jahr 1917 und die Träger der Revolutionen In diesem Kapitel geht es um: - die Ursachen der Revolutionen von 1917, - den Verlauf und die Träger der Februarrevolution, - den Verlauf und die Träger der Oktoberrevolution. ### Zuspitzung der Krise in Russland Nach Beginn des Ersten Weltkri...
## 1.4 Das Jahr 1917 und die Träger der Revolutionen In diesem Kapitel geht es um: - die Ursachen der Revolutionen von 1917, - den Verlauf und die Träger der Februarrevolution, - den Verlauf und die Träger der Oktoberrevolution. ### Zuspitzung der Krise in Russland Nach Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 genügten zwei Kriegsjahre, um Russ- land in eine tiefe Krise zu stürzen. Es zeigte sich schnell, dass Russland den Mit- telmächten Deutschland und Österreich deutlich unterlegen war. Ab 1915 ver- lief die Front im eigenen Land und erstarrte zu einem zermürbenden Stel- lungskrieg. Zunehmend machten sich Rohstoff- und Energiemangel, Trans- port- sowie Versorgungsprobleme bemerkbar. Die heimische Industrie konn- te den Materialbedarf des modernen Krieges nur unzureichend decken. Die neu eingezogenen Soldaten kamen immer schlechter ausgerüstet und oft kaum noch ausgebildet an die Front. Kriegsopfer in Millionenhöhe führten zu einem Vertrauensverlust in die militärische Führung. Es häuften sich Befehlsverwei- gerungen, der Unmut bei den Soldaten nahm zu. Im Land selbst führte der Krieg ebenfalls zu großen Problemen. Die Landbe- völkerung, aus der sich der größte Teil des russischen Heeres rekrutierte, musste die Einberufung von fast 50 Prozent der männlichen Dorfbewohner im arbeitsfähi- gen Alter verkraften. Die Erträge der Höfe gingen zurück. Zusätzlich mussten Tiere und Lebensmittel an die Armee abgegeben werden. Die Armut verschlim- merte sich und führte zu Unruhen auf dem Land. Noch bedrohlicher für die Sta- bilität des Zarenreiches war die soziale Entwicklung in den Städten. Die Löhne stie- gen zwar an, doch das Geld wurde durch eine enorme Inflation entwertet. Die an- haltende Zuwanderung ländlicher Arbeiter für die Kriegswirtschaft und die Flücht- lingsströme aus den Kampfgebieten verschärften die Wohnungsnot, Lebensmit- tel wurden zur Mangelware, was die Preise immer weiter steigen ließ. Die gesell- schaftlichen Gegensätze verschärften sich dramatisch und riefen eine Welle an Strei- ks und Demonstrationen in den Städten hervor. Die wachsende Protestbereitschaft der russischen Bevölkerung zeigte sich auch in der Duma, die von den Vertretern des Bürgertums und des Adels dominiert wurde. Das Verlangen nach Mitsprache beantwortete der Zar mit der Auflösung der Duma. Abgeordnete wurden, ungeachtet ihrer Immunität, der polizeilichen Überwachung unterstützt. Wie groß die Erbitterung über den autokratischen Kurs Nikolaus' II. war, zeigte die Bildung des „Progressiven Blocks" 1915, der mit Ausnahme der radika- len Rechten und Linken alle Abgeordneten der Duma umfasste und Reformen in Russland forderte. Sie sahen darin eine notwendige Voraussetzung für die siegreiche Beendigung des Krieges. Schon bald schlossen sich Organisationen der ländli- chen Selbstverwaltung (Semstvo) und der Kongress des Städteverbandes an. Es kam zu einer breiten Koalition wichtiger politischer Kräfte im Land. Wieder reagierte der Zar mit Gewalt und ließ seine Kritiker ins Gefängnis werfen. Als militärischer Ober- befehlshaber wurde Nikolaus II. zudem für die katastrophale Entwicklung an der Front verantwortlich gemacht. Selbst Teile der Armeeführung distanzierten sich vom Zaren. ### Die Februarrevolution 1917 Den Ausschlag zur Revolution gab schließlich eine drastische Verschlechterung der Versorgungslage im Winter 1916/17. Versuche der Regierung, durch Zwangs- eintreibungen und ein neues Ablieferungssystem den Mangel zu beheben, schlugen fehl. Anfang 1917 nahmen die Streiks und Demonstrationen im Land Massencharakter an. Die städtischen Mittel- und Unterschichten beteiligten sich daran ebenso wie große Teile der Landbevölkerung. Am 23. Februar 1917 (nach dem in Russland gültigen julianischen Kalender*, nach gregorianischem Kalender 8. März) standen in St. Petersburg (Petrograd) 128 000 Arbeiterinnen und Arbeiter im Streik und demonstrierten; binnen kurzer Zeit verbrüderten sich fast alle Garnisonssoldaten mit den Demonstrierenden. Sie stürmten die Waffenarsenale des Heeres und übernahmen die Macht in der Stadt; zwei Tage später wurde der Generalstreik ausgerufen. Zum Sprachrohr des Aufstandes entwickelte sich der Sowjet* der Petrograder Arbeiter und Soldaten, dem überwiegend gemäßigte Linke an- gehörten. Die Streikenden forderten Brot, die Beendigung des Krieges und die Beseitigung des Zarismus. Am 26. Februar schlossen sich weitere militärische Einheiten den Aufständischen an. Am 27. Februar war die Hauptstadt völlig in der Hand der Ar- beiter und Soldaten. Die Duma* wollte politisch nicht an die Seite gedrängt werden und kündigte nun ebenfalls ihren Gehorsam auf, indem sie sich weigerte, einem Befehl des Zaren zur Selbstauflösung nachzukommen. Als ein Einlenken des Zaren ausblieb und der Druck der Straße immer stärker wurde, kam es zur Machtergreifung des Parla- ments. Es ließ die Regierung des Zaren und regionale Militärbefehlshaber verhaf- ten und ernannte einen neuen Oberkommandierenden. Zar Nikolaus II. versuchte noch mithilfe von Fronttruppen die Revolution aufzuhalten, musste aber schließlich abdan- ken; das Ende der dreihundertjährigen Herrschaft der Romanows war gekommen. Bald danach bildete sich eine „Doppelherrschaft" von Duma und Sowjets in Russland aus. ### Träger der Februarrevolution In den Sowjets dominierten zwei Parteien, die Menschewiki und die Sozialrevolu- tionäre*. Beide hatten ihre soziale Basis in der Intelligenzja. Die Menschewiki bezog- en sich in ihrer Agitation und Programmatik eher auf die Industriearbeiter, die So- zialrevolutionäre eher auf die Bauern. Insbesondere die Bauern waren in dem riesigen Land schwer zu organisieren. Gemeinsam war beiden Parteien ein schematisches Bild von historischer Entwicklung, das sich an dem Ablauf der europäischen Revolutionen und an den Vorstellungen von Marx und Engels orientierte, wonach Russland zunächst eine längere Periode bürgerlich-kapitalistischer Entwicklung zu durchlaufen hätte. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre forderten daher die bürgerlichen Parteien aus der zaristischen Zeit auf, eine Regierung zu bilden. Das Resultat war die Provisorische Regierung. Sie bestand aus Vertretern der bürgerlichen Parteien und einem Minister der Sozialrevolutionäre. Dem Modell der „Doppelherrschaft" ent- sprechend entstanden neben den Räten lokale Organe der Regierungsgewalt, die aber relativ bedeutungslos blieben. Die Arbeiter, Bauern und Soldaten in den neuen Räten traten für einen soforti- gen Friedensschluss ein. Darüber hinaus forderten sie weitgehende Mitbe- stimmungs- und Kontrollrechte für die sich überall bildenden Fabrikkomitees und eine grundlegende Agrarreform. Damit waren Konflikte mit der Provi- sorischen Regierung, die vor allem die Interessen von Adel und Besitzbürgertum vertrat, vorgezeichnet. ### Von der Aprilkrise zur Julikrise Die Regierung geriet bald unter Druck von Seiten der unteren Gesellschaftsschich- ten. Die Unzufriedenheit der Bauern entlud sich in Zerstörungsaktionen, Diebstahl und Pachtverweigerung, die der Arbeiter in Streiks für den Achtstundentag, Lohn- erhöhungen und innerbetriebliche Mitbestimmungsrechte. In der Armee griffen mangeln-der Kampfeswille und Disziplinlosigkeit um sich, die mitunter in offene Aggression gegen die Offiziere umschlugen. In Petrograd kam es im April zu Masse- nde-monstrationen für einen sofortigen Friedensschluss. Nur mit Polizeigewalt gelang es der Regierung, die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten. Schießereien führ- ten zu Todesopfern. Als Reaktion auf die Aprilkrise wurden gemäßigte Sozialisten in die Regierung aufgenommen. Mit Zustimmung der Sowjets übernahmen sie das Kriegs-, Landwirtschafts- und Arbeitsministerium. Die 1. Koalitionsregierung woll- te damit die Bevölkerung beruhigen. Da die Regierung aber an ihrem Kurs nichts änderte, verlor sie weiter an Zustimmung. Auch die Sowjets kamen durch ihre Koope- ration mit der Regierung unter Druck. In dieser Situation wurden die Bolschewiki, die nur eine kleine Minderheit in den Sowjets darstellten, zum Sprachrohr insbesondere der städtischen Massen. Im April 1917 war ihr Vorsitzen-der Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) mithilfe der deuts- chen Reichsregierung aus dem Schweizer Exil nach Russland zurückgekehrt. Lenin vertrat im Gegensatz zu den Menschewiki und zu Teilen der eigenen Partei die Auffassung, dass die Revolution mit Energie weitergetrieben werden müsse und dass allein eine Arbeiter-und Soldatenregierung, deren Keimform er im Petro- grader Sowjet verwirklicht sah, die nationalen und sozialen Probleme des Landes lösen könne. Noch am Tag seiner Ankunft rief er mit seinen „Aprilthesen" zur For- tsetzung der Revolution auf. Die Aprilthesen fielen bei Arbeitern, Soldaten und Bau- ern auf fruchtbaren Boden. Die Mitgliederzahl der Bolschewiki, die Anfang 1917 noch knapp 24000 betrug, erhöhte sich beträchtlich. Die bolschewistische Propaganda wirkte sich verschärfend auf die Auseinander- setzungen aus. Im Juli 1917 nahm die Zahl der Streiks und Aussperrungen wieder zu. Eine galoppierende Inflation und die sich verschlechternde Versorgungslage führten zu erneuten Demonstrationen. In den Dörfern gingen die Bauern vielerorts zur spon- tanen Landnahme über und vertrieben ihre Grundherren. An der Front und in den Garnisonen wuchs der Unmut über den ausbleibenden Friedensschluss. Eine von der Regierung angeordnete Kriegsoffensive endete mit einem fluchtartigen Rückzug und teilweisen Zerfall der Armee. Dies befeuerte den Juliaufstand in Petrograd, der mit Demonstrationen und Straßen-kämpfen zwischen den bolschewistischen Roten Garden und Regierungstruppen einherging. Doch der Aufstand scheiterte, Lenin floh nach Finnland. Gewinner der Julikrise war die Regierung, die nun von Alexander Kerenski (1881- 1970) angeführt wurde. Ende Juli bildete dieser die 2. Koalitionsregierung, die sich nach außen hin sozialistisch präsentierte, in der Praxis jedoch die bisherige Politik weiterführte. Der durch die Fortsetzung des Krieges verursachte Verfall von Wirtschaft, Armee und Staat beschleunigte sich noch mehr und rief Ende August einen Putsch konservativer Militärkreise hervor. An seiner Spitze stand der eben erst zum militärischen Oberbefehlshaber berufene General Kornilow. Ziel des Putsches war die Entmachtung der Linken. Er erreichte jedoch genau das Gegenteil: die Aufwer- tung des Sowjets und der Bolschewiki, denn Kerenski, der sich während der Genera- lsrevolte Hilfe suchend an den Arbeiter- und Soldatenrat der Hauptstadt gewandt hatte, sah sich zu Zugeständnissen gezwungen. Er amnestierte die nach dem Juliauf- stand inhaftierten Führer der Linken und ließ im Gegenzug Politiker der Rechten verhaften. ### Die Oktoberrevolution von 1917 und ihre Träger Im Herbst 1917 trieb die Krise von Wirtschaft, Armee und Staat ihrem Höhepunkt zu. Es kam zu Hungerunruhen, teils gewaltsamen Übernahmen von Fabriken durch Streikende, auf dem Land entbrannte ein regelrechter Bauernkrieg um das gutsher- rliche Land. Bei den Septemberwahlen erzielten die Bolschewisten große Stimmenge- winne und stellten nun in den wichtigsten Sowjets die Mehrheit. Angesichts dieser Entwicklung beschwor der zurückgekehrte Lenin seine Partei, in einem Staatsstreich die Macht zu ergreifen. Nach heftigen Debatten gelang es ihm schließlich, die Mehrheit des Zentralkomitees der Bolschewiki für den bewaffneten Aufstand zu gewinnen. Als Ter- min wurde der 25. Oktober gewählt, der Tag des Zusammentritts des Zweiten Allrussischen Sowjetkongresses*. Leitstelle zur Vorbereitung des Putsches wurde das Militärische Re- volutionskomitee des Petrograder Sowjets, das weitgehend unter bolschewistischer Kontrolle stand. Am 20. Oktober veranlasste es die Ablösung verschiedener Truppenkom- mandeure und unterstellte die Soldaten von Petrograd seiner Verfügungsgewalt. In der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober nahmen militärische Einheiten und bewaff- nete Arbeiterbrigaden strategische Punkte der Stadt ein. Die Regierung unter Kerenski verhängte den Ausnahmezustand, konnte den Staatsstreich aber nicht mehr abwenden. In der Nacht zum 26. Oktober ließ Leo Trotzki, einer der engsten Mit- streiter Lenins, das „Revolutionäre Militärkomitee" den Regierungssitz im „Winterpalais" stürmen, die Regierung wurde abgesetzt und ihre Mitglieder verhaftet. Es gab keine Massendemonstrationen, kaum Tote. Noch am Abend trat der Petrograder Sowjet zusammen und verkündete zwei Dekrete: das „Dekret über den Frieden", ge- richtet an alle Krieg führenden Länder, und das „Dekret über die entschädigungslose Enteignung von Grund und Boden". Außerdem bildete der Petrograder Sowjet eine provisorische Arbeiter- und Bauernregierung (Rat der Volkskommissare) und wählte das „Gesamtrussische Zentralexekutivkomitee". Anders gestaltete sich die Lage in Moskau. Hier konnten sich die Bolschewiki erste Ende Oktober nach erbitterten Straßenkämpfen durchsetzen. Als die Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung, die noch die Provi- sorische Regierung veranlasst hatte, im November 1917 eine Mehrheit der So- zialrevolutionäre ergaben und das gewählte Parlament sich weigerte, die Sow- jetmacht uneingeschränkt anzuerkennen, löste der Rat der Volkskommissare das Parlament im Januar 1918 durch Truppeneinsatz auf. Wenige Tage später wurde die Auflösung und die „Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes" vom 3. Allrussischen Rätekongress in Petrograd gebilligt. Die Deklaration bildet einen wichtigen Bestand-teil der am 10. Juni 1918 inkraft gesetzten Verfassung der „Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik" (RSFSR). Damit war der Systembruch vollzogen, die Sowjetunion offiziell gegründet. Doch schon im No- vember formierten sich die gegenrevolutionären Kräfte. Es kam zu einem Bürger- krieg.