Klinische Kinder- und Jugendpsychologie (HS 2024) PDF
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Franz Petermann
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This document is a syllabus for a course on clinical child and adolescent psychology, offering a detailed overview of themes, dates, and materials. Topics covered include definitions, epidemiology, classification, and diagnostics of psychological disorders. The course is intended for undergraduate students and is designed to be a comprehensive introduction to the subject, exploring the biopsychosocial models underlying child development and psychopathology.
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11193-01 Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, HS 2024 Montags, 16:15-17:45 Uhr, Grosser Hörsaal Organische Chemie 3 ECTS Prüfung am 09.12.2024, 16:15 Uhr Trigger-Warnung: Diese Vorlesung befasst sich mit sensiblen Themen im Bereich der klinischen Kinder- und Jugendpsychologie. Dabei werden unt...
11193-01 Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, HS 2024 Montags, 16:15-17:45 Uhr, Grosser Hörsaal Organische Chemie 3 ECTS Prüfung am 09.12.2024, 16:15 Uhr Trigger-Warnung: Diese Vorlesung befasst sich mit sensiblen Themen im Bereich der klinischen Kinder- und Jugendpsychologie. Dabei werden unter anderem psychische Störungen, Traumata, Missbrauch, Sui- zidgedanken und -handlungen, sowie andere belastende Erfahrungen und Diagnosen besprochen. Die Inhalte könnten für manche Zuhörende emotional belastend sein. Studierende, die sich durch diese The- men unwohl oder getriggert fühlen, werden ermutigt, ihre eigenen Grenzen zu respektieren und gegebe- nenfalls Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Termin Thema Pflichtliteratur 16.09.2024 Definition, Ziele und Besonderheiten Petermann (2013). Grundbegriffe und Konzepte der Klinischen Kinderpsychologie. Kapitel 1. In Peter- mann (Hrsg.), Lehrbuch der klinischen Kinderpsy- chologie (7. Auflage). Hogrefe. 30.09.2024 Epidemiologie, zentrale Konzepte und Döpfner (2013). Klassifikation und Epidemiologie Theorien psychischer Störungen. Kapitel 2, Unterkapitel 2. Epidemiologie. In Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der klinischen Kinderpsychologie (7. Auflage). Hogrefe. 07.10.2024 Klassifikation und Diagnostik Döpfner (2013). Klassifikation und Epidemiologie psychischer Störungen. Kapitel 2, Unterkapitel 1. Klassifikation. In Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der klinischen Kinderpsychologie (7. Auflage). Hogrefe. 14.10.2024 Umschriebene Entwicklungsstörungen Petermann (2018). Umschriebene Entwicklungsstö- rungen, Kindheit und Entwicklung, 27 (1), 1–4. https://doi.org/10.1026/0942-5403/a000239 21.10.2024 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen Sinzig & Schmidt (2013). Tiefgreifende Entwick- lungsstörungen. Kapitel 7. In Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der klinischen Kinderpsychologie (7. Auf- lage). Hogrefe. Syllabus 11193-01 1 28.10.2024 ADHS und Störung des Sozialverhaltens Döpfner & Banaschewski (2013). Aufmerksamkeits- defizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS). Kapitel 14. In Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der klinischen Kin- derpsychologie (7. Auflage). Hogrefe. Petermann & Petermann (2013). Störungen des So- zialverhaltens. Kapitel 15. In Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der klinischen Kinderpsychologie (7. Auf- lage). Hogrefe. 04.11.2024 Mutismus Melfsen, Warnke & Walitza (2018). Selektiver Mutis- mus. Kapitel 34. In Margraf & Schneider (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 3 Psycholo- gische Therapie bei Indikationen im Kindes- und Ju- gendalter (2. Auflage). Springer. 11.11.2024 Tic Störung Döpfner & Rothenberger (2013). Tic-Störungen. Ka- pitel 16. In Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der klini- schen Kinderpsychologie (7. Auflage). Hogrefe. 18.11.2024 Trauma und Posttraumatische Belas- Rosner & Unterhitzenberger (2018). Posttraumati- tungsstörung sche Belastungsstörung. Kapitel 35. In Margraf & Schneider (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 3 Psychologische Therapie bei Indikationen im Kindes- und Jugendalter (2. Auflage). Springer. 25.11.2024 Depression und Suizidalität Pössel (2013). Depression/Suizidalität. Kapitel 38. In Margraf & Schneider (Hrsg.), Lehrbuch der Ver- haltenstherapie, Band 3 Psychologische Therapie bei Indikationen im Kindes- und Jugendalter (2. Auf- lage). Springer. 02.12.2024 Angststörungen Schneider & Seehagen (2014). Angststörungen im Kindes- und Jugendalter, PSYCH up2date; 7: 361 – 372. http://dx.doi.org/10.1055/s-0033-1349649 09.12.2024 Prüfung Am 23.09. findet die Vorlesung nicht statt Seite 2/2 Kapitel 1 Grundbegriffe und Konzepte der Klinischen Kinderpsychologie Franz Petermann Inhaltsübersicht Universitätsbibliothek Basel / University of Basel / 131.152.231.233 (2024-07-03 08:50) 1 Einleitung....................................... 15 4.1 Klassifikation................................... 23 1.1 Typische Fragestellungen............... 16 4.2 Diagnostik....................................... 24 1.2 Nachbardisziplinen.......................... 17 5 Perspektiven.................................. 24 1.3 Grundlagen und klinische Praxis.... 18 5.1 Klinische Jugendpsychologie.......... 24 2 Entwicklungspsychopathologie... 20 5.2 Klinische Kinderneuropsychologie.. 25 3 Biopsychosoziales Krankheits- 5.3 Pädiatrische Psychologie................ 26 modell............................................ 21 Verständnisfragen................................... 28 4 Klassifikation und Diagnostik Weiterführende Literatur........................ 28 psychischer Störungen................ 22 Literatur.................................................... 29 1 Einleitung Das vorliegende Lehrbuch gibt eine Übersicht über wichtige Grundlagen der Kli- nischen Kinderpsychologie sowie zentrale Ansätze zur Erklärung und Behandlung psychischer Störungen. In diesem Kapitel sollen wichtige Grundbegriffe erläutert und in ausgewählte Themengebiete der Klinischen Kinderpsychologie eingeführt werden; es sollen vor allem die Neuentwicklungen des Bereiches thematisiert wer- den. Kasten 1: Definition der Klinischen Kinderpsychologie Die Klinische Kinderpsychologie beschäftigt sich in ihren Grundlagen mit den Ursachen, der Entwicklung und dem Verlauf psychischer Störungen, wobei früh wirksamen Risiko- und Schutzfaktoren eine besondere Bedeutung zukommt. Im Bereich der Diagnostik nimmt die Feststellung und Bewertung von psychi- schen Störungen Entwicklungsabweichungen und psychosozialen Belastungen eine zentrale Stellung ein; des Weiteren werden die psychischen Störungen und psychosozialen Folgen chronisch-körperlicher Krankheiten behandelt. Die In- terventionen (Prävention, Therapie und Rehabilitation) dienen der Vorbeugung, Minderung oder Heilung psychischer Beeinträchtigungen und Störungen. Die Interventionen basieren auf empirisch abgesicherten biopsychosozialen Ent- wicklungsmodellen, die detailliert Risiko- und Schutzfaktoren der kindlichen Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus F. Petermann: Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (ISBN 9783840924477) © 2013 Hogrefe Verlag, Göttingen. 16 Franz Petermann Entwicklung spezifizieren und berücksichtigen. Als Interventionen werden vor allem gut dokumentierte und empirisch abgesicherte Verfahren empfohlen. Ins- gesamt orientiert sich die Klinische Kinderpsychologie in ihrer Themenaus- wahl an den vielfältigen Bedürfnissen von Kindern und deren Familien; sie ist dabei interdisziplinär ausgerichtet und berücksichtigt die Anforderungen der Nachbardisziplinen (u. a. Heil- und Sonderpädagogik, Kinderheilkunde, Kin- der- und Jugendpsychiatrie). 1.1 Typische Fragestellungen Universitätsbibliothek Basel / University of Basel / 131.152.231.233 (2024-07-03 08:50) Die Klinische Kinderpsychologie entstand als Teildisziplin der Psychologie an der Schnittstelle zwischen Klinischer Psychologie und Entwicklungspsychologie. Sie untersucht – in Abgrenzung zur Entwicklungspsychologie – Entstehungsbedin- gungen und Auswirkungen von Entwicklungsabweichungen; sie versucht auf der Grundlage solcher Befunde, entwicklungsorientierte Interventionen zu begrün- den. Das Verhalten von Kindern und Jugendlichen ist alters- und kulturabhängig sowie in spezifischer Weise in die Familie und das soziale Umfeld eingebunden. Viele Jahre sind Kinder von ihren erwachsenen Bezugspersonen abhängig, von denen sie in der Regel in verschiedener Weise unterstützt werden. In ihrem Ent- wicklungsverlauf müssen Kinder altersspezifische Anforderungen und Aufgaben bewältigen, wobei sie durch psychische oder körperliche Krankheiten daran ge- hindert werden (vgl. Kapitel 28 in diesem Band). Vielfach ergeben sich Belastun- gen aus entwicklungs- und krankheitsspezifischen Anforderungen, die Kinder für Krisen besonders anfällig machen. Aus diesen Konstellationen resultieren für die unterschiedlichen Altersgruppen spezifische Fragestellungen, mit denen sich die Klinische Psychologie des Erwachsenenalters nicht auseinandersetzen muss. Einige dieser Fragestellungen, die die Klinische Kinderpsychologie kennzeich- nen, stellt Kasten 2 zusammen. Diese Fragestellungen beziehen sich vor allem auf die Entstehung, den Verlauf und die therapeutische Beeinflussbarkeit psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. Kasten 2: Fragestellung der Klinischen Kinderpsychologie Welche Merkmale bilden Frühindikatoren für psychische Störungen, und wie früh kann man solche „Vorläufer“ zuverlässig bestimmen? Welche entwicklungs- beziehungsweise altersbedingten Verletzlichkeiten (Vulnerabilitäten) kennzeichnen die frühe Entwicklung eines Kindes, und aufgrund welcher Mechanismen treten Entwicklungsabweichungen auf? Von welchen Bedingungen hängt die psychische Widerstandsfähigkeit eines Kindes (= psychische Robustheit, Resilienz) im Kontext der Alltags-, Krank- heits- und Krisenbewältigung ab? Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus F. Petermann: Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (ISBN 9783840924477) © 2013 Hogrefe Verlag, Göttingen. Grundbegriffe und Konzepte der Klinischen Kinderpsychologie 17 Welche Faktoren bestimmen das Belastungsempfinden und die Bewältigungs- kompetenz eines Kindes, und wie wird dies durch familiäre Prozesse mode- riert? Durch welche Merkmale sind psychisch robuste Kinder gekennzeichnet, und durch welche Mechanismen sind sie in der Lage, unter besonders widrigen Umständen dennoch psychisch „gesund“ zu bleiben? In welcher Form beeinflussen frühe familiäre Interaktionsmuster und Aspekte der Temperamentsentwicklung die sozial-emotionale Entwicklung eines Kin- des und Jugendlichen? In welcher Form kann ein Wechsel des sozialen Milieus die Entwicklungs- prognose eines Kindes günstig beeinflussen? Universitätsbibliothek Basel / University of Basel / 131.152.231.233 (2024-07-03 08:50) Durch welche Erhebungsverfahren lassen sich Ressourcen eines Kindes und die des familiären Umfeldes erfassen, und in welcher Form kann man diese für die Planung und Durchführung von Interventionen nutzen? Welche symptombezogenen Entwicklungsmodelle können einer entwick- lungsorientierten Diagnostik und Interventionsplanung zugrunde gelegt wer- den? Wie bedeutsam sind neurobiologische und genetische Befunde, um psychi- sche Störungen im Kindes- und Jugendalter zu erklären, und was resultiert daraus für die Prävention und die Behandlung? 1.2 Nachbardisziplinen Die Klinische Kinderpsychologie wurde entscheidend durch ihre Nachbardiszip- linen geprägt, die eine längere Forschungstradition und einen besonders reichhal- tigen Erfahrungsschatz aufweisen (Nissen, 2005). Die zentralen Nachbardiszipli- nen bilden die Kinderheilkunde, Heil- und Sonderpädagogik, Kinderneurologie sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie. Gemeinsam mit ihren Nachbardisziplinen wendet sich die Klinische Kinder- psychologie Problemstellungen der Diagnostik und Intervention im Kindes- und Jugendalter zu. Besonders differenziert konnten die Ergebnisse der Klinischen Kinderpsychologie in Interventionsstrategien im Bereich der Prävention und Ge- sundheitsförderung, Kinderpsychotherapie und Kinderrehabilitation umgesetzt werden (vgl. Abb. 1). Das traditionelle Anwendungsgebiet der Klinischen Kinder- psychologie bildet jedoch immer noch die Kinderpsychotherapie; daneben gewin- nen die Pädiatrische Psychologie und Klinische Kinderneuropsychologie als neue Anwendungsgebiete an Bedeutung; auf diese Gebiete wird noch detaillierter ein- gegangen. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus F. Petermann: Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (ISBN 9783840924477) © 2013 Hogrefe Verlag, Göttingen. 18 Franz Petermann Klinische Entwicklungs- Psychologie psychologie Klinische Kinderpsychologie Nachbardisziplinen Nachbardisziplinen Universitätsbibliothek Basel / University of Basel / 131.152.231.233 (2024-07-03 08:50) Kinderheil- Pädiatrische Prävention und Klinische Kinder- Kinder- kunde Psychologie Gesundheits- neuropsychologie neurologie förderung Heil- und Kinder- und Sonder- Kinderpsycho- Jugend- pädagogik therapie psychiatrie Kinder- rehabilitation Abbildung 1: Grundlagen, Nachbardisziplinen und Anwendungsgebiete der Klinischen Kinderpsychologie 1.3 Grundlagen und klinische Praxis Die Klinische Kinderpsychologie liefert wesentliche Grundlagen zur Planung und Durchführung von kind- und familienorientierten Interventionen; aus ihren Be- funden lassen sich wirksame Präventions- und Psychotherapiekonzepte entwickeln (vgl. Fonagy et al., 2005) und neue Akzente für die klinische Praxis setzen. We- sentliche Grundlagen der Klinischen Kinderpsychologie stammen aus der Ent- wicklungspsychologie, wobei entwicklungspsychologische Befunde allein schon durch die differenzierte Beschäftigung mit Entwicklungsabweichungen in der kli- nischen Praxis eine besondere oder neue Bedeutung erhalten (Schore, 2007). So veränderten wichtige Erkenntnisse der modernen Säuglings- und Kleinkindfor- schung die Vorstellungen zur frühen Entwicklung und damit zentrale Konzepte der Klinischen Kinderpsychologie (vgl. Kullik & Petermann, 2012; vgl. Kapitel 4 in diesem Band). Die detaillierte Analyse der frühen Mutter-Kind-Interaktion, das Wissen um die Temperamentsentwicklung und die Gedächtnisleistung von Säug- lingen und Kleinkindern führt zu einem neuen Verständnis darüber, wie Entwick- lungsabweichungen und psychische Störungen entstehen und therapeutisch beein- flusst werden können. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus F. Petermann: Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (ISBN 9783840924477) © 2013 Hogrefe Verlag, Göttingen. Grundbegriffe und Konzepte der Klinischen Kinderpsychologie 19 Die Bindungsforschung widmete sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend frü- hen Beziehungs- und Bindungserfahrungen des Kindes sowie deren Auswirkun- gen auf die weitere Entwicklung und die Gestaltung zukünftiger Beziehungen (Fonagy & Target, 2006). Seit einigen Jahren rückt neben der frühen Mutter-Kind- Bindung auch zunehmend der Einfluss des Vaters oder der Beziehungen zu den Geschwistern, Großeltern, Gleichaltrigen etc. in den Mittelpunkt des Interesses (Rutter, 1998). Vor allem bei jungen Kindern, aber auch im Entwicklungsverlauf ist die Qualität der Beziehung des Kindes zu primären Bezugspersonen entschei- dend für die psychische Entwicklung (vgl. Eyberg et al., 1998). In diesem Zu- sammenhang kommt Interaktionsstörungen eine zentrale Bedeutung zu, die von Schmidt in diesem Buch (vgl. Kapitel 26) dargestellt werden. Universitätsbibliothek Basel / University of Basel / 131.152.231.233 (2024-07-03 08:50) Darüber hinaus prägen natürlich auch noch andere Faktoren, wie etwa die sozi- alen und ökonomischen Bedingungen einer Familie und die Qualität der schuli- schen Förderung, die Entwicklung eines Kindes. Diese Erkenntnisse haben dazu geführt, dass die Kinderpsychotherapie, aber auch Präventionsprogramme in den letzten Jahrzehnten immer stärker die Familie und Schule, in die Planung und Umsetzung von Interventionen einbezogen haben. Heute existiert eine Vielzahl von kindergarten-, schul- und familienbasierten Präventions- und Behandlungs- ansätzen, die dieser Sichtweise gerecht werden wollen (vgl. Barrett & Ollendick, 2004). Das Ausmaß und die Form, in dem das soziale Bezugsfeld berücksichtigt wird, hängt vor allem vom Alter der betroffenen Kinder ab; in diesem Kontext ist eine entwicklungs- und familienorientierte Intervention gefordert (vgl. Eyberg et al., 1998; Mattejat & Ihle, 2011). Vor allem die familienorientierte Intervention bil- det eine wichtige und traditionsreiche Vorgehensweise, die Cierpka in diesem Buch ausführlich behandelt (vgl. Kapitel 44). Die Entwicklungsprognose eines Kindes hängt vor allem von den Ressourcen des Kindes, den Fördermöglichkeiten der sozialen Umgebung, dem Entwicklungs- stand und dem sozialen Kontext ab. Dies verdeutlicht, dass ohne fundierte ent- wicklungspsychologische und entwicklungspsychopathologische Kenntnisse kaum aussagekräftige klinische Urteile möglich sind. Ein wesentliches Merkmal der Kli- nischen Kinderpsychologie bildet somit ihre Entwicklungsorientiertheit. Diese Sichtweise bezieht sich vor allem auf die Entstehung und den Verlauf psychischer Störungen (= Entwicklungspsychopa- thologie), Diagnosestellung (= entwicklungsorientierte Diagnostik) und Therapie des Kindes und seiner Familie (= entwicklungsorientierte Interven- tion). Selbstverständlich sollten sich diese Sichtweisen in der klinischen Fallarbeit wi- derspiegeln (vgl. Petermann, 2009). Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus F. Petermann: Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (ISBN 9783840924477) © 2013 Hogrefe Verlag, Göttingen. 20 Franz Petermann 2 Entwicklungspsychopathologie Wichtige Fortschritte der Klinischen Kinderpsychologie wurden in den letzten Jah- ren vor allem durch die Modellvorstellungen der Entwicklungspsychopathologie initiiert. Mit diesem Zugang wird es möglich, nicht nur Störungen zu beschreiben und zu klassifizieren, sondern darüber hinaus die Wege von Entwicklungsabwei- chungen und psychischen Störungen vom frühen Kindes- bis zum Erwachsenen- alter nachzuzeichnen (Blanz et al., 2006). Die Entwicklungspsychopathologie un- terstreicht die Bedeutung von Längsschnittstudien und die daraus ableitbaren Entwicklungs- und Prognosemodelle. Selbstverständlich ist der allgemeine Anspruch der Entwicklungspsychopatholo- Universitätsbibliothek Basel / University of Basel / 131.152.231.233 (2024-07-03 08:50) gie, die Entstehung und den Verlauf psychischer Störungen zu beschreiben und zu analysieren, nicht neu. Jeder Kinderpsychotherapeut erklärt den Familienmitglie- dern, „woher“ eine Störung des Kindes kommen könnte; in der Regel fragen die Eltern auch besorgt, welche negativen Folgen aus der aktuellen Problematik noch erwachsen können. Aus einer differenzierten Elternexploration und Familienana- mnese lässt sich in der Regel ein „fallbezogenes Entwicklungs- und Erklärungs- konzept“ einer psychischen Störung ableiten. Klinisches Handeln basiert demnach auf plausiblen, aber vielfach ungeprüften Annahmen über die Entstehung und den Verlauf psychischer Störungen. Solche Annahmen werden von der Entwicklungs- psychopathologie seit gut 25 Jahren intensiv systematisiert und wissenschaftlich überprüft. Darüber hinaus vergleicht man in der Entwicklungspsychopathologie die Entstehung und den Verlauf pathologischer Phänomene mit der normalen Ent- wicklung (vgl. Kapitel 3 in diesem Band). Viele entwicklungspsychologische Theorien betonen Teilaspekte der kindlichen Entwicklung so einseitig, dass sie den komplexen klinischen Störungsbildern nicht gerecht werden. Neue Theorien versuchen hingegen, die kindliche Entwicklung durch die Interaktion biopsychosozialer Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen zu beschreiben und damit dieser Komplexität gerecht zu werden (Fonagy & Tar- get, 2006). Hierbei erweist sich die emotionale Entwicklung und der Erwerb von sozial-emotionalen Kompetenzen als besonders bedeutsam für die ersten sechs Lebensjahre (Petermann & Wiedebusch, 2008). Die Entwicklungspsychopathologie beschäftigte sich besonders intensiv mit der Schnittstelle zwischen Biologie und Psychologie. Sie integriert dabei Ergebnisse aus der Entwicklungsneurobiologie, Humangenetik, Klinischen Psychologie, Psy- choanalyse und aus sozialwissenschaftlichen Ansätzen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse und empirischen Erträge aus diesen Disziplinen fließen in Modelle ein, mit deren Hilfe man die Entwicklung psychischer Störungen und ihrer Sym- ptome besser beschreiben und erklären kann. Dieses Bemühen ist nachvollzieh- bar, da besonders massive Einschnitte im Entwicklungsverlauf, wie zum Beispiel das Einsetzen der Pubertät, aber auch die Manifestation der schweren psychischen Störung, nur durch die komplexen Wechselwirkungen zwischen biologischen, so- Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus F. Petermann: Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (ISBN 9783840924477) © 2013 Hogrefe Verlag, Göttingen. Grundbegriffe und Konzepte der Klinischen Kinderpsychologie 21 zialen und psychischen Veränderungen erklärt werden können. Diese Wechselwir- kung wird auch entscheidend die Art und Ausprägung einer möglichen psychi- schen Symptomatik bestimmen. 3 Biopsychosoziales Krankheitsmodell In der Regel ist einer psychischen Störung ihre Pathogenese nicht unmittelbar an- zusehen. Nach dem biopsychosozialen Krankheitsmodell kann man, wie bereits dargestellt, von komplexen Wechselwirkungen von neurobiologischen beziehungs- weise genetischen und psychosozialen Einflüssen ausgehen (vgl. Kasten 3). Für den Klinischen Kinderpsychologen bedeutet dies, dass er sich künftig stärker mit Universitätsbibliothek Basel / University of Basel / 131.152.231.233 (2024-07-03 08:50) den Zusammenhängen zwischen Nervensystem und Verhaltensregulation ausein- andersetzen muss. In den nächsten Jahren werden die Ergebnisse zu den genetischen Grundlagen psychischer Störungen unser Verständnis von psychischen Krankhei- ten verändern und (hoffentlich) dabei nicht unseren therapeutischen Optimismus allzu sehr reduzieren (vgl. Kasten 3). Kasten 3: Aktuelle Kontroverse: Was können psychosoziale Ressourcen gegen ungünstige Gene ausrichten? Empirische Studien konnten zwar genetische Anteile bei einigen Störungsbil- dern ermitteln (z. B. Depression, tiefgreifende Entwicklungsstörungen), den- noch ist nicht bekannt, wie es genau zu einer intergenerativen Übertragung kommt (Rutter, 1998) und wie zum Beispiel ungünstige genetische Disposi- tionen durch psychosoziale Ressourcen abgepuffert werden (Petermann & Schmidt, 2006). Sicher ist allerdings, dass auch die intergenerative Weiter- gabe bestimmter Verhaltensmerkmale wesentlich von sozialen Faktoren ab- hängt, wie zum Beispiel der Wahl des Partners, obwohl dieser Aspekt zumeist in Studien vernachlässigt wird (Rutter, 1998). So weiß man inzwischen, dass Personen mit aggressiv-dissozialem Verhalten dazu neigen, sich einen Lebens- partner zu suchen, der ebenfalls aggressiv-dissoziales Verhalten zeigt (vgl. Beel- mann & Raabe, 2007). Grundsätzlich wird angenommen, dass das elterliche Erziehungsverhalten zur intergenerativen Übertragung und damit zur Konti- nuität psychischer Störungen beitragen kann; es herrscht jedoch noch Unklar- heit darüber, wie bestimmte Erziehungspraktiken und psychische Störungen zusammenhängen. Man kann berechtigte Zweifel daran hegen, dass man auf der alleinigen Basis von Gen-Mutationen psychische Störungen erklären kann. Vielmehr scheinen die meisten psychischen Störungen multifaktoriell bedingt zu sein. Erst durch die Interaktion von biologischen und psychosozialen Faktoren wird man erklä- ren können, wie psychische Störungen tatsächlich entstehen und langfristig ver- laufen. So sind neurobiologische Mechanismen komplex mit der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung verknüpft. Als wichtige neurobiologi- Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus F. Petermann: Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (ISBN 9783840924477) © 2013 Hogrefe Verlag, Göttingen. 22 Franz Petermann sche Mechanismen in der frühkindlichen Entwicklung sind bekannt: Neurotrans- mitterveränderungen, Synapsenbildungen als Funktion von Erfahrungsprozes- sen und die Gen-Aktivierung; diese Mechanismen werden durch die soziale Umwelt beeinflusst (Shore, 1997). Das biopsychosoziale Krankheitsmodell veränderte die Sichtweise in vielen Be- reichen der Klinischen Kinderpsychologie. Diese Behauptung lässt sich schon heute am Beispiel des nächtlichen Einnässens (Enuresis nocturna) belegen. Noch vor 100 Jahren führte man das Einnässen von Kindern auf deren Faulheit, Feig- heit oder Angst zurück. Die Psychoanalyse sah unter anderem in der Enuresis ein Symptom verdrängter Sexualität oder unbewusster Konflikte. Vielfach wurde Enu- Universitätsbibliothek Basel / University of Basel / 131.152.231.233 (2024-07-03 08:50) resis psychoanalytisch als verdeckte Aggression gegenüber den Eltern gedeutet. Seit einigen Jahrzehnten sieht die Verhaltenstherapie in der Enuresis ein Lernde- fizit und behandelt einnässende Kinder mit dem Klingelapparat erfolgreich. Die jüngste genetische Forschung geht zumindest bei der primären Enuresis von einer genetisch determinierten biologischen Störung aus (vgl. Kapitel 12 in diesem Band), die man am ehesten als Entwicklungsstörung interpretieren kann – ähnlich einer sprachlichen oder motorischen Entwicklungsverzögerung oder Entwick- lungsauffälligkeit. Die Einbeziehung von Erkenntnissen aus der Genetik ist jedoch nicht gleichbe- deutend mit dem Ende der Kinderpsychotherapie. Selbstverständlich kann man ungünstige Entwicklungen von Kindern durch wirksame Verfahren psychothera- peutisch beeinflussen, auch wenn wir deren genetische Disposition, das heißt den genetisch bedingten Anteil einer Störung, nicht verändern können. Das biopsy- chosoziale Krankheitsmodell schließt ein, dass man zukünftig die biologischen und psychosozialen Anteile von psychische Störungen genauer erkennen und be- achten muss, wenn man sie angemessen analysieren, verstehen und mit wissen- schaftlich begründeten Methoden verändern möchte. 4 Klassifikation und Diagnostik psychischer Störungen Eine erfolgreiche Kinderpsychotherapie setzt eine differenzierte, das heißt dem Entwicklungsstand sowie der Problemlage des Kindes und der psychosozialen Si- tuation der Familie angemessene Diagnosestellung voraus (vgl. Merrell, 2007). Der Ausprägungsgrad und die konkrete Erscheinungsform einer psychischen Stö- rung hängen vom Alter und vielfach auch vom sozialen Umfeld eines Kindes ab. Einige psychosoziale Probleme im Kindesalter erfüllen zwar nicht die spezifischen Kriterien einer psychischen Störung, jedoch wäre eine Intervention erforderlich oder zumindest wünschenswert. Die Klassifikation und Diagnostik psychischer Störungen sollte dies in ihren Modellvorstellungen beachten. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus F. Petermann: Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (ISBN 9783840924477) © 2013 Hogrefe Verlag, Göttingen. Grundbegriffe und Konzepte der Klinischen Kinderpsychologie 23 4.1 Klassifikation Der Hauptabschnitt des von Wolraich et al. (1997) konzipierten Klassifikationssys- tems ist in Verhaltenscluster unterteilt, wie zum Beispiel „negatives / aggressives Verhalten“, für die jeweils drei Kategorien beschrieben werden, die das Spektrum von „normal“, über „problematisch“ bis hin zur „Störung“ abdecken (vgl. Tab. 1). Dieses Spektrum umfasst auch konkrete Hinweise, um die Bedeutsamkeit und den Interventionsbedarf der Symptome abzuschätzen. Es werden vier Altersabschnitte unterschieden: Kleinkindalter (Geburt bis zum 2. Lebensjahr), frühe Kindheit (3. bis 5. Lebensjahr), mittlere Kindheit (6. bis 12. Lebensjahr) sowie Universitätsbibliothek Basel / University of Basel / 131.152.231.233 (2024-07-03 08:50) Jugendalter (ab 13. Lebensjahr). Jedem Altersabschnitt lassen sich unterschiedlich ausgeprägte (problematische) Verhaltensweisen zuordnen. Tabelle 1 präzisiert am Beispiel des normalen und negativen Sozialverhaltens die Vorstellungen von Wolraich et al. (1997). Mit einer solchen alterstypischen und kontinuierlichen Unterteilung von normalem, problematischem und klinisch-auf- fälligem Verhalten kann man die verschiedenen Verhaltensausprägungen und die entsprechenden Interventionsverfahren mit ihren unterschiedlichen Intensitätsgra- den besser miteinander vergleichen. Der Vorteil einer solchen Klassifikation liegt Tabelle 1: Beispiele für normales und negatives Sozialverhalten Normales Problematisches Psychische Altersstufe Verhalten Verhalten Störung Kleinkindalter Kind kommt Anfor- Kind verweigert Kind verweigert (bis 2 Jahre) derungen nach und Anforderungen; sich völlig. lässt sich helfen. kann jedoch von Erwachsenen beeinflusst werden. Frühe Kindheit Kind ist eigen- Kind ärgert andere Kind ist häufig (3. bis 5. Lebens- ständig, ohne absichtlich. wütend und belei- jahr) Anforderungen digt andere. abzulehnen. Mittlere Kindheit Kind behauptet Kind streitet häufig. Prügelt sich häufig (6. bis 12. Lebens- angemessen seinen mit anderen Kin- jahr) Standpunkt. dern. Jugendalter Kind ist im Konflikt- Versucht unange- Erpresst andere. (ab 13 Jahre) fall kooperations- messen sich Vor- bereit und kompro- teile zu verschaffen. missfähig. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus F. Petermann: Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (ISBN 9783840924477) © 2013 Hogrefe Verlag, Göttingen. 24 Franz Petermann also darin, dass sie der konkreten Interventionsplanung zugrunde gelegt werden kann. Die konkrete Verhaltensausprägung würde dann darüber entscheiden, ob man präventiv (z. B. kindergarten- oder schulbasiert), kinderpsychotherapeutisch und / oder familienbezogen arbeitet. 4.2 Diagnostik In den letzten Jahren erzielte die Diagnostik im Bereich der Klinischen Kinder- psychologie erhebliche Fortschritte. Einige wichtige Trends und Neuerungen sol- len genannt werden: Das National Center for Infants, Toddlers, and Families (Zero to Three, 2005) Universitätsbibliothek Basel / University of Basel / 131.152.231.233 (2024-07-03 08:50) publizierte eine revidiertes Klassifikationssystem für Säuglinge und Kleinkinder (bis 3 Jahre), mit dem entwicklungsbedingte Störungen erfasst werden können. Schon 1998 entwickelten Aldridge und Wood Methoden, mit denen sehr junge Kinder (ab 3 Jahre) interviewt werden können; ein praktischer Leitfaden liegt vor, der auch im Bereich der Rechtspsychologie einsetzbar ist (vgl. Kapitel 41 in diesem Band). Petermann und Macha (2013) diskutieren die vielfältigen Erfahrungen mit dem ET 6-6-R, der für Kinder der Altersgruppe zwischen sechs Monaten bis sechs Jahre geeignet ist. Mit diesem Test lässt sich das Entwicklungsprofil eines Kin- des multidimensional abbilden und differenziert Entwicklungsfortschritte über- prüfen. Zudem können mit dem ET 6-6-R frühe Entwicklungs- und Verhaltens- störungen identifiziert werden. Yeates et al. (2010) illustrierten die Einsatzmöglichkeiten der neuropsycholo- gischen Diagnostik im Bereich der Klinischen Kinderpsychologie; ebenso ver- deutlichten Kaufmann et al. (2007), wie durch entwicklungsneuropsychologi- sche Grundlagen neue Diagnose- und Behandlungsstrategien entwickelt werden können (vgl. Kapitel 42 in diesem Band). An diesen Trends wird deutlich, dass sich die Diagnostik in der Klinischen Kin- derpsychologie um neue Ansätze bemüht, mit denen es gelingt, Entwicklungsab- weichungen bereits im frühen Lebensalter zu erkennen. Solche Ansätze werden vermutlich auch in der Lage sein, einige psychische Störungen – wie umschrie- bene und tiefgreifende Entwicklungsstörungen – aussichtsreicher zu behandeln. 5 Perspektiven 5.1 Klinische Jugendpsychologie Obwohl sich die Klinische Kinderpsychologie in den letzten 20 Jahren national und international gut etablierte, konnten sich die entsprechenden Themen des Ju- gendalters kaum als Klinische Jugendpsychologie durchsetzen. Mögliche Ursa- chen für dieses Versäumnis stellt Kasten 4 zusammen. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus F. Petermann: Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (ISBN 9783840924477) © 2013 Hogrefe Verlag, Göttingen. Grundbegriffe und Konzepte der Klinischen Kinderpsychologie 25 Kasten 4: Jugendliche, eine vergessene Zielgruppe – mögliche Gründe Vielfach sind die Leitlinien zur Diagnostik und Therapie psychischer Stö- rungen für das Jugendalter noch unzureichend differenziert ausgearbeitet (vgl. DGKJP, 2007). Im Jugendalter können Verfahren, die man bei Kindern erfolgreich einsetzen kann (z. B. Elterntrainings), kaum oder gar nicht angewandt werden (Peter- mann, 2011). Für Jugendliche existieren kaum spezifische Präventionsprogramme, wenn man vom Drogenbereich absieht (vgl. Kapitel 31 in diesem Band). Im Jugendalter sind Verfahren zur Rückfallprophylaxe (z. B. bei Jugendde- linquenz) nötig, die bislang kaum – zumindest nicht im deutschen Sprach- Universitätsbibliothek Basel / University of Basel / 131.152.231.233 (2024-07-03 08:50) raum – verbreitet sind (vgl. Heekerens, 2006). Für Jugendliche eignen sich vor allem gruppentherapeutische Verfahren, die bislang kaum diskutiert und erprobt werden (vgl. Free, 2007). Bei fast allen psychischen Störungen und auch bei der Bewältigung einer körperlichen Krankheit weisen Jugendliche eine ungünstige Motivationslage auf und sind kaum bereit, aktiv an einer Behandlung mitzuwirken (vgl. Pe- termann & Petermann, 2010). Nehmen Jugendliche aufgrund gesundheitlicher oder sozialer Probleme professi- onelle Hilfe in Anspruch, dann weisen sie neben entwicklungsspezifischen Prob- lemen meist eine Vielzahl von Handicaps auf, die nur durch breitangelegte psy- chische Interventionsprogramme angegangen werden können (vgl. z. B. Petermann & Petermann, 2010). 5.2 Klinische Kinderneuropsychologie Neue Erkenntnisse der Grundlagenforschung führen häufig zu neuen Sichtweisen in der klinischen Praxis. So beschäftigt sich die Klinische Kinderneuropsycholo- gie damit, wie sich vor allem kindliche Hirnfunktionsstörungen auf die psychi- sche und soziale Entwicklung auswirken (vgl. Kaufmann et al., 2007; vgl. Kapi- tel 42 in diesem Band). Hirnfunktionsstörungen können zu unterschiedlichen Zeitpunkten eintreten und bilden ein beträchtliches Entwicklungsrisiko. Unter- schieden werden pränatale Hirnfunktionsstörungen wie die Alkoholembryopathie oder Schwan- gerschaftskomplikationen, perinatale Hirnfunktionsstörungen, etwa die mit einer Frühgeburt verbundenen Komplikationen, und postnatale oder erworbene Hirnfunktionsstörungen in Form von Hirntumoren, neurologischen Erkrankungen oder Schädel-Hirn-Traumen. Die Klinische Kinderneuropsychologie versucht, die neuropsychologischen Fol- gen von Hirnschädigungen zu erfassen und gezielt zu behandeln. Vor diesem Hin- Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus F. Petermann: Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (ISBN 9783840924477) © 2013 Hogrefe Verlag, Göttingen. 26 Franz Petermann tergrund konnten verschiedene Lernstörungen systematisiert und neuropsycholo- gische Faktoren bei der Entwicklung psychischer Störungen identifiziert werden (vgl. u. a. Kapitel 8, 9 und 11 in diesem Band). Aus solchen Ergebnissen werden sich in den nächsten Jahren neue Ansätze zur Diagnostik und Intervention ablei- ten lassen (vgl. Kasten 5). Kasten 5: Ausgewählte Aufgabengebiete der Klinischen Kinderneuropsychologie Neuropsychologische Diagnostik Erfassung der kognitiven und emotionalen Folgen nachgewiesener Hirnschä- digungen (z. B. bei Schädel-Hirn-Traumen oder neurologischen Erkrankun- Universitätsbibliothek Basel / University of Basel / 131.152.231.233 (2024-07-03 08:50) gen), differenzialdiagnostische Abklärung von Lern-, Leistungs- und Verhaltens- störungen unklarer Genese (z. B. bei umschriebenen Entwicklungsstörungen), Abklärung der kognitiven und emotionalen Folgen medizinischer Interven- tionen bei neurologisch kranken Kindern und Jugendlichen (z. B. bei der Strahlentherapie tumorkranker Kinder), Dokumentation des Krankheits- oder Therapieverlaufes bei nachgewiesener Hirnschädigung und entwicklungsneuropsychologische Zuordnung angeborener und früh erwor- bener Hirnfunktionsstörungen (z. B. Beschreibung des kognitiven Phänotyps bei genetischen Syndromen). Neuropsychologische Intervention Behandlung und Training beeinträchtigter Hirnfunktionen nach angebore- nen oder erworbenen Hirnschädigungen (z. B. Aufmerksamkeits- oder Merk- fähigkeitsstörungen), Stärken von individuellen Ressourcen, um gestörte Hirnfunktionen zu kom- pensieren (z. B. Nutzen sprachlicher Codierung bei raumanalytischen Beein- trächtigungen), Neurofeedback oder neuropsychologische Gruppentraining zur Behandlung von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) und Behandlung von Kindern mit nichtverbalen Lernstörungen (z. B. räumlich- konstruktiven Störungen) mit neuropsychologischen Trainingsprogrammen. 5.3 Pädiatrische Psychologie Neue Themen entwickeln sich auch an der Schnittstelle zwischen Klinischer Kinderpsychologie und Kinderheilkunde (vgl. Kapitel 28 in diesem Band). Die- ses Anwendungsgebiet der Klinischen Kinderpsychologie bezeichnet man als Pä- diatrische Psychologie (vgl. Roberts, 2005). In diesem Kontext werden Erkennt- nisse und Methoden auf die Behandlung und Betreuung körperlich kranker Kinder Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus F. Petermann: Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (ISBN 9783840924477) © 2013 Hogrefe Verlag, Göttingen. Grundbegriffe und Konzepte der Klinischen Kinderpsychologie 27 bzw. Jugendlicher übertragen. Hier sollen unter anderem folgende Ziele erreicht werden: Aufbau einer Krankheitseinsicht / Krankheitsakzeptanz, aktive und eigenverantwortliche Mitwirkung bei der Krankheitsbewältigung (= Krankheitsmanagement), Aufbau und Aufrechterhaltung einer langfristigen Therapiemitarbeit (= Com- pliance), um eingetretene oder drohende Krankheitsfolgen zu begrenzen, Sicherung einer optimalen Lebensqualität des chronisch kranken Kindes und seiner Familie und aktive Auseinandersetzung mit der beruflichen und privaten Zukunft. Für die Diagnostik im Bereich der Pädiatrischen Psychologie liegt eine Vielzahl Universitätsbibliothek Basel / University of Basel / 131.152.231.233 (2024-07-03 08:50) krankheitsspezifischer und krankheitsübergreifender Verfahren vor, die Kasten 6 vorstellt. Kasten 6: Ausgewählte Aufgabenfelder der Pädiatrischen Psychologie Pädiatrisch-psychologische Diagnostik Diagnostik psychologischer Belastungen von chronisch kranken Kindern und ihren Familien (Angst, Depression, Stress), Erfassung von Krankheits- und Behandlungskonzepten beziehungsweise krankheits- und behandlungsbezogenen Ängsten, Erfassung der Lebensqualität und Therapiemitarbeit (Compliance), um auf dieser Basis die medizinische Versorgung zu optimieren und Differenzialdiagnostik von funktionellen und somatoformen Störungen. Pädiatrisch-psychologische Intervention Familienberatung bei chronischen und lebensbedrohlichen Krankheiten, Verbesserung des Krankheitsverständnisses sowie des Krankheitsmanage- ments, um auf diese Weise eine langfristige Therapiemitarbeit (Compliance) zu ermöglichen, Behandlung funktioneller und somatoformer Störungen, Einsatz von Verhaltenstrainings, um zum Beispiel Ess- und Bewegungsge- wohnheiten zu verändern, Entwicklung und Optimierung von Patientenschulungsprogrammen, Schmerzbehandlung (z. B. idiopathischer Bauch- und Kopfschmerz) und Abbau von Behandlungsängsten und Vorbereitung auf Operationen oder schmerzhafte Prozeduren (z. B. bei der Zahnbehandlung). Pädiatrisch-psychologische Interventionen kann man grob nach drei Ansätzen ord- nen: Verhaltenstherapeutische (verhaltensmedizinische) Behandlungsansätze, Pa- tientenschulung und Familienberatung. Auf diese Ansätze gehen Noeker und Pe- termann ein. Darüber hinaus wurden in diesem Buch funktionelle und somatoforme Störungen in einem eigenständigen Kapitel berücksichtigt (vgl. Kapitel 34). Sol- che Störungen bilden sowohl im Bereich der Kinderheilkunde als auch Kinder- Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus F. Petermann: Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie