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Pädagogische Psychologie - Lernen und Lehren.pdf

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Kapitel 9 Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Wissenserwerb mit neuen Medien Inhaltsübersicht 9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.3 9.3.1 9.3.2 9.4 9.5 9.5.1 9.5.2 9.6 9.6.1 9.6.2 9.6.3 Einführung....................................................... Die Theorie der...

Kapitel 9 Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Wissenserwerb mit neuen Medien Inhaltsübersicht 9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.3 9.3.1 9.3.2 9.4 9.5 9.5.1 9.5.2 9.6 9.6.1 9.6.2 9.6.3 Einführung....................................................... Die Theorie der kognitiven Belastung............................... Begrenzte Arbeitsgedächtniskapazität für Lernprozesse............ Messung von Lernerfolg und kognitiver Belastung................... Die kognitive Theorie multimedialen Lernens....................... Lernen aus Text und Bild: Struktur und Verlauf der Informationsverarbeitung..................................................... Erklärung des „Multimedia-Effekts“............................... Designprinzipien für Multimedia................................... Theoretische Ergänzungen........................................ Das integrative Modell des Text- und Bildverstehens................ Berücksichtigung affektiver Prozesse.............................. Wechselwirkungen zwischen Lernereigenschaften und instruktionalen Maßnahmen beim Lernen mit Multimedia........... Die ATI-Hypothese................................................ Vorwissen....................................................... Kognitiver Stil.................................................... 230 232 232 234 236 236 238 238 243 243 245 248 248 249 250 Zusammenfassung........................................................ 253 Weiterführende Literatur................................................... 254 Fragen.................................................................... 254 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Computer bieten viele Möglichkeiten Lernen als aktive ­Konstruktion kognitiver Schemata 230 Kapitel 9 9.1 Einführung Computer und das Internet haben Lernumgebungen verändert. Die Veränderungen reichen von flexibleren und erweiterten Präsentationsmöglichkeiten für Medien aller Art (Audiodateien, Filme, Karten, Grafiken, Animationen, dreidimensionale und virtuelle Modelle) über die schnelle Verfügbarkeit von Information jederzeit und überall (z. B. Online-Lexika, Datenbanken und Nachschlagewerke, Online-Mediatheken) bis hin zu fachlich spezifischen Lernprogrammen und Simulationen. Computer sind beim Lernen produktiv nutzbar, z. B. zum Rechnen, zum Erzeugen von eigenen Texten, Grafiken, Präsentationen, Musik, Podcasts oder Videos und zum Programmieren. Das Internet bietet Kommunikationswerkzeuge wie Blogs und Foren, Chats und virtuelle Klassenräume. All dies kann gezielt zur Unterstützung von Lernprozessen eingesetzt werden, garantiert aber noch keinen besseren Lernerfolg. Um erfolgreich zu lernen, müssen Lernende aus den präsentierten Informationen nach wie vor Wissen aktiv konstruieren. Dabei werden die Informationen vor dem Hintergrund existierender Schemata interpretiert, es werden Schemata modifiziert oder neu aufgebaut (vgl. auch Kap. 4). Die Forschung zum Lernen mit neuen Medien hat aus der Perspektive der aktiven Wissenskonstruktion Erkenntnisse zur gezielten Nutzung der multimedialen Präsentationsmöglichkeiten erbracht. In diesem Kapitel wird dargestellt, wie Informationen mit neuen Medien so aufbereitet und dargestellt werden können, dass ein verständiges Lernen mit dem Ziel der kognitiven Schemakonstruktion unterstützt wird. Dabei werden Designprinzipien für die Gestaltung multimedialer Präsentationen erläutert. Interaktivität Lernprogramme können Fragen und Übungen vorgeben, Eingaben von Lernenden entgegennehmen, diese Antworten bewerten und Rückmeldung bereitstellen. Lernprogramme können Eingaben oder Bearbeitungsschritte in Bezug auf das mutmaßliche Wissen der Lernenden analysieren und zielgerichtet Hinweise auf Lösungsschritte geben. Computerbasierte Simulationen können durch Eingriffe der Lernenden fortlaufend in ihrem Zustand verändert werden, womit Lernende Zusammenhänge selbst erschließen oder Handlungsschritte üben können. Lernprogramme können den Lernverlauf dokumentieren und selbstregulative und metakognitive Strategien unterstützen. Im Folgenden werden einige gebräuchliche Formen von Lernprogrammen hinsichtlich ihrer Interaktivität voneinander unterschieden. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Wissenserwerb mit neuen Medien 231 Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Formen von Interaktivität in computerbasierten Lernprogrammen Drill and Practice: Diese Lernprogramme bestehen aus einer Sammlung von Übungsaufgaben, die dazu dienen, bereits Gelerntes zu festigen und zu wiederholen. Typischerweise sind die Übungsaufgaben kleinschrittig und sehr spezifisch, Eingaben sind eindeutig (z. B. soll ein Wort eingegeben werden oder eine Antwort soll aus mehreren Optionen ausgewählt werden). Die Rückmeldung erfolgt unmittelbar und beschränkt sich meist auf eine „richtig/falsch“-Bewertung, verbunden mit dem Anzeigen der richtigen Lösung. Beispiele sind Vokabel- und Grammatikübungen in Fremdsprachenlernprogrammen oder Übungsaufgaben in Mathematiklernprogrammen. Üben Tutorielle Programme: Diese Lernprogramme stellen Sachverhalte dar und erklären Zusammenhänge zu einem Thema. Es werden vielfältige Teilthemen dargestellt; die Möglichkeiten der flexiblen Präsentation (z. B. Text, Grafiken, Animationen, gesprochene Sprache, Video) werden genutzt. Lernprogramme für Fremdsprachen, die für das Selbststudium von Erwachsenen gedacht sind, enthalten Teilthemen wie typische Kommunikationssituationen, Landeskunde, Grammatik, Vokabular sowie Materialien und Übungen zum Lese- und Hörverstehen. Andere Beispiele finden sich im Bereich der Naturwissenschaften. Sachverhalte und ­Zusammenhänge ­verstehen Intelligente tutorielle Systeme bzw. kognitive Tutoren: Diese Lernprogramme streben eine differenzierte Wissensdiagnose des Lernenden an, um gezielt Informationen, Instruktionen und Übungen bereitzustellen. Dafür ist allerdings eine kognitive Modellierung des Wissensgebietes erforderlich. Selbst in abgrenzbaren Gebieten – beispielsweise Algebra, Grammatik, bei chemischen Formeln oder Programmiersprachen – besteht das zu modellierende Wissen aus einer großen Anzahl von prozeduralen Regeln und deklarativen Elementen, wobei sich diese im Lernprozess durch Neuerwerb, Automatisierung, Strategiewechsel, Fehlerkorrektur, Hinzufügen deklarativer Elemente etc. wandeln. Eines von wenigen existierenden Beispielen für funktionierende adaptive Lernprogramme ist der Cognitive Tutor (z. B. Ritter, Anderson, Koedinger & Corbett, 2007), der auf Basis einer ACT-R-Modellierung (vgl. Kap. 4) Lernende beim Lösen algebraischer Umformungen adaptiv unterstützt. Prozedurale Regeln ­erwerben/korrigieren Hypertext und Hypermedia: Hierbei handelt es sich nicht um Lernprogramme, sondern um Datenbanken mit untereinander verknüpften Inhalten. Diese Inhalte können sich um ein Wissensgebiet zentrieren oder ein allgemeines Nachschlagewerk darstellen (Wikipedia ist ein Beispiel für eine solche Datenbank). Neben verknüpften Texten (Hypertext) können beliebige Mediendateien (Hypermedia) enthalten sein. Nachschlagen, ­Recherchieren Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. 232 Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Situiertes Lernen in komplexen ­Umgebungen Kapitel 9 Simulationen und Mikrowelten: Bei diesen Programmen wird ein Ausschnitt der Realität durch ein virtuelles Modell simuliert. Einerseits dienen Simulationen für das Training (Automatisierung) von Handlungsschritten, z. B. für Piloten in Flugsimulatoren oder für Ingenieure in simulierten Kernkraftwerk-Leitständen. Dabei können Situationen hergestellt werden, die in der Realität nicht geübt werden können (z. B. Notfallsituationen, Ausfall von Teilsystemen). Andererseits dienen Simulationen als situierte Problemlöseumgebung. Handlungsschritte sind den Lernenden hier zunächst nicht bekannt; Lernende handeln in einer „authentischen“ Situation, sollen bestimmte Zielgrößen erreichen und gewinnen dabei Einsichten in das Problem. Solche Simulationen betreffen z. B. das Steuern eines Wirtschaftsunternehmens, das Agieren als Fondsmanager einer Bank oder das Regieren einer Kleinstadt. Die meisten heute gebräuchlichen computerbasierten Lernprogramme sind tutorielle Programme und/oder Drill-and-Practice-Programme. 9.2 Die Theorie der kognitiven Belastung 9.2.1 Begrenzte Arbeitsgedächtniskapazität für Lernprozesse Beim Lernen werden neue Informationen in neuen Zusammenhängen verarbeitet (d. h. sie werden neu verknüpft, organisiert, verglichen, berechnet etc.). Wenn kognitive Schemata im Langzeitgedächtnis hierfür nicht zur Verfügung stehen, findet die Informationsverarbeitung – insbesondere die Erarbeitung der Bezüge zwischen den Informationen – im Wesentlichen im Arbeitsgedächtnis statt. Hierfür steht nur eine begrenzte Kapazität zur Verfügung. Daher spielt das Verhältnis zwischen der Menge der neu dargebotenen Informationen bzw. ihrer ­Zusammenhänge und der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses eine zentrale Rolle für den Lernerfolg. Dies ist der Kern der Theorie der kognitiven Belastung (Cognitive Load Theory, CLT; vgl. auch Kap. 2): „Jedes Instruktionsdesign, das Arbeitsgedächtnisbeschränkungen ignoriert, ist unzulänglich“ (Sweller, van Merriënboer & Paas, 1998). Übersteigt die zu verarbeitende Information die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, dann ist die kognitive Belastung zu hoch; das Lernen ist beeinträchtigt. Dies kann aber vermieden werden. Die Theorie der kognitiven Belastung unterscheidet verschiedene Arten der kognitiven Belastung: Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Wissenserwerb mit neuen Medien 233 Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) 1. intrinsische kognitive Belastung, die auf die Komplexität des Lerninhalts zurückgeht (intrinsic cognitive load, ICL), 2. irrelevante kognitive Belastung, die auf die äußerliche Gestaltung des Instruktionsmaterials zurückgeht und das Lernen unnötigerweise behindert (extraneous cognitive load, ECL), 3. relevante, auf das Lernen bezogene kognitive Belastung, die vom Lernenden zum Verständnis des Inhalts investiert wird (germane cognitive load, GCL; das englische Wort germane bedeutet hier so viel wie „relevant, wirklich, wahr“). Lerninhalt Gestaltung Lernanstrengung Die drei Arten von Belastungen müssen sich eine gegebene Arbeitsgedächtniskapazität teilen. Ist beispielsweise ECL hoch, dann steht weniger Kapazität für die Verarbeitung von Beziehungen zwischen Elementen des Lernmaterials (ICL) und gleichfalls weniger Kapazität für lernförderliche Prozesse (GCL) zur Verfügung. Intrinsische kognitive Belastung (ICL) Die Komplexität ist zunächst eine dem zu lernenden Gegenstand inhärente Eigenschaft. Unter Komplexität wird dabei nicht die Menge an Informationen an sich verstanden, sondern die Menge an Bezügen zwischen den Elementen, die mental konstruiert werden müssen, um die Lernaufgabe erfolgreich bearbeiten zu können. Dies wird als „Element-Interaktivität“ bezeichnet. Ein komplexer Text mit vielen (den Lernenden neuen) aufeinander bezogenen Begriffen und Konzepten besitzt eine hohe Interaktivität zwischen seinen Elementen. Denn um den Text zu verstehen, muss stets ein Großteil von Informationen und Bezügen gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis aktiviert gehalten werden. Das Lernen einer langen Liste von Vokabeln mag ebenfalls umfangreich erscheinen, die Interaktivität der Elemente ist jedoch niedrig: Hier muss immer nur ein fremdsprachliches Wort einem Wort der eigenen Sprache zugeordnet werden. Für das Arbeitsgedächtnis stellt dies keine besondere Belastung dar. Wenn jedoch mehr Vorwissen vorhanden ist, lassen sich Schemata im Langzeitgedächtnis aktivieren; dadurch wird das Arbeitsgedächtnis entlastet. Lernende, die bereits Konzepte kennen, die in einem Text vorkommen und diese leicht im Langzeitgedächtnis aktivieren können, müssen diese Elemente nicht im Arbeitsgedächtnis „ins Bewusstsein rufen“ und dort aktiviert halten. Intrinsische kognitive Belastung hängt also von der Element-Interaktivität des Lerngegenstandes und dem Vorwissen in Form existierender kognitiver Schemata ab, das in die Lernaufgabe eingebracht werden kann. Element-Interaktivität: Bezüge zwischen ­Elementen Passendes Vorwissen reduziert ICL Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. 234 Kapitel 9 Irrelevante kognitive Belastung (ECL) Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Ungünstige Gestaltung belastet das ­Arbeitsgedächtnis Diese Belastung des Arbeitsgedächtnisses kommt durch eine (ungünstige) Gestaltung des Lernmaterials zustande. Wenn beispielsweise aufeinander bezogene Elemente im Lernmaterial schwierig aufzufinden sind oder wenn es im Lernmaterial unnötige zusätzliche Informationen gibt, so binden diese einen Teil der Arbeitsgedächtniskapazität. Das stellt eine kognitive Belastung dar, weil die damit gebundene Arbeitsgedächtniskapazität nicht für lernrelevante kognitive Aktivitäten zur Verfügung steht. So können Lernende beispielsweise gezwungen sein, unnötige Suchprozesse im Lernmaterial durchzuführen. Im Moment des Suchens verlieren wichtige Informationen im Arbeitsgedächtnis an Aktivität und können nicht mehr in die Verarbeitung einbezogen werden. Die irrelevante kognitive Belastung soll so weit wie möglich vermieden werden. Eine ganze Reihe von Designprinzipien für Multimedia sind entwickelt worden, um die irrelevante kognitive Belastung zu reduzieren (vgl. Abschnitt 9.4). Lernförderliche kognitive Belastung (GCL) Anstrengung der ­Lernenden, Informationen lernförderlich zu verarbeiten Wenn sich Lernende anstrengen, Zusammenhänge zwischen Informationen zu verstehen (z. B. nachdenken, rechnen, vergleichen, ordnen, erneut lesen, sich selbst erklären, elaborieren, zusammenfassen, wiederholen etc.), investieren sie kognitive Ressourcen in lernförderlicher Weise. Aus Sicht der Theorie ist auch dies eine kognitive „Belastung“, aber es ist eine positive und wünschenswerte. Somit ist es das Ziel von Instruktionen und der Gestaltung von Lernmaterialien, lernförderliche Prozesse anzuregen und zu unterstützen. Dies kann beispielsweise in Form von Hinweisen auf verständnisfördernde Aktivitäten geschehen (z. B. „Versuche dir zu erklären, warum diese Umformung zu diesem Ergebnis geführt hat“ oder „Erstelle eine Zeichnung mit den wesentlichen Konzepten und ihren Relationen“). 9.2.2 Messung von Lernerfolg und ­kognitiver ­Belastung In einem typischen Lernexperiment, das auf Prinzipien der Theorie der kognitiven Belastung basiert, werden Instruktionsmaterialien zwischen Lerngruppen variiert. Die Lerngruppen lernen die gleichen Inhalte und erhalten anschließend die gleichen Wissenstests. Eine Experimentalgruppe erhält jedoch beispielsweise Material, in dem eine lernförderliche instruktionale Maßnahme umgesetzt wurde. Eine Kontrollgruppe erhält Lernmaterial, welches diesen Vorzug nicht aufweist. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Wissenserwerb mit neuen Medien 235 Um den Lernerfolg zu messen, werden aufwendige Wissenstests kon­ struiert, die unterschiedliche Aspekte erfassen. Ein Aspekt ist die einfache Wiedergabe des Gelernten. Von besonderem Interesse sind jedoch Transferaufgaben. Hier soll das gelernte Wissen eingesetzt werden, um ein noch unbekanntes Problem zu lösen, eine Vorhersage zu machen oder ein im Material nicht erläutertes Phänomen zu erklären. Diese Transferaufgaben können besser gelöst werden, wenn das zugrundeliegende kognitive Schema beim Lernen verstanden wurde. Wenn nun Lernende der Experimentalgruppe den Lernenden der Kontrollgruppe besonders in den Transferaufgaben überlegen sind, kann das als (indirekter) Hinweis darauf gewertet werden, dass die Aufbereitung des Instruktionsmaterials dazu beigetragen hat, das Arbeitsgedächtnis besser auszunutzen, um kognitive Konstruktionsprozesse zu fördern. Man schließt also insbesondere von den Ergebnissen aus den Transferaufgaben (im Vergleich Experimental- vs. Kontrollgruppe) auf den Lernerfolg und die kognitive Belastung während des Lernens zurück. Es wäre nun wünschenswert, die von der Theorie postulierten unterschiedlichen Arten kognitiver Belastung auch direkt messen zu können. Die Messung bereitet allerdings Schwierigkeiten. Subjektive Einschätzungen, bei denen Lernende angeben sollen, wie stark sie sich angestrengt haben und wie schwierig die Aufgabe für sie war, sind zwar verbreitet. Allerdings korrelieren diese Angaben gewöhnlich substanziell miteinander. Es fällt Lernenden möglicherweise schwer, in retrospektiv-subjektiver Weise die unterschiedlichen Arten der Belastung auseinanderzuhalten. Oft wird daher auf ein globales, eindimensionales Maß der kognitiven Belastung bzw. des mental effort zurückgegriffen (Paas, Tuovinen, Tabbers & Van Gerven, 2003). Eine Alternative zu subjektiven Einschätzungen stellt die Verwendung von Zweitaufgaben dar. Während des Lernens mit dem Lernmaterial erscheint dabei eine einfache Zweitaufgabe, auf die z. B. mit einem Tastendruck zu reagieren ist (Brünken, Plass & Leutner, 2003), auch eine kontinuierlich auszuführende motorische Zweitaufgabe wie das beständige Klopfen eines Rhythmus ist möglich (Park & Brünken, 2015). Ist die Leistung (Fehler, Reaktionszeiten) in der Zweitaufgabe in einer bestimmten Lernbedingung schlechter als in einer anderen Lernbedingung, so muss es in dieser Lernbedingung eine höhere kognitive Belastung gegeben haben, da es offenkundig weniger Kapazität für die Bearbeitung der Zweitaufgabe gab. Der mögliche Nachteil dieser Methode ist ihre Reaktivität. Es ist nicht auszuschließen, dass sich die Bearbeitung der eigentlichen Lernaufgabe durch die Zweitaufgabe ändert bzw. dass sich die Variabilität erhöht, da Lernende entscheiden, ob sie sich mehr der Lernaufgabe oder mehr der Zweitaufgabe widmen. Transfer des Gelernten Subjektive ­Einschätzung kognitiver Belastung Zweitaufgabe Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Codes (verbal, ­visuell-räumlich) Modalitäten (Sehen, Hören) 236 Kapitel 9 9.3 Die kognitive Theorie multimedialen Lernens 9.3.1 Lernen aus Text und Bild: Struktur und Verlauf der Informationsverarbeitung Die kognitive Theorie multimedialen Lernens (Cognitive Theory of Multimedia Learning, CTML; Mayer, 2005) beschreibt das Lernen aus Texten und Bildern. Auch hier spielt das Arbeitsgedächtnis die zentrale Rolle. Die Theorie bezieht den Umstand ein, dass die Informationsverarbeitung mit unterschiedlichen Codes und Modalitäten operiert. Informationen können über die visuelle Modalität (Sehen) oder über die auditive Modalität (Hören) aufgenommen werden. Informationen können verbal (sprachlich) kodiert sein oder visuell-räumlich (z. B. in Bildern und Grafiken). Die Theorie orientiert sich am Arbeitsgedächtnismodell von Baddeley (z. B. Baddeley, 1999; vgl. Kap. 4). Dieses Arbeitsgedächtnismodell unterscheidet zwischen einem phonologischen Kurzzeitspeicher und einem visuell-räumlichen Kurzzeitspeicher. Diese beiden Speicher können unabhängig voneinander sprachliche Informationen und visuellräumliche Informationen vor-verarbeiten und kurzfristig aktiviert halten. Aus Sicht der kognitiven Theorie multimedialen Lernens erscheint es sinnvoll, die visuelle Modalität (Sehen) für räumlich und bildhaft kodierte Inhalte zu nutzen, während die auditive Modalität (Hören) für verbal kodierte Inhalte (Sprache) genutzt werden kann. Abbildung 24 zeigt den angenommenen Verlauf der Informationsverarbeitung (von links nach rechts) gemäß der kognitiven Theorie multimedialen Lernens. Die Wörter und Bilder der Multimedia-Präsentation („Input“) sind ganz links dargestellt. Bilder werden stets visuell wahrgenommen und MultimediaPräsentation Sensorischer Speicher Wörter Auditiver Speicher Selektion von Wörtern Visueller Speicher Selektion von Bildern Arbeitsgedächtnis Akustische Abbilder Organisation von Wörtern Visuelle Abbilder Organisation von Bildern Verbales Modell Langzeitgedächtnis Integration Vorwissen Bilder Abbildung 24: Bildhaftes Modell Verlauf der Informationsverarbeitung in der kognitiven Theorie multimedialen Lernens Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Wissenserwerb mit neuen Medien 237 gelangen daher in den visuellen sensorischen Speicher. Gesprochene Sprache erhält Eingang in den auditiven sensorischen Speicher, geschriebene Sprache gelangt jedoch zunächst in den visuellen sensorischen Speicher. Nach Mayer (2005) kommen aus dem sensorischen Speicher im Arbeitsgedächtnis mehr oder weniger unverarbeitete Abbilder an (visuelle Abbilder von Bildern und akustische Abbilder von gesprochenen Wörtern), und zwar nach einem Selektionsprozess, der Aufmerksamkeit bedarf. Wie die Pfeile zwischen den visuellen und akustischen Abbildern andeuten, können diese Abbilder ineinander überführt werden: So kann beispielsweise das gesprochene Wort „Pferd“ in ein mentales visuelles Abbild eines Pferdes konvertiert werden. Im Kern geht die kognitive Theorie multimedialen Lernens von drei Annahmen aus: 1. Zwei Kanäle. Die auditive Modalität kann für die Übermittlung von sprachlicher Information genutzt werden, und gleichzeitig kann die visuelle Modalität für die Übermittlung von visuell-räumlicher Information genutzt werden. Damit existieren zwei Verarbeitungskanäle, die sich bei bestimmten Verarbeitungsschritten wechselseitig wenig stören. Die initialen Verarbeitungsschritte (Eingang in sensorische Speicher, Wahrnehmung, Erkennen) laufen unabhängig ­voneinander ab, und auch im Arbeitsgedächtnis existieren Speicherkapazitäten für Zwischenprodukte beider Kanäle. Damit korrespondierend ist auch unser Langzeitgedächtnis nicht einheitlich: Informationen werden nicht nur in propositionaler Form in einem semantischen Netzwerk gespeichert. Das Langzeitgedächtnis enthält zusätzlich bildhafte und räumliche Informationen (dual coding; Paivio, 1990). Damit ist die Annahme eigener mentaler Modelle je in einem sprachlichen Code und in einem visuell-räumlichen Code plausibel. Grenzen findet die wechselseitige Unabhängigkeit bei allen Prozessen, die Aufmerksamkeit erfordern (Selektion, Organisation, Integration). Auch die Transformation der Information von einem Kanal in den anderen („Pferd“) kostet Verarbeitungskapazität. 2. Kapazitätsbegrenzung. Sowohl die Menge an Information pro Kanal als auch die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses als Ganzes sind begrenzt. Mentale Modelle im Arbeitsgedächtnis basieren daher auf selektierten Informationen. 3. Aktive Verarbeitung. Aus einer Multimedia-Präsentation lernt man nicht dadurch, dass die Information „aufgenommen“ wird, sondern dadurch, dass man sie aktiv verarbeitet. Hierzu zählen die kognitiven Prozesse des Auswählens (Selektion der wichtigen Begriffe und Beschreibungen von Zusammenhängen), der Organisation der ausgewählten Informationen in mentale Repräsentationen (z. B. hin- Verarbeitungskapazität in zwei Kanälen Zwei Codes Aktive Lernprozesse: Selektion, Organisation, Integration Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. 238 Kapitel 9 sichtlich der kausalen Zusammenhänge) sowie die Integration dieser entstandenen mentalen Repräsentationen miteinander sowie mit relevantem Vorwissen, welches im Langzeitgedächtnis aktiviert werden muss. Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) 9.3.2 Erklärung des „Multimedia-Effekts“ Es ist leicht demonstrierbar, dass bestimmte Inhalte besser verstanden und gelernt werden, wenn sie „multimedial“ präsentiert werden. Dies bedeutet, dass eine Präsentation, die aus visuell-räumlicher Information zusammen mit darauf bezogener sprachlicher Information besteht, ein vertiefteres Verständnis für Zusammenhänge ermöglicht als eine Präsentation, die entweder nur aus Text oder nur aus Bildern besteht. Besseres Lernen mit Bild + Text Typische MultimediaPräsentationen Dieser „Multimedia-Effekt“ wird von der kognitiven Theorie multimedialen Lernens wie folgt erklärt: Gesprochener oder geschriebener Text resultiert in einem verbalen mentalen Modell. Bilder führen zu einem visuell-räumlichen mentalen Modell. Wird mit Texten und Bildern gelernt, so sollte sich dies folglich sowohl in einem verbalen mentalen als auch in einem bildhaften mentalen Modell niederschlagen, die zu einem integrierten mentalen Modell zusammengeführt werden können. Wird hingegen nur mit Text gelernt, so resultiert zwar ein verbales mentales Modell. Es ist aber weniger wahrscheinlich, dass zusätzlich ein (qualitativ gutes und vollständiges) bildhaftes mentales Modell erzeugt wird. Folglich sollte daher auch das integrierte mentale Modell unvollständig bzw. qualitativ schlechter sein. Dies spiegelt letztlich ein schlechteres Verständnis des zu vermittelnden Sachverhalts wider. Allerdings sollte hinzugefügt werden, dass die Theorie anhand von Lernmaterialien entwickelt wurde, die bestimmte Eigenschaften haben. Die typischen Multimedia-Präsentationen sind kurz (zwei bis fünf Minuten, 200 bis 500 Wörter) und behandeln naturwissenschaftliche und technische Themen (z. B. Funktionsweise einer Luftpumpe, Entstehung eines Vulkanausbruchs, Entstehung eines Gewitters, Funktionsweise von Trommelbremsen). Die gezeigten Bilder haben eine wichtige Lernfunktion und zeigen relevante räumliche Strukturen, Zusammenhänge und Veränderungen am Lerngegenstand. 9.4 Designprinzipien für Multimedia Die Theorie kognitiver Belastung (CLT) und die kognitive Theorie multimedialen Lernens (CTML) haben bezüglich einer Reihe von Gestal- Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Wissenserwerb mit neuen Medien 239 tungsmöglichkeiten für Lernmaterialien ähnliche Befunde und Empfehlungen erbracht. Aus Sicht der Theorie kognitiver Belastung geht es dabei vornehmlich um die Reduzierung von irrelevanter kognitiver Belastung. Die Argumentation der kognitiven Theorie multimedialen Lernens ist in den meisten Fällen gleichlautend; die Gestaltungsmöglichkeiten beziehen sich hier vor allem auf die Kombination von Bild und Text (für eine Zusammenfassung siehe Mayer, 2005). Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Verteilte Aufmerksamkeit Beim Lernen mit Bild und Sprache verfügen Lernende über mehrere Informationsquellen, deren Elemente aufeinander bezogen werden müssen. Liegt die sprachliche Information beispielsweise schriftlich als Text vor und bezieht sie sich auf eine Abbildung (z. B. ein Diagramm oder ein Schaubild), so müssen die zu verbindenden Informationen oft in verschiedenen Teilen (Text, Bild) der Präsentation „zusammengesucht“ werden. Diese Suchprozesse führen zu irrelevanter kognitiver Belastung. Während des Suchens geraten lernrelevante, zuvor aktivierte Elemente in den Hintergrund. Suchprozesse zwischen Elementen reduzieren Kontiguität Die kognitive Theorie multimedialen Lernens formuliert zum Pro­blem der Aufmerksamkeitsverteilung ein räumliches sowie ein zeitliches Kontiguitätsprinzip: Zusammen gehörende Informationen sollten so nah beieinander wie möglich präsentiert werden. Es ist beispielsweise möglich, in einer Bedienungsanleitung alle Beschriftungen im Schaubild räumlich direkt bei den Elementen zu zeigen (anstatt diese in der Abbildung mit Nummern zu versehen und eine nummerierte Liste separat zu präsentieren). Es ist möglich, Erläuterungen zu Abläufen in einem Schaubild direkt an den relevanten Positionen zu platzieren, anstatt die Abläufe separat in einem Text zu schildern. Auch ist es möglich, Formeln, aus denen sich eine Grafik ergibt, direkt in die relevanten Stellen der Grafik zu setzen. Solcherart „integrierte“ Formate helfen dem Verständnis, da Suchprozesse vermieden werden. Das zeitliche Kontiguitätsprinzip bezieht sich auf die Synchronisation von gesprochener Sprache zu Bildern oder Animationen in Multimedia-­ Präsentationen. Integrierte Formate Synchronisation Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. 240 Kapitel 9 Modalität Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Text gesprochen (Audio) darbieten, wenn mit Bild verknüpft Einflüsse von Lernzeit, Lernerkontrolle und Textlänge Verbale Information (Sprache) kann entweder gesprochen (auditive Modalität) oder geschrieben (visuelle Modalität) präsentiert werden. Beide Theorien behaupten, dass gesprochener Text besser sei als geschriebener Text, wenn die Lerneinheit aus Bildern und Text besteht. Die Theorien beziehen sich hierbei auf die partiell unabhängig funktionierenden Kanäle bzw. Arbeitsgedächtnisressourcen für sprachliche vs. für bildhafte Information (wie in Abschnitt 9.3.1 erläutert). Wird Text nicht gesprochen, sondern geschrieben dargeboten, dann wird er zunächst im visuellen System verarbeitet; damit bleibt der auditive Kanal ungenutzt und die bildlichen und sprachlichen Informationen müssen sich die visuellen Verarbeitungskapazitäten „teilen“. Bei gesprochener Sprache kann man hingegen der verbalen Information folgen, während man gleichzeitig das Bild betrachtet. Das soll die Inte­ gration erleichtern. Der Modalitätseffekt ist oft bestätigt worden. Es gibt jedoch Situationen, in denen er nicht auftritt. Ist geschriebener Text ins Bild integriert (verwendet man also ein „integriertes“ Format), so verschwindet häufig die Überlegenheit von gesprochenem gegenüber geschriebenem Text. Außerdem tritt der Modalitätseffekt vor allem auf, wenn Lernende keine Kontrollmöglichkeit über die multimediale Lernumgebung haben (d. h. wenn sie als Animation oder Film „durchläuft“, ohne dass sie angehalten oder darin navigiert werden kann) und wenn es sich um relativ kurze Texte handelt. Wenn Lernende Kontrollmöglichkeiten haben und sich ausreichend viel Zeit zum Lernen nehmen können, verschwindet der Vorteil von gesprochenem gegenüber geschriebenem Text und kehrt sich gegebenenfalls sogar um (z. B. Crooks, Cheon, Inan, Ari & Flores, 2012; Schüler, Scheiter & Gerjets, 2013). Ferner zeigt sich, dass ein geschriebener Text besser verarbeitet und gelernt werden kann als ein gesprochener Text, wenn es sich um lange Lerneinheiten handelt (wie es bspw. bei einem Lehrbuchkapitel der Fall wäre; Tabbers, Martens & van Merriënboer, 2004). Dies liegt vermutlich darin begründet, dass bei längeren, informationsreichen Texten andere Zugänge und Lernstrategien (Überblick verschaffen, die konzeptuelle Struktur verstehen, Informationen reduzieren und zusammenfassen, Informationen auf höherem Abstraktionsgrad organisieren) im Vordergrund stehen als bei kürzeren Multimedia-Präsentationen, bei denen ein begrenzter Zusammenhang thematisiert wird. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Wissenserwerb mit neuen Medien 241 Redundanz Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Wenn in Lernmaterialien die gleiche Information mehrfach (z. B. sowohl im Bild als auch im Text) vorkommt, führt dies nicht zu einer Verbesserung, sondern zu einer Verschlechterung für das vertiefte Verständnis. Die Theorie der kognitiven Belastung betrachtet Redundanz als irrelevante Belastung, denn die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses wird mit redundanter Information unnötig verringert. Mehrfach dieselbe Information zu erfassen, führt nicht zu einer Verbesserung des Lernens von Zusammenhängen. Der lernhinderliche Effekt von redundanter Information tritt vor allem dann auf, wenn sich diese kaum ignorieren lässt. Wenn „integrierte“ Formate gewählt werden und hier Redundanz vorliegt, wirkt diese lernhinderlich. Wenn Informationsquellen getrennt voneinander sind, wirkt Redundanz weniger lernhinderlich – möglicherweise kann re­ dundante Information (wenn sie als solche erkannt wird) hier besser ignoriert werden. Die kognitive Theorie multimedialen Lernens hat sich mit Redundanz hauptsächlich in Bezug auf geschriebene und gesprochene Sprache in den typischen (vergleichsweise kurzen) Multimedia-Lerneinheiten befasst. Hier tritt lernhinderliche Redundanz auf, wenn zum gesprochenen Text gleichzeitig der identische Text in geschriebener Form präsentiert wird. Einerseits kann man dies mit der Überlastung des visuellen Verarbeitungskanals erklären; andererseits mit ­zusätzlichen Abgleichprozessen zwischen gesprochenem und geschriebenem Text. Auch das Redundanzprinzip gilt nicht in jeder Situation. Lernförderlich ist es beispielsweise, wenn zu gesprochenem Text und zu Bildern die wichtigsten Stichwörter auch schriftlich erscheinen (z. B. Mayer & Johnson, 2008). Das Redundanzprinzip gilt auch nicht im Kontext des Lernens von Fremdsprachen. Bei filmischen Spielszenen kann die gesprochene Sprache mit Untertiteln ergänzt werden. Hier zeigt sich, dass Untertitel in der Fremdsprache besser sind als keine Untertitel und außerdem besser als Untertitel in der Muttersprache (z. B. Adesope & Nesbit, 2012). Redundanz vermeiden Text nicht ­geschrieben und gesprochen ­darbieten Stichwörter Untertitel Kohärenz als relevante Darbietung Nicht nur redundante, auch gänzlich irrelevante Information soll vermieden werden, selbst wenn diese „interessant“ oder „motivierend“ wirken soll. Aus den kognitiven Theorien lässt sich ableiten, dass die Verarbeitung ggf. interessanter, aber irrelevanter Information im kapazitätsbegrenzten Arbeitsgedächtnis mit lernrelevanten Prozessen Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. 242 Auf interessante, aber unwichtige Information verzichten Kapitel 9 konkurriert. Lernhinderlich wird die irrelevante Information, wenn sie von den relevanten Informationen ablenkt, die tiefere Verarbeitung der relevanten Informationen behindert und Prozesse der Selektion, Organisation und Integration stört. Mit Kohärenz ist hier also die in sich geschlossene Darbietung der relevanten Informationen gemeint. Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Kohärenz zwischen Bild und Text Der Begriff der Kohärenz tritt noch in einer weiteren Bedeutung auf. Hierbei wird unter Kohärenz die sinnstiftende Verbindung zwischen Informationen aus unterschiedlichen Repräsentationen (Text, Bild) verstanden (Brünken, Seufert & Zander, 2005). Da Lernende möglicherweise solche Zusammenhänge übersehen oder eigene Suchprozesse dafür eingesetzt werden müssten, können Kohärenzbildungshilfen die Zusammenhänge explizit machen, beispielsweise durch Signalisierungsmaßnahmen. Signalisierung Beziehungen zwischen Elementen hervorheben Mit „Signalisierungen“ (z. B. durch Hervorhebung, räumliche Gliederung, Einsatz von Farben zur Markierung von Zusammengehörigkeit) können kognitive Prozesse unterstützt werden. Die kognitive Theorie multimedialen Lernens beschreibt Prozesse der Selektion, Organisation und Integration. Die Selektion kann beispielsweise durch Hervorheben relevanter Bereiche in Bildern und durch Fettdruck von Schlüsselwörtern erleichtert werden. Die Organisation kann beispielsweise durch die Markierung von Reihenfolgen und von kausalen Zusammenhängen (z. B. durch Pfeile) in Bildern erleichtert werden. Die Integration kann durch Zeigen von Zusammenhängen zwischen Elementen in Bild und Text (z. B. durch Farben, durch „integrierte“ Formate) erleichtert werden. Diese Erleichterungen entlasten das Arbeitsgedächtnis und ermöglichen dadurch mehr freie Kapazität für konstruktive Lernprozesse. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Wissenserwerb mit neuen Medien 9.5 Theoretische Ergänzungen 9.5.1 Das integrative Modell des Text- und ­Bildverstehens 243 Die kognitive Theorie des Lernens mit Multimedia beschreibt relativ „frühe“ Verarbeitungsprozesse, Repräsentationsmöglichkeiten im Arbeitsgedächtnis und dessen Limitierung recht detailliert. Wie aber die konstruktiven und integrativen Prozesse für Text- und Bildinformation ablaufen, wird in dieser Theorie kaum thematisiert. Das integrative Modell von Schnotz (2001b, 2005) betont hingegen die verständnisstiftenden, aktiven Verarbeitungsprozesse, die bei Texten, Bildern und Diagrammen ausgeführt werden. Textverstehen bedeutet, den Sinnzusammenhang aus den dargebotenen Symbolen mithilfe von syntaktischen Regeln und der semantischen Zusammenhänge zu konstruieren und die sprachliche Oberfläche in eine mentale Repräsentation zu überführen. Diese besteht aus Propositionen (bedeutungstragende semantische Einheiten; vgl. Kap. 4). Auf der Ebene des Textes muss sowohl eine lokale Kohärenz (syntaktisches und semantisches Verständnis von Sätzen) als auch eine globale Kohärenz (Erkennen von Zusammenhängen, Unter- und Überordnungen, Bedeutungen, kausalen Wirkungen etc. in größeren Abschnitten) aufgebaut und aktiviert gehalten werden. Das fällt umso leichter, je mehr Vorwissen zu den relevanten Schemata im Langzeitgedächtnis aktiviert werden kann. Die Wissenskonstruktion besteht aus sich ergänzenden Top-down- und Bottom-up-Prozessen (vgl. Kap. 4). Bei den Bildern unterscheidet Schnotz (2001b) zwischen „realistischen“ Bildern (hier Abbilder genannt) und Diagrammen. Die Abbilder weisen mit dem abgebildeten Gegenstand Ähnlichkeit auf. Der Lernende kann den abgebildeten Lerngegenstand als solchen „auf einen Blick erkennen“. Ein Abbild kann allerdings auch tiefergehend semantisch analysiert werden. Bewusste, sequenzielle Verarbeitungsprozesse entnehmen dem Abbild bedeutsame Informationen und überführen sie in eine propositionale Form (z. B. Erkenntnisse zu räumlichen Verhältnissen, Konstruktionsmerkmalen, mögliche Veränderungen durch kausale Wirkungen etc.). Diagramme hingegen zeigen keine Gegenstände, sondern Verhältnisse, die mit einem Sachverhalt in einer Analogierelation stehen. Diagramme erlauben das Erfassen von Verhältnissen, Unterschieden, Zusammenhängen zwischen visualisierten Elementen (Daten, Mittelwerten etc.) durch räumliche Verhältnisse (z. B. größer als, übergeordnet – untergeordnet). Semantische Text-­ Repräsentation ­(Propositionen) Abbilder von realen ­Gegenständen Diagramme für ­Beziehungen in Daten Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. 244 Abbilder wie Diagramme unterliegen einer präattentiven, „automatischen“ (und schnellen) Verarbeitung der visuell-räumlichen Informationen. Um ein Abbild oder ein Diagramm jedoch wirklich zu verstehen, ist eine zielgerichtete, aufmerksame Verarbeitung notwendig. An einem Diagramm können verschiedene Attribute abgelesen werden, beispielsweise Einzelinformationen (z. B. Wert von Y an einer bestimmten Stelle von X), vor allem aber die durch räumliche Bezüge visualisierten Zusammenhänge zwischen Elementen (z. B. zunehmender Trend vs. abnehmender Trend, Größenunterschiede von Balken). Hilfreich können dabei grafische Hervorhebungen sein sowie eine Gestaltung, bei der die frühen Wahrnehmungsprozesse nicht im Widerspruch zu semantischen Analyseprozessen stehen. Ergebnis der Verarbeitung sowohl von Abbildern als auch von Diagrammen sind mentale Modelle, die in einer räumlich-visuellen Kodierung repräsentiert sind. Das integrative Modell sieht zwei Verarbeitungsstufen jeweils für verbale Information und für Bilder (Abbilder bzw. Diagramme) vor (vgl. Abb. 25). In der ersten Verarbeitungsstufe entsteht für Text eine sprachliche Oberflächenrepräsentation, in der zweiten die daraus konstruierte (und fortlaufend ergänzte) propositionale Repräsentation. Für Bil- konzeptuelle Organisation mentales Modell thematische Selektion piktoriale Organisation Wahrnehmung subsemantische Verarbeitung verbale Organisation visuelle Wahrnehmung/ Vorstellung Abbildung analoger Strukturen Modellinspektion Textoberflächenrepräsentation Text Abbildung 25: Modellkonstruktion semantische Verarbeitung propositionale Repräsentation Analyse von Symbolstrukturen Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Lese- und Verarbeitungs­prozesse bei ­Diagrammen Kapitel 9 Bild/Diagramm Das integrative Modell zum multimedialen Lernen von Schnotz (2001b) Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Wissenserwerb mit neuen Medien 245 der entsteht auf der ersten Stufe eine visuelle Wahrnehmung und auf der zweiten Stufe das daraus konstruierte mentale Modell. Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Aus den ursprünglich aus einem Text konstruierten Propositionen können mentale Modelle abgeleitet werden, sie können also in den visuell-­ räumlichen Code überführt werden. Umgekehrt können die visuellräumlichen mentalen Modelle „inspiziert“ und ggf. „mental animiert“ werden. Dabei entstehen wiederum Propositionen. Aus diesen Prozessen ergibt sich die Integration zwischen Text und Bild. Transformationen ­zwischen mentalen ­Modellen In einer späteren Fassung (Schnotz, 2005) ist das Modell entlang (1) sensorischer Repräsentationen, (2) Repräsentationen im Arbeitsgedächtnis und (3) Repräsentationen im Langzeitgedächtnis strukturiert worden. Außerdem wurde es um detailliertere Annahmen zu Prozessen und Zwischenrepräsentationen (sensorische Repräsentationen, spezielle Kodierungen im Arbeitsgedächtnis) ergänzt, u.a. um die Prozesswege für visuell vs. auditiv dargebotenen Text aufzuschlüsseln. Es ist damit der kognitiven Theorie multimedialen Lernens ähnlicher geworden. 9.5.2 Berücksichtigung affektiver Prozesse Es ist intuitiv gut vorstellbar, dass der Lernerfolg bei der aktiven Wissenskonstruktion auch von affektiven (emotionalen, motivationalen) Zuständen der Lernenden abhängt. Auf der einen Seite könnte eine emotional positive Gestimmtheit das Lernen generell erleichtern. Auch die Gestaltung des multimedialen Lernmaterials könnte auf der affektiven Ebene wirken und dadurch die Lernbereitschaft beeinflussen. Ein freundlich wirkendes, „emotionales“ Design von Multimedia könnte beispielsweise die Bereitschaft, sich den Lerngegenständen zuzuwenden, steigern (Plass, Homer & Hayward, 2009) und daher den Lernerfolg erhöhen. Lebendig gestaltete Zusatzbilder oder Zusatzinformationen könnten situationales Interesse erwecken, Langeweile entgegenwirken und damit positiv auf die Motivation Einfluss nehmen (Efklides, Kourkoulou, Mitsiou & Ziliaskopoulou, 2006). Auf der anderen Seite könnten sogar unangenehme Zustände, wie sie z. B. einen kognitiven Konflikt bei der Verarbeitung widersprüchlicher Informationen begleiten, dazu motivieren, aktive lernförderliche Anstrengungen zu unternehmen (D’Mello, Lehman, Pekrun & Graesser, 2014). Einflüsse von Emotionen auf Lernprozesse Um ein vollständiges Bild des Lernens mit Multimedia zu zeichnen, hat Moreno (2006) die bisherigen kognitiv orientierten Modelle um weitere Einflussgrößen ergänzt. Demnach können motivationale Faktoren das aktive (letztlich kognitive) Engagement abschwächen oder Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. 246 Kapitel 9 Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) erhöhen (vgl. Kap. 7). Darüber hinaus können selbstregulative Prozesse eingreifen, um kognitive und affektive Prozesse willentlich zu beeinflussen (vgl. Kap. 8). Schließlich bestehen Unterschiede zwischen Lernenden, die auf verschiedenen Ebenen (Vorwissen, Fähigkeiten, Lernstile) wirken und dadurch das Lernen effizienter oder weniger effizient machen. Das resultierende Modell ist eine umfassende Theorie des Lernens mit Multimedia (Cognitive-Affective Theory of Learning with Media, CATLM; z. B. Moreno, 2006). Wirkung von ­ estaltungsfaktoren G auf Arbeitsgedächtniskapazität und ­Motivation Irrelevante Gedanken durch Emotionen Mit Blick auf die bisher dargestellten kognitiven Theorien steht eine solche umfassende Theorie vor der Herausforderung, widersprüchliche Annahmen zu integrieren. Die Annahme der begrenzten Arbeitsgedächtniskapazität führte beispielsweise zu der Gestaltungsempfehlung, jedwede dekorative (irrelevante) Zusatzinformation zu vermeiden. Demgegenüber steht die Vermutung eines affektiv positiven Einflusses von Zusatzbildern und Zusatzinformation. Eine Studie zeigte, dass eine positive Wirkung von dekorativen zusätzlichen Bildern auf den Lernerfolg nur bei jenen Lernenden beobachtet werden konnte, die über ein hohes Vorwissen verfügten (Magner, Schwonke, Aleven, Popescu & Renkl, 2014). Dies bestätigt einerseits einen möglichen Einfluss eines motivationalen Faktors (situationales Interesse), die Erklärung des Befundmusters basiert andererseits auf den kognitiven Theorien: Lernende mit hohem Vorwissen verfügten vermutlich über genügend Kapazität zur Verarbeitung dieser Zusatzinformation. Nur wenn das der Fall ist, ist die „Ablenkung“ vertretbar und potenziell auch motivierend und lernförderlich. Emotionen könnten generell eine Quelle irrelevanter kognitiver Belastung (ECL; vgl. Abschnitt 9.2.1) im Sinne der Theorie der kognitiven Belastung darstellen. Die Verarbeitung von Emotionen beansprucht kognitive Ressourcen, die nicht mehr für Lernprozesse zur Verfügung stehen. Im Einklang damit zeigten Seibert und Ellis (1991), dass positive Emotionen irrelevante Gedanken förderten. Andere Studien demonstrierten einen lernhinderlichen Effekt positiver Emotionen auf fokussierte Aufmerksamkeit (Norman, 2004) und auf schlussfolgerndes Denken (Oaksford, Morris, Grainger & Williams, 1996). Emotionen sind komplexe, multidimensionale Phänomene, welche affektive, kognitive, expressive und physiologische Facetten haben. Emotionen können unterschiedlich andauern und als unterschiedlich intensiv empfunden werden. Um Emotionen und ihre Wirkung untersuchen zu können, müssen zunächst Intensität, Dauer und Valenz (positive oder negative Richtung der „Gestimmtheit“) sowie Begleitkognitionen eingegrenzt werden. Die Kombination von Valenz und Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Wissenserwerb mit neuen Medien 247 Aktivierung könnte zu differenzierten Hypothesen der Wirkung von Emotionen auf Verarbeitungsprozesse im Zusammenhang mit der Art der Aufgabe führen: Positiv-aktivierende Emotionen, wie z. B. Freude, könnten beispielsweise eine holistisch-relationale („ganzheitliche“) Verarbeitung anregen. Aufgaben, die dieser Art der Bearbeitung entgegenkommen (kreative Aufgaben, Aufgaben, bei denen Ideen generiert werden sollen, bei denen Assoziationen hilfreich sind), könnten hiervon profitieren. Andere Arten von Aufgaben, bei denen Sorgfalt und tiefere Verarbeitung gefragt sind, würden demgegenüber nicht profitieren. Vorhersagen darüber, welche Art von Emotion welche Wirkung auf Lernerfolg haben wird, erscheinen derzeit noch schwierig, wie die folgenden Beispiele illustrieren. Valenz und Aktivierung Widersprüchliche Studienergebnisse: Wie ­wirken sich Emotionen auf den Lernerfolg aus? Um, Plass, Hayward und Homer (2012) induzierten durch eine Kombination von „emotionalem“ Design (warme Farben, rundliche Formen im visuellen Lernmaterial) und einer zusätzlichen Stimmungsinduktion (Lesen und Wiedergeben emotionaler Aussagen) einen positiven emotionalen Zustand und verglichen die Wirkung mit einem neutralen Zustand. Als Überprüfung der emotionalen Wirkung wurden Aktivierung und Valenz gemessen: die Stimmungsinduktion hatte wie gewünscht funktioniert. Die multimediale Lerneinheit beschäftigte sich mit dem biologischen Thema der Immunisierung. Ergebnisse zeigten, dass die Gruppe, die mit dem emotional gestalteten Lernmaterial gelernt hatte, eine bessere Verständnis- und Transferleistung aufwies als die Gruppe mit dem neutralen Lernmaterial. Knörzer, Brünken und Park (2016) induzierten in drei Versuchsgruppen unterschiedliche emotionale Zustände (positiv – Freude, neutral, negativ – Trauer). Die Induktion erfolgte durch entsprechend emotional wirkende Musik in Kombination mit der Aufgabe, ein freudvolles oder ein trauriges autobiografisches Ereignis in der Erinnerung möglichst lebendig werden zu lassen. Emotionale Aktivierung und Valenz wurden mit einem Fragebogen gemessen und zeigten das erwartete Muster. Als Lernprogramm diente eine etablierte Multimedia-Präsentation aus dem Bereich der Molekularbiologie. Überraschend wies hier die Gruppe mit negativer Emotion die besten Lernerfolgswerte im Verständnis- und Transfertest auf, die Gruppe mit positiver Emotion die schlechtesten Werte. Beobachtungen aus Prozessmaßen (Blickbewegungen) deuteten bei der Gruppe mit negativen Emotionen auf eine stärker fokussierte Aufmerksamkeit und auf eine detailliertere Informationsverarbeitung. Stimmungs­ beeinflussung durch „emotional design“ Regulation negativer Stimmung durch ­konzentriertes Lernen? Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) 248 Kapitel 9 9.6 Wechselwirkungen zwischen Lerner­ eigenschaften und instruktionalen Maßnahmen beim Lernen mit ­Multimedia 9.6.1 Die ATI-Hypothese Wenn man wichtige Unterschiede zwischen Lernenden bezüglich ihrer Eigenschaften (Aptitudes) kennt, dann könnte man auf diese Unterschiede mit angepassten Instruktionen (Treatments) eingehen. Dahinter steht die Vermutung, dass eine Wechselwirkung (Interaktion) zwischen Eigenschaften der Lernenden und der Instruktion besteht: Eine instruktionale Maßnahme würde dann bei einer bestimmten Aus­ prägung einer Eigenschaft von Lernenden eine andere Wirkung entfalten als bei einer anderen Ausprägung dieser Eigenschaft. Solche Wechselwirkungen werden unter der Bezeichnung Aptitude-TreatmentInteraction (ATI) erforscht. Abbildung 26 zeigt theoretisch denkbare Möglichkeiten, wie instruktionale Maßnahmen (Treatments) und Eigenschaften (Aptitudes) in Wechselwirkung treten können. „Ability as enhancer“: Lernende mit höheren Fähigkeiten profitieren besonders Wenn Lernende höhere Fähigkeiten besitzen, dann kann das im Unterschied zu den Lernenden mit niedrigeren Fähigkeiten dazu führen, dass instruktionale Maßnahmen ihre Wirksamkeit erst entfalten. Die höhere Fähigkeit steigert die Wirkung der Maßnahme (ability-as-­ enhancer). Ein Beispiel hierzu wäre, dass es Lernende mit höheren Kontrolle niedrige Fähigkeit niedrige Fähigkeit hohe Fähigkeit hohe Fähigkeit Treatment a) Fähigkeit steigert die Wirkung des Treatments (ability-as-enhancer) Abbildung 26: Kontrolle Treatment b) Fähigkeit kompensiert das Fehlen des Treatments (Kontrolle) (ability-as-compensator) Theoretisch angenommene Wechselwirkungen (Interaktionen) zwischen Lernereigenschaft (hier: Fähigkeit) und Instruktion (Treatment = optimale Instruktion vs. Kontrolle = weniger optimale Instruktion). Im ersten Fall steigert die höhere Fähigkeit die Wirkung der optimalen Instruktion (ability-as-enhancer, a). Im zweiten Fall kompensiert die höhere Fähigkeit die weniger optimale Instruktion (ability-as-compensator, b). Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Wissenserwerb mit neuen Medien 249 Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) räumlichen Fähigkeiten sind, die besonders von als lernförderlich gedachten Multimedia-Gestaltungen profitieren, Lernende mit niedrigeren räumlichen Fähigkeiten jedoch nicht (Mayer & Sims, 1994). Eine andere Möglichkeit der Interaktion besteht darin, dass Lernende mit niedrigeren Fähigkeiten von der instruktionalen Maßnahme profitieren, Lernende mit höheren Fähigkeiten jedoch sowohl mit weniger guten als auch mit optimierten Instruktionen gleichermaßen gut lernen. Die höhere Fähigkeit kompensiert in diesem Fall auch die weniger optimale Instruktion (ability-as-compensator). Alternativ könnte man auch davon sprechen, dass die instruktionale Maßnahme speziell bei den Personen mit niedrigeren Fähigkeiten hilfreich ist. Ein Beispiel wäre, dass eine Animation Lernenden mit niedrigeren räumlichen Fähigkeiten dazu verhilft, eine räumliche Transformation besser zu verstehen, welche sie aus einem statischen Bild nicht gut erschließen könnten (Münzer, 2012, 2015). Für Lernende mit höheren räumlichen Fähigkeiten ergibt sich dieser Vorteil nicht in gleicher Weise, weil sie auch mit dem statischen Bild gut zurechtkommen. „Ability as compensator“: Lernende mit ­höheren Fähigkeiten lernen auch bei ­ungünstiger ­Instruktion Welche Eigenschaften von Lernenden sind relevant für die Wirksamkeit von Instruktionen und könnten eine ATI-Hypothese rechtfertigen? Für die Gestaltung von multimedialem Lernmaterial werden im folgenden Vorwissen und Lernstile näher betrachtet. 9.6.2 Vorwissen Unterstützende, gliedernde und anleitende instruktionale Maßnahmen, die für Novizen in einer Domäne lernwirksam sind, sind unter Umständen nicht mehr wirksam, wenn Lernende bereits Vorwissen in die Lernsituation mitbringen. Nicht nur das: Relative Lernzuwächse verschwinden oder sind sogar kleiner, wenn Lernende mit Vorwissen Lernmaterialien mit Unterstützungsfunktionen erhalten, als wenn sie mit reduziertem Material lernen. Dieser Effekt wird Expertise-ReversalEffekt genannt, wobei mit „Expertise“ nicht ein bestimmtes (hohes) Kompetenzniveau gemeint ist, sondern ein (erhebliches) spezifisches Vorwissen, das in die aktuelle Lernsituation eingebracht wird. Vorwissen interagiert mit Gestaltung von ­Instruktionen Kalyuga (2007) bietet einen Überblick über die Befunde zu diesem ­Effekt. Für Studien wurden unter anderem sorgfältig geplante Trainingsdesigns verwendet, in denen kontrolliert wurde, wie Lernende domänenspezifisches Wissen (beispielsweise in der Elektrotechnik) erwarben. Regelmäßig waren nun die von einschlägigen Theorien empfohlenen Gestaltungsprinzipien für Lernende zu Beginn wirksam und nach dem Erwerb von domänenspezifischem Wissen und Kön- Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) 250 Kapitel 9 nen unwirksam oder sogar kontraproduktiv. Eine instruktionale Gestaltungsmaßnahme ist beispielsweise die integrierte Informationspräsentation, hier Schaubilder von elektrischen Schaltkreisen mit oder ohne integrierte Textinformation. Eine integrierte Darstellung von erläuterndem Text und einem Diagramm ist für Lernende ohne Vorwissen hilfreich; für Lernende mit Vorwissen erwies es sich hingegen als besser, die Schaltkreis-Zeichnungen ohne Text zur Ver­ fügung zu stellen (für eine Übersicht siehe Kalyuga, 2006). Ein ­weiteres Beispiel findet sich beim Lernen mit ausgearbeiteten Lösungsbeispielen. Lernende ohne Vorwissen, die Beispielprobleme lösen sollen, erfahren eine zu hohe Belastung des Arbeitsgedächtnisses, weil sie noch nicht über teil­automatisierte Problemlöseprozeduren verfügen. Für sie ist es besser, sich mit ausgearbeiteten Lösungsbeispielen auseinanderzusetzen. Bei Lernenden, die bereits über Vorwissen verfügen, verschwindet dieser Effekt (Kalyuga et al., 2001). Für Lernende mit Vorwissen ist es demnach besser, Beispielprobleme selbst zu lösen. Schemata im Vorwissen steuern die Informationsverarbeitung Vorwissen steuert Aufmerksamkeitslenkung, Informationsaufnahme, Ausführung von Problemlöseschritten, das Zwischenspeichern von Resultaten, das Verknüpfen neuer Informationen mit Wissenselementen im Langzeitgedächtnis und den späteren Abruf aus dem Langzeitgedächtnis. Die vorhandenen Schemata übernehmen damit steuernde Funktionen, wie sie ansonsten instruktionale Gestaltungsmaßnahmen haben. Die instruktionalen Maßnahmen sind für Lernende ohne Vorwissen hilfreich, für Lernende mit Vorwissen jedoch redundant: Zusatzinformationen und Anleitungen sind für sie irrelevant und können die eigentlichen Lernprozesse stören. Der Expertise-Reversal-Effekt wird somit mit dem oben erläuterten Redundanzprinzip erklärt. 9.6.3 Lernpräferenzen Kognitiver Stil Hartnäckig hält sich im pädagogischen Alltag die Auffassung, dass es Lernende gibt, welche bevorzugt mit Texten lernten (verbalizer) und andere Lernende, welche bevorzugt mit Bildern lernten (visualizer). Daraus folge, dass man diesen Lernenden mit einer entsprechenden Aufbereitung des Lernmaterials entgegenkommen sollte. Diese Überlegung stellt eine ATI-Hypothese dar: Verbalizer würden mit verbalem Lernmaterial bessere Resultate erzielen, während Visualizer mit visuellem Lernmaterial bessere Resultate erzielten. Die Bevorzugung bestimmter Darstellungsweisen durch die Lernenden hat hierbei weniger mit psychometrisch messbaren kognitiven Fähigkeiten zu tun, Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Wissenserwerb mit neuen Medien 251 sondern geht eher auf stabile Vorlieben, strategische Herangehensweisen und auf Gewöhnung zurück. Dies kann man als Lernpräferenz oder als „kognitiven Stil“ bezeichnen. Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Kognitive Stile Ein kognitiver Stil charakterisiert die Art und Weise, wie eine Person wahrnimmt, denkt, Probleme löst, lernt und sich zu anderen Personen verhält (nach Witkin, Moore, Goodenough & Cox, 1977). Grundlage des kognitiven Stils sind weniger kognitive Fähigkeiten, sondern vielmehr stabile Einstellungen, Präferenzen oder Strategien (Messick, 1976). Ein gutes Beispiel ist die Dimension der „Feldabhängigkeit“ (Witkin et al., 1954). Eine Person wird als „feldabhängig“ beschrieben, wenn sie über verschiedene Aufgaben hinweg die Tendenz zeigt, den Kontext (das umgebende „Feld“) in ein Wahrnehmungsurteil oder einen Problemlöseversuch einzubeziehen. Eine Person wird als „feldunabhängig“ beschrieben, wenn sie unabhängig vom umgebenden Kontext urteilt und Informationen aus diesem Kontext herauslösen, also analytisch vorgehen kann. Dies betrifft Aufgaben der räumlichen Wahrnehmung (Urteile darüber, ob ein Element „gerade“ ist, auch wenn der Kontext „schief“ erscheint) oder auch Urteile in mehrdeutigen Situationen, in denen man sich mehr oder weniger an den Urteilen anderer Personen orientiert. Ein kognitiver Stil repräsentiert relativ stabile Präferenzen einer Person, Informationen auf einer höheren Ebene zu organisieren und zu verarbeiten (für eine Übersicht siehe Kozhevnikov, 2007). Es sind eine ganze Reihe von kognitiven Stilen vorgeschlagen worden, die auch angewandte Bereiche (z. B. Stile der Entscheidungsfindung; z. B. Kirton, 1989) sowie persönlichkeitspsychologische Bereiche (z. B. locus of control; Rotter, 1966) und explizit den Bereich des Lernens (z. B. Kombinationen der Dimensionen konkret-abstrakt und konvergent-­ divergent; Kolb, 1984) betreffen. In einem Übersichtsartikel kommen Riding und Cheema (1991) allerdings zu dem Schluss, dass sich die vielen vorgeschlagenen kognitiven Stile zu zwei wesentlichen Dimensionen ordnen lassen: zu einer Dimension, die eine Neigung zu einer ganzheitlichen vs. zu einer analytischen Informationsverarbeitung beschreibt und zu einer weiteren Dimension, die eine Neigung zur verbalen vs. zur visuell-räumlichen Informationsverarbeitung beschreibt. Zur Messung des kognitiven Stils einer Person sind Messinstrumente entwickelt worden, die meistens auf Selbstauskünften beruhen. Es hat sich zunächst als problematisch erwiesen, kognitive Stile jenseits von Selbstauskünften zuverlässig und valide zu messen, etwa mit Reaktionszeiten: Für die Verbalizer-Visualizer-Dimension wird für eine Person beispielsweise ermittelt, ob sie konzeptuell-verbale Vergleiche schneller als visuelle Vergleiche anstellen kann. Für diese Dimension liegt Ganzheitlich vs. ­analytisch Messung Verbal vs. ­visuell-räumlich Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) 252 Kapitel 9 inzwischen ein Reaktionszeitinstrument vor, welches befriedigende Konsistenz und zeitliche Stabilität aufweist (VICS als Abkürzung für VerbalImagery Cognitive Style; Peterson et al., 2005a). Validitätsnachweise werden meist diskriminant geführt, d. h. es wird gezeigt, dass der Verbalizer-Visualizer-Stil nicht bedeutsam mit kognitiven Fähigkeiten oder Persönlichkeitseigenschaften korreliert (z. B. Mayer & Massa, 2003; Peterson et al., 2005b). Überzeugende Nachweise der prädiktiven Validität stehen jedoch aus. Eine positive Ausnahme stellt die Untersuchung von Massa und Mayer (2006) dar (vgl. Text). Hier wurde zwar kein ATI-Effekt belegt. Jedoch konnte gezeigt werden, dass die Selbsteinschätzungen der Untersuchungsteilnehmer Zusammenhänge mit ihrem Lernverhalten aufwiesen. In Experiment 3, in dem den Teilnehmern freigestellt war, welche Hilfstexte oder -illustrationen sie anfordern wollten, verhielten sich die Teilnehmer vorhersagbar entsprechend ihren Selbstauskünften entlang der Visualizer-Verbalizer-­Dimension: Je stärker die selbstberichtete Tendenz und Präferenz war, Bilder zu nutzen, desto mehr wurden Illustrationen statt Texte angefordert. Verbale vs. visuellräumliche Lernpräferenz ohne Wirkung auf den Lernerfolg beim Lernen mit Multimedia Massa und Mayer (2006) untersuchten die ATI-Hypothese im Kontext des Lernens mit Multimedia. Das ist naheliegend, denn hier wird an Lernende die Anforderung gestellt, Informationen aus Texten und aus Bildern zu verarbeiten. In den Experimenten von Massa und Mayer (2006) diente eine Einführung in Elektronik als Grundlage, die aus 31 Textseiten von je 120 bis 250 Wörtern bestand. Jede Textseite besaß zwei bis sieben Schlüsselwörter, zu denen Lernende Zusatzinformationen anfordern konnten. In der Textbedingung bestanden diese Zusatzinformationen aus verbalen Erläuterungen und Definitionen. In der Bildbedingung bestanden die Zusatzinformationen aus Illustrationen bzw. Diagrammen. Um Lernende bezüglich der Verbalizer-Visualizer-Unterscheidung richtig einordnen zu können, wendeten Massa und Mayer (2006) 14 verschiedene Tests und z. T. eigens entwickelte Fragebögen an, die sich vier verschiedenen Faktoren zuordnen lassen – unter anderem Lernpräferenz und kognitivem Stil. Weder für den kognitiven Stil noch für die anderen Maße der Verbalizer-Visualizer-­ Unterscheidung wurde die vermutete Aptitude-Treatment-Interaction gefunden; dies galt auch für ein Replikationsexperiment. Beide Personengruppen lernten besser, wenn das Lernmaterial auch visuelle Repräsentationen enthielt (Bedingung „Bild“), als wenn es ausschließlich textbasiert war (Bedingung „Text“). Aus diesem Ergebnis kann durchaus der Schluss gezogen werden, dass es wichtiger ist, das Lernmaterial gemäß den domänenspezifischen Anforderungen aufzubereiten als auf den kognitiven Stil der Lernenden Rücksicht zu nehmen. Bezüglich der Unterscheidung zwischen Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Wissenserwerb mit neuen Medien 253 Verbalizern und Visualizern hat die Forschung denn auch kaum überzeugende Belege für Aptitude-Treatment-Interactions erbracht. Schließlich lassen sich Lernpräferenzen und Strategien auch ändern. Es erscheint sinnvoller, einen Verbalizer mit Strategien zur Verarbeitung von visuell-räumlichen Darstellungen vertraut zu machen, anstatt für ihn Informationen in Textform aufzubereiten, die angemessener in visuell-räumlicher Form präsentiert würden. Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Zusammenfassung Die Theorie kognitiver Belastung unterscheidet drei Belastungsarten im kapazitätsbegrenzten Arbeitsgedächtnis: (1) Die intrinsische kognitive Belastung (ICL) ist abhängig von der Element-Interaktivität des Lerngegenstandes sowie vom Vorwissen des Lernenden. (2) Die irrelevante kognitive Belastung (ECL) wird als vermeidbare und lernhinderliche Belastung betrachtet, die aus einem suboptimal gestalteten Lernmaterial herrührt. (3) Die relevante, lernförderliche kognitive Belastung (GCL) ist die vom Lernenden investierte ko­ gnitive Anstrengung in konstruktive Lernaktivitäten. Damit relevante, lernförderliche kognitive Anstrengung investiert wird, sollte irrelevante Belastung möglichst vermieden werden. Das ist vor allem dann wichtig, wenn das Lernmaterial komplex und das Vorwissen gering ist. Eine Überforderung von Lernenden durch zu hohe intrinsische Belastung ist allerdings auch durch das beste Lernmaterial nicht kompensierbar. In diesem Fall muss auch die intrinsische Belastung reduziert werden (Aufbau von Vorwissen). Die kognitive Theorie multimedialen Lernens ist mit der Theorie ko­gnitiver Belastung eng verwandt. Sie basiert auf drei Annahmen: (1) Zum effizienten Lernen aus Multimedia-Präsentationen können zwei partiell unabhängig funktionierende Verarbeitungskanäle genutzt werden (der auditiv-verbale Kanal und der visuell-räumliche Kanal). (2) Beide Kanäle, zentrale Aufmerksamkeitsprozesse und das Arbeitsgedächtnis sind kapazitätsbegrenzt. (3) Informationen werden aktiv verarbeitet. Diese aktiven Verarbeitungsschritte beziehen sich auf die Selektion von Wörtern und Bildteilen, Organisation von Wörtern bzw. Bildern zu je einem verbalen und einem visuell-räumlichen mentalen Modell und Integration der mentalen Modelle miteinander und mit dem Vorwissen. Es sind eine Reihe von Gestaltungsempfehlungen für das Design multimedialer Lernumgebungen formuliert worden. Diese Empfehlungen laufen darauf hinaus, die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses für konstruktive Lernprozesse möglichst effizient nutzbar zu Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. 254 Kapitel 9 Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) machen. Hierzu dienen insbesondere das integrierte Format, die Vermeidung von Redundanz, die Vermeidung irrelevanter und dekorativer Elemente und das Signalisieren von Bezügen zwischen Informationen. Das integrative Modell zum Text-Bild-Verstehen betont darüber hinaus die Anforderungen der semantischen Analyse, die Texte, Bilder und Diagramme an Lernende stellen. Ferner wendet sich die Forschung vermehrt motivationalen und emotionalen Prozessen beim Lernen mit Multimedia zu. Das Vorwissen erweist sich als ein Faktor, der angepasste Instruktionen im Sinne einer Aptitude-Treatment-Interaction (ATI) recht­fertigt. Instruktionen, die sich an Novizen in einem Lernbereich wenden, sollten umfangreichere Unterstützungs- und Strukturierungsmaßnahmen enthalten. Instruktionen, die sich an fortgeschrittene Lernende mit Vorwissen richten, sollten weniger Unterstützung und Strukturierung vorgeben. Für den Faktor Lernstil (z. B. Visualizer vs. Verbalizer) ist hingegen zwar gezeigt worden, dass Lernende ein ihrer Präferenz entsprechendes Lernmaterial verwenden, wenn man ihnen die Wahl lässt. Damit erhöht sich jedoch nicht ihr Lernerfolg. Vielmehr ist eher davon auszugehen, dass es für ein bestimmtes Lernmaterial eine optimale Darstellungsform gibt, die sowohl verbale als auch visuell-räumliche Repräsentationen enthalten dürfte. Weiterführende ­Literatur Mayer, R. E. (2014). Principles for reducing extraneous processing in multimedia learning: Coherence, signaling, redundancy, spatial contiguity, and temporal contiguity principles. In R. Mayer & L. Fiorella (Eds.), The Cambridge handbook of multimedia learning (pp. 279 – 315). Cambridge: Cambridge University Press. Plass, J. L., Moreno, R. & Brünken, R. (2010). Cognitive load theory. Cambridge: Cambridge University Press. Zheng, R. Z. (Ed.). (2018). Cognitive load measurement and application. New York: Routledge. Fragen 1. Welche Form des Lernens soll mit gut gestalteten MultimediaPräsentationen unterstützt werden? 2. Von welchen Faktoren ist die resultierende intrinsische kognitive Belastung bei einem individuellen Lerner abhängig? 3. Wie können vorhandene Kapazitäten und Verarbeitungswege für Informationen im Arbeitsgedächtnis in verschiedenen Codes und Modalitäten bestmöglich genutzt werden? 4. Durch welche Gestaltungsmaßnahmen kann man die Aufmerksamkeitsverteilung optimieren? Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen. Wissenserwerb mit neuen Medien 255 5. Wie kann man erklären, dass eine besonders lernförderlich gestaltete Multimedia-Präsentation bei Lernenden mit hohem Vorwissen gegenüber einer nicht besonders lernförderlich gestalteten Präsentation unwirksam oder sogar kontraproduktiv ist? 6. Warum sind interessante Zusatzinformationen in Lernmaterialien oftmals schädlich für konstruktive Lernprozesse? 7. Was versteht man unter einer Aptitude-Treatment-Interaction (ATI) und welche Formen könnte sie annehmen? Universitätsbibliothek FernUniversität Hagen / 132.176.170.178 (2023-10-03 16:41) Lösungshinweise finden Sie unter www.hogrefe.de/buecher/lehrbuecher/psychlehrbuchplus Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus B. Brünken, S. Münzer und B. Spinath: Pädagogische Psychologie – Lernen und Lehren (9783840922145) © 2019 Hogrefe Verlag, Göttingen.

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