Kapitel 2 PDF

Summary

This German document is about a story revolving around a school shooting, showcasing the character's perspective during the incident.

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Ding zu gucken, irgendwie macht es dir Spaß, dich zu gruseln und auf dem Sofa zu winden und den Leuten beim Schreien und Sterben zuzuschauen. Und dann wird dieser Film plötzlich Wirklichkeit. Die Knochenhand greift durch den Bildschirm hindurch und schlägt dir die Chipstüte aus der Hand, der Super...

Ding zu gucken, irgendwie macht es dir Spaß, dich zu gruseln und auf dem Sofa zu winden und den Leuten beim Schreien und Sterben zuzuschauen. Und dann wird dieser Film plötzlich Wirklichkeit. Die Knochenhand greift durch den Bildschirm hindurch und schlägt dir die Chipstüte aus der Hand, der Superschurke springt aus dem Fernseher und mitten auf die Couch, während du dich noch an einem Erdnuss ip verschluckst. Tadamm! Kannst du dir dieses Gefühl vorstellen? Die Erkenntnis, dass du bis zu diesem Augenblick noch gar nicht wusstest, was Angst ist und was Gefahr, was Bosheit und was Schmerz? (Ja, Schmerz, denn echte Angst tut weh.) Spürst du den Klammergri um dein Fußgelenk, das Messer im Nacken? Glückwunsch, dann hast du jetzt eine grobe Vorstellung von dem, was mir durch den Kopf ging, als ich die beiden entdeckte. Die Kleine und den maskierten Typen mit der Pistole. Ein maskierter Typ mit Pistole, der gehörte einfach nicht in die Realität – der hatte nichts in meinem Leben zu suchen, schon gar nicht an einem Montagmorgen mitten in der Schule! Mehrere Mädchen schrien auf. Ein paar Jungs waren sogar auch dabei, glaub ich. Im Nachhinein hätte ich gern gesehen, wie Herr Filler reagiert hat, aber ich war etwas abgelenkt durch den Lauf der Pistole, der jetzt nicht mehr auf den Kopf der Kleinen, sondern direkt auf meinen zeigte. Immerhin hast du deine letzten Minuten nicht mit Mathe verbracht, dachte ich, immerhin … und jetzt stirbst du. Mit nicht mal achtzehn Jahren. Was eine Scheiße. Ich dachte nicht Warum? oder Ich will nicht sterben!, nein, mein letzter Gedanke war: Was eine Scheiße. Tut mir leid, dass mir nichts Originelleres ein el. Da war. Ein. Fremdkörper. In meinem. Klassenraum. Nie zuvor habe ich in einer Mathestunde mehr Unverständnis erlebt, als während dieser maskierte Kerl in den Klassenraum eindrang. Kollektives Luftanhalten. Geballte Sprachlosigkeit. Ungeduldig scheuchte der Fremdkörper die beiden tiefer ins Klassenzimmer hinein. In der einen Hand hielt er die Pistole, mit der anderen zog er die Tür hinter sich zu. Alles an meinem Körper schien zu gefrieren. Ruhe bewahren. Auf keinen Fall eine Massenpanik auslösen. Mark machte keinen Mucks, kni die Lippen zusammen, als wolle er den Schrei in seinem Mund gefangen halten. Wie eine Statue ragte der Fremdkörper zwischen den Tischen hervor – schwarze Kapuze, weiße Maske und dazu diese grässliche, grässliche Wa e. Sein linker Schnürsenkel war halb geö net, hing zu Boden, als wollte er mir zuraunen: »Das hier ist echt. Es ist real.« Sie standen jetzt mitten im Raum, Mark, das Mädchen und hinter ihnen der Unbekannte. Drum herum starrten die anderen von ihren Tischen zu ihnen auf. Geballte Sprachlosigkeit … die sich allmählich in nackte Panik verwandelte. Ich werde sterben. Die Erkenntnis traf mich mit der Wucht eines Keulenschlags, rammte mich mitten gegen die Brust. Ich rang nach Sauersto , schwarze Flecken schoben sich vor mein Sichtfeld wie Aschewolken auf einem Schlachtfeld. Ich werde heute sterben. Schlimmer noch, ich würde es als Opfer tun. Wehrlos, schreiend, und vollkommen sinnlos. Bisher hatte ich das Thema Tod immer schön sauber aus meinem Leben rausgehalten. Was sollte das auch nützen, sich über etwas den Kopf zu zerbrechen, was man eh nicht ändern kann? So was war Zeitvertreib für den Philo- Unterricht, für Frauen mit grünen Duftkerzen im Fenster, die lieber tausendmal alles infrage stellten, anstatt endlich die Realität in Angri zu nehmen. Sich auf das Wesentliche zu konzentrieren war schon immer eine meiner großen Qualitäten gewesen, eine, die mich oft weitergebracht hatte. Himmel, ich war jung! Natürlich nicht so blutjung wie dieser Haufen pickelgeplagter Teenager, aber doch noch weit davon entfernt, mich mit dem Sterben zu beschäftigen! Ich war Anton Filler, zweiunddreißig Jahre alt, ruderte zweimal die Woche im Verein, hatte nicht mal den Ansatz einer Halbglatze und jetzt kam dieser Typ hier rein, um mir das einfach wegzunehmen? So viele Stunden, die ich hätte entspannen können, die ich mit meiner Freundin hätte verbringen können und die ich eisern, einsam in meine Doktorarbeit investiert hatte … Wehe, du stiehlst mir meine Zukunft, dachte ich, wehe! Im selben Moment schubste der Unbekannte die beiden mit seiner Wa e zur Seite. Und die Pistole zeigte auf mich. Ich musste ein Schluchzen unterdrücken, so erleichtert war ich, dass er Mark verschont hatte. Dass Mark nicht in einer schrecklichen Blutlache am Boden lag, die Arme verdreht, die Augen seltsam stumpf. Hilfe, und meine Schuld wäre es gewesen, durchfuhr es mich, ich hab ihn dazu gebracht, die Tür zu ö nen! Irgendwas war schiefgegangen. Das Richtige war nicht das Richtige. Mila hatte gelogen. Mein Großvater auch. Seht her, hätte ich ihnen am liebsten an den Kopf geworfen, schaut, was passiert ist! Hier und heute, nicht in einem Buch! Doch Opa schwieg, er war an einem Herzinfarkt gestorben, schon vor sechs Monaten. Und Mila steckte in England, räumte vielleicht gerade die Küche auf, nach einer der wilden WG-Partys, von denen sie immer erzählte. Alles hätte ich darum gegeben, bei ihr zu sein. Alles. Der Unbekannte marschierte durch den Mittelgang nach vorne, ein stampfender Haufen Schwarz. Hastig senkte ich in den Blick, mich umzudrehen, das wagte ich nicht mehr. Wilde Tiere fühlen sich durch so was schnell angegri en, besonders Raubkatzen. In meinem Kopf kreischten die Gedanken durcheinander: Er kann dich umbringen. Er hat eine Pistole. Warum hat er eine Pistole? Bitte, Gott, wenn es dich gibt, dann mach was. Hilfe. Hilfe, Hilfe, Hilfe. Ich muss auf Klo. Ich hätte die Tür nicht ö nen lassen dürfen! Auf die, die vorne sitzen, hat er bestimmt den größten Hass. Tut Sterben weh? HIIIILFEEEE! Ich hatte das Gefühl, mein Schädel würde jeden Moment platzen und seinen Inhalt quer über alle Bänke verteilen. Wenn es einen Schalter gegeben hätte, mit dem man sein Gehirn auf Stand-by schalten kann, ich hätte, ohne zu zögern, gedrückt. Wie machten die anderen das bloß? Herr Filler sah aus, als würde er gleichzeitig Mark den Tod und sich selbst ans andere Ende der Welt wünschen. Der maskierte Typ stand ihm nun genau gegenüber, keine drei Meter von mir entfernt. Oh, dass man so große Angst vor einem Menschen haben kann. Ich war eindeutig aus einem anderen Holz geschnitzt als Mark, das merkte ich jetzt – und wie ich das merkte! Töte mich nicht, dachte ich, drück nicht ab, bitte, bitte, nimm mir mein Leben nicht weg, ich will doch noch so viel machen da draußen – mit Greta mein Zimmer bemalen, einen Cocktail mit Schirmchen trinken, auf den Mount Everest klettern, ein Geigenkonzert geben in der Carnegie Hall, den Regenwald retten, Sylvester küssen … Groß kam er mir vor, der Amokläufer, kaltblütig und unbesiegbar, wie ein Pro killer aus einem dieser Schrott lme, die mein Bruder so gerne guckte. Wer bist du? Warum gibt es dich überhaupt? Mein Blick wanderte jetzt doch zu ihm hinauf, ich konnte nicht anders, zum Glück konzentrierte er sich immer noch ganz auf Herrn Filler. Nichts von ihm passte hierher, dabei war seine Kleidung im Einzelnen gar nicht so ungewöhnlich. Der Kerl trug mehrere Kapuzenjacken übereinander, eine lange dunkle Hose, ausgelatschte Turnschuhe und eine weiße Maske, die ihm den starren Ausdruck einer Schaufensterpuppe gab. Die Anonymität in Person. Besonders mysteriös war die Sto tasche, die ihm störend über der Schulter baumelte. Am Anfang war sie mir gar nicht aufgefallen, aber jetzt, wo er so nah war, konnte ich sie unmöglich übersehen: ein schwarzer Beutel ohne Aufschrift, aber o ensichtlich mit irgendwas darin, etwas Eckigem. Sprengsto …? Ganz vage nur konnte ich durch die Maskenschlitze zwei Augen erkennen, dunkel, auf keinen Fall so leuchtend grün wie meine, aber vielleicht lag das auch bloß an dem Schatten, der auf seine Augenhöhlen el. Kenn ich dich? In meiner Stufe gab es eine ganze Menge Leute, die gern Schwarz trugen, aber jemandem mit einer Schwäche für Bastelmasken war ich garantiert noch nicht begegnet. Oder doch? Wenn ich doch nur sein Gesicht sehen könnte … »Was wollen Sie?«, Schweißperlen quollen über Herrn Fillers Stirn, »die Schule ist bereits alarmiert, die Polizei wird gleich hier sein.« Die Polizei. Was für ein wunderschönes Wort. Ein Schwall der Ho nung durchschwappte meinen Körper, weich-warm wie der Duschstrahl von zu Haus. Die Polizei, ja, die würde uns retten, zu uns hinaufstürmen und den Amokläufer in Handschellen legen. Denn das war ja schließlich ihr Job, nicht wahr? Statt einer Antwort richtete der Unbekannte die Wa e auf den Lautsprecher und feuerte – einmal, zweimal, dreimal. Die Schüsse peitschten durchs Klassenzimmer, ohrenbetäubend fehl am Platz. Ich riss die Hände an die Ohren, Plastikgestank biss mir in die Nase. Gretas attrige Finger schlossen sich um meinen Arm. Herr Filler schwankte. »… und warten Sie auf weitere Anweisungen.« Auf die konnten wir nun lange warten. »Jetzt haben Sie die Polizei endgültig auf sich aufmerksam gemacht.« Plopp! Der Satz war draußen, rutschte mir einfach so heraus, ganz von selbst, wie eine Luftblase beim Tauchen. Du denkst zu spät, Junge, das war schon früher immer mein Problem gewesen. Damals, als es noch die ewigen Kämpfe mit meinem Alten gab. Du kannst dies nicht, du kannst das nicht, du bist genau wie deine Mutter … Wenn er erst mal in Fahrt war, war der Alte kaum zu bremsen, brüllte, tobte, schlug zu bis er außer Atem kam und seinen fetten Hintern auf die Couch plumpsen ließ (was »äh … Hinweis gemeint. Das mit der Polizei.« Der Unbekannte schwieg, blieb stumm und reglos, die Pistole von sich gestreckt. Geradeaus, direkt in mein Gesicht. Ich zwang mich, keine Miene zu verziehen. Sein Pulli wirkte klamm, stank wie die Arbeitshemden meines Vaters nach zehn Stunden auf dem Bau. Wie hielt der Kerl das bloß aus, in den warmen Klamotten? »Ich dachte einfach, das sollten Sie vielleicht wissen. Nicht, dass die Bullen Sie noch total überraschen.« Ich lächelte schwach. Langsam hob der Unbekannte den Kopf, nickte. Das schien ihm einzuleuchten. Ich atmete aus – und spürte im selben Moment ein hartes Stück Metall an meiner Wange. »Oh mein Go–hott!« Ein Schauer rieselte mir den Scheitel entlang, richtete jedes einzelne Härchen auf. »Oh mein Gott, der bringt den um!« Ida-Sophies Aufschrei schien Millionen von Lichtjahren entfernt, in einer weit, weit entfernten Galaxis. Und tatsächlich kam ich mir vor wie auf eine Leinwand gespannt, nur der Unbekannte und ich, während alle andern im Zuschauerraum saßen. Ga end, ängstlich, aber ohne auch nur einen Finger zu rühren. Eben genau wie immer. Der Unbekannte strich über meinen Nasenrücken, von der Spitze bis zur Stirn. Als würde er die Stabilität meiner Knochen erst testen wollen, bevor er sie zerschoss. Ein Raunen ging durch den Saal. Ich roch frische Böller. »Chchra«, machte ich. »Chchrarachra!« Das ist Panisch und heißt so viel wie: He, der Typ tätschelt mich mit der Pistole. Das gefällt mir nicht! Ich habe nie geschrien. Nicht ein einziges Mal, das machte meinen Alten rasend. Nur geheult hab ich, nachher, ge ennt bis in die Puppen, wenn meine Augen so rot waren, dass die Leute auf dem Bürgersteig mich ganz erschrocken anstarrten. »Hör mal, Mark, deine Eltern und ich, wir machen uns Sorgen …« Erwachsene sind so bescheuert. Einer wollte mich sogar in die Jugend-Suchtstation stecken: »Die kennen sich dort super aus mit so Problemfällen wie dir, verstehst du?« Keine Ahnung, wen ich schlimmer fand, die Kümmerleute mit ihren Stirnfalten oder meinen Vater, der mich zusammenfaltete. Zumindest das Gekümmere hörte irgendwann von selbst auf – lustigerweise genau dann, als ich wirklich mit Gras an ng. »Könnt ich vielleicht noch eine rauchen?« Ich stellte diese Frage nicht, aber ich hätte gern. Nicht weil ich unbedingt noch einmal den Nikotinrausch in meinen Lungen spüren wollte (wobei das ein angenehmer Nebene ekt wär), sondern einfach, weil sich das in Filmen so gehört. »Haben Sie noch einen Wunsch, bevor Sie erschossen werden?« »Geben Sie mir ’ne Kippe.« Einen cooleren Abgang gibt es nicht. Ich krümmte mich zusammen. Die Suppe von meinem Rücken sickerte in meine Shorts, lauwarm wie Pisse. Ich schloss die Augen. Ich war nicht cool. Ich wollte leben. Meine erste Zigarette klaute ich mit vierzehn, aus der Brieftasche meines Bruders. Des Ältesten. Exakt an dem Tag, an dem er mir das erste Mal einen Karl-May-Film zeigte: Der Schatz im Silbersee, von 1962. Großartiger Film, wirklich, auch wenn der historisch natürlich völliger Humbug ist (aber welcher Western ist das nicht.) Darin gibt es zum Beispiel diese Szene, in der Old Shatterhand und seine Mannen sich in der Farm verschanzt haben und von Banditen angegri en werden. Junge, Junge, da ging vielleicht die Post ab! Wie die Wahnsinnigen ballern die Kerle auf das Häuschen, gnadenlos, mit blitzenden Augen und wiehernden Pferden, während die Sonne auf den Präriesand brennt. Und gerade als den Helden die Kräfte ausgehen, kommt Winnetou mit seinem Gefolge über den Hügel geritten. Welch ein Anblick, danach wollte ich unbedingt auch so eine Kerbe im Kinn. Und kämpfen konnte er! Blitzschnell sondiert er die Lage, prescht auf die Feinde in vollem Galopp, jagt sie allesamt zum Teufel mit seiner hölzernen kleinen Axt. Das hat mich am meisten beeindruckt, mit welcher Tapferkeit der zu Werke ging. Andere träumten von Rennfahrern oder Fußballpro s, mein Zimmer war mit Karl- May-Postern tapeziert: Winnetou und Old Shatterhand, wie sie gemeinsam kämpften, wie sie Seite an Seite durchs Unterholz preschten, wie sie an einsamen Lagerfeuern die Friedenspfeife pa ten … Ich bin Winnetou. Das sagte ich mir immer, wenn der Kloß in meinem Hals zu explodieren drohte. Unter der Decke im Schneidersitz, mit Untertasse, um ja nicht auf das Laken zu aschen. Ich bin Winnetou, ich bin Winnetou, ich bin Winnetou. Vielleicht hab ich mir das gewünscht, heimlich. Dass wir irgendwann auch so zusammenhalten, meine Brüder und ich, mit Friedenspfeife, von Mann zu Mann. Das wäre schön gewesen. Stattdessen haben sie mir Mehlwürmer in den Kissenbezug gesteckt. Fünfundsiebzig Stück. Als ich die Augen wieder ö nete, war die Wa e verschwunden. Der Unbekannte auch. Ich blinzelte, wischte mir das taube Gefühl von der Backe und drehte mich um. Da, ein paar Schritte entfernt bei der Tür stand der Durchgeknallte, die Pistole lässig in der rechten Hand. Er hatte mich verschont, zum zweiten Mal an diesem Tag. Meine Rückenlehne war schweißnass, mein Mund eine einzige Wüste. Ganz sicher, ob ich dem Braten trauen sollte, war ich mir noch nicht. Klar, wenn man dem zum Tode Verurteilten sagt: »Hey Mann, war nur’n Scherz, du darfst doch weiterleben!«, ist der schließlich auch erst mal skeptisch. Was denn, wenn der Typ sein Opfer absichtlich noch ein bisschen zappeln lässt, nur so zum Spaß, um es dann nachher umso blutrünstiger niederzumetzeln? Eine Hand tastete nach meinem Arm. Das Mädchen nahm meine Finger in ihre schmalen Patschen und drückte zu. Kräftig. Ich atmete durch. Also gut, auf den ersten Blick sah es aus, als wäre ich wirklich außer Gefahr, zumindest für den Augenblick. Der Unbekannte schien mich komplett vergessen zu haben; breitbeinig stand er hinter mir und schaute zur Tür. Masken, dachte ich, Schurken tragen immer Masken, Hannibal Lecter, die Todesser … Und Sauron, trug der nicht auch eine? Ein Geräusch riss mich aus meinen Gedanken, ließ uns alle gleichzeitig hochschnellen. In einer anderen Stunde wäre es uns vermutlich gar nicht aufgefallen, aber heute … Heute war die heranrasende Sirene wie ein Paukenschlag. Rettung! Endlich! Flackerndes Licht spiegelte sich an der Scheibe, färbte die trommelnden Tropfen blau. Ich spürte, wie meine Nackenmuskulatur sich verspannte. Die Bullen und ich, das war bisher keine besonders herzerwärmende Geschichte gewesen. Ob Lasses Vater wieder dabei war? In der Nähe des Bahnübergangs hatte der mich eingesackt, und das nur, weil ich auf das Gleis geklettert war, um eine Münze zurückzuholen. Wir hatten die vom Regionalexpress platt fahren lassen, Sylvester, die andern und ich. Am letzten Ferienwochenende war das, sozusagen als Abschlussaktion bevor es wieder zurück in den Kä g ging. Ich war der Einzige, der sich traute, das Ding zurückzuholen. Nachts um drei kommen die Züge eh nur einmal pro Stunde, da kann man das locker riskieren, aber das wussten die andern wohl nicht, sonst hätten die wohl kaum zehn Euro dafür geboten. Ich also über die Absperrung, ott die paar Schritte über den Schotter, und wie ich die Trophäe gerade nach oben recke, packt mich auf einmal dieses Mopsgesicht im Nacken. Ich hab mich so was von erschreckt! Die ersten fünf Minuten wusste ich nicht mal, was los war, nur, dass ein fremder Fettwanst versucht, mich in seinen Wagen zu zerren. Geschimpft und krakeelt hat der in einer Tour, laberte irgendwas von wegen Verkehrsbehinderung, Fahrlässigkeit und irgendwann dann auch von Beamtenbeleidigung … Lasse hat sich natürlich sofort rausgeredet, hat gemeint, er wäre da nur zufällig reingeraten und überhaupt wär das ganz allein meine Idee gewesen, der Feigling. Die andren hat sein Vater schließlich noch mal davonkommen lassen, aber mich hat der höchstpersönlich zu Hause abgeliefert. Und so einer erzählt mir was von Fahrlässigkeit! Noch im Schlafanzug war mein Alter gewesen, als die beiden mich frühmorgens zu Hause ablieferten. Und wie ein tollwütiger Terrier hatte er sich auf mich gestürzt, als die Tür hinter den beiden ins Schloss gefallen war. Mann, der ist vielleicht ausgerastet. Ich hätte mich ja gern gewehrt, aber meine Reaktionsgeschwindigkeit war zu dem Zeitpunkt praktisch gleich null. Immerhin hatte ich so viel Alkohol intus, dass ich auch von den Schlägen nicht viel mitbekam – zumindest erst mal nicht. Den Zehner schulden mir die andren übrigens bis heute. Die Sirenen brachen ab. Das ackernde Licht an der Scheibe erlosch. Bestimmt standen die Wagen nun auf dem Lehrerparkplatz und entließen die Polizisten in Richtung Haupteingang. Von Weitem meinte ich ein Megafon zu hören, aber das konnte auch nur das Rauschen des Regens sein. Jetzt bloß nichts Unüberlegtes tun, halt einfach die Klappe, nur dieses eine Mal … Ich glotzte zur Türklinke. Schwarze Handschuhe, die sich um den Gri schlossen, wie bei einem Einbruch in einem schlechten Krimi. Kurz hatte ich die Ho nung, er würde einfach verschwinden, die Tür aufreißen und durch die Korridore Reißaus nehmen – doch da gri der Unbekannte auch schon nach dem Verschluss und verriegelte die Tür. Setzte den Lauf seitlich an den Drehzylinder und drückte ab. Pa ! Der Knall durchzuckte meinen ganzen Körper. Pa ! Ich presste die Hände auf die Ohren und trotzdem dröhnte es so laut, als würde jemand von innen gegen meine Hirnwände schlagen. Pa ! Pa ! Pa ! Keine Ahnung, wo die Kugeln hinpeitschten, keine Ahnung, wie viele Schüsse es tatsächlich waren, jedenfalls gab die Vorrichtung irgendwann den Geist auf und der Zylinder el klirrend zu Boden. Ich ließ die Hände sinken. »Scheiße noch mal«, murmelte Jill. Aber echt. Mit ein paar routinierten Handgri en ngerte der Unbekannte an seiner Pistole herum. Ein Klicken, ein Klacken, ein scharfes Einrasten, dann drehte er sich zurück zur Klasse. Der Typ hatte uns – und sich! – soeben den Fluchtweg abgeschnitten. Die Panik breitete sich aus wie eine Krankheit. Angstepidemie, hochansteckend und nicht mehr aufzuhalten. Wir waren gefangen! Sylvester riss den Mund auf, Lasse prustete wie ein Ertrinkender und Jan sah aus, als hätte man ihn unter Strom gesetzt. Gefangengefangengefangengefangen … Mir kam es so vor, als hätte uns jemand die Sauersto zufuhr abgedreht, als wäre die Luft plötzlich dünner als sonst. Ich keuchte. Keuchte. Keuchte. Und dachte dabei die ganze Zeit, wie dumm das war, dieses Nach-Atem-Ringen, und dass ich eigentlich auf meinen Kopf hören müsste, nicht auf die Scheißangst. Es half nichts. Das ist eben der Unterschied zwischen Mila und dir. Du denkst – Mila handelt. Ich bohrte mir die Fingernägel in die Schenkel. Warum konnte das nicht einmal aufhören, diese esen Gedanken, warum nicht mal jetzt? Jills Miene war nach wie vor ausdruckslos, aber ich konnte sehen, wie ihre dürren Knie bebten. Jill the Chiller, selbst ihr ging es also nicht anders – selbst sie hatte Angst. Ja, wirklich, Chill-Jill hatte Angst! Irgendwie beunruhigte mich das fast noch mehr als die Pistole in der Hand des Unbekannten. Wir waren in die Falle getappt, von Anfang an, wie eine Herde dummer Schafe. Hätten die Tür niemals ö nen sollen, genau wie Sylvester gesagt hatte, dann wäre jetzt vielleicht noch alles gut … Ein paar Sekunden lang schien der Unbekannte uns einfach nur zu beobachten, als wären wir Versuchskaninchen in einem besonders spannenden Experiment. Ließ uns warten, schwitzen, schrumpfen. Was für ein Gefühl es wohl sein musste, so dazustehen, die Wa e in der Hand? Die totale Gewalt zu haben über jeden, der dir in den Weg tritt? Wie fühlt man sich als Grund für Todesangst? Wenn es im Kollegium eine Umfrage gäbe, in welche Situation man als Lehrer auf keinen Fall geraten wolle, so wäre »Eingesperrt mit einem Amokläufer und 14 Schülern in einem Klassenzimmer im zweiten Stock« wohl am häu gsten angekreuzt. Nicht nur, dass man es mit einem bewa neten Irren zu tun hat, nein, man muss auch noch dabei zuschauen, wie sämtliche Ordnung den Bach runtergeht. Alles, was du errichtet hast, das Vertrauen, die Regeln, die Autorität, das alles ist plötzlich wie weggeblasen. Du bist ein erbärmliches, kleines Würstchen, und jeder einzelne Schüler weiß es. Reiß dich zusammen, Ruhe bewahren, die Polizei ist bald da. Ist bald da. Ist bald da … An dieser Ho nung klammerte ich mich fest wie ein Ertrinkender an einem Strohhalm. Man würde uns evakuieren, uns in Sicherheit bringen, redete ich mir ein. Warum nur dauerte das so lange? Fiona wirkte fahl wie ein Blatt Papier und Greta war kurz davor, ihre Brille in ein Häu ein Schrott zu verwandeln. Hektisches Getuschel im ganzen Klassenraum. Wir müssen denen zeigen, wo wir sind! Aber wie? Mein Vater holt uns schon noch hier raus … Das jedoch sofort verebbte, als der Wahnsinnige sich zu ihnen umdrehte. Die Art, wie sie vermieden, ihm in die Augen zu sehen, betreten die Blicke senkten, erinnerte mich daran, wie ich gestern noch durch die Reihen gegangen war, um die Hausaufgaben zu überprüfen. Jeder für sich versuchten wir, gar nicht vorhanden zu sein. Eine extrem unangenehme Tätigkeit. Einer der Gründe, warum ich meistens meine Hausaufgaben erledige – dieses ständige Risiko, erwischt zu werden, wär mir viel zu stressig. Gemäßigten Schrittes durchquerte er den Raum, ganz so, als sei er jetzt unser neuer Lehrer. An Autorität mangelte es ihm jedenfalls nicht! Tamara fuhr zusammen, als er die Wa e über ihre Bluse wandern ließ. Aline verschwand fast hinter ihrer Tischkante. Und Ida-Sophie, die sich sonst von keinem Lehrer was sagen ließ, stieß sogar einen spitzen Schrei aus, als der Unbekannte im Vorübergehen ihre Locken streifte. Mit jedem Schritt schien das Klassenzimmer kleiner zu werden. Das Waschbecken, die Plakate, das Steinzeitskelett, alles rückte enger zusammen. Selbst meine Luftröhre verzog sich zu einem schmalen Spalt. Nicht ich, nicht ich, nicht ich! Ich war so ein Idiot. Ich hätte die Gelegenheit nutzen sollen, als er die Pistole nachlud. Er hatte ja praktisch neben mir gestanden. Wenn ich mich unvermittelt auf ihn gestürzt hätte, dann hätte ich ihn mit ein bisschen Glück überwältigen können. Sprung auf den Rücken mit Würgegri , Füße wegziehen und draufsetzen – hatte ich etwa noch nicht genug Action-Filme geguckt? Sonderlich kräftig sah er nicht aus, obwohl er sich alle Mühe gab, so zu tun, als ob. Die festen Schritte, die vielen Jacken übereinander – das alles wirkte irgendwie einstudiert, als wollte er unter allen Umständen verhindern, etwas von sich preiszugeben. Und das konnte nur heißen, dass er schwach war. Logisch, jemand Starkes, der brauchte keine fünf Pullis übereinander, auch nicht im November. Der würde in sein Muskelshirt schlüpfen und fertig. Was ihn schützte, war einzig und allein die verdammte Wa e. Du Idiot, du Idiot, du Idiot!, schimpfte ich im Stillen auf mich ein. Meine neue kleine Schwester zerquetschte mir fast die Hand. Wie mies es gewesen war, die Kleine als Türö ner zu missbrauchen. Kinder in ihre Kriege verwickeln – so was Krankes taten echt nur Erwachsene. Hil os tätschelte ich ihr die Schulter. Was hätte ich schon sagen können, um sie zu trösten? Du hättest sie retten können, das war das Einzige, woran ich denken konnte, als der Amokläufer so durch den Mittelgang wieder nach vorne ging. Vorbei an den Tischen, Schritt für Schritt für Schritt. Noch vor wenigen Sekunden hätte ich sie alle retten können: Sylvester, Luca, Aline, Jill, die Kleine, ja sogar Herrn Filler! Und Fiona. Mann, das wäre was gewesen, ich dem Irren vor ihren Augen todesmutig die Knarre entrissen und ihn mit einem gezielten Tritt ins Traumland befördert … Einen Helden fragte keiner mehr nach seinen Schulnoten. Die Kleine schniefte, zog die Nase hoch, und auf einmal verstand ich, was sie wimmerte: »Warum macht er das?« Ja, warum. Ich stutzte, die Kleine hatte recht: Warum knallte der Typ uns eigentlich nicht einfach ab? Warum lebte ich noch? Dass er abdrücken konnte, hatte er bereits bewiesen, was hielt ihn davon ab, ernst zu machen? Skrupel? Mitleid? Irgendetwas sagte mir, dass es andere Gründe waren, die ihn zurückhielten, noch zurückhielten. Diese Zielstrebigkeit, mit der er die Tür verrammelt hatte … der Kerl hatte etwas vor. Er brauchte uns noch. Wozu auch immer. Ich wusste nicht, was ich mit meinen Händen anfangen sollte, als der Kerl wieder auf mich zukam. O en entgegenstrecken, das würde nur unterstreichen, wie wehrlos ich war. Links und rechts hängen lassen, das könnte ihn provozieren. Und hochheben, das kam mir übertrieben vor, immerhin waren wir hier nicht in einem Western. Gott, wie meine Finger fröstelten. Spontan entschied ich mich für eine vierte Möglichkeit und setzte mich darauf. Hände zwischen Sitz äche und Oberschenkel, exakt in dieser Weise hatten die Häftlinge der Stasi früher auch immer dahocken müssen. Ein Zeitzeuge hatte mir das erzählt, für meine Semesterarbeit: »Du weißt nicht, wie spät es ist, nicht, was draußen vorgeht, nicht, wie lange du schon verhaftet bist, was mit deinen Freunden, deiner Familie passiert … es gibt nur dich und den, der dich verhört. Du kannst dir nicht vorstellen, wie zermürbend das ist.« Nun, jetzt konnte ich es mir vorstellen. Ganz genau sogar, mit jeder Faser meines Körpers. Fingerspitzen, die langsam taub wurden unter dem Gewicht der Beine, Füße, die vor Anspannung pochten, die eng zusammengekrümmten Zehen. Das Haar, das mir in die Stirn hing und das ich nicht wegzuschnippen wagte. Und schließlich der Schatten, der vor mir auf die Tischplatte el. Ich schaute auf. Der Anblick, der sich mir bot, wirkte so unrealistisch, dass ich im Kino sofort die Augen verdreht hätte: eine weiße Maske, durch deren Augenlöcher nur zwei dunkle Schatten zu erkennen waren, eine unförmige Kapuzenjacke, schwarze Handschuhe, eine Pistole, die direkt auf mich gerichtet war. Ich musste etwas sagen, irgendwas, um die Lage zu entspannen. Ich hüstelte. »Ähm … Sie machen einen großen Fehler, wenn Sie jetzt …« Der Unbekannte machte einen Schritt zur Seite und zielte mit der Pistole auf Fionas Mund. Noch ein falsches Wort, sollte das wohl heißen, und ich erschieße deine Schüler, einen nach dem anderen. Er trat zu mir zurück und platzierte mir die Wa e genau zwischen den Augen. Und dann töte ich dich. Mein Rachen war plötzlich so ausgedörrt, dass ich schon befürchtete, gar nichts mehr sagen zu können. Ich versuchte, zu schlucken, doch da war nichts zum Schlucken. Mein Räuspern klang wie ein Röcheln. Mein Räuspern war ein Röcheln. Verzweifelt schielte ich wieder zum Fenster. Wie viel Zeit war vergangen seit der Durchsage? Müssten dort drüben am Zebrastreifen nicht längst die ersten Streifenwagen parken? Und vorne am Haupteingang, müssten sich da nicht schon Hunderte von Polizisten tummeln? Tausende von Polizisten, die mit Schutzschild, Helm und Dienstwa e das Gebäude erstürmten wie im teuersten Tatort der Weltgeschichte – ich sah sie förmlich vor mir, wo blieben die bloß? Greta legte mir besorgt eine Hand auf den Arm. Sie war warm und roch nach Handcreme, ich kenne niemanden, der weichere Hände hat als Greta. Solche, von denen man sich niemals vorstellen könnte, dass sie einem wehtun könnten. Fio? Alles okay? Ich antwortete nicht. Meine Lippen fühlten sich eiskalt an, starr, als könnte ich nie wieder sprechen. Als hätte der Typ sie ein für alle Mal versiegelt. Als wäre ich schon tot. Ich schüttelte den Kopf. Nein, es war nicht alles okay. Genau genommen war hier überhaupt nichts okay und das würde es auch nie mehr sein. Jedenfalls nicht von allein. Verstohlen spähte ich hinüber zu den Handys, die in einer Kiste neben dem Pult lagen. Glänzende, kleine Ho nungsträger, sorgfältig aufeinandergestapelt. Meines lag ganz oben. Es steckte in einer gelben Plastikhülle mit Hundewelpen vorne drauf und lächelte mich an. Der Unbekannte hatte sich abgewandt, tastete mit der freien Hand in dem seltsamen Beutel über seiner Schulter. Ein großer Beutel. Ich überlegte. Wenn ich mich sehr streckte, könnte ich das Ding mit den Fingerspitzen zu fassen kriegen, könnte es unter meinen Tisch ziehen, anschalten und den Notruf drücken. Den Notruf. Den Notruf. Den Notruf. »Fio!« Greta packte mich an der Schulter, sie hatte erkannt, was ich vorhatte, erkannt, dass es Wahnsinn war. Und die tiefe Furche auf ihrer Stirn verriet eindeutig, dass sie mir nicht dabei zugucken würde. »Versprich es mir«, baten ihre Augen, »versprich mir, dass du das lässt!« Ich ließ mich tiefer auf den Sitz rutschen, tiefer, tiefer, noch tiefer … Meine Hand glitt nach vorne, zitternd, aber zügig, jetzt nur noch wenige Zentimeter von der Kiste entfernt. Greta keuchte. Er bemerkte es nicht. »Sie sollten die Handys woandershin legen«, sagte Greta. Ich fuhr auf, meine Hand schnellte zurück. Zwischen mir und den Handys war auf einmal eine unüberwindliche Wand. Wie konnte sie nur! Mit einem Satz war der Unbekannte bei uns, die Wa e umkrallt. Er roch nach Schweiß und irgendeinem Waschmittel, sein Atem klang wie ein hungriges Tier. »Man könnte sonst noch versuchen, Alarm zu schlagen«, erklärte Greta, ohne mich anzusehen. »Mit den Handys. In der Kiste.« Sie verstummte. Eine entsetzliche Stille trat ein, alle warteten wir darauf, wie der Unbekannte reagieren würde – dankbar? Wütend? Ich konnte förmlich hören, wie es hinter der Maske rumorte. Bestimmt fragte er sich, was die Aktion sollte. Ob das ein Trick war, um ihn zu überwältigen, irgendwas Geniales, Todesmutiges. Dabei war es einfach bloß simpler Verrat. Langsam, ganz langsam, beugte sich der Unbekannte hinunter und hob das Kästchen auf, während er Greta mit der Wa e xiert hielt. Sie machte keinen Mucks, schaute nur stumm geradeaus. Verräterin. Im Schneckentempo wandte sich der Unbekannte zum Fenster, die Pistole starr auf Gretas Brust gerichtet. Herr Filler hob die Arme und ließ sie wieder sinken. Er sagte nichts. Mit dem Ellenbogen ö nete der Unbekannte den Riegel und schob die Scheibe nach oben. Kalte Luft fegte zu uns herein, winzige Regentropfen wehten auf mein Pult. Der Unbekannte holte ein wenig aus und … Nein. Etwas in mir weigerte sich, die einzelnen Teile der Szene zusammenzusetzen. Die Kiste. Die klackernden kleinen Rechtecke darin. Die Hand des Unbekannten. Das Fenster, an dem noch die Tropfen klebten. Und schließlich das krachende Geräusch von irgendwo da unten. Ein kollektiver Seufzer des Entsetzens breitete sich aus. Ida-Sophie presste die Hand auf den Mund, um nicht loszuheulen, Aline konnte ein Quieken nicht unterdrücken. Unsere letzte Chance, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Ich hatte sie vermasselt. Automatisch dachte jeder an das viele Zeugs, das mit den Handys in die Tiefe gerissen worden war, die vielen Fotos und Nachrichten, die nun zerschellt auf dem Schulhof lagen. Bilder von Safran schossen mir in den Kopf – Safran als Welpe im Papierkorb, Safran mit Stöckchen im Maul auf dem Eis und Clownsnase zu Karneval, Safran mit Mila im College Park. Weg. Für immer. Dann ging alles blitzschnell. Megafonstimmen schrieen durcheinander, Stiefel rumsten über den Asphalt. Dort unten mussten sie also sein, die Polizisten, hatten sich vielleicht schon um das Gebäude verteilt. So nah war die Rettung schon … Ohne es überhaupt richtig zu merken, sprang ich von meinem Stuhl und warf mich in Richtung Fenster. Ich hatte keinen Körper mehr. Ich war ein pures Panikbündel. »Hilfe!«, brach es aus mir heraus, »Hilfe!« Als er mir in den Weg trat, schrie ich noch immer, mitten hinein in sein Maskengesicht: »Wenn du dich umbringen willst, bitte, aber, was hat das mit uns zu tun?!« Ganz komisch klang meine Stimme dabei, heiser, verzweifelt, an den Enden ausgefranst. Viel zu laut. Am liebsten hätte ich ihr höchstpersönlich eine gescheuert. Das da eben, war so ziemlich das Dümmste, das Falscheste, das Idiotischste, was man nur hätte tun können! Mit zwei Handgri en hatte er sie gepackt, viel wog sie ja nicht. Tamara polterte vor Schreck fast vom Stuhl, als er Fiona am Nacken zum Fenster zerrte, die Pistole fest an ihre Wange gepresst. Greta ö nete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schien sich dann jedoch eines Besseren zu besinnen und biss stattdessen in ihren Brillenbügel. Ich schloss kurz die Augen. Ein Klirren, der kleine Kaktus, den mir mein Chef zur Verbeamtung geschenkt hatte, polterte herunter und verteilte seine Erde auf den Fliesen. Der Unbekannte hatte Fiona über die Fensterbank gestoßen. Irgendwo, von ganz weit weg, hörte ich die Stimme meiner Freundin: Und du hast gar nichts getan, um sie zu retten? Der Typ schnappt sich eine deiner Schülerinnen und du versuchst es nicht einmal? Wie eine Puppe hing Fiona in seinem Gri , während ihr die Regentropfen ins Gesicht schlugen und der Wind in ihren kurzen Haaren wühlte. Ich bebte, zitterte am ganzen Körper, nicht vor Angst, sondern vor Wut – Wut auf dieses dumme Mädchen! »Was das mit uns zu tun hat, würde ich auch gerne wissen.« Mark. Auch das noch. »Ich meine, Sie setzen sich diese bescheuerte Maske auf, kommen hier rein, bedrohen uns – was wollen Sie? Was willst du?« Ohne die Hand aus Fionas Nacken zu nehmen, drehte sich der Bewa nete zu ihm um. Sein Pappgesicht leuchtete weiß unter der dunklen Kapuze hervor, dazu die teilnahmslos- toten Augenhöhlen eines Henkers. Er sieht sich selbst nicht mehr als Person, dachte ich, er hält sich für einen Vollstrecker, frei von jeder Verantwortung – ein Gesetzloser, der nur noch nach seinen eigenen, bizarren Regeln lebt. Wenn es für ihn denn überhaupt noch so etwas wie Regeln gab … Ein Schlag. Der Bewa nete riss Fiona zurück und knallte das Fenster zu. Blut glänzte an ihrer Unterlippe. Grob schubste er sie von sich weg, zurück zu ihrem Platz. Statt einer Antwort wandte er sich zur Tafel, nahm einen meiner nagelneuen Boardmarker und schrieb. Drei Worte nur, schwarz, nach rechts geneigt, ein wenig ungelenk. Woher kannte ich diese Schrift? Bevor ich in die Schule kam, waren Buchstaben für mich wie ein geheimer Code, einer, den nur Erwachsene beherrschten und den ich unbedingt knacken wollte. Lesen, das ist was für Frauen und Schwächlinge! Ich habe meinem Vater das nie abgenommen. Für mich war absolut klar, wenn ich nur endlich lesen könnte, dann könnte mich nichts mehr aufhalten, dann wüsste ich Bescheid. Über alles. Tja, und dann kam ich in die erste Klasse. Und sobald ich wusste, was der Rotz bedeutet, war es mit dem Zauber ein für alle Mal vorbei: Anna mag Eis. Tommi spielt Ball. Und später: Subtraktion ist die Addition des Gegenwertes. Nee, danke! Die Hand des Unbekannten fuhr über die Tafel, ruckartig von links nach rechts. Von hinten sah es nicht viel anders aus, als bei den richtigen Lehrern auch – ein Rücken, ein Arm, eine Hand vor einer weißen Tafel. Trotzdem hätte ich in diesem Moment alle meine PC-Spiele hergegeben, nur um lesen zu können, was er schrieb. Er hatte mich nicht geschlagen. Nur an den Haaren gepackt, und im Nacken, geschüttelt wie einen nassen Hund. Der Blutgeschmack kam nicht durch ihn. Ich hatte mir selbst auf die Lippe gebissen. Es tat weh, aber es hätte schlimmer kommen können. Viel schlimmer – wenn Mark nicht gewesen wäre. Jemand hat dir das Leben gerettet. Der Gedanke klang unwirklich, machte mich ängstlich und gleichzeitig froh. In welche Geschichte war ich da bloß hineingeraten? So viele hatte ich gelesen, über Liebe, Tod, Verrat … jetzt steckte ich selber in einer. Einer Welt, in der alles zählt, nur nicht die nächste Matheklausur. Von jetzt an wirst du immer etwas zu erzählen haben, kam es mir in den Sinn, in den Pausen, auf den Partys, immer. Vielleicht wirst du sogar in Talkshows eingeladen! Wenn du bloß heil hier rauskommst … Wie ich zurück zu meinem Platz kam, weiß ich nicht mehr. Weg, bloß weg von diesem maskierten Monster und seinen Horrorhänden! Ich fröstelte, das Haar hing mir strähnig ins Gesicht und tröpfelte vor mir auf den Tisch. Plitsch. Plitsch. Plitsch. Ich hatte die Polizisten sehen können, weit, weit unter mir, patschnass, aber in voller Montur. Hatte ihre Maschinengewehre gesehen, ihre Helme, die dicke, schwarze Kampfkluft – und ihre entsetzten Gesten, als sie mich und den Unbekannten am Fenster entdeckten. Ich hatte gesehen, wie sie zurückgewichen waren, hektisch durchs Megafon brüllten, und miteinander sprachen. Hatte verstanden, dass wir immer noch auf uns allein gestellt waren. Neben mir spürte ich Gretas schlotternden Körper, und am liebsten hätte ich sie gepackt und genauso geschüttelt wie der Unbekannte zuvor mich. »Fio, es …«, hob sie an, doch ich drehte mich nicht einmal zu ihr um. Wo war der Ausgang aus diesem vertrackten Traum? Ich weiß nicht mehr, wie ich es scha te, den Kopf zu heben und die tanzenden Zeichen an der Tafel zusammenzufügen. Es hätte genauso gut Chinesisch sein können. Oder Arabisch. Für einen Augenblick kam es mir vor, als hätten meine Augen verlernt, die Striche und Bögen zu deuten, als hätte es all die Schmöker, die ich verschlungen hatte, nie gegeben. Meine letzten Wünsche. Das war es, was dort stand. Nichts Blutrünstiges, nichts Monstermäßiges, nur diese drei einfachen Wörter: Meine. Letzten. Wünsche. War das der Grund, warum er hier war? Weil es sein letzter Wunsch war, sich bewa net auf eine Gruppe Schüler zu stürzen? Wenn ja, dann war er einfach krank, mehr als krank. Was konnte er denn schon gegen uns haben? Ich weiß noch, früher, als ich kleiner war, hatte ich immer große Angst gehabt, nach Einbruch der Dunkelheit noch vor die Tür zu gehen – und sei es nur, um die Kaninchen zu füttern. Irgendwie hatte ich jedes Mal das bedrohliche Gefühl, dass da jemand lauerte, stundenlang hinter den Regentonnen ausharrte, nur um mich umzubringen. Vielleicht kennst du das auch, wenn du abends das Licht ausschaltest, diese völlig irrationale Panik, als wäre die Welt plötzlich gefährlicher geworden, nur, weil du auf den Schalter gedrückt hast. Als Kind ist so was ja noch okay, aber bei mir wurde es mit zunehmendem Alter nicht schwächer, sondern schlimmer. Immer detailliertere und blutrünstigere Attentate malte ich mir im Dunkeln aus. Am Anfang waren es noch Messer und Gewehre, später auch Äxte, Kettensägen und Würgeseile – was das anging, kannte meine Fantasie keine Grenzen. »Fio, Liebes, du bist doch sonst so vernünftig«, versuchte meine Mutter mich davon abzubringen, aber es half nicht. Erst mit dem Besuch meines Patenonkels besserte sich die Sache. Als ich ihm widerstrebend gestand, warum ich mich nicht traute, Alma und E ie frische Karotten zu bringen. Mein Patenonkel arbeitete bei der Kripo, als Oberkommissar, und im Gegensatz zu meinen Eltern nahm er mich ernst. Kurzerhand schickte er meine Geschwister aus dem Zimmer, zückte seinen Notizblock, und fragte mich ganz ernsthaft, ob ich irgendwelche Feinde hätte, ob sich in letzter Zeit merkwürdige Typen in meiner Umgebung herumgetrieben hätten oder ob ich in irgendwelche kriminellen Machenschaften verwickelt sei. Sein Fazit: Nach umfassenden polizeilichen Ermittlungen bestand bei mir keine akute Ermordungsgefahr. Das wirkte! Wann immer ich nun allein durch den Garten geistern musste, ich wusste genau, dass es absolut kein Motiv gab, mir etwas anzutun. Und, dass mir deswegen auch nichts passieren würde. Der Experte hatte geurteilt – der Fall war klar: Ich war kein Opfer. Bis jetzt … Ich verstand es einfach nicht. Konnte nicht begreifen, wie das alles hatte passieren können, der Pistolentyp, das Fenster, diese ganze, furchtbare Situation. Hatte mein Onkel etwas übersehen? Gab es etwa doch einen Grund, weshalb jemand es auf mich abgesehen haben könnte? Bang! Noch bevor ich überhaupt dazu kam, über den Sinn der Inschrift zu rätseln, knallte der Unbekannte ein prall zusammengeschnürtes Päckchen auf den Tisch. Lauter einzelne Briefumschläge, mindestens zehn Stück. Auf dem obersten prangte eine große, schwarze Eins. Der erste Wunsch? Ich wischte mir den Mund ab. Es war absurd, einfach absurd. Da platzte dieser Wahnsinnige in meinen Unterricht, zerschoss die Einrichtung, bedrohte meine Schüler, und wozu das alles? Um mir einen Stapel Papierkram auszuhändigen! Einen stinknormalen Haufen Briefumschläge, womöglich aus dem Copyladen um die Ecke. Genau zehn Stück waren es – schmal rechteckig, mit blauem Ökoengel in der Mitte. »Was … äh … was soll ich denn damit?« Meine Finger hinterließen kleine Abdrücke auf dem Papier, Schweiß auf Weiß. Wie eine stumme Armee blickten die Schüler zu mir nach vorn, bleiche Wangen, feuchte Schläfen, Augen so erschreckend ernst. Sah ich richtig? War da wirklich noch Ho nung in einigen Gesichtern? Ja, du meine Güte, wo nahmen die die denn bitte her?! Fabio, die Arme immer noch vor der Brust verschränkt. Tamara, die ergeben zu mir aufblinzelte, ein Schweinchen vor der Schlachtbank. Die kleine Greta, die mich über ihre Brille hinweg bittend anschaute. Sylvesters eindringlicher Blick: Sie werden das schon richten, Mann, oder? Sie lassen uns doch nicht im Stich. Dieser verdammte, naive Haufen. Was erwarteten die bloß von mir? Ich war Lehrer, kein Mission-Impossible-Leiter! Die Einzige, die wie immer gleichgültig durch ihre lila Haare hindurch aus dem Fenster guckte, war Jill. Dezent irre wirkte das auf mich, wie sie mit ihren schwarz umrandeten Augen in das Wolkengetümmel starrte. Ach ja, und natürlich Mark. Regungslos hockte er auf seinem Stuhl und musterte den Schweiß auf meiner Stirn. Er hatte mich noch nie respektiert, Verachtung pur, schon ab der ersten Stunde. Mark Winter eben. Alles an ihm drückte aus, dass er bereits wusste, dass ich versagen würde. Ich holte tief Luft und wandte mich auf meinem Drehstuhl um, weg von der Klasse, hin zum maskierten Mann mit Pistole. Allein die bloße Bestätigung seiner Anwesenheit haute mich schier um. Er war noch da. Hatte sich nicht in Luft aufgelöst, wie ich es insgeheim geho t hatte. Dies hier war keine Fata Morgana, es war immer noch real – ein atmender Haufen Sto , ein blank geputzter Pistolenlauf, Hände, die die Macht hatten, mich zu töten. Bitte nicht. Bitte, bitte nicht – für die Schüler, für Valérie und ja! auch für mich selbst. Ich will noch nicht sterben. Ich kann noch nicht sterben. Ich bin von Kopf bis Fuß noch nicht dazu bereit. »Tja, also …« Ich schob den Stapel von mir, wartete auf eine Erklärung, oder vielleicht auch auf einen Befehl. Irgendwas, um die Lage besser einschätzen zu können. Mich zu koordinieren. Geeignete Maßnahmen einzuleiten. Schließlich gab es doch für alles Lösungen, oder nicht? Briefumschläge, haufenweise Briefumschläge. Waren die etwa für uns? Nach dem, was er mit Fiona beinahe angestellt hatte, traute sich keiner mehr, eine Frage zu stellen. Ich auch nicht. Fiona und ich, wir waren beide gerade noch mal so davongekommen, ich hatte nicht vor, das zu verschenken – und ich ho te inständig, dass sie es auch nicht tat. Ihre hellgrüne Bluse klebte an ihrer Haut. Noch zerbrechlicher als sonst kamen mir ihre Schultern vor, man sah ihr an, dass sie Mühe hatte, aufrecht sitzen zu bleiben.

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