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Oppermann_Was-wir-dachten,-was-wir-taten_9783407747709.pdf

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Lea-Lina Oppermann, geboren 1998 in Berlin, studierte an einer staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Geschichten zu hören, zu lesen und zu erleben, hat sie dazu gebracht, selbst mit dem Erzählen anzufangen. Ihr Debüt »Was wir dachten, was wir taten« wurde mit dem Hans-im-Glück-...

Lea-Lina Oppermann, geboren 1998 in Berlin, studierte an einer staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Geschichten zu hören, zu lesen und zu erleben, hat sie dazu gebracht, selbst mit dem Erzählen anzufangen. Ihr Debüt »Was wir dachten, was wir taten« wurde mit dem Hans-im-Glück-Preis für Jugendliteratur ausgezeichnet. Zuletzt erschien der Roman »Fürchtet uns, wir sind die Zukunft«. Für Leif Wir werden dir erzählen, was wirklich passiert ist. An diesem Tag. In diesen 143 Minuten. Wir werden dir erzählen, was wirklich passiert ist. Kann sein, dass es dich verändert. Kann sein, es lässt dich kalt. Kann sein, dass du schon davon gehört hast, im Fernsehen oder in den Schlagzeilen. So viele Reporter, die darüber berichtet haben, Fotos geknipst und mit dem Rektor gesprochen … Wenn ja, vergiss es, nichts davon ist wahr. Wir werden dir erzählen, was wirklich passiert ist. Wir waren dabei. Mark Winter Fiona Nikolaus A. Filler »Es ist ein schwerwiegendes Sicherheitsproblem aufgetreten. Bitte bewahren Sie Ruhe. Begeben Sie sich sofort in einen geschlossenen Fachraum und warten Sie auf weitere Anweisungen.« Mark Als es plötzlich im Lautsprecher knackte, war ich schon kurz davor, alles hinzuschmeißen. Die Durchsage war meine Rettung. Während alle andern die Decke anstierten, nutzte ich die Gelegenheit, um vom Knallermann die dritte Aufgabe abzuschreiben. Knallermann, das ist Sylvester (Mädchenschwarm und Mathecrack – Knallermann macht’s möglich). Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Herr Filler in meine Richtung spähte. Ein spitzschnabliger Habicht, bereit, sich auf mich zu stürzen. Scheiße, dachte ich, und dabei hatte ich mir so viel Mühe mit der Platzwahl gegeben. Bei Klausuren muss man sich günstig positionieren, am besten ganz hinten in der Ecke bei dem Eingang. Schnell tat ich so, als wäre ich in meine eigenen Rechnungen vertieft. »Mark!« Ich zuckte zusammen. Er hatte mich erwischt. Sechs, aus, Ende. »Mark Winter! Schließt du mal bitte die Tür ab?« Jetzt erst blickte ich von meinem völlig sinnlosen Gekritzel auf. »Was?« »Du schließt sofort die verdammte Tür ab!« Ich war mir nicht sicher, ob mein mathegeplagtes Hirn mir nicht einen Streich gespielt hatte. Konnte das wirklich Herr Filler gesagt haben? Statt den Lautsprecher starrten jetzt alle mich an. »Mach endlich die Tür zu, du Depp!«, rief Sylvester. »Beeilung!«, kommandierte Herr Filler. Ich stand auf. Ging die zwei Schritte zur Tür. Drehte den Verschluss zweimal rum. »So okay?« Herr Filler nickte schwer atmend. »Mehr können wir im Augenblick nicht tun.« Fiona Herr Filler war für mich immer nur der smarte Mathelehrer. Der Mann in Jeans und dunkelblauem Sakko, der sich im Unterricht nie hinsetzte und auch nicht hin und her schlenderte. Herr Filler stand einfach, und zwar mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Wie ein Filmstar, der einen Soldaten spielen soll. In den ersten Wochen hatte es in unserer Klasse keine dringlichere Frage gegeben als die, ob er nun Schulterpolster trug oder nicht und ob er sich die Haare wohl färbte. Blond. Blond mit blauen Augen und ohne Schulterpolster. Das war Herr Filler. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, er könnte auch nur eine Sekunde lang nicht Herr der Lage sein. Herr Filler und Angst, das war unmöglich! Aber ich saß in der ersten Reihe. Und ich kann dir schwören, der hatte so was von Bammel. »Herr Filler? Ist das der Amokalarm?«, fragte Ida-Sophie. Ihre Locken wippten auf und ab. Richtige Korkenzieherlocken waren das, keine fedrigen Vogelnest usen. Amokalarm. Mit welcher Lockerheit sie das gesagt hatte, als ginge es nur um einen Fehler im Vertretungsplan. Amokalarm. Ein Unbehagen breitete sich zwischen uns aus, hüllte uns ein wie eine dichte Wolke. Ich sah meinen Füllerdeckel über die Tischkante kullern, ohne dass ich ihn aufhielt. Lauschte dem leisen Auftitschen. Merkte, wie Herr Filler bei dem Geräusch zusammenzuckte. Es gibt Wörter, da kommt es gar nicht darauf an, wie du sie aussprichst. Es reicht, dass du es tust. »Na ja, kein Grund, gleich den Teufel an die Wand zu malen.« Herr Filler versuchte, selbstsicher zu klingen, so wie sonst. »Ein Sicherheitsproblem, das kann alles Mögliche sein.« Er strich sich über sein Sakko, als wollte er die Angst wegschnippen wie einen Fussel. Strich über Schultern, die keine Polsterung nötig hatten. Herr Filler würde nicht zulassen, dass uns etwas passierte, das wusste ich. Eigentlich. »Aber wenn es ein Amokalarm wäre«, fragte ich, »dann würde diese Durchsage kommen, oder?« Herr Filler nickte. Woraufhin ein kleiner Tumult ausbrach, alle redeten durcheinander. Was, ein Amokläufer? Nein, das kann nicht sein. Ein echter Amokläufer?! Ich war genauso ungläubig wie der Rest der Klasse. »Wer sollte das denn bitte sein?«, raunte ich meiner Freundin Greta zu, »so durchgeknallt ist doch hier keiner!« Meine Stimme klang schnell und spuckig und überhaupt nicht nach mir selbst. Ich sah Greta an. Durch die Brille wirkten ihre Augen noch runder, als sie es ohnehin schon waren – große, dunkle Sorgenaugen. Sag was, dachte ich, los, stimm mir zu, mach mir keine Angst! Greta fummelte an ihrem Brillenbügel. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte oder verlegen war. An manchen Stellen war das Plastik schon ganz blank poliert. »Wahrscheinlich nicht«, antwortete sie. Wahrscheinlich. Das Wort ge el mir ganz und gar nicht. »Würden die doch endlich verraten, was los ist«, sagte ich. »Herr Filler hat recht, schwerwiegendes Sicherheitsproblem, das kann alles Mögliche sein!« Regentropfen pladderten in der Stille gegen das Fenster. Zerplatzten an der Scheibe wie winzige Geschosse. »Ja«, murmelte Greta, »das kann alles Mögliche sein.« Ich dachte an die letzte Pause zurück, die vielen Schüler, in Grüppchen über den Hof verteilt. Manche quatschend auf den Stufen, manche auf der Mauer, um noch schnell die Hausaufgaben abzuschreiben, manche dahinter … Ein paar komische Typen waren schon dabei. Solche, die sich die Haare färbten, alle zwei Tage anders, oder die T-Shirts trugen mit Marilyn-Manson-Zitaten oder die sich die Zunge piercen ließen, einmal mittendurch. Wie verrückt musste man sein für einen Amoklauf? »Herr Filler!« Mark meldete sich, der Idiot aus der letzten Reihe. »Heißt das, wir müssen die Klausur nicht zu Ende schreiben?« Ich lachte, laut und schrill. Wie absurd war das denn? »Ruhe!« Da war sie wieder. Herrn Fillers Autorität. Er stemmte die Hände in die Hüften und fokussierte uns einen nach dem anderen. »Freunde, wahrscheinlich ist das hier kein echter Amokalarm. Wir warten gemeinsam auf weitere Anweisungen, bis dahin seid ihr einfach ruhig und arbeitet weiter.« Allgemeines Aufstöhnen. »Na toll.« Seufzend ließ Ida-Sophie den Kopf auf die Tischplatte sinken und eine Welle von Haaren schwappte über die Kante. »Ich dachte, wir müssen kein Mathe mehr machen …« Sie p ückte sich eine Locke aus der Stirn und gähnte. Ich mochte sie nicht besonders, vermutlich weil sie hübsch war. Versteh mich nicht falsch, ich hab nichts gegen hübsche Menschen. Nur gegen solche, die wissen, dass sie hübsch sind, und Ida-Sophie wusste das sehr genau. »Meint ihr, da ist wirklich jemand … unterwegs?«, fragte Tamara vorsichtig. »Jemand mit einer echten Wa e?« Durch die rosa Pausbäckchen wirkte sie immer noch ein wenig wie ein Kind, ein ziemlich verstörtes Kind. Aber vielleicht waren wir das auch alle. Verstörte Kinder. »Ich hab gesagt, ihr sollt abwarten!«, herrschte Herr Filler sie an und Tamara sackte zusammen. »Weiterarbeiten! Freunde, ihr habt noch viel zu tun!« Sylvester hob die Hand, gerade so, dass es wichtig und gleichzeitig lässig aussah. »Sorry, aber wir können doch nicht abwarten und gleichzeitig weiterarbeiten, das geht einfach nicht.« Er lächelte verschmitzt. Und wie das bei ihm so ist, waren alle sofort auf seiner Seite: »Echt.« »Genau!« »Find ich auch.« »Knallermann, go!!« Das ist schwer zu verstehen, wenn man ihn nicht kennt. Wenn mich vor ein paar Jahren jemand gefragt hätte, wie ich mir jemanden vorstellte, der Sylvester hieß, hätte ich sicher alles Mögliche gesagt, nur nicht cool. Bis unser Sylvester kam und alles über den Haufen warf. Umwerfend, ja, das war er, der Knallermann! Ich weiß nicht, wie er das machte, aber aus seinem Mund klang alles gut und schlau, und selbst wenn er schwieg, sagte das mehr aus als alles, was irgendein anderer von sich gab. Er war einfach ein Wunder, ein Genie, eine Bombe, kurzum: der absolut hinreißendste Junge, den man sich vorstellen kann. Dabei sah er nicht mal besonders modelmäßig aus. Okay, er sah schon gut aus mit seinem rabenschwarzen Haar, dem aufrechten Rücken, dem klaren, blauen Blick … Aber das taten Fabio und Luca auch und trotzdem hielt in ihrer Gegenwart nicht alle Welt den Atem an. Vielleicht war das so eine biologische Reaktion, vielleicht verfügte Sylvester über genau die Stimme, das Lachen, den Gang, bei denen jeder sofort »Sympathisch!« denkt, ganz automatisch. Es war ein Phänomen. Wie von selbst nickte ich mit dem Kopf, einfach, weil er das sagte, dabei hätte ich gar nichts dagegen gehabt, die Klausur noch zu Ende zu schreiben. Ich gebe es ja nur ungern zu, aber ich mag Mathe. Ich mag Zahlen. Ich mochte sogar Herrn Filler, obwohl ich nicht glaube, dass es irgendwo auf der Welt einen eingebildeteren Mathelehrer gibt. »Danke, Sylvester, für diesen außerordentlich scharfsinnigen Beitrag.« Herr Filler war der Einzige, dem das Sylvester-Syndrom nichts anhaben konnte. Musste ein genetischer Defekt sein. »Keine Ursache!« Herr Filler zog die Stirn kraus, setzte seine »Ich warne euch«-Miene auf. »Freunde, ich warne euch, der Nächste, den ich ermahnen muss, kann sein Matheheft wirklich abgeben.« »Och, Herr Filler«, Aline schlug die Beine übereinander und guckte so mäuschenmäßig wie möglich, »wir können uns gar nicht mehr konzentrieren …« »Ruhe jetzt, die Zeit läuft weiter!« Hinter mir sprang jemand geräuschvoll vom Stuhl auf, Turnschuhe quietschten über den frisch geputzten Plastikboden. Ich drehte mich um. Mark. Ohne ein Wort bahnte er sich den Weg durch die einzelnen Tische nach vorne, die Matheklausur unterm Arm. Besonders cool sah er dabei nicht aus. Der verwaschene Pulli, den er trug, schlackerte zu sehr an ihm herunter, um noch wirklich modisch zu wirken, und die Turnschuhe hinterließen eine Bröselspur, die genauso matschbraun war wie sein Haar. Über seinem linken Auge kla te eine Narbe, einmal quer durch die Braue wie ein X. Darunter Furchen, so tief wie bei einem, der seit Monaten kaum geschlafen hat. Wer bist du eigentlich? Mir el auf, dass dies das erste Mal war, dass ich ihn aus seiner Ecke herauskommen sah. Normalerweise hockte er bloß mit verschränkten Armen da, gebeugt, als interessiere er sich mehr für seine Schnürsenkel als für uns. Mark stehend und Herr Filler sitzend – das war neu. Drei schrecklich spannungsgeladene Sekunden lang starrten sich die beiden einfach an, lange, unerträglich lange, dann holte Mark aus und klatschte Herrn Filler die Blätter auf den Tisch. Ich erschrak fast so sehr wie Greta. Das hier war eine andere Nummer als ein vermasselter Vokabeltest, es war unsere letzte Klausur vor den Ferien und, wie Herr Filler mehrfach betont hatte, die wichtigste. »Mark, willst du es nicht zumindest noch mal versuchen?« Herrn Fillers Kiefer verhärtete sich. »Noch hast du genug Zeit …« Doch der schüttelte nur den Kopf. »Nö. Falls hier wirklich ein Irrer mit ’ner Knarre rumläuft, will ich die letzten Minuten meines Lebens nicht mit Mathe verbringen.« Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, stolz vielleicht oder einfach verrückt. Er steckte die Hände in die Taschen und setzte sich zurück auf seinen Platz. In diesem Moment verstand ich die Relativitätstheorie (wenn auch nicht ganz so wie Einstein). In der Schule ist alles relativ wichtig. Wichtig also in Relation zu anderen Sachen. Wichtiger, als zu Hause auf dem Sofa rumhängen. Unwichtig, wenn es um Leben oder Tod geht. Wer weiß, vielleicht saßen wir nur da rum und lösten Gleichungen, weil uns gerade nichts Besseres ein el. Jetzt, wo ich so drüber nachdenke, kann ich das erklären. Damals dachte ich nur: Irgendwie hat er recht, diese dämliche Klausur ist jetzt doch völlig egal. »Diese dämliche Klausur ist jetzt doch völlig egal!«, rief Fabio zwei Reihen hinter mir, anscheinend hatte sich die Relativitätstheorie nicht nur mir o enbart. Geschlossen wie eine Gang sprangen Sylvester, Fabio und Ida-Sophie von ihren Stühlen auf. Oder war Sylvester eine Millisekunde vor Fabio und Ida auf den Beinen? Bestimmt, schließlich war er der Anführer, immer. Er blickte sich um und seine Augen funkelten so blau wie nur irgendwas. Sylvester. Mannometer. Fabio schlug ihm auf die Schulter, Fabio, das Kraftpaket, und trotzdem zuckte Sylvester kein bisschen zusammen, er nicht. Stattdessen lächelte er, mit halbem Mundwinkel, schaute kurz zu mir, zu mir!, zu mir!, und dann weiter an mir vorbei zu Ida-Sophie. Sie lächelte zurück. Strahlte, fraß ihn fast auf mit ihren riesigen weißen Zähnen, merkte er das nicht? Es versetzte mir einen Stich, mit welcher Selbstverständlichkeit er sich an ihrem Körper vorbeischob, so dicht, dass ihre Hände sich streiften, seine braun gebrannt und mit dunklen Härchen besetzt, ihre lang und fein wie Elfen nger. So traten sie nach vorne, Sylvester, Ida-Sophie und ganz zum Schluss Fabio. Wie eine wahnsinnig schöne Gang. Und mit welcher Eleganz knallten sie Herrn Filler die Klausurbögen vor die Nase! Erst Sylvester, dann Ida-Sophie und schließlich mit einem unglaublich lauten Wumms Fabio, während Herr Filler daneben stand. Auf einmal wirkte der nicht mehr ganz so smart in seinem maßgeschneiderten Sakko. Arbeitsverweigerung in seinem Unterricht! Unter anderen Umständen hätte das niemand gewagt. Unglaublich, wie schnell sich alles ändern kann, dachte ich, während ich mich streckte, um meine Blätter zu denen der anderen segeln zu lassen. Ja, genau das tat ich, auch wenn ich ein aues Gefühl dabei hatte: Ich ließ sie Herrn Filler vor die Nase gleiten, genau wie Sylvester, genau wie Mark. Viereinhalb eng bekritzelte Seiten, bedeutungslos mit einem Schlag. Wow. Ich hatte nicht einmal dafür aufstehen müssen. »Fiona! Wenigstens du könntest versuchen, die Arbeit abzuschließen.« Herr Filler klang jetzt fast ehend. »Das ist doch einfach nur Trotz, wir sind hier nicht mehr in der fünften Klasse …« Ich schaltete auf Durchzug. Was er sagte, war plötzlich albern. Es war irrelevant. »Was machen wir eigentlich, wenn wir Schüsse auf dem Flur hören?«, unterbrach ich ihn. »Stellen wir uns tot?« Ein paar der anderen lachten, doch ich erkannte ihre Stimmen nicht wieder. »Genau, was machen wir dann?« Ida-Sophie legte den Kopf schief. »Hatten Sie dazu nicht vielleicht eine Einweisung oder so?« Herr Filler Nein, ich hatte keine Einweisung oder so. Feueralarm ja, Amokalarm nein. Ich war erst seit knapp zwei Jahren an der Schule, Herrgott! »Erst mal warten wir auf weitere Anweisungen.« Ich zwang mich dazu, mich nicht von der Aufregung der Schüler anstecken zu lassen. Vorbildfunktion. »Ich bin sicher, man wird uns bald genauer informieren, so lange bewahren wir bitte Ruhe. « Bitte. Wie es mir auf die Nerven ging, dieses hö iche Getue. Hört mal bitte zu, seid mal bitte leise, benehmt euch bitte nicht wieder wie im Kindergarten … Immer hö ich bleiben. Die Schüler akzeptieren. Transparenz. Manchmal wäre ich gern in einem anderen Jahrhundert geboren. Nur Mut, mein Junge. Nachsichtig schaute Pythagoras von seinem Gemälde zu mir herunter, der weiseste Mathematiker aller Zeiten mit wallendem Vollbart und Denkergesicht, eingerahmt in Gold. Meine Freundin hatte ihn mir geschenkt, zu Weihnachten, letztes Jahr. Valérie. Wie viel lieber wäre ich jetzt bei ihr daheim gewesen! Hätte mit ihr auf der Couch gelegen, ihre herrlichen gefüllten Pfannkuchen vertilgt oder meinetwegen auch für sie den Staubsaugerbeutel gewechselt. Trotz Hausstaubmilbenallergie. Denn natürlich gaben sich die Schüler damit nicht zufrieden. Warten, das können Jugendliche nicht besonders gut. Schon gar nicht auf weitere Anweisungen. Noch schla er als sonst hingen sie auf ihren Stühlen, blass und unsicher, als würden sie von ihrer eigenen Coolness zu Boden gezogen. Ein Haufen Leichen in meinem Klassenraum. Einen winzigen Augenblick lang stellte ich mir das tatsächlich vor, die ganze Klasse, ausgelöscht von einem Moment auf den anderen. Was würde mein Chef dazu sagen? »Kann ich bitte mein Handy wiederhaben, ich müsste mal kurz meiner Mum schreiben …« Sehnsüchtig schaute Aline zu der Kiste unter meinem Pult herüber. Enges Top, lange Wimpern und ein Gesicht, dem man ansah, dass sie sich viel Mühe gab, es möglichst erwachsen wirken zu lassen. Sie schob die Unterlippe vor, ihre Augen glänzten mich an. Aline war eines dieser vielen überforderten Mädchen, die ihre Rolle erst noch nden mussten – man musste Geduld mit ihnen haben. »Ich auch!« Gleich mehrere Schüler sprangen auf Alines Handy-Gejammer an. »Dann können wir auch gleich beim Sekretariat nachfragen …« Ida-Sophie hatte sich auf ihrem Stuhl umgedreht und tuschelte hektisch mit Sylvester. »Ruhe im Karton!« Ich zwang mich zur Konzentration. Vielleicht war irgendwo in der Schule ein Problem aufgetreten – nun gut, das lag außerhalb meines Handlungsbereiches, daran konnte ich nichts ändern. Später würde man mich informieren. Bis dahin musste ich, so gut es ging, die Stellung halten. Was ich brauchte, war ein Plan. Es ist wie im Krieg: Wenn man gewinnen will, dann reicht es nicht, sich seine eigene Taktik zu überlegen, nein, man muss auch die Aufstellung des Gegners studieren. Günstigerweise handelte es sich um eine kleine Klasse, nur acht Doppeltische. In vorderster Front: die Musterschüler, natürlich. Fiona, Brillen-Greta und an einem zweiten Tisch daneben Tamara mit ihrem dicklichen Kindergesicht. Folgsam und p egeleicht alle drei. Was hatte Fiona sich bloß dabei gedacht, mir ihre Klausur hinzuschmeißen? Linker Flügel: die Desinteressierten, die sich nicht einmal die Mühe gemacht hatten, Mark zu folgen. David und Jill in ihrer Friedhofstracht – ein wenig unheimlich, aber harmlos. Im Zentrum: Ida-Sophie, die lockige Anführerin, ankiert von ihrer besten Freundin, deren Namen ich ständig vergaß. (Thea oder Svea oder so ähnlich). Bei ihr musste ich vorsichtiger sein. Wenn ich Ida-Sophie verärgerte, hatte ich in Kürze den ganzen Raum gegen mich. Dahinter, in der Mitte, lungerte die Muskelkohorte, Sylvester und seine durchtrainierten Kumpane. Luca und Fabio. Deren betonte Lässigkeit, die mir sonst so auf die Nerven ging, war heute vielleicht ausnahmsweise einmal nützlich. Jeden, der half, Panik zu vermeiden, konnte ich gut gebrauchen. Zumal Lucas momentane Freundin und Sitznachbarin Aline mit ihrem Gejammer noch immer Unruhe stiftete. Rechts am Fenster: diejenigen, die es nicht in die Muskelkohorte gescha t hatten – der eine, Jan, weil er zu fett war, der andere, weil er ständig von seinen Eltern zum Lernen verdonnert wurde. Lasse. Sein Vater war im Elternrat. Und dann war da noch Mark. Einzelkämpfer, zum Glück. Von ihm ging eindeutig die größte Gefahr aus. Typisch für ihn, sich direkt an der gegenüberliegenden Wand zu positionieren. So nah wie möglich am Ausgang und so weit wie möglich entfernt von mir und der Tafel. Man war ja schließlich nicht zum Lernen hier. Das Tuscheln breitete sich aus, zunehmend erregter. »Wenigstens ein Handy könnten Sie zur Sicherheit rausrücken«, brummte Sylvester, »meins zum Beispiel …« Luca nickte zustimmend. »Mein Vater ist im Elternrat!«, rief Lasse. Allmählich geriet ich wirklich ins Schwitzen. Mathe, Sport und Geschichte, das konnte ich den Kindern beibringen, aber nicht, wie man sich in einer solchen Situation verhält. Ich wusste es ja selbst nicht! Verzweifelt kramte ich in meinem Gedächtnis nach brauchbaren Verhaltensregeln, aber da waren keine Regeln. Bloß eine schwache Erinnerung an diese aufdringliche Frau mit der schwarzen Fleecejacke, wie sie ein Handout nach dem andern austeilte. Beim Vortrag letztes Jahr. Stundenlang hatte die krakeelt über Risikofaktoren und Prävention – es war die längste Konferenz meines Lebens gewesen und am Ende konnte ich mich trotzdem nur noch an die vielen blondierten Haare erinnern, die an ihrer Jacke klebten (sechs auf den Schultern, drei auf dem Rücken und acht auf der Brust). Was hatte die noch gleich zum Thema Amoklauf gesagt? Ruhe bewahren. Ablenken. Auf keinen Fall eine Massenpanik bei den Eltern auslösen. Das war alles, was ich behalten hatte. Diese ver uchten Haare! »Die Handys bleiben bei mir«, sagte ich. »Vielleicht brauchen wir die noch, um … äh … mit der Polizei in Verbindung zu bleiben.« Entsetzte Blicke. »Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass es da wirklich ein ernstes Problem gibt!«, fügte ich hastig hinzu. Hervorragend, jetzt hast du zwar nicht bei den Eltern, aber dafür bei den Schülern eine Massenpanik ausgelöst. »Der hat das doch voll nicht unter Kontrolle«, piepste Aline und am liebsten hätte ich sie dafür mit ihrem Smartphone abgeworfen, »vielleicht sind wir gleich alle tot!« Luca nickte, sein brauner Pony el ihm bis fast über die Augen. Er schlang seiner Freundin beschützend den Arm um die Schulter, während er mich nster musterte. »Echt.« Ich beschloss, es ganz wie die Monarchen im 19. Jahrhundert zu machen: die Meute durch kleinere Zugeständnisse ruhigstellen. »Na schön, ich seh ja ein, dass es unter diesen Umständen etwas viel verlangt ist, noch zu Ende zu schreiben. Gebt die Blätter ab, ich werte das Ganze als Test, und nächste Woche wird wiederholt. In Ordnung?« Das wirkte. Sylvester klopfte anerkennend auf die Tischplatte, Fabio grinste. Aline befreite sich aus Lucas Umarmung und entblößte eine Reihe äußerst gerader Zähne. »Danke, Herr Filler! Sie sind voll nett!« Noch vor einem Jahr wäre ich rot angelaufen vor Stolz, heute nickte ich nur knapp. Schüler sind eine wankelmütige Masse und sie sind bestechlich. Sehr bestechlich. Kein Kapitän wäre mit einer solchen Mannschaft in See gestochen – einer Mannschaft, bei der jederzeit die Gefahr einer Meuterei bestand, nur weil die Wellen ein wenig höher schlugen. Ich lehnte mich gegen die Tischkante. Mein Rücken kribbelte unter dem vollgeschwitzten Sto der Schulterpolster, doch ich zog das Sakko nicht aus. Falls ich schon sterben sollte, dann wenigstens ordentlich gekleidet. »Also schön, Freunde, dann schickt mir mal den Rest der Blätter nach vorne.« So tun, als wäre das alles so geplant, das war der Trick. Dazu eine gesunde Portion Selbstbewusstsein und der Röntgenblick – mehr brauchte es nicht, um den Schülern Respekt einzu ößen. Keine Klingel, wie die Pappenheim sie immer benutzte, und auch keine dieser lächerlichen Klangschalen. Schon war das ganze Klassenzimmer erfüllt von eilfertigem Rascheln, das Flüstern verstummt. Ich spürte wie meine Schultermuskeln sich lockerten. Alles war gut. Man gehorchte mir. Stapel von kariertem Papier wurden von Reihe zu Reihe nach vorne durchgegeben, schlitterten über Tische, glitten hinunter, wurden wieder aufgehoben und landeten schließlich auf Gretas Schoß. »Bitte schön, Herr Filler.« Hastig drückte sie mir die Bögen in die Hand, schlug schnell die Augen nieder, bevor ich etwas erwidern konnte. (Noch eine dieser Schülereigenarten: Schau niemals einem Lehrer in die Augen!) Ich räusperte mich. »Und jetzt«, fuhr ich besänftigend fort, »sind wir am besten komplett leise. Falls, nur falls, da draußen von jemandem Gefahr ausgeht, wird er denken, der Raum sei leer.« Kaum, dass ich das gesagt hatte, klopfte es. Mark Fast hätte ich gelacht. Da steht der großkotzigste Lehrer der Welt vor dir, und plötzlich klappt ihm die Kinnlade runter, als hätte er gerade erfahren, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Oder ihm wäre soeben aufgegangen, dass er seinen Fallschirm vor dem Sprung im Flugzeug liegen gelassen hat. Nur blöd, dass ich wahrscheinlich genauso geguckt habe. Abgesehen davon, dass ich kurz davor war, laut loszuprusten, hatte ich eine Mordsangst. Ich will hier raus! Nie zuvor hatte ich das inbrünstiger gespürt als jetzt, gefangen in Herrn Fillers Klassenzimmer. Scheiße, ich wollte so dringend woandershin, raus aus diesem verdammten Kä g! Mein Blick og hinüber zum Fenster, suchte nach einem Weg nach draußen. Über die Fensterbank? An der klapprigen Regenrinne entlang? Runterspringen, aus dem zweiten Stock?! Es war ausweglos. Auch wenn ich kein Mathe konnte, die Gesetze der Schwerkraft kannte ich. »Amokläufer klopfen nicht«, behauptete Lasse in die Stille hinein, »so was machen die nicht, das weiß ich, mein Vater ist bei der Polizei.« Vielleicht hätten die Leute ihm eher geglaubt, wenn seine Stimme nicht so sehr dabei gezittert hätte. »Oder, Herr Filler? Ist doch so?« Hilfe suchend wandte er sich nach vorne, glotzte zu Herrn Filler, als wäre der das Orakel vom Dienst. »Der würde nicht klopfen, ne?« Als ob Herr Filler das wüsste! Der stand noch immer da wie erstarrt. Verkni ener Mund, Tropfen an der Adlernase, Augen wie zwei wild ackernde Blaulichter. Es klopfte erneut. »Wir machen nicht auf, Herr Filler, ja?« Sofort hatte Ida-Sophie einen ganzen Fanclub auf ihrer Seite. Aufmachen? Niemals! Wir waren doch nicht lebensmüde! Ich schnaubte verächtlich. Betrachtete die andren wie über eine Mauer hinweg, als wäre da eine unüberwindliche Grenze zwischen ihnen und mir. Ich sah sie reden und diskutieren und miteinander streiten … Als könnten sie sich dadurch in Sicherheit bringen. Durch Labern. Nur Jill schwieg hinter ihrem lila Pony, aber das war normal. Jill lag das Reden nicht besonders, sie sprach lieber über die Farben ihrer Klamotten: Gelb oder Orange hieß: Alles okay. Rot hieß: Vorsicht, bissig! Und Schwarz: Der Nächste, der mich anspricht, erlebt einen grausamen Tod. Jills Klamotten waren fast immer schwarz. Aus dem Klopfen wurde ein Schluchzen. Wer auch immer da draußen wartete, er wollte wirklich verdammt dringend hier rein. »Und was, wenn das ein Schüler ist, der ausgeschlossen auf dem Flur rumsteht und Hilfe braucht? Vielleicht war er gerade auf dem Klo und jetzt lässt ihn niemand rein …« Gretas Stimme versickerte in Unsicherheit. Sie war auch sonst nicht die Mutigste. Hilfsbereit schon, aber nicht mutig. »Wie gesagt«, antwortete Herr Filler mechanisch, »fürs Erste halten wir uns einfach an die Anweisungen, danach können wir immer noch …« »Aber wir können doch nicht einfach nichts tun!«, unterbrach ihn Fiona ungeduldig. Es war das erste Mal, dass ich sie so mit einem Lehrer sprechen sah, so wütend, so klar: »Sie sind Vertrauenslehrer, Herr Filler, Helfen ist Ihr verdammter Job!« Ich fand das gut. Herr Filler nicht. Die Tür blieb verschlossen. »Jemand sollte den da draußen nach seinem Namen fragen«, befahl Sylvester. »Mark, du sitzt am nächsten an der Tür!« Ich weiß nicht mehr, wer es war, der diesen Geistesblitz hatte (vermutlich Lasse). Eigentlich ist es aber auch ganz egal, denn alle anderen waren sofort derselben Meinung: »Schnell, Mark, geh zur Tür und frag, was der will!« Ich krallte die Finger umeinander, begann ganz langsam, mir die Härchen auf dem Handrücken auszureißen, eines nach dem anderen. Es war dieses Wimmern. Diese beschissenen Schluchzgeräusche katapultierten mich irgendwie woandershin, nach Hause, nach Früher, nach Dunkel, und plötzlich hämmerten die Fäuste auch auf mich ein. Dröhnten, krachten, wurden mit jedem Schlag mehr zu denen meines Vaters, seinen festen, dicht behaarten Händen, während sich das Wimmern da draußen in mein eigenes verwandelte … »Mach schon!« Ich schreckte auf, grapschte mir instinktiv ins Gesicht. Fast erwartete ich, in das matschige, rote Etwas von damals zu greifen, aber natürlich war die Narbe längst verheilt. Natürlich. Ich fuhr mir durchs Haar, merkte, dass meine Finger zitterten. Alle starrten mich an. »Okay«, stieß ich hervor, »ich mach’s.« Ein kurzer Blick zu Herrn Filler, doch der hob bloß die Schultern und machte irgendeine fahrige Bewegung, die sowohl als Nicken als auch als Kopfschütteln zu deuten war. Feigling. Ich erhob mich. Fiona Zugegeben, Mark bewies an dieser Stelle echt Mumm. Den hatte er ja schon durch seine Klausurprotestaktion gezeigt. Während wir anderen nur dumm dasaßen und jede seiner Bewegungen verfolgten, stand er auf und marschierte zur Tür. Innerhalb weniger Minuten war er vom Deppen aus der letzten Reihe zum Helden der Klasse aufgestiegen. »Wer bist du und was willst du?« Falls er Angst hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Vollkommen bewegungslos stand er vor der Tür, die Hände tief in den Taschen vergraben. »Hilfe, bitte helft mir! Macht auf, bitte!« Das war die Stimme eines Mädchens, eines weinenden Mädchens, bestimmt nicht viel älter als zehn Jahre. Ich biss mir auf die Lippe. Wäre es ein Junge gewesen, es hätte mein kleiner Bruder sein können. »Warum bist du nicht bei deiner Klasse?« Höchst überzeugend scha te es Mark, wie der Luftschutzwart in einer nsteren Kriegsdoku zu klingen. Das Mädchen – nein, das Kind! – klang jetzt noch panischer: »Ich hab den Raum nicht gefunden, und dann … Bitte, ich bin tot, wenn ihr nicht aufmacht!« Lautes Schluchzen. Langsam drehte sich Mark zu uns um und jetzt endlich begri ich, was sich an ihm verändert hatte: Mark wirkte auf einmal wach. Beim Warten auf dem Flur, im Unterricht … verglichen mit jetzt hatte er bisher die ganze Zeit vor sich hingedöst. Ob er froh war, endlich was Spannenderes zu erleben als die Matheklausur? »Ein Mädchen. Sie hat Angst.« Nein, das war er nicht. Ganz bestimmt war er nicht froh über den Alarm, dafür klang er viel zu ernst. Fünfmal so tief wie sonst kam seine Stimme mir vor, stark, fest. Fast so wie die von Sylvester. »Soll ich aufschließen?« Die Frage war o ensichtlich nicht an Herrn Filler gerichtet. Von dem, so hatte Mark wohl beschlossen, war keine Hilfe zu erwarten. Das erste Mal in unserm Leben hatten wir eine wirklich wichtige Entscheidung zu tre en. »I don’t know …« Sylvester knetete seine Unterarme, sehnige, braun gebrannte Unterarme. »Vielleicht ist das ein Trick.« Ein Trick, ein Trick, pochte es in meinen Ohren. Ja, vielleicht war das ein Trick. Ein ganz hinterhältiger Plan, um uns aus dem Klassenzimmer zu locken, uns entgegenzutreten und allesamt … Allesamt was? Abzustechen? Als Geiseln zu nehmen? Ich versuchte mir vorzustellen, wie Herr Filler und wir gefesselt auf unseren Stühlen hockten, mit Paketband über den Mündern, aber es gelang mir nicht. Natürlich nicht, so etwas passierte vielleicht in irgendeinem staubigen Kriegsgebiet, aber doch nicht hier! Das Pochen in meinen Ohren ließ ein wenig nach. Was auch immer das Mädchen da draußen erschreckt hatte, es musste eine harmlose Erklärung dafür geben – wie für alles Aufregende im Leben. Selbst das Tapptapp auf dem Dachboden hatte sich schließlich als harmloser Siebenschläfer herausgestellt. Die Wahrscheinlichkeit für einen echten, einen wirklichen Amoklauf tendierte bestimmt gegen null, ach was, gegen minus eine Million! Fast spürte ich Opas faltige Pranke auf meiner Schulter ruhen. Trink erst mal ’ne Tasse Tee, meine Liebe. Man malt sich immer alles schlimmer aus, als es ist. Neben mir knirschte es. Ein vertrautes Geräusch, es stammte von Gretas Grübeleien. Sie hatte die Brille abgenommen und bog den Bügel, bis er knarzte. »Wir müssen helfen«, wisperte sie, »sonst sind wir schuld, wenn …« … jemand sie unwahrscheinlicherweise erschießt, beendete ich ihren Satz, bevor Opa mich davon abhalten konnte. Der Regen prasselte gegen die Glasscheibe. »Also was ist?«, fragte Mark, »soll ich?« Sein Blick blieb an mir haften. Soll ich? Ich dachte an meine Schwester. Mila, meine schöne, starke Schwester, die längst studierte (in Oxford, Medizin). Dachte daran, was sie gesagt hatte an dem Tag, an dem mein Bruder in dem Müllcontainer verschwand. Warum er da hineinkletterte, weiß ich nicht mehr, vermutlich wollte er einfach mal sehen, wie so ein Ding von innen aussieht. Und gerade als er auf dem Boden der leeren Metalltonne gelandet war, kamen zwei Typen vom Sportplatz vorbei, lachten, kamen näher und schoben die Ö nung zu, direkt über seinem Kopf. Der Knall war laut, Metall auf Metall, nur deshalb hörte ich ihn überhaupt von der anderen Straßenseite. Einer der beiden hielt den Deckel zu, während der andere weiterlachte. Mila blieb sofort stehen. Sie sah die beiden Typen, hörte meinen Bruder in der Tonne, Niels, der langsam Panik kriegte in dem dunklen Ding. Sie erfasste das alles mit einem Blick und lief los, quer über die Straße mit ihren klackernden, roten Schuhen. Safran zerrte an der Leine, er wollte mit! Ich hielt ihn fest. »Bleib«, wiederholte ich ein ums andere Mal, »bleib, Safran!« Die Typen waren bestimmt zwei Köpfe größer als ich und mindestens dreimal so breit. Der eine grinste blöd, der andere blies meiner Schwester Rauch ins Gesicht. Mit aller Kraft stemmte ich mich gegen die Leine, während Mila dem Typen die Zigarette aus der Hand schnippte, auf den Container zeigte und schrie. »Das ist mein Bruder, ihr Spatzenhirne, und den holt ihr da jetzt sofort wieder raus, oder ihr könnt was erleben!« Keine zehn Sekunden später stand Niels wieder auf dem Gehweg. »Angst ist scheiße«, sagte Mila nachher, »da darfst du nicht drauf hören. Nie wieder, Fio, versprich mir das. Wenn was falschläuft, hör auf deinen Kopf, nicht auf die Scheißangst. Mach, was richtig ist, klar?« »Klar«, hatte ich geantwortet, aus tiefster Überzeugung, während mein Herz ganz überquoll vor Bewunderung. Mila hatte gewonnen, sie hatte gewonnen, weil sie mutig war, und die dummen Typen, die hatten verloren. Mut war gut, meine Schwester war gut, was sollte daran unklar sein? Und jetzt saß ich hier, im stickigen Klassenzimmer, während die Kleine da draußen klopfte und bettelte, und so klar war mir die Sache plötzlich gar nicht mehr. »Lass es, bitte«, sagte Lasse in seinem typischen Lass-es- bitte-Ton, genervter Kindergärtner, umgeben von Säuglingen, »in der Durchsage hieß es klar und deutlich, wir sollen die Tür verschlossen halten, oder Herr Filler?« Herr Filler schwieg. »Genau, Mann«, Fabio verschränkte die Arme vor der Brust. Breite Arme vor einer immensen Brust. Lasse, Luca und er waren seit Jahren zusammen beim Basketball. »Das klingt jetzt echt hart, aber … besser eine als wir alle. Wenn da draußen was ist, dann ist die eh schon so gut wie tot. Und wenn da nichts ist, tja …«, er zuckte mit den Schultern, »dann braucht sie auch keine Hilfe!« Über ihre Brillengläser hinweg starrte Greta ihn an wie einen Schwerverbrecher. Wenn es um Menschen geht, kann sie ziemlich starrsinnig sein. (Wenn es um Tiere geht, übrigens auch.) Fast konnte ich hören wie es in ihrem Kopf ratterte, wie sie kombinierte, abwog, sie war doch so unheimlich schlau. Tränen glänzten in ihren Augen. Warum sagte sie bloß nichts? Die Stimme des Mädchens war mittlerweile heiser geworden, brüchig. Konnte sie es nicht einfach bei einem anderen Raum versuchen? »Macht auf! MACHT AUF!« Ein wenig dumpf drang sie durch die Tür – fast so, als steckte sie in einer Mülltonne. »Bitte!« Nur war da diesmal keine Mila, die ihr zur Rettung eilen konnte. »Schnell!« Da war nur ich. Nur ich … »Aufschließen«, sagte ich. Leise, aber laut genug, dass Mark es hören konnte. Die grüne Tür lag gar nicht so weit von Sylvesters Sitzplatz entfernt und irgendwie ho te ich, dass der Knallermann es auch mitbekam, dass ich mich für die Rettung des Mädchens einsetzte, dass er sich vielleicht sogar auf meine Seite schlug. Sylvester und ich gegen den Rest der Welt. »Spinnst du?«, fuhr Fabio mich an. »Wir können der eh nicht helfen, damit bringst du uns alle nur in Gefahr!« Er lehnte sich zurück, der Totenschädel an seiner Halskette grinste in die Runde. »Jedenfalls ist das meine Meinung.« »Das ist keine Meinung«, entgegnete ich. »Das ist Angst. Auf so was hört man nicht.« Erstaunlich, wie ruhig mein Atem plötzlich ging. »Ach ja?«, spöttisch zog Ida-Sophie eine Braue hoch, »und auf was hört man dann? Auf dich?« Sie warf einen vielsagenden Blick zu Sylvester hinüber und der grinste zurück. »Never.« Seine Zähne strahlten. Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss, während die beiden mich musterten. »Mit Sommersprossen sieht man immer aus, als hätte man Pickel«, hatte Ida-Sophie mal gesagt und ich bestand förmlich nur aus Sommersprossen. Ich wandte den Kopf ab, schaute plötzlich nicht mehr zu Sylvester, sondern zu Mark, der noch immer abwartend in der Ecke stand. Mark grinste nicht. Stattdessen machte er langsam einen Schritt zur Tür und streckte die Hand zur Klinke. Er schien nachzudenken, die Narbe über seinem Auge zuckte nervös, er gri zum Riegel. Soll ich? Irgendwie machte sein Vertrauen in mich mir Mut. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und nickte, entschlossen, mich von Ida-Sophie nicht einschüchtern zu lassen. Die war doch dumm wie Brot, das würde Sylvester schon noch begreifen! Mach, was richtig ist. Die Tür zu ö nen war richtig. Es musste richtig sein, denn Mark wandte sich wieder um und entriegelte die Tür. Die Tür schwang auf. Davor stand ein schniefendes Mädchen mit zwei kurzen Zöpfen. Und einer Pistole an der Schläfe. Mark Stell dir vor, du guckst einen Horror lm. So einen dieser richtig esen, die du eigentlich erst mit achtzehn sehen darfst. »Mit den Augen der Gehenkten« vielleicht oder »Nachtaktiv – die Meuchelma a 3«. Der Film ist die totale Folter, aber gleichzeitig ist es auch ungemein aufregend, das Ding zu gucken, irgendwie macht es dir Spaß, dich zu gruseln und auf dem Sofa zu winden und den Leuten beim Schreien und Sterben zuzuschauen. Und dann wird dieser Film plötzlich Wirklichkeit. Die Knochenhand greift durch den Bildschirm hindurch und schlägt dir die Chipstüte aus der Hand, der Superschurke springt aus dem Fernseher und mitten auf die Couch, während du dich noch an einem Erdnuss ip verschluckst. Tadamm! Kannst du dir dieses Gefühl vorstellen? Die Erkenntnis, dass du bis zu diesem Augenblick noch gar nicht wusstest, was Angst ist und was Gefahr, was Bosheit und was Schmerz? (Ja, Schmerz, denn echte Angst tut weh.) Spürst du den Klammergri um dein Fußgelenk, das Messer im Nacken? Glückwunsch, dann hast du jetzt eine grobe Vorstellung von dem, was mir durch den Kopf ging, als ich die beiden entdeckte. Die Kleine und den maskierten Typen mit der Pistole. Ein maskierter Typ mit Pistole, der gehörte einfach nicht in die Realität – der hatte nichts in meinem Leben zu suchen, schon gar nicht an einem Montagmorgen mitten in der Schule! Mehrere Mädchen schrien auf. Ein paar Jungs waren sogar auch dabei, glaub ich. Im Nachhinein hätte ich gern gesehen, wie Herr Filler reagiert hat, aber ich war etwas abgelenkt durch den Lauf der Pistole, der jetzt nicht mehr auf den Kopf der Kleinen, sondern direkt auf meinen zeigte. Immerhin hast du deine letzten Minuten nicht mit Mathe verbracht, dachte ich, immerhin … und jetzt stirbst du. Mit nicht mal achtzehn Jahren. Was eine Scheiße. Ich dachte nicht Warum? oder Ich will nicht sterben!, nein, mein letzter Gedanke war: Was eine Scheiße. Tut mir leid, dass mir nichts Originelleres ein el. Herr Filler Da war. Ein. Fremdkörper. In meinem. Klassenraum. Nie zuvor habe ich in einer Mathestunde mehr Unverständnis erlebt, als während dieser maskierte Kerl in den Klassenraum eindrang. Kollektives Luftanhalten. Geballte Sprachlosigkeit. Ungeduldig scheuchte der Fremdkörper die beiden tiefer ins Klassenzimmer hinein. In der einen Hand hielt er die Pistole, mit der anderen zog er die Tür hinter sich zu. Alles an meinem Körper schien zu gefrieren. Ruhe bewahren. Auf keinen Fall eine Massenpanik auslösen. Mark machte keinen Mucks, kni die Lippen zusammen, als wolle er den Schrei in seinem Mund gefangen halten. Wie eine Statue ragte der Fremdkörper zwischen den Tischen hervor – schwarze Kapuze, weiße Maske und dazu diese grässliche, grässliche Wa e. Sein linker Schnürsenkel war halb geö net, hing zu Boden, als wollte er mir zuraunen: »Das hier ist echt. Es ist real.« Sie standen jetzt mitten im Raum, Mark, das Mädchen und hinter ihnen der Unbekannte. Drum herum starrten die anderen von ihren Tischen zu ihnen auf. Geballte Sprachlosigkeit … die sich allmählich in nackte Panik verwandelte. Ich werde sterben. Die Erkenntnis traf mich mit der Wucht eines Keulenschlags, rammte mich mitten gegen die Brust. Ich rang nach Sauersto , schwarze Flecken schoben sich vor mein Sichtfeld wie Aschewolken auf einem Schlachtfeld. Ich werde heute sterben. Schlimmer noch, ich würde es als Opfer tun. Wehrlos, schreiend, und vollkommen sinnlos. Bisher hatte ich das Thema Tod immer schön sauber aus meinem Leben rausgehalten. Was sollte das auch nützen, sich über etwas den Kopf zu zerbrechen, was man eh nicht ändern kann? So was war Zeitvertreib für den Philo- Unterricht, für Frauen mit grünen Duftkerzen im Fenster, die lieber tausendmal alles infrage stellten, anstatt endlich die Realität in Angri zu nehmen. Sich auf das Wesentliche zu konzentrieren war schon immer eine meiner großen Qualitäten gewesen, eine, die mich oft weitergebracht hatte. Himmel, ich war jung! Natürlich nicht so blutjung wie dieser Haufen pickelgeplagter Teenager, aber doch noch weit davon entfernt, mich mit dem Sterben zu beschäftigen! Ich war Anton Filler, zweiunddreißig Jahre alt, ruderte zweimal die Woche im Verein, hatte nicht mal den Ansatz einer Halbglatze und jetzt kam dieser Typ hier rein, um mir das einfach wegzunehmen? So viele Stunden, die ich hätte entspannen können, die ich mit meiner Freundin hätte verbringen können und die ich eisern, einsam in meine Doktorarbeit investiert hatte … Wehe, du stiehlst mir meine Zukunft, dachte ich, wehe! Im selben Moment schubste der Unbekannte die beiden mit seiner Wa e zur Seite. Und die Pistole zeigte auf mich. Fiona Ich musste ein Schluchzen unterdrücken, so erleichtert war ich, dass er Mark verschont hatte. Dass Mark nicht in einer schrecklichen Blutlache am Boden lag, die Arme verdreht, die Augen seltsam stumpf. Hilfe, und meine Schuld wäre es gewesen, durchfuhr es mich, ich hab ihn dazu gebracht, die Tür zu ö nen! Irgendwas war schiefgegangen. Das Richtige war nicht das Richtige. Mila hatte gelogen. Mein Großvater auch. Seht her, hätte ich ihnen am liebsten an den Kopf geworfen, schaut, was passiert ist! Hier und heute, nicht in einem Buch! Doch Opa schwieg, er war an einem Herzinfarkt gestorben, schon vor sechs Monaten. Und Mila steckte in England, räumte vielleicht gerade die Küche auf, nach einer der wilden WG-Partys, von denen sie immer erzählte. Alles hätte ich darum gegeben, bei ihr zu sein. Alles. Der Unbekannte marschierte durch den Mittelgang nach vorne, ein stampfender Haufen Schwarz. Hastig senkte ich in den Blick, mich umzudrehen, das wagte ich nicht mehr. Wilde Tiere fühlen sich durch so was schnell angegri en, besonders Raubkatzen. In meinem Kopf kreischten die Gedanken durcheinander: Er kann dich umbringen. Er hat eine Pistole. Warum hat er eine Pistole? Bitte, Gott, wenn es dich gibt, dann mach was. Hilfe. Hilfe, Hilfe, Hilfe. Ich muss auf Klo. Ich hätte die Tür nicht ö nen lassen dürfen! Auf die, die vorne sitzen, hat er bestimmt den größten Hass. Tut Sterben weh? HIIIILFEEEE! Ich hatte das Gefühl, mein Schädel würde jeden Moment platzen und seinen Inhalt quer über alle Bänke verteilen. Wenn es einen Schalter gegeben hätte, mit dem man sein Gehirn auf Stand-by schalten kann, ich hätte, ohne zu zögern, gedrückt. Wie machten die anderen das bloß? Herr Filler sah aus, als würde er gleichzeitig Mark den Tod und sich selbst ans andere Ende der Welt wünschen. Der maskierte Typ stand ihm nun genau gegenüber, keine drei Meter von mir entfernt. Oh, dass man so große Angst vor einem Menschen haben kann. Ich war eindeutig aus einem anderen Holz geschnitzt als Mark, das merkte ich jetzt – und wie ich das merkte! Töte mich nicht, dachte ich, drück nicht ab, bitte, bitte, nimm mir mein Leben nicht weg, ich will doch noch so viel machen da draußen – mit Greta mein Zimmer bemalen, einen Cocktail mit Schirmchen trinken, auf den Mount Everest klettern, ein Geigenkonzert geben in der Carnegie Hall, den Regenwald retten, Sylvester küssen … Groß kam er mir vor, der Amokläufer, kaltblütig und unbesiegbar, wie ein Pro killer aus einem dieser Schrott lme, die mein Bruder so gerne guckte. Wer bist du? Warum gibt es dich überhaupt? Mein Blick wanderte jetzt doch zu ihm hinauf, ich konnte nicht anders, zum Glück konzentrierte er sich immer noch ganz auf Herrn Filler. Nichts von ihm passte hierher, dabei war seine Kleidung im Einzelnen gar nicht so ungewöhnlich. Der Kerl trug mehrere Kapuzenjacken übereinander, eine lange dunkle Hose, ausgelatschte Turnschuhe und eine weiße Maske, die ihm den starren Ausdruck einer Schaufensterpuppe gab. Die Anonymität in Person. Besonders mysteriös war die Sto tasche, die ihm störend über der Schulter baumelte. Am Anfang war sie mir gar nicht aufgefallen, aber jetzt, wo er so nah war, konnte ich sie unmöglich übersehen: ein schwarzer Beutel ohne Aufschrift, aber o ensichtlich mit irgendwas darin, etwas Eckigem. Sprengsto …? Ganz vage nur konnte ich durch die Maskenschlitze zwei Augen erkennen, dunkel, auf keinen Fall so leuchtend grün wie meine, aber vielleicht lag das auch bloß an dem Schatten, der auf seine Augenhöhlen el. Kenn ich dich? In meiner Stufe gab es eine ganze Menge Leute, die gern Schwarz trugen, aber jemandem mit einer Schwäche für Bastelmasken war ich garantiert noch nicht begegnet. Oder doch? Wenn ich doch nur sein Gesicht sehen könnte … »Was wollen Sie?«, Schweißperlen quollen über Herrn Fillers Stirn, »die Schule ist bereits alarmiert, die Polizei wird gleich hier sein.« Die Polizei. Was für ein wunderschönes Wort. Ein Schwall der Ho nung durchschwappte meinen Körper, weich-warm wie der Duschstrahl von zu Haus. Die Polizei, ja, die würde uns retten, zu uns hinaufstürmen und den Amokläufer in Handschellen legen. Denn das war ja schließlich ihr Job, nicht wahr? Statt einer Antwort richtete der Unbekannte die Wa e auf den Lautsprecher und feuerte – einmal, zweimal, dreimal. Die Schüsse peitschten durchs Klassenzimmer, ohrenbetäubend fehl am Platz. Ich riss die Hände an die Ohren, Plastikgestank biss mir in die Nase. Gretas attrige Finger schlossen sich um meinen Arm. Herr Filler schwankte. »… und warten Sie auf weitere Anweisungen.« Auf die konnten wir nun lange warten. Mark »Jetzt haben Sie die Polizei endgültig auf sich aufmerksam gemacht.« Plopp! Der Satz war draußen, rutschte mir einfach so heraus, ganz von selbst, wie eine Luftblase beim Tauchen. Du denkst zu spät, Junge, das war schon früher immer mein Problem gewesen. Damals, als es noch die ewigen Kämpfe mit meinem Alten gab. Du kannst dies nicht, du kannst das nicht, du bist genau wie deine Mutter … Wenn er erst mal in Fahrt war, war der Alte kaum zu bremsen, brüllte, tobte, schlug zu bis er außer Atem kam und seinen fetten Hintern auf die Couch plumpsen ließ (was glücklicherweise immer schneller der Fall war). Als der Typ mit dem Unfallbescheid kam, ich schwöre dir, ich hätte beinah gejubelt. Auf quietschenden Sohlen drehte sich der Unbekannte zu mir um. Kurze, spitze Krallen gruben sich in meinen Arm, mit Nagellack, der schon fast abgekaut war. Ich reagierte sofort. Dumm war ich vielleicht, aber nicht so komplett verblödet, dass ich die Kleine mit in Gefahr bringen würde. Wie sollte sie sich denn schon wehren? So lächerlich winzig, wie sie war, mit Ärmchen so dünn, als könnte sie nicht mal einen Bleistift stemmen. Ach, und du bist also das große Kraftpaket? Wieder die Hände meines Alten, sein verächtliches Grinsen, als er mir zum Spaß einen der Bierkästen zuwarf. Weißt du, wie viele ich davon in deinem Alter schleppen konnte? Entschlossen packte ich das Mädchen an den Schultern, verfrachtete sie unter meinen Tisch und schob meinen Rucksack davor. Da kauerte sie jetzt wie ein Kätzchen, zu verdattert, um auch nur einen Ton von sich zu geben. Schon hallten mir die Schritte des Unbekannten entgegen – er kam zurück, Voldemort kam zurück. Ein Luftzug, als er sich an meinem Tisch vorbeischob, dann baute er sich vor mir auf. Düster, bedrohlich, der Schurke schlechthin. Nur, dass ich nichts hatte, um mich unsichtbar zu machen, keinen Ring, keinen Tarnumhang, nicht mal eine Maske. Und der Rucksack war auch schon besetzt. »Sorry.« Ich war mir nicht ganz sicher, ob meine Entschuldigung dem Unbekannten oder der Kleinen galt. Schweißperlen sammelten sich mir im Nacken, rannen als zäh üssige Suppe meinen Rücken hinab. Verdammte Kacke, der Typ sah aus, als käme er mitten aus einem Gemetzel von Quentin Tarantino! »Tut mir leid, wirklich«, wiederholte ich mit trockenem Gaumen, »das war auch eigentlich eher als«, ich überlegte, »äh … Hinweis gemeint. Das mit der Polizei.« Der Unbekannte schwieg, blieb stumm und reglos, die Pistole von sich gestreckt. Geradeaus, direkt in mein Gesicht. Ich zwang mich, keine Miene zu verziehen. Sein Pulli wirkte klamm, stank wie die Arbeitshemden meines Vaters nach zehn Stunden auf dem Bau. Wie hielt der Kerl das bloß aus, in den warmen Klamotten? »Ich dachte einfach, das sollten Sie vielleicht wissen. Nicht, dass die Bullen Sie noch total überraschen.« Ich lächelte schwach. Langsam hob der Unbekannte den Kopf, nickte. Das schien ihm einzuleuchten. Ich atmete aus – und spürte im selben Moment ein hartes Stück Metall an meiner Wange. »Oh mein Go–hott!« Ein Schauer rieselte mir den Scheitel entlang, richtete jedes einzelne Härchen auf. »Oh mein Gott, der bringt den um!« Ida-Sophies Aufschrei schien Millionen von Lichtjahren entfernt, in einer weit, weit entfernten Galaxis. Und tatsächlich kam ich mir vor wie auf eine Leinwand gespannt, nur der Unbekannte und ich, während alle andern im Zuschauerraum saßen. Ga end, ängstlich, aber ohne auch nur einen Finger zu rühren. Eben genau wie immer. Der Unbekannte strich über meinen Nasenrücken, von der Spitze bis zur Stirn. Als würde er die Stabilität meiner Knochen erst testen wollen, bevor er sie zerschoss. Ein Raunen ging durch den Saal. Ich roch frische Böller. »Chchra«, machte ich. »Chchrarachra!« Das ist Panisch und heißt so viel wie: He, der Typ tätschelt mich mit der Pistole. Das gefällt mir nicht! Ich habe nie geschrien. Nicht ein einziges Mal, das machte meinen Alten rasend. Nur geheult hab ich, nachher, ge ennt bis in die Puppen, wenn meine Augen so rot waren, dass die Leute auf dem Bürgersteig mich ganz erschrocken anstarrten. »Hör mal, Mark, deine Eltern und ich, wir machen uns Sorgen …« Erwachsene sind so bescheuert. Einer wollte mich sogar in die Jugend-Suchtstation stecken: »Die kennen sich dort super aus mit so Problemfällen wie dir, verstehst du?« Keine Ahnung, wen ich schlimmer fand, die Kümmerleute mit ihren Stirnfalten oder meinen Vater, der mich zusammenfaltete. Zumindest das Gekümmere hörte irgendwann von selbst auf – lustigerweise genau dann, als ich wirklich mit Gras an ng. »Könnt ich vielleicht noch eine rauchen?« Ich stellte diese Frage nicht, aber ich hätte gern. Nicht weil ich unbedingt noch einmal den Nikotinrausch in meinen Lungen spüren wollte (wobei das ein angenehmer Nebene ekt wär), sondern einfach, weil sich das in Filmen so gehört. »Haben Sie noch einen Wunsch, bevor Sie erschossen werden?« »Geben Sie mir ’ne Kippe.« Einen cooleren Abgang gibt es nicht. Ich krümmte mich zusammen. Die Suppe von meinem Rücken sickerte in meine Shorts, lauwarm wie Pisse. Ich schloss die Augen. Ich war nicht cool. Ich wollte leben. Herr Filler Meine erste Zigarette klaute ich mit vierzehn, aus der Brieftasche meines Bruders. Des Ältesten. Exakt an dem Tag, an dem er mir das erste Mal einen Karl-May-Film zeigte: Der Schatz im Silbersee, von 1962. Großartiger Film, wirklich, auch wenn der historisch natürlich völliger Humbug ist (aber welcher Western ist das nicht.) Darin gibt es zum Beispiel diese Szene, in der Old Shatterhand und seine Mannen sich in der Farm verschanzt haben und von Banditen angegri en werden. Junge, Junge, da ging vielleicht die Post ab! Wie die Wahnsinnigen ballern die Kerle auf das Häuschen, gnadenlos, mit blitzenden Augen und wiehernden Pferden, während die Sonne auf den Präriesand brennt. Und gerade als den Helden die Kräfte ausgehen, kommt Winnetou mit seinem Gefolge über den Hügel geritten. Welch ein Anblick, danach wollte ich unbedingt auch so eine Kerbe im Kinn. Und kämpfen konnte er! Blitzschnell sondiert er die Lage, prescht auf die Feinde in vollem Galopp, jagt sie allesamt zum Teufel mit seiner hölzernen kleinen Axt. Das hat mich am meisten beeindruckt, mit welcher Tapferkeit der zu Werke ging. Andere träumten von Rennfahrern oder Fußballpro s, mein Zimmer war mit Karl- May-Postern tapeziert: Winnetou und Old Shatterhand, wie sie gemeinsam kämpften, wie sie Seite an Seite durchs Unterholz preschten, wie sie an einsamen Lagerfeuern die Friedenspfeife pa ten … Ich bin Winnetou. Das sagte ich mir immer, wenn der Kloß in meinem Hals zu explodieren drohte. Unter der Decke im Schneidersitz, mit Untertasse, um ja nicht auf das Laken zu aschen. Ich bin Winnetou, ich bin Winnetou, ich bin Winnetou. Vielleicht hab ich mir das gewünscht, heimlich. Dass wir irgendwann auch so zusammenhalten, meine Brüder und ich, mit Friedenspfeife, von Mann zu Mann. Das wäre schön gewesen. Stattdessen haben sie mir Mehlwürmer in den Kissenbezug gesteckt. Fünfundsiebzig Stück. Mark Als ich die Augen wieder ö nete, war die Wa e verschwunden. Der Unbekannte auch. Ich blinzelte, wischte mir das taube Gefühl von der Backe und drehte mich um. Da, ein paar Schritte entfernt bei der Tür stand der Durchgeknallte, die Pistole lässig in der rechten Hand. Er hatte mich verschont, zum zweiten Mal an diesem Tag. Meine Rückenlehne war schweißnass, mein Mund eine einzige Wüste. Ganz sicher, ob ich dem Braten trauen sollte, war ich mir noch nicht. Klar, wenn man dem zum Tode Verurteilten sagt: »Hey Mann, war nur’n Scherz, du darfst doch weiterleben!«, ist der schließlich auch erst mal skeptisch. Was denn, wenn der Typ sein Opfer absichtlich noch ein bisschen zappeln lässt, nur so zum Spaß, um es dann nachher umso blutrünstiger niederzumetzeln? Eine Hand tastete nach meinem Arm. Das Mädchen nahm meine Finger in ihre schmalen Patschen und drückte zu. Kräftig. Ich atmete durch. Also gut, auf den ersten Blick sah es aus, als wäre ich wirklich außer Gefahr, zumindest für den Augenblick. Der Unbekannte schien mich komplett vergessen zu haben; breitbeinig stand er hinter mir und schaute zur Tür. Masken, dachte ich, Schurken tragen immer Masken, Hannibal Lecter, die Todesser … Und Sauron, trug der nicht auch eine? Ein Geräusch riss mich aus meinen Gedanken, ließ uns alle gleichzeitig hochschnellen. In einer anderen Stunde wäre es uns vermutlich gar nicht aufgefallen, aber heute … Heute war die heranrasende Sirene wie ein Paukenschlag. Rettung! Endlich! Flackerndes Licht spiegelte sich an der Scheibe, färbte die trommelnden Tropfen blau. Ich spürte, wie meine Nackenmuskulatur sich verspannte. Die Bullen und ich, das war bisher keine besonders herzerwärmende Geschichte gewesen. Ob Lasses Vater wieder dabei war? In der Nähe des Bahnübergangs hatte der mich eingesackt, und das nur, weil ich auf das Gleis geklettert war, um eine Münze zurückzuholen. Wir hatten die vom Regionalexpress platt fahren lassen, Sylvester, die andern und ich. Am letzten Ferienwochenende war das, sozusagen als Abschlussaktion bevor es wieder zurück in den Kä g ging. Ich war der Einzige, der sich traute, das Ding zurückzuholen. Nachts um drei kommen die Züge eh nur einmal pro Stunde, da kann man das locker riskieren, aber das wussten die andern wohl nicht, sonst hätten die wohl kaum zehn Euro dafür geboten. Ich also über die Absperrung, ott die paar Schritte über den Schotter, und wie ich die Trophäe gerade nach oben recke, packt mich auf einmal dieses Mopsgesicht im Nacken. Ich hab mich so was von erschreckt! Die ersten fünf Minuten wusste ich nicht mal, was los war, nur, dass ein fremder Fettwanst versucht, mich in seinen Wagen zu zerren. Geschimpft und krakeelt hat der in einer Tour, laberte irgendwas von wegen Verkehrsbehinderung, Fahrlässigkeit und irgendwann dann auch von Beamtenbeleidigung … Lasse hat sich natürlich sofort rausgeredet, hat gemeint, er wäre da nur zufällig reingeraten und überhaupt wär das ganz allein meine Idee gewesen, der Feigling. Die andren hat sein Vater schließlich noch mal davonkommen lassen, aber mich hat der höchstpersönlich zu Hause abgeliefert. Und so einer erzählt mir was von Fahrlässigkeit! Noch im Schlafanzug war mein Alter gewesen, als die beiden mich frühmorgens zu Hause ablieferten. Und wie ein tollwütiger Terrier hatte er sich auf mich gestürzt, als die Tür hinter den beiden ins Schloss gefallen war. Mann, der ist vielleicht ausgerastet. Ich hätte mich ja gern gewehrt, aber meine Reaktionsgeschwindigkeit war zu dem Zeitpunkt praktisch gleich null. Immerhin hatte ich so viel Alkohol intus, dass ich auch von den Schlägen nicht viel mitbekam – zumindest erst mal nicht. Den Zehner schulden mir die andren übrigens bis heute. Die Sirenen brachen ab. Das ackernde Licht an der Scheibe erlosch. Bestimmt standen die Wagen nun auf dem Lehrerparkplatz und entließen die Polizisten in Richtung Haupteingang. Von Weitem meinte ich ein Megafon zu hören, aber das konnte auch nur das Rauschen des Regens sein. Jetzt bloß nichts Unüberlegtes tun, halt einfach die Klappe, nur dieses eine Mal … Ich glotzte zur Türklinke. Schwarze Handschuhe, die sich um den Gri schlossen, wie bei einem Einbruch in einem schlechten Krimi. Kurz hatte ich die Ho nung, er würde einfach verschwinden, die Tür aufreißen und durch die Korridore Reißaus nehmen – doch da gri der Unbekannte auch schon nach dem Verschluss und verriegelte die Tür. Setzte den Lauf seitlich an den Drehzylinder und drückte ab. Pa ! Der Knall durchzuckte meinen ganzen Körper. Pa ! Ich presste die Hände auf die Ohren und trotzdem dröhnte es so laut, als würde jemand von innen gegen meine Hirnwände schlagen. Pa ! Pa ! Pa ! Keine Ahnung, wo die Kugeln hinpeitschten, keine Ahnung, wie viele Schüsse es tatsächlich waren, jedenfalls gab die Vorrichtung irgendwann den Geist auf und der Zylinder el klirrend zu Boden. Ich ließ die Hände sinken. »Scheiße noch mal«, murmelte Jill. Aber echt. Mit ein paar routinierten Handgri en ngerte der Unbekannte an seiner Pistole herum. Ein Klicken, ein Klacken, ein scharfes Einrasten, dann drehte er sich zurück zur Klasse. Der Typ hatte uns – und sich! – soeben den Fluchtweg abgeschnitten. Fiona Die Panik breitete sich aus wie eine Krankheit. Angstepidemie, hochansteckend und nicht mehr aufzuhalten. Wir waren gefangen! Sylvester riss den Mund auf, Lasse prustete wie ein Ertrinkender und Jan sah aus, als hätte man ihn unter Strom gesetzt. Gefangengefangengefangengefangen … Mir kam es so vor, als hätte uns jemand die Sauersto zufuhr abgedreht, als wäre die Luft plötzlich dünner als sonst. Ich keuchte. Keuchte. Keuchte. Und dachte dabei die ganze Zeit, wie dumm das war, dieses Nach-Atem-Ringen, und dass ich eigentlich auf meinen Kopf hören müsste, nicht auf die Scheißangst. Es half nichts. Das ist eben der Unterschied zwischen Mila und dir. Du denkst – Mila handelt. Ich bohrte mir die Fingernägel in die Schenkel. Warum konnte das nicht einmal aufhören, diese esen Gedanken, warum nicht mal jetzt? Jills Miene war nach wie vor ausdruckslos, aber ich konnte sehen, wie ihre dürren Knie bebten. Jill the Chiller, selbst ihr ging es also nicht anders – selbst sie hatte Angst. Ja, wirklich, Chill-Jill hatte Angst! Irgendwie beunruhigte mich das fast noch mehr als die Pistole in der Hand des Unbekannten. Wir waren in die Falle getappt, von Anfang an, wie eine Herde dummer Schafe. Hätten die Tür niemals ö nen sollen, genau wie Sylvester gesagt hatte, dann wäre jetzt vielleicht noch alles gut … Ein paar Sekunden lang schien der Unbekannte uns einfach nur zu beobachten, als wären wir Versuchskaninchen in einem besonders spannenden Experiment. Ließ uns warten, schwitzen, schrumpfen. Was für ein Gefühl es wohl sein musste, so dazustehen, die Wa e in der Hand? Die totale Gewalt zu haben über jeden, der dir in den Weg tritt? Wie fühlt man sich als Grund für Todesangst? Herr Filler Wenn es im Kollegium eine Umfrage gäbe, in welche Situation man als Lehrer auf keinen Fall geraten wolle, so wäre »Eingesperrt mit einem Amokläufer und 14 Schülern in einem Klassenzimmer im zweiten Stock« wohl am häu gsten angekreuzt. Nicht nur, dass man es mit einem bewa neten Irren zu tun hat, nein, man muss auch noch dabei zuschauen, wie sämtliche Ordnung den Bach runtergeht. Alles, was du errichtet hast, das Vertrauen, die Regeln, die Autorität, das alles ist plötzlich wie weggeblasen. Du bist ein erbärmliches, kleines Würstchen, und jeder einzelne Schüler weiß es. Reiß dich zusammen, Ruhe bewahren, die Polizei ist bald da. Ist bald da. Ist bald da … An dieser Ho nung klammerte ich mich fest wie ein Ertrinkender an einem Strohhalm. Man würde uns evakuieren, uns in Sicherheit bringen, redete ich mir ein. Warum nur dauerte das so lange? Fiona wirkte fahl wie ein Blatt Papier und Greta war kurz davor, ihre Brille in ein Häu ein Schrott zu verwandeln. Hektisches Getuschel im ganzen Klassenraum. Wir müssen denen zeigen, wo wir sind! Aber wie? Mein Vater holt uns schon noch hier raus … Das jedoch sofort verebbte, als der Wahnsinnige sich zu ihnen umdrehte. Die Art, wie sie vermieden, ihm in die Augen zu sehen, betreten die Blicke senkten, erinnerte mich daran, wie ich gestern noch durch die Reihen gegangen war, um die Hausaufgaben zu überprüfen. Fiona Jeder für sich versuchten wir, gar nicht vorhanden zu sein. Eine extrem unangenehme Tätigkeit. Einer der Gründe, warum ich meistens meine Hausaufgaben erledige – dieses ständige Risiko, erwischt zu werden, wär mir viel zu stressig. Gemäßigten Schrittes durchquerte er den Raum, ganz so, als sei er jetzt unser neuer Lehrer. An Autorität mangelte es ihm jedenfalls nicht! Tamara fuhr zusammen, als er die Wa e über ihre Bluse wandern ließ. Aline verschwand fast hinter ihrer Tischkante. Und Ida-Sophie, die sich sonst von keinem Lehrer was sagen ließ, stieß sogar einen spitzen Schrei aus, als der Unbekannte im Vorübergehen ihre Locken streifte. Mit jedem Schritt schien das Klassenzimmer kleiner zu werden. Das Waschbecken, die Plakate, das Steinzeitskelett, alles rückte enger zusammen. Selbst meine Luftröhre verzog sich zu einem schmalen Spalt. Nicht ich, nicht ich, nicht ich! Mark Ich war so ein Idiot. Ich hätte die Gelegenheit nutzen sollen, als er die Pistole nachlud. Er hatte ja praktisch neben mir gestanden. Wenn ich mich unvermittelt auf ihn gestürzt hätte, dann hätte ich ihn mit ein bisschen Glück überwältigen können. Sprung auf den Rücken mit Würgegri , Füße wegziehen und draufsetzen – hatte ich etwa noch nicht genug Action-Filme geguckt? Sonderlich kräftig sah er nicht aus, obwohl er sich alle Mühe gab, so zu tun, als ob. Die festen Schritte, die vielen Jacken übereinander – das alles wirkte irgendwie einstudiert, als wollte er unter allen Umständen verhindern, etwas von sich preiszugeben. Und das konnte nur heißen, dass er schwach war. Logisch, jemand Starkes, der brauchte keine fünf Pullis übereinander, auch nicht im November. Der würde in sein Muskelshirt schlüpfen und fertig. Was ihn schützte, war einzig und allein die verdammte Wa e. Du Idiot, du Idiot, du Idiot!, schimpfte ich im Stillen auf mich ein. Meine neue kleine Schwester zerquetschte mir fast die Hand. Wie mies es gewesen war, die Kleine als Türö ner zu missbrauchen. Kinder in ihre Kriege verwickeln – so was Krankes taten echt nur Erwachsene. Hil os tätschelte ich ihr die Schulter. Was hätte ich schon sagen können, um sie zu trösten? Du hättest sie retten können, das war das Einzige, woran ich denken konnte, als der Amokläufer so durch den Mittelgang wieder nach vorne ging. Vorbei an den Tischen, Schritt für Schritt für Schritt. Noch vor wenigen Sekunden hätte ich sie alle retten können: Sylvester, Luca, Aline, Jill, die Kleine, ja sogar Herrn Filler! Und Fiona. Mann, das wäre was gewesen, ich dem Irren vor ihren Augen todesmutig die Knarre entrissen und ihn mit einem gezielten Tritt ins Traumland befördert … Einen Helden fragte keiner mehr nach seinen Schulnoten. Die Kleine schniefte, zog die Nase hoch, und auf einmal verstand ich, was sie wimmerte: »Warum macht er das?« Ja, warum. Ich stutzte, die Kleine hatte recht: Warum knallte der Typ uns eigentlich nicht einfach ab? Warum lebte ich noch? Dass er abdrücken konnte, hatte er bereits bewiesen, was hielt ihn davon ab, ernst zu machen? Skrupel? Mitleid? Irgendetwas sagte mir, dass es andere Gründe waren, die ihn zurückhielten, noch zurückhielten. Diese Zielstrebigkeit, mit der er die Tür verrammelt hatte … der Kerl hatte etwas vor. Er brauchte uns noch. Wozu auch immer. Herr Filler Ich wusste nicht, was ich mit meinen Händen anfangen sollte, als der Kerl wieder auf mich zukam. O en entgegenstrecken, das würde nur unterstreichen, wie wehrlos ich war. Links und rechts hängen lassen, das könnte ihn provozieren. Und hochheben, das kam mir übertrieben vor, immerhin waren wir hier nicht in einem Western. Gott, wie meine Finger fröstelten. Spontan entschied ich mich für eine vierte Möglichkeit und setzte mich darauf. Hände zwischen Sitz äche und Oberschenkel, exakt in dieser Weise hatten die Häftlinge der Stasi früher auch immer dahocken müssen. Ein Zeitzeuge hatte mir das erzählt, für meine Semesterarbeit: »Du weißt nicht, wie spät es ist, nicht, was draußen vorgeht, nicht, wie lange du schon verhaftet bist, was mit deinen Freunden, deiner Familie passiert … es gibt nur dich und den, der dich verhört. Du kannst dir nicht vorstellen, wie zermürbend das ist.« Nun, jetzt konnte ich es mir vorstellen. Ganz genau sogar, mit jeder Faser meines Körpers. Fingerspitzen, die langsam taub wurden unter dem Gewicht der Beine, Füße, die vor Anspannung pochten, die eng zusammengekrümmten Zehen. Das Haar, das mir in die Stirn hing und das ich nicht wegzuschnippen wagte. Und schließlich der Schatten, der vor mir auf die Tischplatte el. Ich schaute auf. Der Anblick, der sich mir bot, wirkte so unrealistisch, dass ich im Kino sofort die Augen verdreht hätte: eine weiße Maske, durch deren Augenlöcher nur zwei dunkle Schatten zu erkennen waren, eine unförmige Kapuzenjacke, schwarze Handschuhe, eine Pistole, die direkt auf mich gerichtet war. Ich musste etwas sagen, irgendwas, um die Lage zu entspannen. Ich hüstelte. »Ähm … Sie machen einen großen Fehler, wenn Sie jetzt …« Der Unbekannte machte einen Schritt zur Seite und zielte mit der Pistole auf Fionas Mund. Noch ein falsches Wort, sollte das wohl heißen, und ich erschieße deine Schüler, einen nach dem anderen. Er trat zu mir zurück und platzierte mir die Wa e genau zwischen den Augen. Und dann töte ich dich. Mein Rachen war plötzlich so ausgedörrt, dass ich schon befürchtete, gar nichts mehr sagen zu können. Ich versuchte, zu schlucken, doch da war nichts zum Schlucken. Mein Räuspern klang wie ein Röcheln. Mein Räuspern war ein Röcheln. Verzweifelt schielte ich wieder zum Fenster. Wie viel Zeit war vergangen seit der Durchsage? Müssten dort drüben am Zebrastreifen nicht längst die ersten Streifenwagen parken? Und vorne am Haupteingang, müssten sich da nicht schon Hunderte von Polizisten tummeln? Tausende von Polizisten, die mit Schutzschild, Helm und Dienstwa e das Gebäude erstürmten wie im teuersten Tatort der Weltgeschichte – ich sah sie förmlich vor mir, wo blieben die bloß? Fiona Greta legte mir besorgt eine Hand auf den Arm. Sie war warm und roch nach Handcreme, ich kenne niemanden, der weichere Hände hat als Greta. Solche, von denen man sich niemals vorstellen könnte, dass sie einem wehtun könnten. Fio? Alles okay? Ich antwortete nicht. Meine Lippen fühlten sich eiskalt an, starr, als könnte ich nie wieder sprechen. Als hätte der Typ sie ein für alle Mal versiegelt. Als wäre ich schon tot. Ich schüttelte den Kopf. Nein, es war nicht alles okay. Genau genommen war hier überhaupt nichts okay und das würde es auch nie mehr sein. Jedenfalls nicht von allein. Verstohlen spähte ich hinüber zu den Handys, die in einer Kiste neben dem Pult lagen. Glänzende, kleine Ho nungsträger, sorgfältig aufeinandergestapelt. Meines lag ganz oben. Es steckte in einer gelben Plastikhülle mit Hundewelpen vorne drauf und lächelte mich an. Der Unbekannte hatte sich abgewandt, tastete mit der freien Hand in dem seltsamen Beutel über seiner Schulter. Ein großer Beutel. Ich überlegte. Wenn ich mich sehr streckte, könnte ich das Ding mit den Fingerspitzen zu fassen kriegen, könnte es unter meinen Tisch ziehen, anschalten und den Notruf drücken. Den Notruf. Den Notruf. Den Notruf. »Fio!« Greta packte mich an der Schulter, sie hatte erkannt, was ich vorhatte, erkannt, dass es Wahnsinn war. Und die tiefe Furche auf ihrer Stirn verriet eindeutig, dass sie mir nicht dabei zugucken würde. »Versprich es mir«, baten ihre Augen, »versprich mir, dass du das lässt!« Ich ließ mich tiefer auf den Sitz rutschen, tiefer, tiefer, noch tiefer … Meine Hand glitt nach vorne, zitternd, aber zügig, jetzt nur noch wenige Zentimeter von der Kiste entfernt. Greta keuchte. Er bemerkte es nicht. »Sie sollten die Handys woandershin legen«, sagte Greta. Ich fuhr auf, meine Hand schnellte zurück. Zwischen mir und den Handys war auf einmal eine unüberwindliche Wand. Wie konnte sie nur! Mit einem Satz war der Unbekannte bei uns, die Wa e umkrallt. Er roch nach Schweiß und irgendeinem Waschmittel, sein Atem klang wie ein hungriges Tier. »Man könnte sonst noch versuchen, Alarm zu schlagen«, erklärte Greta, ohne mich anzusehen. »Mit den Handys. In der Kiste.« Sie verstummte. Eine entsetzliche Stille trat ein, alle warteten wir darauf, wie der Unbekannte reagieren würde – dankbar? Wütend? Ich konnte förmlich hören, wie es hinter der Maske rumorte. Bestimmt fragte er sich, was die Aktion sollte. Ob das ein Trick war, um ihn zu überwältigen, irgendwas Geniales, Todesmutiges. Dabei war es einfach bloß simpler Verrat. Langsam, ganz langsam, beugte sich der Unbekannte hinunter und hob das Kästchen auf, während er Greta mit der Wa e xiert hielt. Sie machte keinen Mucks, schaute nur stumm geradeaus. Verräterin. Im Schneckentempo wandte sich der Unbekannte zum Fenster, die Pistole starr auf Gretas Brust gerichtet. Herr Filler hob die Arme und ließ sie wieder sinken. Er sagte nichts. Mit dem Ellenbogen ö nete der Unbekannte den Riegel und schob die Scheibe nach oben. Kalte Luft fegte zu uns herein, winzige Regentropfen wehten auf mein Pult. Der Unbekannte holte ein wenig aus und … Nein. Etwas in mir weigerte sich, die einzelnen Teile der Szene zusammenzusetzen. Die Kiste. Die klackernden kleinen Rechtecke darin. Die Hand des Unbekannten. Das Fenster, an dem noch die Tropfen klebten. Und schließlich das krachende Geräusch von irgendwo da unten. Ein kollektiver Seufzer des Entsetzens breitete sich aus. Ida-Sophie presste die Hand auf den Mund, um nicht loszuheulen, Aline konnte ein Quieken nicht unterdrücken. Unsere letzte Chance, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Ich hatte sie vermasselt. Automatisch dachte jeder an das viele Zeugs, das mit den Handys in die Tiefe gerissen worden war, die vielen Fotos und Nachrichten, die nun zerschellt auf dem Schulhof lagen. Bilder von Safran schossen mir in den Kopf – Safran als Welpe im Papierkorb, Safran mit Stöckchen im Maul auf dem Eis und Clownsnase zu Karneval, Safran mit Mila im College Park. Weg. Für immer. Dann ging alles blitzschnell. Megafonstimmen schrieen durcheinander, Stiefel rumsten über den Asphalt. Dort unten mussten sie also sein, die Polizisten, hatten sich vielleicht schon um das Gebäude verteilt. So nah war die Rettung schon … Ohne es überhaupt richtig zu merken, sprang ich von meinem Stuhl und warf mich in Richtung Fenster. Ich hatte keinen Körper mehr. Ich war ein pures Panikbündel. »Hilfe!«, brach es aus mir heraus, »Hilfe!« Als er mir in den Weg trat, schrie ich noch immer, mitten hinein in sein Maskengesicht: »Wenn du dich umbringen willst, bitte, aber, was hat das mit uns zu tun?!« Ganz komisch klang meine Stimme dabei, heiser, verzweifelt, an den Enden ausgefranst. Viel zu laut. Herr Filler Am liebsten hätte ich ihr höchstpersönlich eine gescheuert. Das da eben, war so ziemlich das Dümmste, das Falscheste, das Idiotischste, was man nur hätte tun können! Mit zwei Handgri en hatte er sie gepackt, viel wog sie ja nicht. Tamara polterte vor Schreck fast vom Stuhl, als er Fiona am Nacken zum Fenster zerrte, die Pistole fest an ihre Wange gepresst. Greta ö nete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schien sich dann jedoch eines Besseren zu besinnen und biss stattdessen in ihren Brillenbügel. Ich schloss kurz die Augen. Ein Klirren, der kleine Kaktus, den mir mein Chef zur Verbeamtung geschenkt hatte, polterte herunter und verteilte seine Erde auf den Fliesen. Der Unbekannte hatte Fiona über die Fensterbank gestoßen. Irgendwo, von ganz weit weg, hörte ich die Stimme meiner Freundin: Und du hast gar nichts getan, um sie zu retten? Der Typ schnappt sich eine deiner Schülerinnen und du versuchst es nicht einmal? Wie eine Puppe hing Fiona in seinem Gri , während ihr die Regentropfen ins Gesicht schlugen und der Wind in ihren kurzen Haaren wühlte. Ich bebte, zitterte am ganzen Körper, nicht vor Angst, sondern vor Wut – Wut auf dieses dumme Mädchen! »Was das mit uns zu tun hat, würde ich auch gerne wissen.« Mark. Auch das noch. »Ich meine, Sie setzen sich diese bescheuerte Maske auf, kommen hier rein, bedrohen uns – was wollen Sie? Was willst du?« Ohne die Hand aus Fionas Nacken zu nehmen, drehte sich der Bewa nete zu ihm um. Sein Pappgesicht leuchtete weiß unter der dunklen Kapuze hervor, dazu die teilnahmslos- toten Augenhöhlen eines Henkers. Er sieht sich selbst nicht mehr als Person, dachte ich, er hält sich für einen Vollstrecker, frei von jeder Verantwortung – ein Gesetzloser, der nur noch nach seinen eigenen, bizarren Regeln lebt. Wenn es für ihn denn überhaupt noch so etwas wie Regeln gab … Ein Schlag. Der Bewa nete riss Fiona zurück und knallte das Fenster zu. Blut glänzte an ihrer Unterlippe. Grob schubste er sie von sich weg, zurück zu ihrem Platz. Statt einer Antwort wandte er sich zur Tafel, nahm einen meiner nagelneuen Boardmarker und schrieb. Drei Worte nur, schwarz, nach rechts geneigt, ein wenig ungelenk. Woher kannte ich diese Schrift? Mark Bevor ich in die Schule kam, waren Buchstaben für mich wie ein geheimer Code, einer, den nur Erwachsene beherrschten und den ich unbedingt knacken wollte. Lesen, das ist was für Frauen und Schwächlinge! Ich habe meinem Vater das nie abgenommen. Für mich war absolut klar, wenn ich nur endlich lesen könnte, dann könnte mich nichts mehr aufhalten, dann wüsste ich Bescheid. Über alles. Tja, und dann kam ich in die erste Klasse. Und sobald ich wusste, was der Rotz bedeutet, war es mit dem Zauber ein für alle Mal vorbei: Anna mag Eis. Tommi spielt Ball. Und später: Subtraktion ist die Addition des Gegenwertes. Nee, danke! Die Hand des Unbekannten fuhr über die Tafel, ruckartig von links nach rechts. Von hinten sah es nicht viel anders aus, als bei den richtigen Lehrern auch – ein Rücken, ein Arm, eine Hand vor einer weißen Tafel. Trotzdem hätte ich in diesem Moment alle meine PC-Spiele hergegeben, nur um lesen zu können, was er schrieb. Fiona Er hatte mich nicht geschlagen. Nur an den Haaren gepackt, und im Nacken, geschüttelt wie einen nassen Hund. Der Blutgeschmack kam nicht durch ihn. Ich hatte mir selbst auf die Lippe gebissen. Es tat weh, aber es hätte schlimmer kommen können. Viel schlimmer – wenn Mark nicht gewesen wäre. Jemand hat dir das Leben gerettet. Der Gedanke klang unwirklich, machte mich ängstlich und gleichzeitig froh. In welche Geschichte war ich da bloß hineingeraten? So viele hatte ich gelesen, über Liebe, Tod, Verrat … jetzt steckte ich selber in einer. Einer Welt, in der alles zählt, nur nicht die nächste Matheklausur. Von jetzt an wirst du immer etwas zu erzählen haben, kam es mir in den Sinn, in den Pausen, auf den Partys, immer. Vielleicht wirst du sogar in Talkshows eingeladen! Wenn du bloß heil hier rauskommst … Wie ich zurück zu meinem Platz kam, weiß ich nicht mehr. Weg, bloß weg von diesem maskierten Monster und seinen Horrorhänden! Ich fröstelte, das Haar hing mir strähnig ins Gesicht und tröpfelte vor mir auf den Tisch. Plitsch. Plitsch. Plitsch. Ich hatte die Polizisten sehen können, weit, weit unter mir, patschnass, aber in voller Montur. Hatte ihre Maschinengewehre gesehen, ihre Helme, die dicke, schwarze Kampfkluft – und ihre entsetzten Gesten, als sie mich und den Unbekannten am Fenster entdeckten. Ich hatte gesehen, wie sie zurückgewichen waren, hektisch durchs Megafon brüllten, und miteinander sprachen. Hatte verstanden, dass wir immer noch auf uns allein gestellt waren. Neben mir spürte ich Gretas schlotternden Körper, und am liebsten hätte ich sie gepackt und genauso geschüttelt wie der Unbekannte zuvor mich. »Fio, es …«, hob sie an, doch ich drehte mich nicht einmal zu ihr um. Wo war der Ausgang aus diesem vertrackten Traum? Ich weiß nicht mehr, wie ich es scha te, den Kopf zu heben und die tanzenden Zeichen an der Tafel zusammenzufügen. Es hätte genauso gut Chinesisch sein können. Oder Arabisch. Für einen Augenblick kam es mir vor, als hätten meine Augen verlernt, die Striche und Bögen zu deuten, als hätte es all die Schmöker, die ich verschlungen hatte, nie gegeben. Meine letzten Wünsche. Das war es, was dort stand. Nichts Blutrünstiges, nichts Monstermäßiges, nur diese drei einfachen Wörter: Meine. Letzten. Wünsche. War das der Grund, warum er hier war? Weil es sein letzter Wunsch war, sich bewa net auf eine Gruppe Schüler zu stürzen? Wenn ja, dann war er einfach krank, mehr als krank. Was konnte er denn schon gegen uns haben? Ich weiß noch, früher, als ich kleiner war, hatte ich immer große Angst gehabt, nach Einbruch der Dunkelheit noch vor die Tür zu gehen – und sei es nur, um die Kaninchen zu füttern. Irgendwie hatte ich jedes Mal das bedrohliche Gefühl, dass da jemand lauerte, stundenlang hinter den Regentonnen ausharrte, nur um mich umzubringen. Vielleicht kennst du das auch, wenn du abends das Licht ausschaltest, diese völlig irrationale Panik, als wäre die Welt plötzlich gefährlicher geworden, nur, weil du auf den Schalter gedrückt hast. Als Kind ist so was ja noch okay, aber bei mir wurde es mit zunehmendem Alter nicht schwächer, sondern schlimmer. Immer detailliertere und blutrünstigere Attentate malte ich mir im Dunkeln aus. Am Anfang waren es noch Messer und Gewehre, später auch Äxte, Kettensägen und Würgeseile – was das anging, kannte meine Fantasie keine Grenzen. »Fio, Liebes, du bist doch sonst so vernünftig«, versuchte meine Mutter mich davon abzubringen, aber es half nicht. Erst mit dem Besuch meines Patenonkels besserte sich die Sache. Als ich ihm widerstrebend gestand, warum ich mich nicht traute, Alma und E ie frische Karotten zu bringen. Mein Patenonkel arbeitete bei der Kripo, als Oberkommissar, und im Gegensatz zu meinen Eltern nahm er mich ernst. Kurzerhand schickte er meine Geschwister aus dem Zimmer, zückte seinen Notizblock, und fragte mich ganz ernsthaft, ob ich irgendwelche Feinde hätte, ob sich in letzter Zeit merkwürdige Typen in meiner Umgebung herumgetrieben hätten oder ob ich in irgendwelche kriminellen Machenschaften verwickelt sei. Sein Fazit: Nach umfassenden polizeilichen Ermittlungen bestand bei mir keine akute Ermordungsgefahr. Das wirkte! Wann immer ich nun allein durch den Garten geistern musste, ich wusste genau, dass es absolut kein Motiv gab, mir etwas anzutun. Und, dass mir deswegen auch nichts passieren würde. Der Experte hatte geurteilt – der Fall war klar: Ich war kein Opfer. Bis jetzt … Ich verstand es einfach nicht. Konnte nicht begreifen, wie das alles hatte passieren können, der Pistolentyp, das Fenster, diese ganze, furchtbare Situation. Hatte mein Onkel etwas übersehen? Gab es etwa doch einen Grund, weshalb jemand es auf mich abgesehen haben könnte? Bang! Noch bevor ich überhaupt dazu kam, über den Sinn der Inschrift zu rätseln, knallte der Unbekannte ein prall zusammengeschnürtes Päckchen auf den Tisch. Lauter einzelne Briefumschläge, mindestens zehn Stück. Auf dem obersten prangte eine große, schwarze Eins. Der erste Wunsch? Ich wischte mir den Mund ab. Herr Filler Es war absurd, einfach absurd. Da platzte dieser Wahnsinnige in meinen Unterricht, zerschoss die Einrichtung, bedrohte meine Schüler, und wozu das alles? Um mir einen Stapel Papierkram auszuhändigen! Einen stinknormalen Haufen Briefumschläge, womöglich aus dem Copyladen um die Ecke. Genau zehn Stück waren es – schmal rechteckig, mit blauem Ökoengel in der Mitte. »Was … äh … was soll ich denn damit?« Meine Finger hinterließen kleine Abdrücke auf dem Papier, Schweiß auf Weiß. Wie eine stumme Armee blickten die Schüler zu mir nach vorn, bleiche Wangen, feuchte Schläfen, Augen so erschreckend ernst. Sah ich richtig? War da wirklich noch Ho nung in einigen Gesichtern? Ja, du meine Güte, wo nahmen die die denn bitte her?! Fabio, die Arme immer noch vor der Brust verschränkt. Tamara, die ergeben zu mir aufblinzelte, ein Schweinchen vor der Schlachtbank. Die kleine Greta, die mich über ihre Brille hinweg bittend anschaute. Sylvesters eindringlicher Blick: Sie werden das schon richten, Mann, oder? Sie lassen uns doch nicht im Stich. Dieser verdammte, naive Haufen. Was erwarteten die bloß von mir? Ich war Lehrer, kein Mission-Impossible-Leiter! Die Einzige, die wie immer gleichgültig durch ihre lila Haare hindurch aus dem Fenster guckte, war Jill. Dezent irre wirkte das auf mich, wie sie mit ihren schwarz umrandeten Augen in das Wolkengetümmel starrte. Ach ja, und natürlich Mark. Regungslos hockte er auf seinem Stuhl und musterte den Schweiß auf meiner Stirn. Er hatte mich noch nie respektiert, Verachtung pur, schon ab der ersten Stunde. Mark Winter eben. Alles an ihm drückte aus, dass er bereits wusste, dass ich versagen würde. Ich holte tief Luft und wandte mich auf meinem Drehstuhl um, weg von der Klasse, hin zum maskierten Mann mit Pistole. Allein die bloße Bestätigung seiner Anwesenheit haute mich schier um. Er war noch da. Hatte sich nicht in Luft aufgelöst, wie ich es insgeheim geho t hatte. Dies hier war keine Fata Morgana, es war immer noch real – ein atmender Haufen Sto , ein blank geputzter Pistolenlauf, Hände, die die Macht hatten, mich zu töten. Bitte nicht. Bitte, bitte nicht – für die Schüler, für Valérie und ja! auch für mich selbst. Ich will noch nicht sterben. Ich kann noch nicht sterben. Ich bin von Kopf bis Fuß noch nicht dazu bereit. »Tja, also …« Ich schob den Stapel von mir, wartete auf eine Erklärung, oder vielleicht auch auf einen Befehl. Irgendwas, um die Lage besser einschätzen zu können. Mich zu koordinieren. Geeignete Maßnahmen einzuleiten. Schließlich gab es doch für alles Lösungen, oder nicht? Mark Briefumschläge, haufenweise Briefumschläge. Waren die etwa für uns? Nach dem, was er mit Fiona beinahe angestellt hatte, traute sich keiner mehr, eine Frage zu stellen. Ich auch nicht. Fiona und ich, wir waren beide gerade noch mal so davongekommen, ich hatte nicht vor, das zu verschenken – und ich ho te inständig, dass sie es auch nicht tat. Ihre hellgrüne Bluse klebte an ihrer Haut. Noch zerbrechlicher als sonst kamen mir ihre Schultern vor, man sah ihr an, dass sie Mühe hatte, aufrecht sitzen zu bleiben. Fiona Nikolaus. Seit der Sache am Fenster hatte sie sich nicht ein Mal zu mir umgedreht, trotzdem fühlte ich mich irgendwie mit ihr verbunden wie mit einem unsichtbaren Drahtseil. Zwei Menschen, zwei Beinahe-Tote, so was schweißt zusammen, selbst wenn die eine ein hyperbegabtes Genie ist und der andere ein Dummkopf mit zu großer Klappe. Du bist so clever, versuchte ich ihr telepathisch mitzuteilen, pass gefälligst auf dich auf. Der Kerl würde keinen weiteren Aufstand dulden, da war ich mir sicher. Die Fensteraktion hatte ihn bestimmt einige Nerven gekostet. Immerhin: Er war jetzt wütend, was hieß, er würde Fehler machen. Und selbst wenn nicht … alles war besser als diese kalte Killerruhe. Meine letzten Wünsche. Vielleicht würden wir jetzt endlich erfahren, was er damit meinte. Warum er es auf uns abgesehen hatte. Und vor allem: Was er mit uns anstellen würde. Darauf war ich schon ziemlich neugierig, auch wenn mein Magen kurz davor war, den Rückwärtsgang einzulegen. »Nicht aufmachen!« Heiß und nass hing die Hand der Kleinen in meiner Faust, ihre Wangen glühten. »Nicht aufmachen«, üsterte sie, »das macht alles nur noch schlimmer, bestimmt!« Ein einzelner Sonnenstrahl brach sich seinen Weg durch die Wolkendecke, tauchte den Schicksalsberg in gespenstisches Licht. Alter, was für ein Morgen. Es hatte etwas Feierliches, wie der Unbekannte die Hand ausstreckte und mit großer Geste auf die Umschläge zeigte. Als würde er eine Urkunde überreichen. Oder ein Todesurteil. Herr Filler rührte sich nicht, fast schien es, als würde er gleich einnicken. Innerhalb der letzten Minuten schien er um Jahre gealtert. Tattriger war er geworden, richtig mickrig. Wenn das so weiterging, war bald keine Hinrichtung mehr nötig. »Ähm Herr Filler?«, hob Greta mit dünner Stimme an. »Ich glaube, Sie machen das lieber auf. Bitte.« Herrn Fillers Augenlider atterten. Fragend schaute er in die Runde, blinzelte ins Sonnenlicht. Wir nickten. Als er endlich seine Antwort herausbekam, klang sie mehr wie ein Husten als ein Wort: »O … Okay.« Er gab sich einen Ruck und nahm den obersten Umschlag vom Stapel, den mit der Eins. »Soll ich damit anfangen?« Wieder nickte der Bewa nete, etwas energischer diesmal. Reißen. Rascheln. Ruhe. Ich beugte mich vor, so weit, dass ich der Kleinen aus Versehen in den Rücken trat. »Tschuldige«, murmelte ich, achtete dabei aber nur auf den Brief, starrte wie hypnotisiert auf das Blatt, das Herr Filler nun in Händen hielt. Lies endlich vor, lies endlich vor … Alle hingen wir mit den Augen an dem Stück Papier, als Herr Filler sich hastig daranmachte, das Ding zu lesen. »Erster Wunsch. Herr Filler«, er zögerte, fuhr dann etwas langsamer fort, »spucken Sie Greta ins Gesicht.« Fiona Ich merkte genau, wie Greta sich neben mir versteifte, als ihr Name el. Greta, ausgerechnet! »Ho entlich werde ich irgendwann auch mal so groß wie du«, hatte sie gesagt, nur wenige Tage zuvor. »Ich hab immer das Gefühl, ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, wenn ich mit jemandem reden will.« Der Jemand war Herr Filler, klar. Aber das sagte ich nicht. »Du bist genau richtig«, hatte ich stattdessen geantwortet. »Durch und durch, von Kopf bis Fuß.« Und meinte es auch so. Greta war ganz einfach der richtigste Mensch, den ich kannte. Sie war einer dieser unglaublich seltenen Leute, die gar nicht für sich leben, sondern nur für andere. So vollkommen gut, dass es einem manchmal schon ein bisschen auf die Nerven gehen konnte. Wenn ich mit ihr zusammen in der Schlange vorm Schulkiosk stand, und einer der Fünfer stellte sich hinter uns an, ließ sie ihn vor, egal, ob die Schokowa eln, nach denen wir alle so süchtig waren, dann schon ausverkauft waren. Wenn jemand alleine in der Pausenhalle saß, zupfte sie mich am Ärmel und setzte sich dazu, egal wie picklig, oder dick oder uncool oder anders derjenige war. Und wenn jemand ein echtes, ein wirkliches Problem hatte, lief er damit zu ihr, nicht zu Herrn Filler. Ich weiß noch, wie wir uns kennengelernt haben. Beim Klettern war das, einige Jahre bevor wir in derselben Klasse landeten. Sie war dreizehn und ich zwölf, und obwohl wir beide schon lange dabei waren, hatte ich bisher kein Wort mit ihr gewechselt. Ihr gegenüber habe ich das nie erwähnt, aber bis dahin hatte ich immer gedacht, sie wäre bestimmt drei Klassen unter mir, bei der Größe. Mit jemandem zu tun zu haben, der jünger und besser war als ich, das ertrug ich damals einfach nicht. Bei Älteren war es für mich okay, dass sie mich in den Schatten stellten, das hielt ich aus. Sonst hätte ich wohl kaum mit meiner Schwester unter einem Dach leben können. Und dann dröhnte also plötzlich diese Schi sglocke durch die Halle, von weit, weit oben. Greta winkte hinunter und der Trainer verkündete ganz stolz, sie sei die erste Fünftklässlerin, die die Kopfüber-Strecke gemeistert habe. Was war ich erleichtert, als ich erfuhr, dass sie ein Jahr älter war als ich! Auf einmal machte es mir nicht einmal mehr etwas aus, ihr zu gratulieren. Und nachdem wir ein paarmal zusammen beim Pizzabacken die Küche eingenebelt hatten, war ich sogar richtig stolz auf meine Kletterfreundin. Greta war ein Herz- und Handmensch, ich eher der Kopftyp, so war das eben. Sie zeigte mir die besten Kni e, half mir bei allem, was Geschicklichkeit erfordert, denn was das angeht, bin ich wirklich eine Niete. Gemeinsam tapezierten wir endlich mein Zimmer neu, das heißt, sie bekleisterte die Wände und ich meine Klamotten. Cool sah das nachher aus, mit Tapeten, die aussahen wie eine lange, lange Bergkette, schneebedeckt und in der Sonne glitzernd. Dafür erklärte ich ihr später stundenlang wie man die binomischen Formeln anwendet, denn darin ist sie eine Niete. »Ich muss etwas anfassen können, um es zu verstehen«, sagte sie oft, und wie froh sie war, dass sie mich zum Erklären hatte. Wir wurden ein unschlagbares Team, Greta und ich, aber das war nicht das Beste. Das Beste war, dass ich ihr vertrauen konnte. Immer. Oder sagen wir, fast immer. Greta, die Verräterin. Es tat weh, daran zu denken. Fühlte sich irgendwie sogar falsch an. Sie hat ihre Gründe für das, was sie getan hat, üsterte es in mir, Greta tut nie etwas ohne Grund. Warum hatte der Unbekannte es bloß auf sie abgesehen? Unter dem Tisch drückte ich ihre Hand. Ein bisschen Spucke, wollte ich ihr damit sagen, das überlebst du. Sie umklammerte meine Finger. »Das überlebst du«, üsterte ich. Herr Filler trat einen Schritt zurück. »Aber ich … ich bin Lehrer!« Als ob wir das nicht alle wüssten. »Ich kann das nicht! Ich kann das doch unmöglich!« Mark Er log. Es gibt gewisse Dinge, die kann jeder. Essen, schlafen, trinken … Und spucken. Vielleicht tri t nicht jeder auf Anhieb den Laternenpfahl auf der anderen Straßenseite. Aber auf zwanzig Zentimeter einem Mädchen ins Gesicht spucken – das ist nun wirklich keine Kunst. Flüssigkeit sammeln, Luft holen, Lippen spitzen, Feuer frei. Echt easy, würde Sylvester sagen, jeder Waschlappen kriegt das hin. Abgesehen davon glaubte ich ihm nicht. Nicht nur das mit dem Spucken, ich nahm ihm auch das Entsetzen darüber nicht ab. Der war nicht geschockt. Zumindest nicht so sehr, wie es sich für einen Lehrer gehört hätte. Herr Filler In keinem anderen Beruf schlägt dir täglich so viel Ablehnung entgegen wie als Lehrer. Die Schüler hassen dich. Sie wollen, dass du scheiterst, und sie freuen sich, wenn du krank bist. Nie werde ich den Freudentanz vergessen, den ein paar Fünftklässler im Treppenhaus au ührten, als ein Kollege mit Schädelbasisbruch ins Krankenhaus eingeliefert wurde: »Sechs Wochen kein Schwimmen! Wenn wir Glück haben, sogar acht!« Zwar gibt es immer wieder irgendwelche realitätsfernen Pädagogen, die meinen, man müsse das mehr als Teamwork sehen, Schüler und Lehrer als Gemeinschaft, verbunden durch den Willen zur Wahrheit, halleluja! Aber so läuft das nicht, im Gegenteil, die Schüler wehren sich mit Händen und Füßen dagegen, besonders gegen Mathe. Sie wollen dumm bleiben. Und deshalb ist jede Stunde ein Kampf. Nicht direkt gegen die Schüler selbst, aber gegen deren Trägheit, Faulheit, Desinteresse und hormonbedingte Ausfälle. Mein alter Dozent für Geschichtswissenschaften hat mich immer wieder gewarnt: »Schule, das ist wie beim Militär, wenn sich die zwei Fronten gegenüberstehen. Jeder hasst den andern, keiner meint’s persönlich, und am Ende sind doch alle tot.« Sechs Jahre habe ich seitdem schon Erfahrungen gesammelt und ich muss sagen, das stimmt so nicht ganz. Denn in der Lehrer-Schüler-Schlacht gibt es einen entscheidenden Unterschied: Als Lehrer darfst du nicht zurückschlagen. So respektlos die Schüler zu dir sind, so wertschätzend und entgegenkommend musst du zu ihnen sein. Wenn ein Schüler einen schlechten Tag hat, lässt er das an dir aus. Wenn du dasselbe tust, wirst du gefeuert. Es sei denn, du wurdest dazu gezwungen. Fiona »Greta, es tut mir furchtbar leid.« Herr Filler trat nun doch ein paar Schritte auf uns zu, eine Pistole kann ganz schön überzeugend sein. »Tun Sie es ruhig«, krächzte Greta, »es ist ja nicht schlimm.« Dabei umklammerte sie ihre Brille wie einen Rettungsring. Nein, schlimm war es nicht. Das wirklich Schlimme begri ich erst ein paar Herzschläge später, nämlich, dass der Typ uns kannte. Mit Namen. Und zwar nicht nur Herrn Filler, sondern auch Greta, und wenn er Greta kannte, dann bestimmt auch mich und Tamara und Sylvester und überhaupt uns alle. Das hier war kein Ausgebrochener aus dem Irrenhaus. Es war einer, der uns nahestand oder mal nahegestanden hatte. »Es tut mir leid«, sagte Herr Filler wieder und rückte noch ein wenig näher heran, den Rücken unnatürlich durchgedrückt. Er sah gut aus, keine Frage. Ein bisschen wie die Playmobil guren meines Bruders: glatt, stra , aufrecht, mit großen blauen Augen und Haaren wie ein blonder Helm. Und trotzdem, ich würde mich niemals in einen zehn Jahre älteren Mathelehrer verlieben. Nicht, solange es Jungen wie Sylvester gab. Ich hörte, wie Greta scharf die Luft einsog. Genau so musste sie es sich in ihren Tagträumen vorgestellt haben: Herr Filler, der gewichtig auf sie zuschritt, seinen Kopf ihrem näherte, ihr in die Augen sah, die Lippen spitzte und … Ein Traum, der ins Gegenteil verzerrt wurde. Ich starrte den Maskenmann an. Woher wusste er von Gretas Träumereien? Und wenn er es wusste, warum lag ihm so viel daran, ihr Traumbild zu zertrümmern? »Sie wiederholen sich«, tönte es von Marks Platz am anderen Ende des Klassenzimmers, »wir wissen alle, dass es nicht Ihre Idee ist, Sie werden also nicht gefeuert, was soll das Theater.« Fast hätte ich laut »Genau!«, gerufen, nur um mich nicht länger so hil os zu fühlen. Aber irgendwas an dem Zucken um Gretas Mundwinkel sagte mir, dass dies nicht der geeignete Augenblick war, Mark zuzustimmen. Trotz allem. Also drückte ich ihr bloß noch einmal kräftig die Hand, während Herr Filler tief Luft holte und mit einem lauten Platschen den ersten Wunsch des Fremden erfüllte. Greta blinzelte. Schaumig rann ihr der Speichel von der Wange. Einzelne Spucketröpfchen hatten sich in ihren Wimpern verfangen. Langsam wischte sie mit dem Handrücken darüber. »Es geht schon«, murmelte sie, den Blick auf die Tischplatte gerichtet. Ich kramte in meiner Jacke nach einem Taschentuch, aber Tamara vom Nachbartisch kam mir zuvor. »Nimm dir so viele, wie du brauchst«, wisperte sie und warf ihr ein Päckchen zu. »Behalt es einfach.« »Danke, das ist nett«, antwortete Greta. So war sie eben. Durch nichts und niemanden ließen sich ihre tadellosen Manieren vertreiben, auch nicht durch Herrn Fillers Spucke. Mark Ich war wirklich froh, als die Sache endlich vorbei war. Dieses stundenlange Zögern und Bedauern, obwohl doch allen klar ist, dass ihm gar nichts anderes übrig bleibt und dass er sich sicherlich nicht erschießen lassen wird, nur der Hygiene wegen, das war doch einfach nur verlogen. Nach dem Motto: Ich spiel jetzt mal den sensiblen Vertrauenslehrer, damit später auch jeder meine Unschuld bezeugen kann. »Nein, ich spucke meinen Schülern nicht ins Gesicht, auch nicht, wenn Sie hier mit der Pistole herumfuchteln«, das hätte Stil gehabt. Aber dafür hätte es natürlich etwas mehr gebraucht als ein bisschen Schauspieltalent. Wenn ihr mich fragt, ist es das, was Erwachsene am besten können: Lügen. »Oh, Sie haben aber ein schönes Kleid an!«, »Nein, du hast überhaupt nicht zugenommen!«, »Wir sind eine glückliche Familie!«. Kinder können so was gar nicht. Die sagen, was sie denken, und werden dafür sogar noch bestraft. Erziehung nennt man so was. Glaubt mir, ich hab die Sache mitbekommen, bei vier jüngeren Geschwistern, und jedes Mal war es dasselbe. Am Anfang ist man noch naiv, denkt tatsächlich, dass es einem was bringt, die Wahrheit zu sagen. Glaubt, was die Eltern einem weismachen wollen. Dann kriegt man dafür eins auf die Mütze und schon ist man selbst ein gerissener Schuft. Mit anderen Worten: ein Erwachsener. »Werd endlich erwachsen!« So oft wurde mir das an den Kopf geworfen, von den Kümmerfrauen, meinem Vater, irgendwelchen Lehrern … Aber da können die lange drauf warten, dass ich ihrem Heuchlerclub beitrete. Ich weigere mich! Hier steht es schwarz auf weiß, damit du es weißt und der Rest der Welt auch: Ich verweigere. Stimme den Nutzungsbedingungen nicht zu. Schotte mich ab, kapiert? Wenn ich eins von meinem Vater gelernt habe, dann, dass ich nie so werden möchte wie er. Sorry, wenn ich euern »Erwartungshorizont« damit nicht erfülle. Zutiefst verstört, nun aber schon etwas entspannter, trottete unser Sensibelchen also zurück zum Zettelhaufen. Verkroch sich wieder in den Tiefen seines Sakkos mit den Fake- Breitschultern. Lügner von Kopf bis Fuß. Eingesteckt hatte der Maskierte die Pistole natür

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