Bildung und soziale Ungleichheit - Vorlesungsunterlagen PDF

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

Summary

Diese Unterlagen behandeln Bildung und soziale Ungleichheit, mit einem historischen und internationalen Vergleich von Bildungssystemen. Die Dokumente diskutieren die Legitimations-, Qualifikations- und Selektionsfunktionen des Bildungswesens sowie Entwicklungen des deutschen Schulsystems im Laufe der Geschichte. Die Vorlesungsunterlage thematisiert die Standardisierung und Stratifikation in Bildungssystemen.

Full Transcript

Bildung und soziale Ungleichheit 02 | Bildungssysteme im historischen und internationalen Vergleich Vorlesung PD Dr. Nicole Tieben || Bildung...

Bildung und soziale Ungleichheit 02 | Bildungssysteme im historischen und internationalen Vergleich Vorlesung PD Dr. Nicole Tieben || Bildungssoziologie Seite 1 Zusammenfassung letzte Sitzung: Was haben Sie gelernt? Bildungssoziologische Grundlagen „Recht auf Bildung“ (Menschenrechte der Vereinten Nationen) Chancengleichheit vs. Ergebnisungleichheit Das meritokratische Prinzip Bildungstrichter Bildungsexpansion PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 4 Bildungssysteme im historischen und internationalen Vergleich PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 5 Leitfragen I. v. Ackeren, I. & Klemm, K. (2011). Die historische Perspektive: Wie haben sich grundlegende Strukturmerkmale des Bildungswesens herausgebildet? In: v. Ackeren, I. & Klemm, K.: Entstehung, Struktur und Steuerung des deutschen Schulsystems. Wiesbaden: VS. 13-46 PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 6 1. Nennen und erklären Sie die drei Funktionsbegriffe des Bildungswesens Legitimationsfunktion: Schule dient zur Herausbildung und Stabilisierung eines gemeinsamen Staats- und Nationalbewusstseins. Regeln, Werte und Normen einer Gesellschaft sollen vermittelt werden. Qualifikationsfunktion: Schule dient dazu, den Zustrom qualifizierter Kräfte in den Arbeitsmarkt sicherzustellen Selektions- und Allokationsfunktion: Schule dient dazu, auf Basis der Leistungen im Bildungssystem eine Zuweisung zu gesellschaftlichen Stellungen (Berufe, Ämter, etc.) vorzunehmen. PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 7 2. Diskutieren Sie unter Berücksichtigung der Abschnitte 1.7 und 1.8 des Textes die Legitimationsfunktion des Bildungswesens. Die Legitimationsfunktion hat eine universelle Gültigkeit, allerdings wird diese Funktion auch jeweils von den unterschiedlichen politisch dominierenden Gruppen genutzt Verbreitung der Ideologien der Nationalsozialisten: Überarbeitung der Lehrpläne und Lehrbücher der Weimarer Republik, Ausgrenzung jüdischer Schülerinnen und Schüler, nationalpolitische Erziehungsanstalten und „Adolf-Hitler-Schulen“ Analog auch nach 1945: In der Deutschen Demokratischen Republik Ausrichtung an der sozialistischen Ideologie In Westdeutschland demokratische Prägung durch die Allierten HEUTE? bis heute Vermittlung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in allen Bildungsgängen. Unterschied zu „Ideologie“-Vermittlung: Kritische Haltungen und freie Meinungsäußerungen werden gefördert. PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 8 3. Durch welche Aspekte wurde Mitte des 19. Jahrhunderts das höhere Bildungswesen gekennzeichnet? Durch das Berechtigungssystem: Abschluss garantiert den Zugang zu Universität Durch den Leistungsgedanken: Der Zugang zur Universität ist an den Nachweis vorangegangener schulischer Leistungen gekoppelt Durch die Umsetzung eines Bildungskonzeptes: Inhalte der höheren Bildung waren definiert und klar von den Inhalten anderer Schulformen abgegrenzt PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 9 4. Welche Funktionen verfolgten das „höhere“, „mittlere“ und „niedere“ Schulwesen Mitte des 19. Jahrhunderts jeweils? Niederes Schulwesen Praktische Orientierung: Rechnen, Schreiben, Lesen, Religion nicht „mündige Bürger“ sondern „gehorsame Untertanen“ Für Handwerker, Landwirte und Hilfsarbeiter Mittleres Schulwesen Nützliche Orientierung: Mathematik, Ökonomie, Mechanik und moderne Fremdsprachen Verantwortungsvolle und kompetente Führungskräfte in der beginnenden Industrialisierung Für ausführende/leitende Angestellte Höheres Schulwesen Orientierung am Neuhumanismus: Latein, Griechisch, Geschichte, Naturwissenschaften, schöne Künste Vorbereitung auf akademische Berufe, Herstellung der Studierfähigkeit Aber auch: Abgrenzung vom niederen und mittleren Schulwesen Für Führungselite in Staat/Wirtschaft/Militär PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 10 5. Skizzieren Sie in 3-4 Sätzen die Entwicklung des Schulwesens für Mädchen Bis Ende 19. Jhdt.: Höhere Bildung (Gymnasium & Universität) nur für Jungen Daneben „Höhere Töchterschulen“ für Mädchen aus dem Bürgertum, keine formale Qualifikation oder Berechtigung Zweck: „dem Weibe eine der Geistesbildung des Mannes in der Allgemeinheit der Art und der Interessen ebenbürtige Bildung zu ermöglichen, damit der deutsche Mann nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit seiner Frau an dem häuslichen Herde gelangweilt und in seiner Hingabe an höhere Interessen gelähmt werde, dass ihm vielmehr das Weib mit Verständnis dieser Interessen und der Wärme des Gefühls für dieselben zur Seite stehe“ (zitiert nach: Kraul 1991: 281). Ab 20. Jhdt. : Höhere Mädchenschulen, Oberlyzeum zum Erwerb der Hochschulreife Ausweitung der Bildungsbeteiligung von Frauen erst in der Weimarer Republik Zweck: Gleichberechtigung, Initiative der Frauenbewegung, Frauen- und Lehrerinnenausbildung Allerdings auch: ökonomische Absicherung der Frau, Annahme, dass auch Frauen ggf. Erwerbstätigkeiten nachgehen. PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 11 6. Fassen Sie die wesentlichen Regelungen des Weimarer Schulkompromisses zusammen. Weimarer Republik strebt den Übergang von der Ständegesellschaft zur Leistungsgesellschaft an Plan zur Einführung einer Einheitsschule (Gesamtschulprinzip bis zum Ende Schulpflicht) scheitert an Widerständen konservativer Gruppen Weimarer Schulkompromiss (1919/20) Simultanschule als Regelfall (gemeinsamer Unterricht der Konfessionen) gleichzeitig Bekenntnisschulen und bekenntnisfreie Schulen Strukturfrage: Gemeinsame Volksschule bis Klasse 4, dann Beibehaltung der Dreigliedrigkeit PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 12 7. Welche Eigenschaften zeichnet das Schulwesen im Nationalsozialismus aus? Stärkung der Dreigliedrigkeit Stärkung des Ausleseprinzips nach der 4. Klasse Zusätzliche nationalsozialistische Eliteschulen („Adolf Hiltler Schulen“)für Führungsnachwuchs in Politik und Militär Ideologische (rassistische, faschistische) Lehrpläne Bildungsbegrenzung („Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“) Instrument der Ausgrenzung, auch: Freisetzung von wehrfähigen Männern durch Verkürzung der Schulpflicht Instrumentelle Öffnung für Mädchen und Frauen (im Zuge der Kriegsvorbereitung) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 13 8. Durch welche Maßnahmen sollte nach dem Ende des zweiten Weltkrieges die Demokratisierung sichergestellt werden? Potsdamer Abkommen der Siegermächte „Das Erziehungswesen in Deutschland soll so überwacht werden, dass die nazistischen und militaristischen Lehren völlig entfernt werden und eine erfolgreiche Entwicklung demokratischer Ideen möglich gemacht wird“ (Michael/Schepp 2005: 331) Grundsätze für die Demokratisierung des deutschen Bildungswesens Ökonomisch: Zugang öffnen: Schulgeld- und Lernmittelfreiheit Strukturell: Abschaffung der vertikalen Gliederung, „comprehensive schools“ bis zum Ende der Pflichtschule Inhaltlich: Erziehung zur staatsbürgerlichen Verantwortung und demokratischem Lebensstil PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 14 8. Stellen Sie die Umsetzung dieser Demokratisierungsmaßnahmen dar. Ostzone: In der DDR wurden alle Kinder von der ersten bis zur zehnten Klasse gemeinsam in einer „Polytechnischen Oberschule“ unterrichtet. Danach konnte die elfte und zwölfte Klasse an einer „Erweiterte Oberschule“ besucht werden, die auf ein Hochschulstudium vorbreitete. Der Schulunterricht war stark von der sozialistischen Ideologie geprägt. Westzone: In der westdeutschen Bundesrepublik setzten sich nicht die geplanten Reformen der Besatzungsmächte durch, sondern es gab eine Restaurierung des gegliederten Schulwesens (Einfluss durch den Kalten Krieg) und weiterhin eine höhere und eine niedere Bildung. Westen, 60erJahre: erneute Diskussion über die Reformation des Bildungswesens. Ziele: Sicherstellung der ökomischen Wettbewerbsfähigkeit des Landes durch mehr Bildung Beseitigung der Ungleichheiten der Bildungschancen (bezüglich Religion, Schichtzugehörigkeit, Geschlecht und Standort). Ansatz: Ersetzung des gegliederten Sekundarschulwesens durch ein integriertes Gesamtschulsystem. PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 15 Vertiefung Strukturmerkmale von Bildungssystemen Bildungssysteme und soziale Ungleichheit PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 16 Die Organisation formaler und beruflicher Bildung Allmendinger (1989) Typologie der Bildungssysteme Strukturmerkmale: Standardisierung & Stratifikation Vergleich USA, Norwegen, Westdeutschland Triventi et al. (2016a) (2016b) Typen der Stratifikation (Differenzierung) Vergleich 17 Länder (Deutschland, Ungarn, Niederlande, Schweiz, Dänemark, Finnland, Schweden, Australien, England, Irland, Schottland, USA, Estland, Frankreich, Israel, Italien, Russland) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 17 Standardisierung Hoher Standardisierungsgrad: Überregional gleiche bzw. vergleichbare Strukturen und Qualitätsstandards des Bildungssystems Niedriger Standardisierungsgrad: lokal unterschiedliche Strukturen und Qualitätsstandards des Bildungssystems Kriterien: Überlegen Sie: Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer Welchen Standardisierungsgrad würden Sie im Finanzierung und Ressourcen der Schulen deutschen Bildungswesen vermuten? Curricula (Lehrpläne) Kennen Sie Schulsysteme in anderen Ländern, Abschlussprüfungen in denen der Standardisierungsgrad höher/niedriger ist als bei uns? PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 18 Stratifikation (Wortbedeutung: Schichtung, Gliederung) Hoher Stratifikationsgrad: starke Ausdifferenzierung innerhalb der einzelnen Bildungsstufen hohe Selektion in höher qualifizierenden Bildungsgängen geringe Abschlussquoten in den höchsten Bildungsniveaus der Sekundarstufe Niedriger Stratifikationsgrad: geringe Ausdifferenzierung innerhalb der einzelnen Bildungsstufen geringe Selektion in einzelnen Bildungsgängen Abschluss der Sekundarstufe nahezu universell PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 19 3 Bildungssysteme: Primar- und Sekundarstufe in Deutschland, Norwegen, USA Standardisierung Stratifikation Deutschland Kultusministerkonferenz (zentralisierendes/koordinierendes Dreigliedrigkeit in Sekundarstufe Organ) Frühe Zuweisung in Schultypen (nach 4. Klasse) Kein Zentralabitur, dennoch überregional gültige Standards in Curricula & Abschlussprüfungen Geringe Durchlässigkeit zwischen den Durchgehend akademische Lehrerausbildung mit Schulformen Staatsexamen Norwegen „politisch zentralisiert“ (Ministerium für Kirche und Bildung) Zweigliedrigkeit in Sekundarstufe Stadt/Land Unterschiede (Kleinstschulen auf dem Land, Zuweisung in Schultypen nach 7./8. Klasse Sprachensplit, Lehrerqualifikation) Sekundarschulen weitgehend einheitlich (Curricula, Abschlussprüfungen, Lehrerqualifikation) USA Lokale Organisation, Curricula & Abschlussprüfungen auf „comprehensive school“ bis Klasse 11 (ca. 17 Schulebene Jahre) Ausbildung & Bezahlung der Lehrer nicht einheitlich Leistungsdifferenzierung (tracking) innerhalb der high school in einzelnen Fächer PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 22 Sie erinnern sich: Standardisierungsgrad D im Vergleich mit USA und NOR „relativ“ hoch Überlegen Sie: Welchen Standardisierungsgrad würden Sie im Länder mit höherem Standardisierungsgrad: deutschen Bildungswesen vermuten?  Frankreich (einheitliche nationale Lehrpläne) Kennen Sie Schulsysteme in anderen Ländern, in denen der Standardisierungsgrad  England & Wales (nationale Lehrpläne, höher/niedriger ist als bei uns? standardisierte Tests)  Niederlande (Standardisierter Test am Ende der Grundschule, nationales Einheitsexamen in allen Schulformen der Sekundarstufe) Quelle: Gries et al. (2005). Bildungssysteme in Europa. Berlin: Isis PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 26 Strukturmerkmale und Bildungsungleichheit Wie wirken sich die Strukturmerkmale von Bildungssystemen auf die Ungleichheit aus? PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 27 Stratifikation und Bildungsungleichheit Gesamtschulsysteme Gegliederte Systeme  Eher „inklusive“ Strategie  Frühe Trennung der Leistungsniveaus  Gemeinsamer Unterricht  Leistungshomogene unterschiedlicher Leistungsniveaus SchülerInnengruppen  Umgang mit Heterogenität der  Selektion auf Basis der zuvor Schülerinnen und Schüler innerhalb der gezeigten schulischen Leistungen Schulen/Schulklassen BefürworterInnen: BefürworterInnen:  Alle Gruppen profitieren von der  Schwächere SuS profitieren vom getrennten Beschulung, weil der gemeinsamen Unterricht Unterricht so besser auf die  gerechter, weniger soziale Ungleichheit Bedürfnisse und Begabungen der SuS zugeschnitten werden kann PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 30 Das beste Schulsystem? PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 31 Typen der Differenzierung (Triventi et al. 2016) Weiterentwicklung der Stratifikationskriterien von Allmendinger Extern (zwischen Schulen) Intern (innerhalb der Schulen) Formal Mehrgliedrigkeit Mehrzügigkeit & Schulträgerschaft (öffentlich, Spezialisierungen privat, konfessionell, etc.) Leistungsdifferenzierung (z.B. Grund- & Leistungskurse) Non-Formal Reputation & Rang Lehrermerkmale in den Ressourcen/Finanzierung Schulklassen Zusammensetzung der Leistungsniveau auf Ebene der Schülerschaft auf Schulebene Schulklassen PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 32 Modelle Sekundärer Bildung (Triventi et al 2016b) The early tracking model The nordic inclusive model Mehrgliedrig (mehrere Schulformen) Gesamtschulsystem, späte Selektion nach Sek I. frühe Selektion/Allokation (Alter 10-12) (Alter 16) Soziale Ungleichheit abhängig vom Allokationsprinzip Gelten als mustergültig bzgl. sozialer Ungleichheit Gelten als Ungleichheitsverstärker, jedoch wenig Auch hier: große soziale Unterschiede in Leistung empirische Evidenz und Bildungsergebnis Deutschland, Schweiz, Österreich, Niederlande, Belgien Schweden, Norwegen, Dänemark, Finnland The individual choice model The mixed tracking model Gesamtschulsystem mit starker Kennzeichen unterschiedlicher Systeme und Binnendifferenzierung Mischformen Geringe Standardisierung, große Unterschiede Selektion/Allokation im Alter von 14-15 Jahren zwischen nominell gleichen Schulformen Hohe Bedeutung der individuellen Profilwahl für Frankreich, Italien, Israel, Russland, Estland spätere Bildungschancen GB, Australien, Irland, Schottland, USA PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 37 Was ist das beste Schulsystem? Kein grundsätzlich „besseres“ Modell der Ausgestaltung von Bildungssystemen systematisch erkennbar Insgesamt: In allen Bildungssystemen Charakteristika, die Chancenungleichheit begünstigen können Soziale Ungleichheit entsteht vor allem durch Zuvor entwickelte Leistungsunterschiede zwischen den sozialen Gruppen Geringe Kompensationsleistung des Schulsystems Weiter verstärkt durch nicht-meritokratische Bewertungs- und Allokationskriterien (z.B. Bewertung von Wissen und Fähigkeiten, die in außerschulischen Lernkontexten erworben wurden) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 38 Bildung und soziale Ungleichheit 03 || Modernisierung und Bildungsexpansion Vorlesung PD Dr. Nicole Tieben || Institut für Soziologie Seite 1 Zusammenfassung letzte Sitzung: Was haben Sie gelernt? THEMA: Bildungssysteme im historischen und internationalen Vergleich Funktionen des Bildungswesens:Qualifikations-, Legitimations- und Selektions-/Allokationsfunktion Entwicklung des dreigliedrigen Bildungswesens in Deutschland Entwicklung des Bildungswesens für Mädchen & Frauen in Deutschland Die „Legitimationsfunktion“ im Nationalsozialismus, DDR Strukturmerkmale von Bildungssystemen: Stratifikation und Standardisierung (Allmendinger 1989) Typen der Differenzierung (Stratifikation): Extern/Intern, Fomal/Informell (Triventi et al. 2016) Zusammenhang zwischen Strukturmerkmalen und sozialer Ungleichheit: Insgesamt: In allen Bildungssystemen Charakteristika, die Chancenungleichheit begünstigen Kein grundsätzlich „besseres“ Modell der Ausgestaltung von Bildungssystemen systematisch erkennbar PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 3 Modernisierung und Bildungsexpansion PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 4 Leitfragen Hadjar, A. (2019). Educational expansion and inequalities: how did inequalities by social origin and gender decrease in modern industrial societies? In Becker, R. (Hrsg.). Research Handbook on the Sociology of Education. Cheltenham: Edward Elgar. 173- 192 PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 5 1. Was verstehen die Autoren (bezugnehmend auf gängige aktuelle Definitionen) unter Bildungsexpansion? „Educational expansion is characterized by an enhancement and an increase in the size of educational systems, an increase in educational opportunities and a rising demand for education.” (S. 173) Erweiterung und Vergrößerung der Bildungssysteme Vermehrung von Bildungsopportunitäten (Bildungsmöglichkeiten) Steigende Nachfrage nach Bildung In Deutschland Ausweitung der Sekundär- und Tertiärbildung seit den späten 1950er Jahren Schaffung neuer Schulen und Hochschulen Zunahme der Teilnahme an höheren Bildungsgängen Anhebung des Bildungs- bzw. Qualifikationsniveaus PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 6 2. Durch welche Entwicklungen wurde die Bildungsexpansion nach Darstellung des Autors begünstigt bzw. verursacht? Politische Gründe Kalter Krieg & Konkurrenz zwischen dem kapitalistischen Westen und dem sozialistischen Ostblock: Sicherung der militärischen Schlagkraft durch technologischen Vorsprung und Bildungsinvestitionen Abkehr von nationalsozialistischer Strategie (verkürzter Verbleib im Bildungssystem für Männer, frühe Rekrutierung für Wehrmacht) Sputnik Schock (1957) Wirtschaftliche Gründe Industrialisierung und Strukturwandel des Arbeitsmarktes hoher Bedarf an gut qualifizierten Arbeitskräften. Produktivität und Innovationskraft sollen die Wettbewerbsfähigkeit in der zunehmend globalisierten Wirtschaft sicherstellen Soziale Gründe „Bildung ist Bürgerrecht“ (Dahrendorf 1965) Zugang zu höherer Bildung sollte unabhängig von der sozialen Herkunft und elterlichen Ressourcen sein. (Aber auch: Aktivierung von „Bildungsreserven“ der Arbeiterschicht, die eigentlich wiederum wirtschaftlichen Interessen dient!) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 7 3. In Abschnitt 3 des Textes werden vier theoretische Erklärungen dafür genannt, dass Menschen von erweiterten Bildungsmöglichkeiten Gebrauch machen. Nennen Sie die vier Erklärungen und fassen Sie EINE der Erklärungen kurz in eigenen Worten zusammen. Humankapitaltheorie (human capital theory), Becker (1964) Bildungsinvestition zahlt sich aus Warteschlangentheorie (labour queue theory), Thurow (1975) Bildungsinvestition zahlt sich aus, wenn man mehr Bildung hat, als die Konkurrenz Konflikttheorie (conflict theory), Collins (1971, 1979) Obere Schichten nutzen Privilegien, um ihren Bildungsvorsprung zu sichern Modernisierungstheorie (modernization theory), Treiman (1970) Das Bildungssystem reagiert auf Strukturwandel des Arbeitsmarktes weil hochqualifizierte Arbeitskräfte gebraucht werden PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 8 4. Warum geht die Modernisierungsthese davon aus, dass im Zuge der Bildungsexpansion die Bildungsungleichheit geringer werden sollte? Bildungsexpansion schafft mehr Bildungsangebote und Bildungschancen Mehr Teilhabe an Bildungsangeboten Dadurch auch mehr Bildungschancen für benachteiligte Gruppen Höhere Bedeutung des meritokratischen Prinzips (leistungsbasierte Auswahl, IMS „increased merit selection“) Verbesserte Information über Bildungssystem durch Massenmedien PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 9 5. Welche Befunde zeigt die empirische Bildungsforschung hinsichtlich dieser Erwartung? Pessimismus seit den 1990er Jahren, z.B. Sammelband „Persistent Inequalities“ (Shavit & Blossfeld, 1993) Stabile Ungleichheit bezüglich des höchsten erreichten Bildungsabschlusses (Ausnahmen: Schweden & Niederlande) „Expansion does not reduce the relative advantages of the elite children over children from less privileged backgrounds“ (Hannum & Buchmann 2005) Aber: sinkende Ungleichheit beim Zugang zur Sekundarstufe wird durch steigende Ungleichheit beim Übergang in die Tertiärbildung kompensiert (heisst: mehr Kinder aus niedrigen Schichten erwerben zwar das Abitur, gehen dann aber nicht zur Uni…) Seit den späten 2000er Jahren: wachsende Bedeutung meritokratischer Prinzipien, z.B. standardisierte Tests in empirischer Bildungsforschung allerdings: Ungleichheiten werden nun mit „Leistungsunterschieden“ legitimiert, jedoch nicht beseitigt PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 10 6. Wie können diese Befunde erklärt werden? Bildungsexpansion kann nur dann zu einer Reduktion von Ungleichheiten führen, wenn niedrige Schichten stärker von der Öffnung des Bildungswesens profitieren, als privilegierte Schichten Maximally Maintained Inequality-Hypothese (MMI): kann nur passieren, wenn die Beteiligung der privilegierten Schichten so hoch ist, dass eine „Saturation“ auftritt (Raftery & Hout 1993) Effectively Maintained Inequality-Hypothese (EMI): Kann eigentlich gar nicht passieren, denn bei beginnender Saturation wird der Vorsprung durch eine „vertikale Ausdifferenzierung“ der höheren Bildungsgänge erhalten (Lucas 2001) Heisst: Gründung von exklusiven Elite-Einrichtungen, wachsende Bedeutung von Hochschulrankings, Profilbildung in der Sekundarstufe II PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 11 Fazit Die Modernisierungsthese ging davon aus, dass Bildungsexpansion automatisch zu einer Verringerung der Bildungsungleichheit führen müsste. Diese Erwartung wurde größtenteils enttäuscht Expansion = insgesamt mehr Bildungsteilhabe, aber in allen Bevölkerungsgruppen Ergebnis: Alle sind absolut gesehen höher gebildet, aber die relativen Nachteile der unteren Schichten bleiben weitgehend stabil Empirische Ergebnisse sind inkonsistent, vereinzelt wird leichte Abnahme der Ungleichheit beobachtet, insgesamt jedoch stabile Ungleichheit PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 12 Übungsaufgabe Bildungsexpansion Seite 13 Stellen Sie sich vor: Sie sind LeiterIn eines Gymnasiums und können Schülerinnen und Schülerinnen und Schüler Schüler aus der Grundschule für Ihre Schule auswählen. aus höheren Schichten  = gute Noten Ohne Bildungsexpansion: 25%  = mittelmäßige Noten machen Übergang ins Gymnasium Schülerinnen und Schüler aus niedrigeren Schichten:  = gute Noten   = mittelmäßige Noten    Grundschule: 20 Kinder Gymnasium: 5 Kinder (25%) (100%) Relatives Übergangsverhältnis: Anzahl Kinder aus höherer Schicht: ____ Anzahl Kinder aus niedriger Schicht: ____ Quotient (Dividieren Sie die obere durch die untere Zahl): ____ Seite 14 Stellen Sie sich vor: Sie sind LeiterIn eines Gymnasiums und können Schülerinnen und Schülerinnen und Schüler Schüler aus der Grundschule für Ihre Schule auswählen. aus höheren Schichten  = gute Noten Ohne Bildungsexpansion: 25%  = mittelmäßige Noten machen Übergang ins Gymnasium Schülerinnen und Schüler aus niedrigeren Schichten:  = gute Noten   = mittelmäßige Noten     Grundschule: 20 Kinder Gymnasium: 5 Kinder (25%) (100%) Relatives Übergangsverhältnis: Anzahl Kinder aus höherer Schicht: _4___ Anzahl Kinder aus niedriger Schicht: _1___ Quotient (Dividieren Sie die obere durch die untere Zahl): _4___ Seite 15 Stellen Sie sich vor: Sie sind LeiterIn eines Gymnasiums und können Schülerinnen und Schüler aus der Schülerinnen und Schüler Grundschule für Ihre Schule auswählen. aus höheren Schichten Wählen Sie 10 SchülerInnen aus und berechnen Sie das relative Übergangsverhältnis.  = gute Noten Mit Bildungsexpansion: 50% machen  = mittelmäßige Noten Übergang ins Gymnasium Schülerinnen und Schüler aus niedrigeren Schichten:  = gute Noten   = mittelmäßige Noten    Grundschule: 20 Kinder Gymnasium: 10 Kinder (50%) (100%) Relatives Übergangsverhältnis: Anzahl Kinder aus höherer Schicht: ____ Anzahl Kinder aus niedriger Schicht: ____ Quotient (Dividieren Sie die obere durch die untere Zahl): ____ Seite 17 Mögliche Lösungen Seite 18 Stellen Sie sich vor: Sie sind LeiterIn eines Gymnasiums und können Schülerinnen und Schüler aus der Grundschule für Ihre Schule auswählen. Mit Bildungsexpansion: 50% machen Übergang ins Gymnasium größere verringerte  stabile Ungleichheit Ungleichheit Ungleichheit                   Grundschule: 20 Kinder Gymnasium: 10 Kinder (50%) Gymnasium: 10 Kinder (50%) Gymnasium: 10 Kinder (50%) (100%) Relatives Übergangsverhältnis: Relatives Übergangsverhältnis: Relatives Übergangsverhältnis: Anzahl Kinder aus höherer Schicht: 8 Anzahl Kinder aus höherer Schicht: 9 Anzahl Kinder aus höherer Schicht: 7 Anzahl Kinder aus niedriger Schicht: 2 Anzahl Kinder aus niedriger Schicht: 1 Anzahl Kinder aus niedriger Schicht: 3 Quotient (Dividieren Sie die obere Quotient (Dividieren Sie die obere Quotient (Dividieren Sie die obere durch die untere Zahl): 4 durch die untere Zahl): 9 durch die untere Zahl): 2,3 Seite 19 Folgen der Bildungsexpansion Becker, M., Trautwein, U., Lüdtke, O., Cortina, K. S., & Baumert, J. (2006). Bildungsexpansion und kognitive Mobilisierung. In Die Bildungsexpansion (pp. 63-89). VS Verlag für Sozialwissenschaften. PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 21 Sind die Deutschen durch die Bildungsexpansion klüger oder dümmer geworden? Insgesamt mehr Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulformen und längerer individueller Verbleib im Bildungssystem  Menschen werden „klüger“? PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 22 Sind die Deutschen durch die Bildungsexpansion klüger oder dümmer geworden? Strukturverschiebungen in der Zusammensetzung der Schulklassen: Hauptschulen: „Restschulen“ mit homogenerer Schülerschaft, durchschnittlich niedrigere kognitive Leistung  HauptschülerInnen werden „dümmer“? Gymnasien: Schülerschaft heterogener, Wachstum hat (möglicherweise) zu sinkenden Standards geführt  Gymnasiasten werden „dümmer“? PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 23 Sind die Deutschen durch die Bildungsexpansion klüger oder dümmer geworden? Insgesamt mehr Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulformen und n Flynn-Effekt: James R. Flynn (1984) Gemessene Intelligenz in Industrieländern nimmt immer weiter zu  Gibt es den Flynn-Effekt auch in Deutschland? PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 24 Flynn-Effekt Erforderlich: Intelligenztest Standardisiertes Testinstrument Aufgaben bleiben unverändert Standardisierte Testbedingungen Altersgruppe bleibt unverändert Rahmenbedingungen bleiben unverändert In vielen Industrieländern: Standardisierter Intelligenztest bei der Musterung von Wehrpflichtigen (v.a. Männer) In Deutschland: kein Intelligenztest bei der Musterung PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 25 Flynn-Effekt Methode Nutzung des Intelligenz-Strukturtests (Version I) (Amthauer 1955) 112,9 Vergleich: Schuljahr 1968/69 (Edelstein 1970) und Schuljahr 1991/92 (Baumert 1996) 108,9 Jeweils 7. Jahrgangsstufe Gymnasium Befunde Intelligenz ist im Schnitt um 4 Prozentpunkte gestiegen (nicht „signifikant“) Kritik an Methode Quelle: Becker, M. et al. (2006), S. 77 Test 1991/92 etwas später im Schuljahr 1991/92 höherer Mädchenanteil an Gymnasien als 1968/69 Nur Gymnasien, keine Aussage über Allgemeinbevölkerung PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 26 Weitere Folgen der Bildungsexpansion Demokratisierung Höhere Kompetenzen zur Wahrnehmung und Verarbeitung von politisch und gesellschaftlich relevanten Informationen, kritische Reflexion, soziales & politisches Engagement. (Hadjar & Becker 2006) Akzeptanz von Diversität z.B. Migranten, Homosexualität, Gleichberechtigung der Frauen (Rippl 2006) Höhere Lebenserwartung Gesündere Verhaltensweisen, stabilere Berufsverläufe, höhere Einkommen, geringere berufliche Risiken (Klein, Unger & Schulze 2006) Wertewandel, Individualisierung Erosion traditioneller Normen/Werte, Pluralismus im Wertebereich, postmateriellen Grundwerte (Selbstverwirklichung, Lebensqualität, Autonomie) (Hadjar 2006) Differenzierung des Privaten weniger Eheschließungen, mehr Ehescheidungen, häufiger Kinderlosigkeit, spätere Familiengründung, etc. ggf. durch finanzielle Unabhängigkeit der Frauen (Timm 2006) Hadjar & Becker (2006) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 27 Bildung und soziale Ungleichheit 04 || Bildungsbenachteiligung als Institutioneneffekt Vorlesung PD Dr. Nicole Tieben || Institut für Soziologie Seite 1 Maximally Maintained Inequality (Raftery & Hout, 1985) Bildungsexpansion kann zur Verringerung von 100 Ungleichheit beitragen WENN es in oberen Schichten eine Saturation 90 der Bildungsbeteiligung gibt. 80 70 Was genau bedeutet Saturation? 60 Ein Beispiel: Eltern niedrige Bildung 50 Eltern mittlere Bildung Bildungsbeteiligung Gymnasium 1945-2025 40 Eltern hohe Bildung Grobes Maß für Beteiligungsungleichheit: Abstand zwischen den Linien 30 Saturation = Beteiligung der oberen Schichten erreicht annähernd 100% 20 Verringerung der Ungleichheit, wenn die 10 Beteiligung der mittleren/unteren Schichten weiter ansteigt 0 PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 4 Etwas genauer & korrekter … in der Statistik wird nicht der Beteiligung Odds Ratio 100 11.0 Abstand gemessen, sondern ein GY (%) 90 10.0 Koeffizient (Odds Ratio) berechnet 80 9.0 = Quotient aus Beteiligung % zweier 8.0 Gruppen 70 7.0 Odds Ratio = 1 = keine 60 Eltern niedrige Bildung 6.0 Ungleichheit! 50 Eltern mittlere Bildung 5.0 Eltern hohe Bildung 40 4.0 OR EB hoch / EB mittel Klausur: 30 OR EB hoch / EB niedrig 3.0 Sie müssen nicht rechnen! 20 2.0 Sie sollten „Saturation“ und „Odds 10 1.0 Ratio“ in groben Zügen verstanden 0 0.0 haben ;-) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 5 Stellen Sie sich vor: Sie sind LeiterIn eines Gymnasiums und können Schülerinnen und Schüler aus der Grundschule für Ihre Schule auswählen. Mit Bildungsexpansion: 50% machen Übergang ins Gymnasium größere verringerte  stabile Ungleichheit Ungleichheit Ungleichheit                   Grundschule: 20 Kinder Gymnasium: 10 Kinder (50%) Gymnasium: 10 Kinder (50%) Gymnasium: 10 Kinder (50%) (100%) Relatives Übergangsverhältnis: Relatives Übergangsverhältnis: Relatives Übergangsverhältnis: Anzahl Kinder aus höherer Schicht: 8 Anzahl Kinder aus höherer Schicht: 9 Anzahl Kinder aus höherer Schicht: 7 Anzahl Kinder aus niedriger Schicht: 2 Anzahl Kinder aus niedriger Schicht: 1 Anzahl Kinder aus niedriger Schicht: 3 Quotient (Dividieren Sie die obere Quotient (Dividieren Sie die obere Quotient (Dividieren Sie die obere durch die untere Zahl): 4 durch die untere Zahl): 9 durch die untere Zahl): 2,3 Seite 7 Zusammenfassung letzte Einheit: Was haben Sie gelernt? THEMA Modernisierung und Bildungsexpansion Ursachen und Folgen der Bildungsexpansion Annahmen der Modernisierungstheorie Empirische Ergebnisse - leicht sinkende Ungleichheit beim Übergang in die Sekundarstufe II & beim Erwerb der Hochschulreife - leicht steigende Ungleichheit bei der Studierquote (bezogen auf Schulabgänger MIT Hochschulreife) - insgesamt wenig Nachweise sinkender Ungleichheit durch Bildungsexpansion Auswirkungen der Bildungsexpansion auf Bildungsungleichheit Maximally Maintained Inequality-Hypothese & Saturation Auswahl beim Übergang in das Gymnasium Zuguterletzt: Der Flynn-Effekt PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 8 Der Flynn-Effekt Flynn-Effekt: James R. Flynn (1984) Gemessene Intelligenz in Industrieländern nimmt immer weiter zu Erforderlich: Intelligenztest Standardisiertes Testinstrument Aufgaben bleiben unverändert Standardisierte Testbedingungen Altersgruppe bleibt unverändert Rahmenbedingungen bleiben unverändert In vielen Industrieländern: Standardisierter Intelligenztest bei der Musterung von Wehrpflichtigen (v.a. Männer) Gibt es den Flynn-Effekt auch in Deutschland?  In Deutschland: kein Intelligenztest bei der Musterung PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 11 Bildungsbenachteiligung als Institutioneneffekt PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 14 Leitfragen Dravenau, D. & Groh-Samberg, O. (2005). Bildungsbenachteiligung als Institutioneneffekt: Zur Verschränkung kultureller und institutioneller Diskriminierung. In Berger, P. A. & Kahlert, H. (Hrsg.). Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. Juventa. 103-129 PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 15 1. Wann spricht man von sozialer Bildungsungleichheit im engeren Sinn? Erklären Sie in eigenen Worten die „zwei Komponenten“ der Bildungsbeteiligung, die im Text genannt werden. Zwei Komponenten der Bildungsbeteiligung 1. Primäre Effekte der sozialen Herkunft Ungleichheiten der schulischen Leistung 2. Sekundäre Effekte der sozialen Herkunft Ungleichheiten im Bildungsergebnis, die bei gleicher Leistung entstehen Soziale Bildungsungleichheit im engeren Sinn Ungleiche Bildungsergebnisse bei gleicher Leistung Weitere „Ungleichheitsbegriffe“: Chancenungleichheit, Ergebnisungleichheit Bildungsungleichheit im engeren Sinn toleriert Ergebnisungleichheit, nicht aber Chancenungleichheit PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 16 2. Die Autoren nennen zwei einflussreiche (und kontrovers diskutierte) Erklärungsansätze für die Reproduktion sozialer Bildungsungleichheiten. Nennen Sie beide Ansätze und fassen Sie EINEN der beiden knapp in eigenen Worten zusammen. Schichtspezifische Rationale Sozialisationsforschung Schulwahlentscheidungen  Theorem der kulturellen Diskriminierung  Auch hier Selbsteliminierung  Weniger Förderung & Anerkennung von  Aber: keine (bewusste/unbewusste) Diskriminierung Leistungen der Schülerinnen und Schüler aus niedrigen Schichten  Annahme der rationalen Entscheidung  Kontext der Mittelschichtschule  Abwägung von Kosten/Nutzen der verfügbaren Bildungoptionen  Erziehungsstile in Arbeiterfamilien den  Treibendes Motiv der Entscheidung: Anforderungen der Schule nicht angepasst intergenerationaler Statuserhalt  Selbsteliminierung PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 17 3. Im Text wird der Begriff „Mittelschichtscharakter“ der Schule genannt. Was genau ist damit gemeint? „Angesichts der sozialen Herkunft der Lehrerschaft überrascht es nicht, dass die dabei in Anschlag gebrachten Erziehungsideale und Wertvorstellungen die einer konventionellen Mittelschichtsmoral sind.“ (Seite 108). In den 1960er und 1970er Jahren noch deutliche Orientierung der Lehrerinnen und Lehrer an den konservativen Werten und Tugenden der Mittelschicht Schülerinnen und Schüler aus unteren Schichten wirken unangepasst Konventionelle Mittelschichtsnormen zur Rechtfertigung sozialer Auslese im Schulwesen. Empirische Untersuchungen (Sprondel 1970, Fendt 1977) bestätigen die damalige Orientierung der Lehrkräfte PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 18 3. Im Text wird der Begriff „Mittelschichtscharakter“ der Schule genannt. Was genau ist damit gemeint? „Angesichts der sozialen Herkunft der Lehrerschaft überrascht es nicht, dass die dabei in Anschlag gebrachten Erziehungsideale und Wertvorstellungen die einer konventionellen Mittelschichtsmoral sind.“ (Seite 108). Exkurs: Modernisierung der LehrerInnen-Ausbildung Aktuelle(re) Studie von Schuhmacher (2002) untersucht Werthaltungen von Lehrerinnen und Lehrern Moderne Lehrerschaft deutlich geprägt vom „liberal-intellektuellem Milieu“ Werte wie Emanzipation, Diversität, Toleranz, Mitgestaltung und Mitverantwortung werden vertreten. PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 19 4. Die Autoren zitieren eine Studien von Gomolla und Radtke, die untersucht hat, wie Lehrerinnen und Lehrer zu „Prognosen“ über Bildungschancen ihrer Schülerinnen und Schüler kommen. Nennen Sie die Kriterien, die für die Prognosen herangezogen werden können. Objektive Leistungskriterien Schulnoten Testergebnisse Aber auch Unterstellung einer „institutionellen Normalbiographie“ (v.a. Vermittlung grundlegender Fähigkeiten bereits im Kindergarten) Erwartete Unterstützung durch die Eltern Frühere schulische „Probleme“ (Klassenwiederholungen und Rückstellungen als „negativ- prognostische“ Kriterien) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 20 5. Welche Gegenargumente gegen die Annahme der „institutionellen Diskriminierung“ werden in Abschnitt 2.3 genannt? Kompensatorische Funktion von Schule und Unterricht Baumert/Schümer (2001): Leistungsunterschiede nehmen vor allem in den Ferien zu. Bildungsentscheidungen Individuelle Verantwortung für Bildungsergebnis durch eigene Wahl In niedrigen Schichten seltener „ambitionierte“ Bildungsentscheidungen Differentielle Lernmilieus und Leistungsentwicklung Lernfortschritt und Wissenszuwachs an Gymnasien schneller/größer Durch Zuweisungsmechanismen und indviduelle Entscheidungen deshalb Verstärkung der Ungleichheit im Bildungsverlauf PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 21 6. Stellen Sie Lareau’s Unterscheidung zwischen „sense of entitlement“ und „sense of constraint“ knapp in eigenen Worten dar Sense of entitlement Sense of constraint (Berechtigungssinn) (Beschränkungssinn) Orientierungsmuster der Mittelschicht Orientierungsmuster der unteren Schichten  Sinn für die Berechtigung, Institutionen für sich „arbeiten zu lassen“  Sinn für die einschränkende, kontrollierende Funktion von  Bezieht sich u.a. auf eine Institutionen Anspruchshaltung gegenüber  Bezieht sich auf eine unterordnende Lehrenden Haltung gegenüber Lehrenden  Einfordern von Informationen und  Überzeugung dass Aufgaben allein Unterstützung bewältigt werden müssen  Betrachtung von Lehrenden als  Betrachung von Lehrenden als „Dienstleistern“ Autoritätspersonen PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 22 Auszug aus dem Text PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 23 Das „strukturelle Dilemma“ der Lehrkräfte Vertiefung PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 24 Das strukturelle Dilemma der Lehrkräfte 3 Funktionen des Analog dazu: Aufgabe der Lehrenden Bildungswesens 1. Qualifikation 1. Wissensvermittlung 2. Sozialisation/Legitimation 2. Vermittlung gesellschaftlicher Werte & Normen 3. Allokation/ Selektion 3. Bewertung, Leistungsdifferenzierung, Ausweisung von Leistung Solga (2005): „Dabei bewegen Sie sich in dem strukturellen Dilemma, dass sie (nur) gezeigte Leistungen bewerten können (bzw. dürfen) und sie ihre SchülerInnen dabei nicht dem Einfluss ihrer Familien entziehen können (wollen und sollen). Insofern bedienen sie sich einerseits eines in modernen Gesellschaften legitimen Instruments der Leistungsbewertung, nämlich dem der Schulnoten/Testergebnisse und der im Unterricht erbrachten Leistungen, ohne dabei jedoch andererseits von den mitgebrachten familialen Ressourcen und damit den „Leistungsvorteilen“ abstrahieren zu dürfen.“ (S. 20) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 25 Das strukturelle Dilemma der Lehrkräfte „Kultureller Klassenkampf im Klassenzimmer“: Quelle: Dravenau & Groh-Samberg, 2005 PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 27 Übung zur Reflexion 1. Skizzieren Sie beispielhaft anhand einer konkreten Bewertungssituation das „strukturelle Dilemma der Lehrkräfte“ Im Deutschunterricht wird ein Theaterklassiker durchgenommen. Eine Schülerin geht oft mit den Eltern ins Theater. Zuhause wird gern über neue Stücke und Inszenierungen diskutiert. Die Schülerin glänzt im Unterricht mit ihrem Wissen und erhält eine sehr gute Note. Problem: Der/Lehrende bewertet Wissen, das nicht im Unterricht vermittelt wurde und anderen SchülerInnen nicht/nur bedingt zur Verfügung steht 2. Durch welche Maßnahmen kann der „kulturelle Klassenkampf im Klassenzimmer“ reduziert werden? Unterstützung zur Kompensation von Chancennachteilen (z.B. individuelle Förderung, Nachhilfe, außerschulische Angebote) Bewertungskriterien überprüfen: Bewertungsrelevantes Wissen im Unterricht vermitteln PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 29 Geht Meritokratie zusammen mit weniger Ungleichheit? Meritokratisches Prinzip: Die gezeigten Leistungen werden belohnt Aber:  Unter welchen Bedingungen wird Leistung erbracht?  Müssen für alle die gleichen Bedingungen hergestellt werden?  Sind gleiche Bedingungen auch gleiche Chancen?  Müssen (unverschuldete) Nachteile kompensiert werden, um gleiche Chancen herzustellen? Achtung: “Gesinnungsfrage” > keine universelle Antwort! PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 30 Bildung und soziale Ungleichheit 05 | Pygmalion, Stereotype und "self fulfilling prophecies" Vorlesung PD Dr. Nicole Tieben || Bildungssoziologie Seite 1 Zusammenfassung letzte Sitzung: Was haben Sie gelernt? THEMA Bildungsbenachteiligung als Institutioneneffekt Ungleichheiten und Benachteiligungen im Schulkontext Das Problem der Standards und der Bewertung von Leistungen Vertiefung: Das „strukturelle Dilemma“ der Lehrkräfte: Lehrkräfte bewerten die gezeigten Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Aus der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler ergeben sich aber Vorteile, die Lehrende nicht berücksichtigen (dürfen, können, wollen). Reflexion zum Thema „strukturelles Dilemma der Lehrkräfte“ PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 3 Übung zur Reflexion 1. Skizzieren Sie beispielhaft anhand einer konkreten Bewertungssituation das Dilemma der Lehrkräfte. - Mädchen geht mit den Eltern regelmäßig ins Theater, kennt sich gut aus und zeigt ihr Wissen im Unterricht 2. Durch welche Maßnahmen kann der „kulturelle Klassenkampf im Klassenzimmer“ reduziert werden? - Bewußtmachen und Reflektieren des Problems - Individuelle Förderung/Nachteilsausgleich - Klare Bewertungskriterien - Bewertungsrelevantes Wissen muss vorher vermittelt werden NICHT: - Anpassung/individuelle Absenkung der Anforderungen für bestimmte Noten PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 4 Pygmalion, Stereotype und "self fulfilling prophecies" Lorenz, G., Gentrup, S., Kristen, C. et al. (2016). Stereotype bei Lehrkräften? Eine Untersuchung systematisch verzerrter Lehrererwartungen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 68, 89–111 PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 5 1. Was bedeutet der Begriff „askriptiv“ im Zusammenhang dieses Textes? Ziehen Sie ggf. ein (online-)Lexikon heran. Askriptiv Aquired Wortbedeutung: „Zugeschrieben“ Wortbedeutung: „Erworben“  Merkmale, die eine Person mit der Geburt erhält  Merkmale, die im Lebensverlauf erworben werden  Nicht (ohne Weiteres) veränderbar  Veränderbar (bedingt)  In der Soziologie: Merkmale, die mit Bildungs- und  In der Soziologie: Insbesondere Merkmale, die die Lebenschancen zusammenhängen (können) soziale Stellung anzeigen Beipiele: Beispiele:  Geschlecht  Bildung (Abschlüsse, aber auch Wissen und Fähigkeiten)  Soziale Herkunft  Finanzielle Ressourcen (Einkommen, Vermögen)  Ethnische Herkunft, Migrationshintergrund, Muttersprache, Religionszugehörigkeit  Soziale Ressourcen (Kontakte, Bekannte, Freunde) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 6 2. Erklären Sie den Ansatz der statistischen Diskriminierung Statistische Diskriminierung Edmund Phelps (1972) Diskriminierung = systematischer, konsequenter und regelhafter Ausschluss von Optionen OHNE sachliche Begründung Restaurantbeispiel: Reisender isst grundsätzlich nicht im Hotelrestaurant („without prior investigation“) Gründe: Hotelrestaurants im allgemeinen haben schlechten Ruf und/oder Reisender hat zuvor „schlechte Erfahrungen mit Hotelrestaurants gemacht“ Quelle: Phelps (1972)  Hier keine sachliche Begründung, die sich auf Eigenschaften des einzelnen Hotelrestaurants bezieht PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 7 2. Erklären Sie den Ansatz der statistischen Diskriminierung Statistische Diskriminierung Edmund Phelps (1972) Diskriminierung = systematischer, konsequenter und regelhafter Ausschluss von Optionen OHNE sachliche Begründung Nach Phelps ist Diskriminierung rational, WENN 1. Entscheider glauben, dass bestimmte Eigenschaften im Durchschnitt häufiger mit negativen/unerwünschten Attributen verbunden sind 2. Beschaffung weiterer Informationen mit Aufwand (Kosten) verbunden ist A priori Überzeugungen & statistische Erfahrungen werden auf gesamte Gruppe übertragen Quelle: Phelps (1972) Dient v.a. der Risikominimierung: Reduziert das (wahrgenommene) Risiko einer falschen Entscheidung PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 8 2. Ab wann wird von einer Fehlerdiskriminierung gesprochen? Fehlerdiskriminierung Paula England (1992) Zwei Bedingungen Es müssen a priori Überzeugungen vorliegen, die zu statistischer Diskriminierung führen Es müssen Abweichungen Einzelner von a priori- Überzeugungen auftreten z.B. Erwartungswidrig gute mathematisch- naturwissenschaftliche Leistungen bei Mädchen PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 9 3. Welche zwei Arten von Informationsquellen für die Einschätzung von Interaktionspartnern gibt es? Wie unterscheiden sie sich? Kategorisierend Anhand von sichtbaren/beobachtbaren Merkmalen Rückgriff auf Stereotype (kognitive Abbilder der Erwartungen) Risiko der Fehleinschätzung Eigenschaftsbasiert Anhand von direkt beobachteten, individuellen verbalen und non- verbalen Merkmalen Kennenlernen des Interaktionspartners, Informationsverarbeitung Pole eine Kontinuums Katego- Eigenschafts- Wechsel von kategorisierenden zu eigenschaftsbasierten Strategien, wenn risierende basierte Einschätzung Einschätzung 1. Neue Informationen verfügbar werden (Kennenlernen) 2. Neue Informationen „kategorien-inkonsistente Attribute“ enthalten PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 11 4. In Abschnitt 3 wird die empirische Befundlage zu systematischen Verzerrungen zusammengefasst. Bei welchen Merkmalen von Schülerinnen und Schülern konnten negativ oder positiv verzerrte Erwartungen festgestellt werden? Merkmale, die mit negativ verzerrten Erwartungen zusammenhängen können Kinder aus ethnischen Minderheiten Kinder aus Zuwandererfamilien Kinder aus niedrigen Schichten Positiv verzerrte Erwartungen werden nicht explizit genannt Exkurs: „Diese beiden Herkunftsmerkmale (sozial, ethnisch) scheinen konfundiert auf die Entstehung von Lehrererwartungen zu wirken (Jussim et al. 1996, S. 313 ff.)” – im Text auf Seite 94 Bedeutet: Zugehörigkeit zu ethnischen Minderheiten und niedrige Schichtzugehörigkeit treten bei vielen Kindern gleichzeitig auf. PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 12 5. Welche Befundlage zeigt sich bezogen auf geschlechtsspezifische Verzerrungen der Lehrererwartungen? Geschlechtsspezifische Erwartungsverzerrungen sind Bereichsspezifisch Jungen werden bei gleicher Leistung höhere mathematische Fähigkeiten zugeschrieben Mädchen werden bei gleicher Leistung höhere Lesekompetenzen zugeschrieben Mädchen mehr Fleiß, Jungen mehr Talent ABER: Empirische Befunde zu den geschlechtsspezifischen Fehlprognosen sind uneinheitlich! Nicht alle Studien weisen Über- /Unterschätzungen nach PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 13 6. Welche Probleme treten bei der Messung verzerrter Lehrererwartungen auf? Befragung der LehrerInnen: beziehen sich häufig auf den „Ist-Zustand“ und nicht auf zukünftige Kompetenzen z.B. „Wie schätzen Sie die Lesekompetenz von SchülerIn NN ein“ Problematisch, weil Lehrende sich im Lauf des Schuljahres einen „faktenbasierten“ Eindruck verschaffen können und Erwartungen ggf. angepasst haben. Stereotype Erwartungen beziehen sich auf den ersten Eindruck von weitgehend unbekannten und müssen VOR dem näheren Kennenlernen abgefragt werden. Insbesondere dann problematisch, wenn Stereotype Erwartungen die Interaktion beeinflussen und es dann zu „Selbst-erfüllenden Prophezeiungen“ kommt. PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 14 7. Fassen Sie die Ergebnisse des Textes in ein paar Sätzen zusammen Ergebnisse für das Fach Deutsch Lehrende erwarten bei Türkisch-stämmigen SuS ungünstigere Leistungsentwicklung als bei deutschen SuS Osteuropäischen SuS bessere Leistungsentwicklung als bei deutschen SuS Allerdings, bei Berücksichtigung der Leistungen Unterschätzung der türkischstämmigen SuS (sie sind besser als prognostiziert) Keine Überschätzung der osteuropäischen SuS (sie sind wirklich so gut wie erwartet) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 15 6. Fassen Sie die Ergebnisse des Textes in ein paar Sätzen zusammen Ergebnisse für das Fach Mathematik Lehrende erwarten bei Türkisch-stämmigen SuS ungünstigere Leistungsetnwicklung als bei deutschen SuS Osteuropäischen SuS bessere Leistungsentwicklung als bei deutschen SuS Allerdings, bei Berücksichtigung der Leistungen Keine Unterschätzung der türkischstämmigen SuS (Leistungen entsprechen den Erwartungen) Überschätzung der osteuropäischen SuS (sie sind nicht so gut wie erwartet) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 16 Stereotype und Self-fulfilling Prophecies Vertiefung PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 17 Stereotype Erwartungen können Leistung beeinflussen Pygmalion Effekt  Feldstudie von Rosenthal & Jacobson (1968) Experiment:  Durchführung eines Leistungstestes (I) in einer Schulklasse Lehrer wurden über das „Entwicklungspotenzial“ von 2 Schülergruppen informiert Gruppe 1 wurde ein besonders hohes Potenzial attestiert, Gruppe 2 ein normales Potenzial Potenzial faktisch in beiden Gruppen gleich Ergebnis einer erneuten Überprüfung der Leistung: Gruppe 1 hatte größere Zuwächse, als Gruppe 2 PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 18 Stereotype Erwartungen können Leistung beeinflussen Pygmalion Effekt „Bloomers“:  Feldstudie von Rosenthal & Jacobson (1968) besondere Steigerung Normale Experiment: Leistungsentwicklung  Durchführung eines Leistungstestes in einer Schulklasse  Willkürliche (zufällige) Aufteilung der Klasse in zwei  Gruppen Lehrer wurden über das „Entwicklungspotenzial“ von 2 Schülergruppen informiert +20%  Gruppe 1 („Bloomers“) wurde ein besonders hohes Potenzial zugeschrieben, Gruppe 2 ein normales Potenzial  Potenzial faktisch in beiden Gruppen gleich  Ergebnis einer erneuten Überprüfung der Leistung nach 8 Monaten: Bloomers hatten größere Zuwächse, als Gruppe 2 PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 19 Wirkung stereotyper Erwartungen Bei unbekannten Personen:  Erster Eindruck erzeugt Wirkung auf andere „Erster Eindruck“  Frühere Erfahrungen oder Überzeugungen Einfluss (können) stereotype Erwartungen aktivieren Wirkung  Erwartungen können das Verhalten uns Unsere Erwar- gegenüber bestimmen Über- tungen &  Verhalten anderer kann eigene zeugungen Über- (über uns zeugungen Überzeugungen über uns selbst aktivieren oder selbst) anderer verstärken  Das „Selbstbild“ wird internalisiert und Verursachung beeinflusst unser Verhalten Verstärkung Handeln Anderer  Die stereotype Erwartung wird über eine „sich (uns selbst erfüllende Prophezeihung“ erfüllt gegenüber) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 20 Wirkung stereotyper Erwartungen Beispiel Überlegen Sie: Schülerin „wirkt“ Unter welchen Bedingungen können stereotype intelligent Einfluss Wirkung Erwartungen soziale Ungleichheiten verstärken? Antwort: Schülerin entwickelt Lehrer 1. Wenn LehrerInnen ihre SchülerInnen nicht gut „intelli- erwartet kennen oder nicht gut einschätzen können UND gente“ „kluges“ Selbstwahr- Verhalten 2. Wenn SuS aus niedrigen Schichten systematisch nehmung unterschätzt werden UND Lehrer 3. Wenn diese Fehleinschätzung zu abwertendem Verstärkung schenkt Verursachung Verhalten der Lehrenden führt UND viel positive 4. Wenn SuS diese Wahrnehmung internalisieren und Aufmerk- ihr Verhalten anpassen samkeit PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 21 Ein Klassiker: Pygmalion in the Classroom Rosenthal, Robert und Jacobson, Leonor (1968): Pygmalion in the Classroom. New York: Holt, Rinehart and Winston PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 22 Design der Studie 1. Test von Schülerinnen und Schülern zu Beginn eines Schuljahres 2. Gleichzeitig „Manipulation“ der Lehrkräfte („Folgende Kinder gehören zu den bloomers der Gruppe“) 3. Erneuter Test am Ende des Schuljahres 4. Bloomers haben bessere Ergebnisse Test Kinder Test Kinder „Manipulation“ Lehrkräfte Beginn des Schuljahres Ende des Schuljahres PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 23 Kritik an der Studie  Rezeption (v.a. 1970er Jahre): Studie trifft einen Nerv, Lehrer-Erwartungen und self-fulfilling prophecies werden für anhaltende soziale und ethnische Ungleichheiten verantwortlich gemacht (U.S. Kontext)  Studie untersucht aber nicht, ob Lehrererwartungen akkurat sind, sondern Erwartungen werden gezielt positiv manipuliert (und z.B. nicht negativ)  Neuere Studien (z.B. Jussim & Harber 2055) verbessern das Design der Studie um kontrollieren zu können, wie akkurat die Einschätzungen der Lehrkräfte sind. PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 24 Design der Studie von Jussim & Harber (2005) Test Kinder Überprüfung der ABWEICHUNG Abfrage der Lehrer- Einschätzung der Lehrkräfte- Test Kinder Erwartungen Testergebnis VOR Beginn des Schuljahres Beginn des Schuljahres Ende des Schuljahres  Mit diesem Design kann überprüft werden, ob die Leistungsentwicklung bei Kindern, die über- oder unterschätzt werden, schneller oder langsamer verläuft als bei Kindern, die akkurat eingeschätzt werden. PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 25 Empirische Evidenz (Jussim & Harber 2005)  Lehrererwartungen sind größtenteils akkurat  Wenn die Lehrererwartungen akkurat sind, können sie Schülerleistungen VORHERSAGEN, sie können sie aber nicht BEEINFLUSSEN  Studien zeigen, dass vor allem negative Stereotype zu self-fulfilling prophecies führen können  Self-fulfilling prophecies vor allem bei „stigmatisierten“ Schülerinnen und Schülern riskant!  Nachweise von self-fulfilling prophecies sind schwierig, in vielen Studien sehr kleine Effekte und häufig widersprüchlich PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 26 Take Home Neuere Studien greifen Klassiker aus den 1960er Jahren auf Sozialpsychologische Experimente sind v.a. in den letzten Jahren stark angegriffen worden (oft nicht replizierbar) Verbesserung der Methoden und Nachweis kleinerer Effekte Achtung: Oft übertriebene Darstellung in den „Medien“ Große Veränderungen in der Lehrkräfte-Ausbildung seit den 1960er Jahren „Gesellschaftlicher Wandel & Wertewandel“ auch hier Bewusstmachung der stereotypen Erwartungen wichtig im Alltag von Lehrenden PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 27 Bildung und soziale Ungleichheit 06| Theoretische Ansätze Vorlesung PD Dr. Nicole Tieben || Bildungssoziologie Seite 1 Zusammenfassung letzte Woche Stereotype (Begriff & Verwendung im Kontext der Bildungsforschung) Diskriminierung und Fehlerdiskriminierung - Diskriminierung kann unter bestimmten Bedingungen rational sein (Phelps, 1972) - Diskriminierung birgt aber das Risiko von nachteiligen Entscheidungen (Fehlerdiskriminierung) Kategorisierende und Eigenschaftsbasierte Einschätzungen von Interaktionspartnern Problem kategorisierender Einschätzungen im Schulkontext Self-Fulfilling-Prophecies (Anpassung des Selbstbildes an stereotype Erwartungen) Zusammenfassung der empirischen Forschung Überblick über methodische Herausforderungen Seite 3 Theoretische Ansätze Kristen, C. (1999). Bildungsentscheidungen und Bildungsungleichheit – ein Überblick über den Forschungsstand. MZES Working Papers 5 Seite 4 1. In Kapitel 1 beschreibt die Autorin 3 Etappen bildungssoziologischer Ungleichheitsforschung. Nennen Sie die 3 Etappen und geben Sie knapp in eigenen Worten das jeweilige zentrale wissenschaftliche Erkenntnisinteresse wieder. (Knapp bedeutet: in 2-4 Sätzen) 1. Etappe: Die schichtspezifische Sozialisationsforschung Aufspüren sozialer Barrieren, die eine Gleichheit von Bildungs- und Lebenschancen verhindern Untersuchung der Muster, nach denen sich „schichtspezifische Persönlichkeiten“ entwickeln. Untersuchung der Muster, nach denen Bildungsinstitutionen auf diese schichtspezifischen Persönlichkeiten reagieren. 2. Etappe: Mobilitätsprozesse und Fragen des Statuserwerbs Analyse von Mobilitätsprozessen Frage, welchen Einfluss die soziale Herkunft der Eltern einerseits und ihre erworbenen Bildungsqualifikationen andererseits auf die spätere berufliche Platzierung der Kinder hat. 3. Etappe: Aktuelle Bildungsforschung Fragen nach Ausmaß, Stabilität und Wandel von Bildungsungleichheiten Feststellung ungleicher Bildungschancen, Nachweis von Veränderungen dieser Ungleichheiten im Zeitverlauf. Seite 7 2. Worin sieht die Autorin den „bedeutenden Beitrag“ der Humankapitaltheorie? Bildung als Produktionsfaktor Investition in menschliche Ressourcen („Humankapital“) Humankapital (Wissen, Fähigkeiten, Kenntnisse, Erfahrungen, etc.) wirkt sich direkt auf die Produktivität aus Langfristige Erträge in Form von Einkommen Bildungsentscheidungen Menschen treffen Bildungsentscheidungen Wägen dabei Investitionen (Kosten) und Erträge (Nutzen) ab Bedeutender Beitrag Der Humankapitaltheorie gelingt es, die individuelle Bildungsnachfrage in ein (vereinfachtes/vereinfachendes) Entscheidungsmodell zu integrieren. Sie hebt sich damit von Ansätzen ab, die Bildungsungleichheiten anhand komplexer „Viel-Faktoren-Theorien“ zu erklären versuchen. Seite 8 3. Nennen Sie den zentralen Bestandteil des Ansatzes von Boudon (1974) In den meisten Bildungssystemen keine grenzenlose Entscheidungsmöglichkeit Einschränkung der Wahlmöglichkeiten (Opportunitätsstruktur) durch zuvor gezeigte Leistungen (Übergangsempfehlung; Hochschulzugangsberechtigung, etc. ) Der zentrale Bestandteil des Ansatzes von Boudon ist die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Effekten der Schichtzugehörigkeit. Seite 9 4. Erklären Sie mit eigenen Worten die Begriffe „primäre“ und „sekundäre“ Effekte der sozialen Herkunft Primäre Effekte Sekundäre Effekte  Leistungsbezogene Aspekte  Entscheidungsbezogene Aspekte  Vorherigen Leistzungen bestimmen die  auch bei gleichen Leistungen (also Wahlmöglichkeiten (opportunitätsstruktur) gleichen Wahlmöglichkeiten)  Schlechte Leistungen schränken die schichtspezifische Wahlmöglichkeiten ein Übergangsentschiedungen  SuS aus niedrigen Schichten zeigen im  Mögliche Erklärung: schichtspezifische Durschnitt schlechtere Leistungen Bewertung von Kosten und Nutzen der  Primäre Effekte als Erklärung für Blidungsinvestition Ungleichheiten  Zusätzlich zu Leistungsnachteilen AUCH sekundäre Effekte als Erklärung für Ungleichheit Seite 10 5. Inwiefern setzt Boudon einen „Kontrapunkt“ zur schichtspezifischen Sozialisationsforschung? Sekundären Effekte als besonders ausschlaggebend hinsichtlich ihres Einflusses auf soziale Bildungsungleichheit Akteur nicht „Opfer der Sozialisationsbedingungen“, sondern hat aktive und selbstbestimmt entscheidende Rolle Wenig/keine Bestrebungen zur Erklärung von Leistungsunterschieden, Konzentration auf Übergangsentscheidungen Beide Perspektiven eher einseitig, werden der Komplexität des Themas nicht gerecht, aber wenig Berührunspunkte Seite 11 6. Welche Annahmen macht Boudon (1974) bezüglich der schichtspezifischen Wahrnehmung von Bildungskosten und Bildungserträgen? Ausgangspunkt: Social Position Theory (Keller & Zavalloni, 1964) Erreichter Bildungsabschluss ist RELATIV zur sozialen Herkunft: Die soziale Distanz zum Erreichen bestimmter Bildungsziele ist Boudon, R. (1974), S. 29 unterschiedlich Boudon: überträgt K&Z‘s Gedanken auf „We should thus be prepared to find class-determined die ökonomische Perspektive variations in aspirations not because the individual class members are more or less ambitious but because the (Bildungsinvestition, Kosten/Nutzen) classes themselves are nearer to some goals than to others“ (Keller & Zavalloni 1964: 60) Seite 12 6. Welche Annahmen macht Boudon (1974) bezüglich der schichtspezifischen Wahrnehmung von Bildungskosten und Bildungserträgen? Boudon‘s Annahmen: Bildungsinvestitionen nicht für alle gleichermaßen attraktiv, weil 1. Verfügbarkeit von Startkapital unterschiedlich 2. Wahrnehmung der Erträge unterschiedlich - Motiv des Statuserhaltes … damit klare Abgrenzung Boudon‘s von früheren „kulturalistischen“ Theorien Seite 13 7. Wie unterscheiden sich die Modelle von Erikson und Johnsson (1996) und Breen und Goldthorpe (1997) hinsichtlich der Bedeutung, die dem Motiv des Statuserhalts bzw. der relativen Risikoaversion zukommt? Erikson & Jonsson (1996) Breen & Goldthorpe (1997) Grundsätzlich Anlehnung an Boudon‘s Grundsätzlich Anlehnung an Boudon‘s Unterscheidung primärer & Unterscheidung primärer & sekundärer Effekte sekundärer Effekte Zusätzliche Überlegungen zu Motiv des Statuserhalts (relative Unterschieden in der Risikoaversion) erklärt Erfolgswahrscheinlichkeit schichtspezifische Bildungsentscheidungen Seite 14 Vertiefung Theoretische Erklärungen der Bildungsungleichheit Seite 15 Sie erinnern sich:  3 Funktionen des Bildungswesens: Sozialisation/Legitimation Qualifikation Allokation/Selektion  Bildungsexpansion: Folge des Strukturwandels & des wachsenden Fachkräftebedarfs  Modernisierungsthese: soziale Ungleichheit nimmt ab weil Bildungszertifikate stärker auf Basis der Leistung zugewiesen werden  Empirische Forschung: Bildungsexpansion (JA) abnehmende Bildungsungleichheit (NEIN) Seite 16 Frage an die Theoretiker:  Warum sind die Ungleichheiten so robust gegenüber gesellschaftlichem Wandel? 3 Antworten 1. Die Funktionalisten: Wissen wir nicht so genau, interessiert uns auch nicht so sehr (läuft doch alles, oder? Ungleichheit ist NOTWENDIG!) 2. Die Konflikttheoretiker: klarer Fall, die Eliten haben effiziente Strategien zum Erhalt ihrer Macht 3. Die Handlungstheoretiker: klarer Fall, der Mensch ist Nutzenmaximierer, die niedrigeren Schichten nutzen ihre Bildungschancen nicht Seite 17 Konflikttheorie Ausgangslage:  Bipolares Klassenmodell von Karl Marx (Kapitalisten gegen Arbeiter) Abgrenzung durch Besitzverhältnisse (ökonomische Ressourcen)  Max Weber: bipolares Klassenmodell greift zu kurz, Entwicklung des Ständebegriffs Abgrenzung durch Lebensstile, Werte & Normen, politische Interessen  Gemeinsame Interessen gesellschaftlicher Gruppen, Identifikation durch Statussymbole (Symbolisieren vor allem Gruppenzugehörigkeit)  Weitere Vertreter: Randall Collins, Pierre Bourdieu, Annette Lareau Kernidee:  Konflikt: Konkurrenz der Statusgruppen um Ressourcen, Macht und Prestige  Bildung ist nach dieser Logik ein Statussymbol  Gleichzeitig ist Bildung auch eine zu verteidigende Ressource  Gruppe der Gebildeten ist die „Elite“, die Werte & Normen, Lebensstile und Konsumverhalten „legitimiert“  Exklusion über Zugang zu Bildung (=vermittelt Wissen über die legitimierte Kultur) Seite 19 Konflikttheorie Argumente (Collins 1971):  Zweifel an der faktischen Anwendbarkeit des vermittelten Wissens, Berufliches Lernen besser „on the job“ plausibel, aber Grundlagen und Arbeitsstrategien im Bildungssystem  Colleges dienen vor allem der Herausbildung einer spezifischen Statuskultur (stützt sich dabei auf die Bedeutung von Sport und Clubs im amerik. Campusleben) Plausibel, aber in Deutschland deutlich stärkerer Berufsbezug  Exklusion und Stigmatisierung unangepasster Randgruppen Plausibel, immer noch Sanktionierung von abweichenden Haltungen Dennoch: inzwischen starke Bestrebungen nach Diversität  Deutliche Dominanz der „WASP“ (White Anglo Saxon Protestant) in white collar Berufen Plausibel, immer noch Dominanz weißer Männer in Führungspositionen Dennoch: inzwischen starke Bestrebungen nach Diversität  Bildungsexpansion war KEINE Antwort auf die steigende Nachfrage nach Arbeitskräften, sondern auf den Konkurrenzdruck „von unten“ durch die Öffnung der Bildungssysteme Plausibel, aber unklare empirische Evidenz Zum Teil Probleme der Bildungsinflation und Überqualifikation dennoch geringe Arbeitslosigkeit bei Hochqualifizierten Seite 22 Konflikttheorie und Handlungstheorie Wer hat Recht? Kernargument der Konflikttheorie Kernargument der Handlungstheorie (Rationale Bildungsentscheidung) Bildungsungleichheit als Folge der Bildungsungleichheit als Folge der Statuserhaltsstrategie der privilegierten Schichten Statuserhaltsstrategie der privilegierten Schichten Aktive und kollektive Exklusionsstrategien der Eliten Individuelle Strategie zum intergenerationalen (Annahme eines gemeinsamen Interesses einer Statuserhalt sozialen Gruppe) (keine Annahme eines gemeinsamen Interesses) Keine Unterscheidung in „primäre“ und „sekundäre“ Unterscheidung in „primäre“ und „sekundäre“ Mechanismen, Schicht und schulische Leistungen sind Mechanismen, Schicht und schulische Leistung sind gekoppelt zumindest theoretisch entkoppelt Keine expliziten Annahmen zum intergenerationalen Intergenerationaler Bildungsaufstieg wird durch Bildungsaufstieg nachteilige Entscheidungen vereitelt Keine Berücksichtigung der Entscheidungsfreiheit Aber: Keine eigenständige Erklärung der primären Mechanismen Seite 24 Bildung und soziale Ungleichheit 07 Empirische Bildungsforschung Vorlesung PD Dr. Nicole Tieben || Institut für Soziologie Seite 1 Leitfragen Weinert, S. & Artelt, C. (2019). Measurement of skills and achievement: a critical assessment of theoretical and methodological concepts. In Becker, R. (Hrsg.). Research Handbook on the Sociology of Education. Edward Elgar 2019. 106-131 PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 4 1. Schlagen Sie in einem Wörterbuch die Übersetzungen für folgende Begriffe nach und erklären Sie die Unterschiede in eigenen Worten Achievement: Aptitude: Leistung, Erfolg, Errungenschaft Begabung, Talent Das Ergebnis einer Anstrengung Kann durch Übung oder Training gefördert werden, ist aber eher als Potential zu Attainment: verstehen, kann auch ungenutzt bleiben! Erreichen eines Ziels, Errungenschaft Ability: In der Bildungsforschung: Erreichen eines formalen Bildungsabschlusses Leistungsvermögen Kann durch Training oder Talent erworben Skills: werden, kann ebenfalls ungenutzt bleiben Fähigkeiten, Kenntnisse Werden in der Regel durch Training oder Übung erlangt PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 5 2. Die Autorinnen unterscheiden competence und performance (Seite 106/107, ausführlich in Abschnitt 2.3). Übersetzen Sie auch diese beiden Begriffe und geben Sie die Bedeutung und Unterscheidung der beiden Begriffe in eigenen Worten wieder. Der Begriff competence bedeutet ins Deutsche übersetzt: Fähigkeit, Kompetenz. Kompetenz versetzt Menschen grundsätzlich in die Lage, eine gestellte Aufgabe zu bewältigen. Kompetenz kann das Ergebnis von „natürlicher Begabung“, individueller Entwicklung (z.B. altersspezifische kognitive/motorische Fähigkeiten) und/oder Lern-/Aneignungsprozessen Kompetenz braucht Talent und/oder Übung. Übung kann fehlendes Talent (evtl. zum Teil) ausgleichen. Der Begriff performance bedeutet ins Deutsche übersetzt: Leistung. Er bezeichnet die tatsächliche Leistung, die der Mensch bei der Bewältigung einer gestellten Aufgabe zeigt Kompetenz ist eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Voraussetzung für die Leistung (Beispiel aus dem Sport: „Heute konnte ich mein Potenzial nicht abrufen...“ ) Leistung braucht: 1. Können (Kompetenz) 2. Wollen (Motivation) 3. Dürfen (zuträgliche Bedingungen) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 6 3. Nach den Autorinnen können schulische Leistungen nach 3 unterschiedlichen Referenznormen (reference norms) bewertet werden. Welche sind dies? 1. Standard-based assessment: Bewertung der Leistung anhand des Lehrplans und der Lernziele in verschiedenen Fächern. (Criterion-referenced tests/Kriteriumsreferenz) 2. Social reference norm: Bewertung der Leistung eines Schülers im Vergleich mit seinen Mitschülern. (Norm-referenced tests/Normreferenz) 3. Individual norm: Bewertung der Leistung im Hinblick auf vorige Leistungen des Schülers. (Individual Referenz) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 7 4. Die Autorinnen unterscheiden zwei Ziele der Leistungsbewertung (selection purposes und modification purposes). Was ist damit gemeint? Selektionszwecke (selection purposes) zielen auf eine verlässliche und valide Entscheidungsgrundlage für die Vermittlung von Menschen entsprechend ihren Bedürfnissen ab, z.B. durch die Auswahl nach Kompetenzen für verschiedene Lernumgebungen. Beispiele: Versetzungsentscheidungen, Übergangsempfehlungen Modifikationszwecke (modification purposes) zielen auf bildungsbezogene Entscheidungen ab, die sich auf Veränderungen (Modifikationen) des Verhaltens oder der psychologischen Eigenschaften von Menschen beziehen. Beispiele: Identifikation von Lern- und Leistungsschwächen, Auswahl und Implementierung geeigneter individueller Intervention PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 8 4. Nach Cattell (1971) werden zwei Typen von Intelligenz unterschieden. Welche sind dies und wie unterscheiden sie sich? Fluid intelligence Crystallized intelligence (Fluide Intelligenz) (Kristalline Intelligenz) „including inductive and deductive reasoning „conceptualized as acquired knowledge and abilities, mainly influenced by biological and skills which, to a large extent reflect the impact of neurological factors and incidental learning through acculturation“ (S. 108) interaction with the environment“ (S. 108)  Erworbenes Wissen und erworbene  Fähigkeit zur induktiven und deduktiven Fähigkeiten Argumentation  Aneignung durch Erfahrung, Erziehungs-  Überwiegend von biologischen und und Sozialisationsprozesse neurologischen Faktoren (Leistungsfähigkeit  Reflektieren größtenteils den Einfluss der des Gehirns) beeinflusst Akkulturation  Umfasst aber auch beiläufige Lernprozesse durch Interaktionen mit der Umwelt PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 9 4. Nach Cattell (1971) werden zwei Typen von Intelligenz unterschieden. Welche sind dies und wie unterscheiden sie sich? Hilfreiche (?) Analogie zum Computer: Fluide Intelligenz entspricht der Leistungsfähigkeit von Prozessor und Arbeitsspeicher (Kapazität und Kapazitätsgrenzen sind rein physisch bedingt) Kristalline Intelligenz entspricht der Leistungsfähigkeit der Software (je mehr Funktionen die Software “gelernt” hat, desto leistungsfähiger ist sie) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 10 5. In Abschnitt 5.3.1 diskutieren die Autorinnen, wie soziale Kategorien der Schülerinnen und Schüler die Bewertungen von Lehrerinnen und Lehrern beeinflussen können. Übersetzen Sie zunächst den Begriff „Bias“ und fassen Sie kurz die Wirkmechanismen zusammen. Bias: Voreingenommenheit, Befangenheit Soziale Kategorien (Herkunft, Geschlecht, Religion, Migrationshintergrund) hängen UNABHÄNGIG von der Leistung mit Bewertungen von Schülerinnen und Schülern zusammen. Mechanismen: Stereotype Erwartungen („Mädchen können nicht rechnen“, „Jungen stören immer den Unterricht“) Bewusste Bevorzugung oder Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergund Symbolische Funktion des kulturellen Kapitals (bewusste/unbewusste Akzeptanz des „Mittelschichthabitus“ als Verhaltensnorm) PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 11 Vertiefung Messung der Leseleistung in der PISA-Studie PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 12 International vergleichende Schulleistungsstudien Vertiefung zur „Gemeinschaftsaufgabe Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich“ PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 13 PISA Erste Studie im Jahr 2000 Alle 3 Jahre (außer 2021 >> verschoben auf 2022) Zielsetzung: International vergleichende Leistungsstudie Stichprobe: repräsentativer Querschnitt der 15-Jährigen aller Schulformen Rotierende Schwerpunkte: Lesekompetenz, Mathematik, Naturwissenschaften Wiederkehrende Themenschwerpunkte: Geschlechterunterschiede, Mediennutzung, Digitalisierung, Finanz- und Wirtschaftswissen, Soziale Ungleichheit (Leistungsunterschiede bei Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft) PISA 2022 Zusammenfassung PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 14 PISA 2022 Deutschland Teilnehmende Schulen 257 Teilnehmende Schüler*innen 6116 (2993 Mädchen; 3123 Jungen) Schüler*innen am Gymnasium 2273 (38.1 %) Schüler*innen an nicht gymnasialen Schularten (Hauptschulen, Integrierte Gesamtschulen, Realschulen, Schulen mit mehreren Bildungsgängen) 3590 (61.9 %) Schüler*innen an Förder- und Berufsschulen 253 Jahrgangsstufen 7 bis 11 Teilnahmeberechtigte 15-Jährige (geboren 01.01.2006 bis 31.12.2006) International Teilnehmende Staaten oder Ökonomien 81 (davon 37 OECD- Mitglieder) Teilnehmende Schüler*innen weltweit ca. 690 000 PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 15 Wie genau wird die „Kompetenz“ ermittelt? Entwicklung von Testaufgaben unterschiedlicher „Schwierigkeitsgrade“ Link zu PISA-Beispielaufgaben PD Dr. Nicole Tieben || Bildung und soziale Ungleichheit Seite 16 Was heisst „standardisiert“ und „international vergleichbar“? Ermittlung eines OECD-Mittelwertes aus allen 600.000 Ergebnissen Kompe- Bedeutung Punkte tenzstufe „standardisierter“ OECD Mittelwert: I Oberflächliches Verständnis Bis 407 Statistisches Verfahren (lineare einfacher Texte Transformation) setzt den OECD Mittelwert des Jahres 2000 auf 500 II

Use Quizgecko on...
Browser
Browser