§ 4 Der Vertragsschluss PDF

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This document is a chapter from a German legal text on contract law. It discusses the formation of contracts, including elements such as offer and acceptance, and the role of the contracting parties' intentions. It includes several specific sections and subsections, with in-depth analysis of various legal rules and their applications. The text also touches on related issues such as contract interpretation and liability.

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§ 4 Der Vertragsschluss 1. Kapitel. Das Zustandekommen von Schuldverträgen1 § 4 Der Vertragsschluss Die Grundregeln über den Abschluss von Schuldverträgen dürfen vorausgesetzt wer- 45 den: Nötig sind regelmäßig Antrag und rechtzeitige Annahme.2 Beide müssen die Vor- aussetzungen einer wirksamen Wi...

§ 4 Der Vertragsschluss 1. Kapitel. Das Zustandekommen von Schuldverträgen1 § 4 Der Vertragsschluss Die Grundregeln über den Abschluss von Schuldverträgen dürfen vorausgesetzt wer- 45 den: Nötig sind regelmäßig Antrag und rechtzeitige Annahme.2 Beide müssen die Vor- aussetzungen einer wirksamen Willenserklärung erfüllen. Zudem müssen sie sich de- cken. Ob diese Kongruenz vorliegt, wird nötigenfalls durch Auslegung ermittelt.3 Maßgeblich für die Auslegung ist der Empfängerhorizont.4 Er ergibt, was der Emp- fänger bei verständiger Würdigung als den Willen des Erklärenden auffassen konnte. Das gilt auch im elektronischen Geschäftsverkehr: Nicht die Verarbeitung durch das automatisierte System entscheidet über den Erklärungsinhalt, sondern wie der menschliche Nutzer die Erklärung nach Maßgabe der §§ 133, 157 verstehen darf.5 Fehlt die Kongruenz, so ist offener oder versteckter Dissens gegeben, §§ 154, 155.6 Auslegungsbedürftig ist das Merkmal „bei Vertragsschluss“ für den Haftungsaus- schluss in § 442: Stellt man auf das förmliche Zustandekommen des Vertrags nach §§ 145ff. ab, können dem Käufer bei einem zeitlichen Auseinanderfallen von Antrag und Annahme (gestreckter Vertragsschluss) Mängelrechte verloren gehen, wenn er nach Abgabe seines Antrags Kenntnis eines etwaigen Mangels erlangt hat. Der BGH hält zur Vermeidung eines solchen Rechtsverlusts die Abgabe der Vertragserklärung durch den Käufer für maßgeblich, bei § 311b I 1 sogar schon den Zeitpunkt der Beur- kundung.7 Bei Handeln eines Vertreters ohne Vertretungsmacht auf Seiten des Käufers kommt es für die Kenntnis des Mangels nach § 442 I 1 auf den Zeitpunkt der Abgabe der Genehmigungserklärung des Vertretenen an.8 Bei § 172 geht die Rechtsprechung davon aus, dass dem gutgläubigen Dritten die Voll- machtsurkunde spätestens bei Abschluss des Vertrags vorgelegt worden sein muss.9 Nimmt der Dritte ein Vertragsangebot an, dann genügt es daher, wenn die Urkunden- vorlage vor dem Zugang der Annahmeerklärung erfolgt. Denn erst hierdurch kommt der Vertrag zustande.10 Auf den Zeitpunkt der Abgabe scheint es demnach nicht an- zukommen. Das ist zweifelhaft: Schon mit der Entäußerung der Erklärung trifft der Dritte seine Disposition. Wenn ihm die Vollmachtsurkunde bis dahin nicht vorlag, be- darf es auch unter Rechtsscheingesichtspunkten keines Schutzes.11 Auch bei § 172 sollte man deshalb auf die Abgabe der Erklärung des Dritten abstellen. 1 Zu den europäischen Entwürfen Armbrüster JURA 2007, 321. 2 Klausurtypisch BGH NJW 2010, 2873; dazu Medicus/Petersen BGB AT Rn. 370. 3 Zu ihr Mittelstädt, Die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen, 2016; Greiner AcP 217 (2017), 492. Zu Internetauktionen ® Rn. 347ff. 4 Zu ihm Stöhr JuS 2010, 292. 5 BGHZ 195, 126; dazu Janal AcP 215 (2015), 830; Stadler NJW 2017, 3092; Palzer K&R 2013, 115; Hopperdietzel NJW 2013, 600. 6 Grdl. Leenen AcP 188 (1988), 381; FS Canaris, Bd. I, 2007, 699; Liber amicorum J. Prölss, 2009, 153; ferner Hellgardt AcP 213 (2013), 760; Petersen JURA 2009, 183, 419. Zur Beweislast Gsell AcP 203 (2003), 119. 7 BGHZ 193, 326; zust. Looschelders JA 2012, 944. 8 BGH NJW 2022, 2843 (dazu M. Stürner JURA 2023, 235; Würdinger JuS 2023, 266). 9 Zur Beweislast bei § 172 Stöhr MDR 2009, 546. 10 BGH NJW-RR 2012, 622. 11 Ebenso schon Stöhr JuS 2009, 106 (108); WM 2009, 928. 21 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag Ähnliches gilt für die Abgrenzung zwischen anfänglicher und nachträglicher Un- möglichkeit. Denn auch der Anspruch aus § 311a II setzt voraus, dass die Unmöglich- keit „bei Vertragsschluss“ bestanden hat. Gibt aber der Verkäufer den Antrag ab, so kann es für die ihn treffende Sorgfaltspflicht, sich über sein Leistungsvermögen zu in- formieren (§ 311a II 2), richtigerweise nur auf den Zeitpunkt des Antrags ankommen, weil er das spätere Zustandekommen des Vertrags wegen § 145 nicht mehr verhindern kann. Bei Untergang der Kaufsache vor dem Zugang der Annahmeerklärung kann die Haftung des Verkäufers aus § 311a II deshalb nicht damit begründet werden, dass er bei Wirksamwerden des Vertrags Kenntnis von der Unmöglichkeit hatte. Vielmehr kommt es nach Maßgabe des § 283 darauf an, ob der Verkäufer das Leistungshindernis zu vertreten hatte. Bereits die Bindung an den Antrag führt also dazu, dass ein Fall nachträglicher Unmöglichkeit vorliegt.12 Zwar hat der Verkäufer bei grundlegender Änderung der Umstände nach Abgabe des Antrags entgegen § 145 grundsätzlich ein Widerrufsrecht.13 Doch beruht dieses sachlich auf einer Vorwirkung des § 313,14 der hier allerdings von den Unmöglichkeitsvorschriften als speziellere Regelungen ver- drängt wird. I. Zugangsprobleme 1. Zugangserfordernisse 46 Willenserklärungen, also auch Antrag und Annahme, sind in der Regel einem anderen gegenüber abzugeben. Wirksam werden sie in diesem Fall bei Abwesenheit des Emp- fängers erst dann, wenn sie diesem zugegangen sind, § 130 I 1.15 „Zugang“ erfordert je- denfalls weniger als Kenntnisnahme: Nach hM genügt, dass die Erklärung in den Be- reich des Empfängers gelangt ist und von ihm nach der Verkehrsauffassung die Kenntnisnahme erwartet werden konnte.16 Eine in den privaten Briefkasten eingewor- fene Kündigungserklärung geht mit der entsprechend der Verkehrsanschauung zu er- wartenden nächsten Leerung zu.17 Ein Brief, der in einem Geschäftsraum am Samstag eingeworfen wird, geht demnach regelmäßig erst am Morgen des folgenden Montag zu, wenn nicht der Adressat ihn schon vorher zur Kenntnis nimmt.18 Dementspre- chend geht ein Schriftstück, das Silvester nachmittags eingeworfen wird, regelmäßig am ersten Werktag des neuen Jahres zu.19 Eine während der üblichen Geschäftszeiten eingegangene geschäftliche E-Mail ist grundsätzlich auch ohne tatsächliche Kenntnis- nahme unwiderruflich (§ 130 I 2) zugegangen, sobald sie abrufbereit auf dem Mailser- ver zur Verfügung gestellt wird.20 12 Dazu näher MüKoBGB/Ernst § 311a Rn. 38; Penner/Gärtner JA 2003, 940; Spohnheimer FS Rüßmann, 2013, 331; aA P. W. Tettinger ZGS 2006, 452; offengelassen von BGH NJW 2011, 2643 Rn. 14. 13 MüKoBGB/Busche § 145 Rn. 29. 14 Medicus/Petersen BGB AT Rn. 369; Bork BGB AT Rn. 724. 15 Instruktiv Möslein JURA 2020, 1001. 16 BAG NZA 2015, 1183. 17 BAG NJW 2019, 3666; dazu Bruns NJW 2019, 3618; Boemke JuS 2020, 266. 18 Medicus/Petersen BGB AT Rn. 276; Brox/Walker BGB AT § 7 Rn. 12; s. auch Gernhuber BürgerlR § 1 Rn. 7ff. 19 BGH NJW 2008, 843. 20 BGHZ 234, 316 (dazu G. Bachmann NJW 2023, 3793; Möslein JURA 2023, 115; Herberger JA 2023, 332); ähnlich bereits Leipold FS Medicus, 2009, 251 (263): Zugang schon bei technischer Möglichkeit der Kenntnisnahme. Nach OLG Hamm NJW 2022, 1822 bedarf es bei Versenden einer E-Mail mit 22 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 4 Der Vertragsschluss BAGE 138, 127: A kündigt der F, indem er die an sie adressierte Kündigungserklärung am 31.1. deren Ehemann E an dessen Arbeitsplatz übergeben lässt. Dieser lässt das Schreiben abends auf der Arbeit lie- gen und übergibt es der F erst am folgenden Tag. Die Kündigung konnte nur mit einer Frist von einem Monat zum Ende des Kalender- monats erklärt werden (§ 622 II Nr. 1), sodass fraglich war, ob das Arbeitsverhältnis schon Ende Februar oder erst Ende März endete.21 Da E nicht Empfangsvertreter (§ 164 III) der F war, entscheidet über den Zugangszeitpunkt, ob er Erklärungsbote war und somit A das Risiko einer späteren Übermittlung zu tragen hätte oder ob er Empfangsbote war (® Rn. 81). Dann wäre die Kündigungserklärung noch am gleichen Abend zugegangen, wenn unter Ehegatten mit der Übermittlung des Schreibens nach der abendlichen Rückkehr in die gemeinsame Wohnung zu rechnen ist. Das BAG hat dies in der Tat angenommen und die Kündigung bereits am Tag der Übergabe der Er- klärung an E für wirksam gehalten.22 Dagegen spricht, dass der Ehemann am Arbeitsplatz typischerweise mit anderen Din- gen befasst ist und nicht mit rechtsgeschäftlichen Erklärungen rechnen muss, die an seine Ehefrau adressiert sind. Wenn der Erklärende ihn dort gleichwohl aufsuchen lässt und zum Überbringer der Botschaft macht, setzt er ihn als Erklärungsboten ein und trägt daher auch das Verzögerungsrisiko. Denn anders als in der gemeinsamen Ehe- wohnung kann der Erklärende von vornherein nicht damit rechnen, die Adressatin am Arbeitsplatz ihres Mannes anzutreffen. 2. Erklärung unter Anwesenden § 130 I 1 bestimmt das Zugangserfordernis nur für Willenserklärungen an einen Ab- 47 wesenden. Für Willenserklärungen an einen Anwesenden fehlt eine gesetzliche Rege- lung. Auch hier kann aber die Frage nach dem Wirksamwerden auftreten. RGZ 61, 414: G will dem S dessen Schuld stunden, wenn sich F, die Ehefrau des S, verbürgt. F unter- zeichnet daraufhin eine Bürgschaftsurkunde. In diesem Augenblick erschießt sich S im Nebenzimmer. G entfernt sich bestürzt, ohne die auf einem Tischchen liegende Urkunde an sich genommen zu haben. Diese bleibt später verschwunden. Hier hielt F der Klage des G aus der Bürgschaft entgegen, ihre Bürgschaftserklärung sei nicht zugegangen. Das RG ist dem beigetreten: § 130 sei auch auf Erklärungen unter Anwesenden anwendbar; der Zugang setze die tatsächliche Verfügungsgewalt des Adressaten über das die Erklärung enthaltende Schriftstück voraus. Dem ist zuzu- stimmen.23 3. Nichtverkörperte Erklärungen Besonderes gilt jedoch für die nichtverkörperte Willenserklärung. Hierhin gehört ins- 48 besondere das (auch telefonisch) gesprochene Wort. Hier soll es nach einer verbreite- ten Ansicht24 nicht ausreichen, dass vom Empfänger zu erwarten war, er werde das Gesagte hören. Vielmehr soll die Erklärung nur insoweit wirksam werden, als der einem Dateianhang für den Zugang des Anhangs grundsätzlich dessen tatsächlichen Öffnens; hierzu Hengstberger NJW 2022, 1780. 21 Zur Berechnung von Fristen und Terminen Petersen JURA 2012, 432. 22 Zust. Faust JuS 2012, 68 (70); Schwarze JA 2012, 67. Aus der Rechtsprechung BAGE 140, 64; lehr- reich zu § 131 II Leenen/Häublein BGB AT § 6 Rn. 56–60. 23 Ebenso Neuner BGB AT § 33 Rn. 27. 24 Vgl. Flume Rechtsgeschäft § 14, 3f. 23 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag Empfänger sie akustisch wirklich vernommen hat. Freilich wollen manche diese „strenge Vernehmenstheorie“ modifizieren: Es soll genügen, dass der Erklärende nach den ihm erkennbaren Umständen annehmen durfte, der Empfänger habe das Erklärte richtig vernommen.25 Doch mag das im Interesse einer gerechten Risikover- teilung abzuschwächen sein. Jedenfalls kann man auch die so sich ergebenden Voraus- setzungen für das Wirksamwerden der Erklärung „Zugang“ nennen. Dann gilt auch für nichtverkörperte Willenserklärungen der Satz, dass sie erst durch Zugang wirksam werden. Beispiel: A erklärt am Telefon, er wolle verkaufen. B versteht, A wolle kaufen, und sagt zu. Hier gilt nichts: Dass A verkaufen wolle, ist nicht zugegangen; dass A kaufen wolle, ist nicht erklärt. 4. Zugang und Auslegung 49 Der Unterschied zwischen verkörperter und nichtverkörperter Willenserklärung ist wichtig für die Auslegung. Denn ihr Gegenstand kann ja immer nur sein, was erklärt und durch Zugang wirksam geworden ist. Die Frage nach dem Zugang geht daher der Auslegung vor! Auszulegen ist also bei der verkörperten Willenserklärung die zu- gegangene verkörperte Erklärung (etwa der Text des Briefes), bei der nichtverkörper- ten dagegen das, was der Adressat von dem Gesagten vernommen hat. Zugang und Auslegung müssen schon deswegen getrennt werden, weil bei beiden ein verschiedener Maßstab gilt: Auf das, was hätte verstanden werden können, kommt es zwar regelmäßig für die Aus- legung an, dagegen für den Zugang nur in Ausnahmefällen. 5. Zugangsverzögerung 50 Praktisch wichtig ist die Zugangsverzögerung: Die Kündigung etwa erreicht den Adressaten verspätet, weil er verzogen ist. Hier hat man früher mit einer Zugangsfik- tion gearbeitet: Die Erklärung sollte als zugegangen gelten, sobald sie den Empfänger ohne das von ihm geschaffene Hindernis erreicht hätte. Heute wird jedoch überwie- gend eine andere Ansicht vertreten:26 Zugegangen ist die Erklärung erst, wenn sie wirklich in den neuen Bereich des Empfängers gelangt ist; jedoch kann der Empfän- ger sich auf die von ihm selbst verursachte Verspätung des Zugangs nicht berufen. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Ansichten ist: Nach der älteren ist die Erklä- rung kraft der Fiktion des Zugangs in jeder Hinsicht wirksam geworden; der Erklä- rende ist also gebunden. Nach der neueren Ansicht ist der Erklärende dagegen zu- nächst Herr seiner Erklärung geblieben: Er kann sich entweder weiter um wirklichen Zugang bemühen, der dann hinsichtlich der Rechtzeitigkeit zurückwirkt; er kann aber auch auf weitere Bemühungen verzichten und so die Erklärung ungeschehen sein lassen.27 Beispiel: Mieter M kündigt dem Vermieter V durch Einschreiben zur Übergabe (Gegensatz: zum Einwurf); der Brief kommt aber, weil V verreist ist, zurück. Nach der älteren Auffassung wäre die Kündigung wirksam; nach der neueren liegt es bei M, ob er sie (mit Rückwirkung) wirksam werden lassen will. Will er das, muss er sich freilich erneut um Zugang bemühen. 25 Brox/Walker BGB AT § 7 Rn. 21. Dagegen Neuner BGB AT § 33 Rn. 30 unter Verweis auf Art. 3 III 2 GG; s. auch Neuner NJW 2000, 1822 (1825). 26 Vgl. Flume Rechtsgeschäft § 14, 3e. 27 BGHZ 137, 205. 24 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 4 Der Vertragsschluss Ob die Zugangsverzögerung verschuldet ist, spielt regelmäßig keine Rolle. Doch darf 51 man einerseits den Erklärenden im Einzelfall für verpflichtet halten, auf ein ihm be- kanntes Zugangshindernis auf der Seite des Empfängers Rücksicht zu nehmen. Um- gekehrt kann es aber auch dem Empfänger nach § 242 obliegen, ein für ihn bei der Post hinterlegtes – und damit zunächst nicht zugegangenes – Schriftstück abzuholen. Unterlässt er das, obwohl er mit einer solchen Mitteilung zu rechnen hatte, wird die Rechtzeitigkeit fingiert. Doch muss sich der Absender regelmäßig (Ausnahme: bei Arglist des Adressaten) um erneuten Zugang bemühen, notfalls über § 132.28 Die Be- handlung der Zugangsvereitelung folgt auch aus einer Analogie zu §§ 162 I, 815 Fall 2.29 II. Das Schweigen nach bürgerlichem Recht Schweigen (es muss unterschieden werden von einem konkludenten Erklärungsverhal- 52 ten) bedeutet in der Regel weder Zustimmung noch Ablehnung; es ist überhaupt keine Willenserklärung.30 Rechtliche Bedeutung erlangt die Frage nach der Qualität des Schweigens als Willenserklärung erst, wo das Gesetz ausnahmsweise an das Schweigen Rechtsfolgen knüpft.31 Dann wird nämlich fraglich, ob die Vorschriften über Willenserklärungen (§§ 104ff., 116ff.) auf das Schweigen direkt oder entspre- chend anwendbar sind. Für die Antwort ist zu unterscheiden:32 1. Das Schweigen als Ablehnung Wo das Schweigen als Ablehnung gilt (zB in §§ 108 II 2, 177 II 2, 415 II 2), wirken 53 Mängel der Geschäftsfähigkeit des Schweigenden nach § 131: Die Frist, nach deren Ablauf das Schweigen Ablehnung bedeutet, beginnt ja erst mit dem Zugang einer Er- klärung der anderen Partei. Und soweit diese Frist nach § 131 erst seit dem Zugang an den gesetzlichen Vertreter läuft, spielt vorher das Schweigen keine Rolle. Im Übrigen sind nach richtiger Ansicht die Regeln über Willenserklärungen nicht ein- mal entsprechend anwendbar: Die Rechtsfolge des Schweigens tritt unvermeidbar auch dann ein, wenn ein erklärtes „Nein“ nichtig oder anfechtbar wäre. Denn auch die Nichtigkeit oder Anfechtung eines ausdrücklich erklärten „Nein“ würden noch kein „Ja“ bedeuten, sondern erst den Weg dahin frei machen. Zu einem „Ja“ ist es aber in den gesetzlich geregelten Fällen nach Ablauf der Frist zu spät. 2. Das Schweigen als Zustimmung In wenigen Ausnahmefällen gilt das Schweigen als Zustimmung: so in §§ 416 I 2, 455 54 S. 2, 516 II 2; nach § 613a VI gehört hierhin auch der Fall von § 613a, weil ein Wider- spruch des Arbeitnehmers den Übergang des Arbeitsverhältnisses auf den Betriebs- erwerber hindert. Ein Schweigen auf einen Antrag soll regelmäßig dessen Annahme bedeuten, wenn dieser in allen wichtigen Punkten dem Ergebnis von Vorverhandlun- gen entspricht.33 Doch wird man in solchen Fällen dem Antragenden oft noch eine 28 BGHZ 137, 205 (208); Neuner BGB AT § 33 Rn. 43. 29 Leenen/Häublein BGB AT § 6 Rn. 21. Zur Zugangsvereitelung auch BAG NZA 2015, 1183. 30 Dazu de la Durantaye, Erklärung und Wille, 2020, 119ff. 31 Näher Fischinger JuS 2015, 294; Ebert JuS 1999, 754; Petersen JURA 2003, 687. 32 Vgl. Flume Rechtsgeschäft § 10, 2. 33 BGH BB 1995, 694. 25 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag Vergewisserung zumuten dürfen. Auch eine Annahme durch schlüssiges Verhalten, beispielsweise Kaufpreiszahlung, kann nicht ohne Weiteres angenommen werden. Der BGH verlangt dafür mit Recht, dass der Erklärende bei Anwendung verkehrs- üblicher Sorgfalt hätte erkennen können, dass es der Annahmeerklärung noch bedurfte und sein Verhalten als Annahme verstanden werden konnte (potentielles Erklärungs- bewusstsein).34 Im Unterschied zu den Fällen von ® Rn. 53 wird man auf das Schweigen mit Zustim- mungsbedeutung die Regeln über Willenserklärungen entsprechend anwenden kön- nen: Es ist nicht einzusehen, warum der Schweigende an sein Schweigen stärker ge- bunden sein soll als der Redende an ein ausdrücklich erklärtes „Ja“. Für einen praktisch wichtigen Fall des rechtserheblichen Schweigens (Erbschaftsannahme durch Verstreichenlassen der Ausschlagungsfrist) ist die Anfechtbarkeit in § 1956 sogar ausdrücklich angeordnet. Nur kann eine Irrtumsanfechtung nicht darauf gegründet werden, dass der Schweigende die seinem Schweigen vom Gesetz zuerkannte Bedeu- tung nicht gekannt habe. Denn § 119 will den fehlerfreien Willen zur Geltung bringen (® Rn. 123); die gesetzlich angeordnete Rechtsfolge des Schweigens beruht aber gerade nicht auf dem Willen des Schweigenden (auch ® Rn. 129). In solchen Fällen beziehen sich Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit nicht auf das Schweigen selbst, sondern auf das Rechtsgeschäft, das durch Schweigen zustande gekommen ist.35 3. Abgrenzung 55 Nicht in diesen Zusammenhang gehört das Schweigen auf einen Antrag in den § 151. In § 151 bringt nicht schon das Schweigen den Vertrag zustande. Vielmehr bedarf es einer Annahmeerklärung; nur verzichtet das Gesetz auf zweierlei: darauf, dass die An- nahmeerklärung an den Antragenden gerichtet ist, und darauf, dass sie ihm zugeht.36 Sonst sind die Vorschriften über Willenserklärungen aber unbeschränkt – und zwar di- rekt – anwendbar. III. Das Schweigen im Handelsrecht 1. Schweigen mit Erklärungswirkung 56 Bei § 362 HGB gilt Schweigen als Annahme des Antrags.37 Ähnlich gilt nach §§ 75h, 91a HGB (anders § 177 II 2) das Schweigen des unberechtigt Vertretenen als Genehmi- gung. Fraglich ist die Wirkung von Willensmängeln auf das nach diesen Vorschriften rechtserhebliche Schweigen. Bedeutsam wird diese Frage etwa, wenn der Kaufmann auf einen Antrag schweigt (und ihn so annimmt), weil er ihn nur oberflächlich gelesen und daher eine falsche Vorstellung von seinem Inhalt hat. Auch hier ist es wenig sinnvoll, den schweigenden Kaufmann fester zu binden als den- jenigen, der ausdrücklich mit „Ja“ geantwortet hat. Denn das Schweigen kann bei der anderen Partei kein stärkeres Vertrauen erwecken als die ausdrückliche Bejahung. Daher muss man wenigstens das in ® Rn. 54 Gesagte ins Handelsrecht übernehmen. 34 BGH NJW 2010, 2873; dazu ® Rn. 130. 35 Flume Rechtsgeschäft § 36, 7. 36 BGH NJW 2004, 287, anders Flume Rechtsgeschäft § 35 II 3; ausf. Repgen AcP 200 (2000), 533. 37 Dazu Canaris HandelsR § 23 I; Prütting/Weller HandelsR/GesR Rn. 847; Kindler, Grundkurs Han- dels- und Gesellschaftsrecht, 9. Aufl. 2019, § 7 Rn. 14; Petersen JURA 2013, 377. 26 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 4 Der Vertragsschluss Doch kann man auch die Anfechtung eines ausdrücklichen „Ja“ einschränken. Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: a) Ein Teil der Lehre will dem Kaufmann ganz allgemein, also auch über die §§ 75h, 57 91a, 362 HGB hinaus, die Berufung auf einen durch sorgfältiges Lesen vermeidbaren Irrtum verwehren.38 Aber ein Handelsbrauch dieses Inhalts, auf den sich diese Ansicht zur Begründung beruft, wird kaum nachweisbar sein.39 b) Jedoch ist bedeutsam, dass die §§ 75h, 91a, 362 HGB von dem Kaufmann eine un- 58 verzügliche Antwort verlangen. Damit soll die andere Partei so schnell Gewissheit er- halten, wie das ohne Verschulden des Kaufmanns möglich ist. Daraus kann man fol- gern: Bei den genannten Vorschriften berechtigt ein schuldhafter Irrtum weder bei ausdrücklichem „Ja“ noch bei Schweigen zur Anfechtung. Denn diese Anfechtung würde es dem Kaufmann in beiden Fällen erlauben, trotz seines Verschuldens der an- deren Partei ihre schon begründete Gewissheit des „Ja“ wieder zu nehmen, und das widerspricht dem Gesetzeszweck. Ebenso hat der BGH für den Spezialfall des Schwei- gens auf ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben entschieden.40 2. Schweigen auf ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben Wichtigster unkodifizierter Fall des rechtserheblichen Schweigens ist das Schweigen 59 auf ein kaufmännisches Bestätigungsschreiben.41 Infolge dieses Schweigens gilt der Vertrag mit dem Inhalt als abgeschlossen, den das unwidersprochen gebliebene Bestä- tigungsschreiben angibt. Das Schweigen hat also Fiktionswirkung.42 Doch soll der Nachweis weiterer, dem Bestätigungsschreiben nicht widersprechender Abreden dem Absender offenstehen.43 Hinsichtlich der Wirkung des Bestätigungsschreibens ist es müßig zu fragen, wie das Unterlassen des Widerspruchs den Vertrag zustande bringt oder seinen Inhalt ändert:44 Die Frage, ob der Vertrag schon vorher bestanden hat oder zunächst einen anderen In- halt hatte, soll nach dem Zweck der Regelung (Klarheit) gerade nicht mehr gestellt werden dürfen. Voraussetzungen für den Eintritt dieser Rechtsfolge sind im Einzelnen: a) Es müssen Verhandlungen vorausgegangen sein, deren Ergebnis das Schreiben 60 als endgültigen Vertragsschluss wiedergibt.45 Meist werden diese Verhandlungen mündlich, telefonisch, durch Fax oder im Internet stattfinden, sodass Unklarheiten über ihr Ergebnis entstehen können, die das Bestätigungsschreiben ausräumen soll. Dagegen ist es bei schriftlichem Vertragsschluss regelmäßig unnötig, weil dort der Ver- tragsinhalt ohnehin festliegt.46 38 Flume Rechtsgeschäft § 21, 9c; ihm folgend Kramer JURA 1984, 235 (249). 39 Für Anfechtbarkeit auch K. Schmidt HandelsR § 19 Rn. 63; Canaris HandelsR § 23 Rn. 6. 40 BGH NJW 1972, 45. Dagegen stellt Canaris HandelsR § 23 Rn. 5 mit ähnlichen Ergebnissen auf die Risiken eines kaufmännischen Betriebs ab. 41 Dazu Lettl JuS 2008, 849; Prütting/Weller HandelsR/GesR Rn. 858ff. 42 BGHZ 11, 1 (5); Leenen/Häublein BGB AT § 8 Rn. 205; Petersen JURA 2003, 687 (690). 43 BGH 67, 378 (381); zweifelhaft, vgl. auch ® Rn. 66. 44 Vgl. Flume Rechtsgeschäft § 36, 3; Diederichsen JuS 1966, 129. 45 BGH NJW 1972, 820; einschränkend Canaris HandelsR § 23 Rn. 19. 46 Zu Ausnahmen Canaris HandelsR § 23 Rn. 20f. 27 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag BGHZ 54, 236 betrifft den Grenzfall eines Bestätigungsschreibens von der Partei, deren telefonische Of- ferte schriftlich angenommen worden war. Der BGH wendet auch hier die Regeln über das kaufmän- nische Bestätigungsschreiben an. Denn das Bedürfnis nach Klarstellung bestehe jedenfalls für die Partei, die sich bisher noch nicht schriftlich geäußert habe: Die einseitige schriftliche Erklärung der Gegenpartei genüge nicht, um den Vertragsinhalt ausreichend festzulegen.47 Richtig ist die Ansicht des BGH wenigs- tens dann, wenn das Annahmeschreiben nach Meinung seines Empfängers den Inhalt des telefonischen Antrags nur unvollständig wiedergibt (Extremfall: Es lautet einfach „Ja“): Dann ist es sinnvoll, auch den Rest noch schriftlich festzuhalten. 61 Zweifelsfrei kein kaufmännisches Bestätigungsschreiben ist die Annahme eines An- trags, auch wenn sie als „Auftragsbestätigung“ bezeichnet wird: Hier wird der Vertrag nicht als geschlossen vorausgesetzt, sondern er soll erst geschlossen werden. Wo eine solche Annahme vom Antrag abweicht (§ 150 II), ist also kein Widerspruch nötig.48 Doch sind Grenzfälle denkbar, nämlich wenn ein Vertragsabschluss zweifelhaft ist; dann gelten die Regeln über das kaufmännische Bestätigungsschreiben.49 62 b) Der Absender des Schreibens muss redlich sein, das heißt, er muss glauben und glauben dürfen, dass das Schreiben die Vereinbarungen korrekt wiedergibt oder doch nur solche Abweichungen enthält, die der Empfänger billigt.50 Insbesondere kann daher eine Eigenschaftszusicherung durch einen in dem Bestätigungsschreiben erklär- ten Gewährleistungsausschluss nicht unwirksam gemacht werden.51 Der BGH rechnet dem Absender mit Recht das Wissen seines Vertreters zu (vgl. § 166).52 63 c) Der Empfänger des Schreibens muss Kaufmann sein. Der BGH hat genügen las- sen, dass jemand „einen Betrieb führt, der in größerem Umfang am Verkehrsleben teil- nimmt“.53 Auch ein Architekt kommt als Empfänger in Betracht.54 Die Entwicklung läuft hin zu einem unternehmerischen Bestätigungsschreiben.55 64 d) Die nötige Qualifikation des Absenders ist fraglich. Hier kann jedenfalls ein groß- zügigerer Maßstab angelegt werden als beim Empfänger, weil dem Absender ja regel- mäßig keine Nachteile drohen. Der BGH verlangt, dass der Absender wenigstens ähn- lich einem Kaufmann am Geschäftsleben teilnimmt.56 65 e) Dem Schreiben darf nicht unverzüglich widersprochen worden sein. Dabei sind an einen Kaufmann strenge Anforderungen zu stellen. So hält RGZ 105, 389 einen Wi- derspruch acht Tage nach Eingang des Schreibens schon für verspätet, obwohl der Empfänger gerade während dieser acht Tage verreist war (er hätte für Nachsendung oder Vertretung sorgen müssen). Für die entsprechende Anwendung der Vorschriften über Willenserklärungen auf das Schweigen gilt das in ® Rn. 56–58 Gesagte: Insbeson- dere berechtigt ein schuldhafter Irrtum nicht zur Anfechtung. 47 AA Lieb JZ 1971, 135. 48 BGHZ 18, 212; s. auch Prütting/Weller HandelsR/GesR Rn. 870 („Umstandsmoment“ erforder- lich). 49 BGH NJW 1974, 991. 50 Vgl. Walchshöfer BB 1975, 719; ausf. Canaris HandelsR § 23 Rn. 25ff. 51 BGHZ 93, 338 (343). 52 BGHZ 40, 42. 53 BGHZ 11, 1. 54 OLG Köln OLGZ 1974, 8. 55 Näher K. Schmidt NJW 1998, 2161; K. Schmidt JZ 2003, 585. 56 BGHZ 40, 42; weitergehend Flume Rechtsgeschäft § 36, 2: entsprechend § 362 HGB genügt jeder- mann; einschränkend K. Schmidt HandelsR § 19 Rn. 80: auf unternehmerischen Verkehr beschränkt. 28 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 4 Der Vertragsschluss Nach anderer Ansicht soll der Schweigende anfechten können, wenn er etwa wegen flüchtigen Lesens über den Inhalt des Schreibens (und damit auch des Vertrages) im Irrtum war; dagegen nicht, wenn er dessen Inhalt trotz Zugangs nicht erfahren hatte.57 Aber es erscheint sachgerechter, beide Fälle gleich zu behandeln und über die Anfechtbarkeit das Verschulden entscheiden zu lassen. f) Ein Sonderproblem entsteht bei sich kreuzenden Bestätigungsschreiben: Beide 66 Parteien bestätigen sich gegenseitig den Abschluss, aber mit verschiedenem Inhalt. Dann ist regelmäßig kein Widerspruch nötig: Jede Partei weiß ja schon aus dem Schrei- ben der anderen, dass diese einen abweichenden Vertragsinhalt behauptet. BGH NJW 1966, 1070: V hatte an K ein gebrauchtes Kraftfahrzeug verkauft. V und K sandten sich ge- genseitig Bestätigungsschreiben; dasjenige des V enthielt einen Ausschluss der Sachmängelhaftung, das des K nicht. Der BGH hat hier ausnahmsweise angenommen, bei Nichtwiderspruch des K werde der Haftungsausschluss wirksam: Beide Schreiben hätten nicht in „offenem Widerspruch“ zueinander- gestanden; das Schreiben des V habe lediglich einen „zusätzlichen Vorbehalt“ enthalten. Dass K mit die- sem nicht einverstanden gewesen sei, habe sich seinem Schreiben nicht entnehmen lassen. Diese Entscheidung ist bedenklich: Wenn K den Haftungsausschluss nicht erwähnt hatte, meinte er offenbar einen Kauf nach der gesetzlichen Regelung. Und demgegen- über ist der Ausschluss im Schreiben des V nicht nur ein „zusätzlicher Vorbehalt“, sondern das glatte Gegenteil. Daher ergeben die Bestätigungsschreiben hier keine Eini- gung hinsichtlich der Sachmängelhaftung. Insoweit ist Vertragsinhalt also das ur- sprünglich Vereinbarte, das mit anderen Mitteln bewiesen werden muss. Allerdings breiten sich in der Praxis immer stärker sog. konstitutive Bestätigungsschreiben aus.58 Bei ihnen soll nach dem Parteiwillen überhaupt nur das schriftlich Bestätigte gelten: Dann läge bei einem Widerspruch zwischen den Bestätigungsschreiben beider Seiten ein Dissens vor. IV. Allgemeine Geschäftsbedingungen 1. Problematik und Anwendungsbereich der §§ 305ff. BGB Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) sind vorformulierte Regelungsentwürfe für 67 eine Vielzahl von Einzelverträgen.59 Die AGB sollen dort das dispositive Gesetzes- recht durch Bestimmungen ersetzen, die den Bedürfnissen des Verwenders besser ent- sprechen. Das kann legitim sein, weil die Typenverträge des BGB sehr verschiedene Möglichkeiten umfassen und sich nicht für alle Anwendungen in gleicher Weise eig- nen. Das wird am deutlichsten beim Werkvertrag: Was für einen Vertrag über die Re- paratur eines Kfz passt, kann für den (gleichfalls den §§ 631ff. unterfallenden) Beför- derungsvertrag ganz unangemessen sein. Aber etwa auch beim Kauf bedarf es oft einer stärkeren Differenzierung, als das BGB sie vornimmt. Sogar beinahe ganz unent- behrlich sind AGB für Verträge, die im besonderen Schuldrecht nicht vertypt sind, wie etwa das Leasing. 57 Diederichsen JuS 1966, 129 (136f.); vgl. auch Neuner BGB AT § 37 Rn. 56; eing. Kindl, Rechts- scheintatbestände und ihre rückwirkende Beseitigung, 1999, S. 208ff. 58 Vgl. K. Schmidt HandelsR § 19 Rn. 84f. Zu den Grenzen Häublein FS Karth, 2013, 333. 59 Dazu Herb. Roth, Vertragsänderung bei fehlgeschlagener Verwendung von Allgemeinen Geschäfts- bedingungen, 1994; Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingungen, einseitig gestellte Vertragsbedin- gungen und die allgemeine Rechtsgeschäftslehre, 2010; Heyers ZVersWiss 2010, 349; S. Thomas AcP 209 (2009), 84; S. Lorenz/Gärtner JuS 2013, 199; Klocke JURA 2015, 227; Rödl AcP 215 (2015), 683; Janal NJW 2016, 3201; zum AGB-Recht in der Fallbearbeitung Wendland JURA 2018, 866; 2019, 41; 486. 29 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag AGB werden aber nicht bloß zu solchen legitimen Zwecken verwendet, sondern ebenso zu rücksichtsloser einseitiger Interessenverfolgung missbraucht (etwa durch die Einfügung von Haftungsausschlüssen oder Befugnissen zu einseitiger Preiserhö- hung). Das gelingt schon deshalb besonders leicht, weil die andere Partei von den Ein- zelheiten umfangreicher AGB meist nicht Kenntnis nimmt. Doch hatte die Rechtspre- chung schon früh solchem Missbrauch zunehmend Widerstand geleistet, und zwar im Wesentlichen auf zwei Wegen: Erstens sollten besonders unbillige (und daher „überra- schende“) Klauseln nur unter sehr engen Voraussetzungen Vertragsinhalt werden (sog. Einbeziehungskontrolle). Und zweitens werden AGB nicht bloß nach § 138 auf ihre Sittenwidrigkeit hin geprüft, sondern nach § 242 noch einer eigenen Billigkeits- kontrolle unterworfen (sog. Inhaltskontrolle).60 68 Für ein „Aushandeln“ (§ 305 I 3) ist erforderlich, dass der Verwender den „gesetzes- fremden Kerngehalt“ seiner AGB inhaltlich ernsthaft zur Diskussion stellt; es müsse auch dem Gegner zur individuellen Interessenwahrung möglich sein, „die inhaltliche Ausgestaltung der Vertragsbedingungen zu beeinflussen“.61 Dies habe der Verwender darzulegen.62 Zudem erfasst das „Aushandeln“ dann nicht die ganzen AGB, sondern nur die Klauseln, hinsichtlich derer die genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Ganz ungenügend ist eine Aufforderung im Text des Formulars, nicht gewollte Passagen zu streichen:63 Eine solche Aufforderung kann ja nur wirken, wenn sie wirklich gelesen worden ist. Ausnahmsweise soll freilich ein Aushandeln auch ohne Textänderung zu bejahen sein, „wenn der andere Teil nach gründlicher Erörterung von der Sachgerech- tigkeit der Regelung überzeugt wird“.64 Zum „Aushandeln“ kann es auch genügen, dass dem Verhandlungspartner das Ausfüllen von Leerstellen in dem Formular ohne die Beschränkung auf nur wenige Wahlmöglichkeiten überlassen wird (etwa die An- gabe der Vertragslaufzeit).65 2. Einführung in den Einzelvertrag 69 a) Entgegen § 139 führt das Nichtwirksamwerden der AGB oder einzelner Klauseln aber nicht zur Unwirksamkeit des ganzen Vertrages. Vielmehr gilt dieser regelmäßig zu den Bedingungen des Gesetzesrechts (§ 306). Zu beachten ist § 306 III. Nach hM ist eine geltungserhaltende Reduktion unwirksamer Klauseln regelmäßig aus- geschlossen:66 Ein nach § 309 Nr. 7 unzulässiger Haftungsausschluss kann also auch nicht insoweit aufrechterhalten werden, als er nach dieser Vorschrift zulässig wäre.67 Anders verfährt der BGH freilich, wenn sich inhaltlich sinnvolle Teile einer Klau- sel sprachlich trennen lassen. So kann etwa ein (zulässiger) Ausschluss der Aufrech- 60 Seit BGHZ 22, 90. S. auch Hellwege JZ 2015, 1130; Petersen JURA 2010, 667. 61 Vgl. BGHZ 200, 326 (dazu Kaufhold NJW 2014, 3488; Riehm JuS 2014, 745); BGH NJW 2019, 2080 Rn. 14 mAnm T. Pfeiffer; näher Grunewald FS Graf v. Westphalen, 2010, 229; Habersack FS Köhler, 2014, 209. 62 BGH NJW 2019, 2080 Rn. 14, 16. 63 BGH NJW 1987, 2011. 64 BGH NJW 2000, 1110 (1112). 65 BGH NJW 1998, 1066. 66 Etwa BGHZ 107, 273 (277); BAG NZA 2020, 1397 Rn. 52; allg. dazu Herb. Roth JZ 1989, 411; J. Hager JZ 1996, 175. 67 BGHZ 170, 31 (zust. Leenen DStR 2007, 214); BGH NJW 2009, 1486; MDR 2013, 774; 2015, 389; vgl. auch BGHZ 223, 235 (dazu Looschelders JA 2020, 226). 30 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 4 Der Vertragsschluss nung neben einem unwirksamen Ausschluss von Zurückbehaltungsrechten wirksam bleiben.68 § 305 II gilt nach § 310 I nicht für Unternehmer und bestimmte Personen des öffent- lichen Rechts. Aber deswegen werden AGB auch ihnen gegenüber nicht ohne Weiteres Vertragsinhalt. Vielmehr gelten hier die Voraussetzungen der allgemeinen Rechts- geschäftslehre: Der Verwender muss dem Kunden erkennbar (® Rn. 45) erklärt haben, er wolle die AGB in den Vertrag einführen, und das Verhalten des Kunden muss das Einverständnis hiermit bedeuten. Dabei hat es die ältere Rechtsprechung genügen las- sen, wenn im Rahmen einer auf Dauer angelegten kaufmännischen Geschäftsverbin- dung die eine Partei in ihren Rechnungen mehrfach auf die AGB hingewiesen und die andere Partei hierzu geschwiegen hatte. Das dürfte auch jetzt noch ausreichen. Doch genügen solche Hinweise nicht auf Lieferscheinen, da diese häufig nicht zur Kenntnis der für den Abschluss weiterer Verträge zuständigen Personen gelangen. b) Aber auch soweit die AGB Vertragsinhalt geworden sind, gilt für ihre Auslegung 70 die Unklarheitenregel, § 305c II, etwa wenn sich ein Haftungsausschluss eines Auto- mobilhändlers nicht deutlich auch auf ein Verschulden bei der Ablieferungsinspektion bezieht.69 Solche Unklarheiten oder Widersprüche gehen zulasten des Verwenders, der sie hätte vermeiden sollen (® Rn. 74). 3. Inhaltskontrolle der AGB a) Für die Inhaltskontrolle der AGB und bestimmter Verbraucherverträge (§ 310 III) gilt 71 außer den allgemeinen Vorschriften in §§ 134, 138 nach den §§ 307–309 zulasten des Ver- wenders eine strengere Regelung. Diese unterscheidet zwischen einer umfangreichen Aufzählung einzelner verbotener Klauseln in den §§ 309, 308 und einer recht un- bestimmten Generalklausel in § 307.70 Dabei sollte man regelmäßig zuerst die spezielle- ren Klauselverbote in den §§ 309, 308 prüfen und erst, wenn man dort nichts gefunden hat, die Generalklausel erwägen. Unternehmer und gleichgestellte Personen des öffent- lichen Rechts werden allerdings nach § 310 I durch die §§ 309, 308 nicht geschützt; hier bleibt also nur § 307. Doch stellt § 310 I 2 klar, dass auch eine in den §§ 309, 308 speziell verbotene Klausel noch unter das allgemeine Verbot in § 307 fallen kann. Ein Verstoß ge- gen die Klauselverbote der §§ 309, 308 hat im unternehmerischen Verkehr grundsätzlich Indizwirkung für die Inhaltskontrolle nach § 307; allerdings sind die „besonderen Inter- essen und Bedürfnisse des unternehmerischen Geschäftsverkehrs“ zu beachten.71 So darf auch gegenüber einem Unternehmer die Haftung für Gehilfen (§ 309 Nr. 7) nicht ohne Einschränkung ausgeschlossen werden.72 In der Tendenz wendet die Rechtsprechung den § 307 immer häufiger an. Keinen Verstoß gegen § 307 I 1 bedeutet es jedoch, wenn eine Herstellergarantie im Interesse der Kundenbindung an die regelmäßige Wartung in Vertragswerkstätten geknüpft wird.73 Freizeichnungsklauseln sind eng auszulegen; die Klausel „wie besichtigt“ etwa bezieht sich regelmäßig nur auf sichtbare Mängel.74 68 BGHZ 107, 185 (190f.). 69 BGH NJW 2007, 504; s. auch Herb. Roth WM 1991, 2085; 2125. 70 Zur Fallbearbeitung Reif/T. Walter JuS 2023, 299. 71 BGHZ 174, 1; BGH NJW 2014, 3722 Rn. 32. 72 BGHZ 95, 170 (182f.). 73 BGH NJW 2008, 843. 74 Zur Gewährleistung BGHZ 74, 204 (210); BGH NJW 2016, 2495; dazu M. Stürner JURA 2016, 1336. 31 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag 72 b) Für die speziellen Klauselverbote ist zu erwähnen: Hier ist mit der Prüfung der ge- nauer bestimmten Klauseln in § 309 zu beginnen. Bedeutsam sind dort vor allem: Nr. 1 (Ausschluss von Preiserhöhungen für vier Monate; wichtig im Kfz-Handel!). Unzulässig ist die sog. „Tagespreisklausel“ (der Käufer soll den am Tag der Lieferung geltenden Listenpreis bezahlen müssen).75 An die Stelle der gestrichenen Klausel tritt nicht etwa der Listenpreis bei Vertragsabschluss, sondern nur ein (durch ergänzende Vertragsauslegung gewonnenes) Rücktrittsrecht des Käufers bei unverhältnismäßigen Preiserhöhungen.76 Nr. 5/6 (Beschränkung der Zulässigkeit von Schadenspauschalie- rungen und Vertragsstrafenversprechen). Nr. 7b (die Haftung für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit sogar eines Erfüllungsgehilfen kann nicht ausgeschlossen werden; an- ders §§ 276 III, 278 S. 2). Zusätzlich verbietet § 309 Nr. 7a für Körper- und Gesund- heitsschäden einen Haftungsausschluss auch bei leichter Fahrlässigkeit.77 Ähnlich sind nach § 309 Nr. 8a bestimmte Rechtsfolgen auch bei jedem Vertretenmüssen nicht ab- dingbar. Nr. 8b (Erhaltung der Gewährleistungsrechte einschließlich der Nacherfül- lungsansprüche). Nach § 309 Nr. 9 gelten bestimmte Klauselverbote bei der Höchst- laufzeit, Vertragsverlängerung und Kündigungsfrist von Dauerschuldverhältnissen. 73 c) Dagegen sind manche der in § 308 ausgesprochenen Klauselverbote unbestimmter, weil sie wertende Begriffe enthalten („unangemessen lang“, „nicht hinreichend be- stimmt“, „sachlich gerechtfertigter Grund“, „zumutbar“ usw).78 Hier gerät man also schon in die Nähe der Generalklausel des § 307. Auch wenn eine Klausel dem Maßstab der §§ 309, 308 standhält, kann diese gleichwohl nach § 307 unwirksam sein.79 74 d) Diese Generalklausel verbietet Bestimmungen, die den anderen Teil „entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen“.80 Das wird durch zwei Vermutungen des § 307 II konkretisiert: Unter den dort genannten – etwas be- stimmter, aber immer noch generalklauselartig umschriebenen – Voraussetzungen soll im Zweifel Unangemessenheit vorliegen. Das ist keine reine Beweislastregel im sonst üblichen Sinn, weil der durch § 307 II zu behebende Zweifel nicht im (dem Beweis zugänglichen) tatsächlichen Bereich liegen muss, sondern auch die Wertung betreffen kann. Maßstab der Wertung ist nach § 307 II Nr. 1 das dispositive Gesetzesrecht: Die- ses soll regelmäßig eine Ordnungs- oder Leitbildfunktion haben. Dazu gehört ins- besondere das Verschuldensprinzip als „Grundsatz des Haftungsrechts“ und „Aus- druck des Gerechtigkeitsgebots“,81 sowie die Vorschriften zur Verjährung aus Gründen des „Rechtsfriedens“ und der „Sicherheit des Rechtsverkehrs“.82 Eine AGB-Klausel, die im Mietvertrag eine „symmetrische“ Verlängerung der Verjährungs- fristen von § 548 I, II (® Rn. 938) abweichend auf ein Jahr vorsieht und den Fristbeginn von der Rückgabe der Mietsache auf die Beendigung des Mietvertrages verlagert, ist 75 BGHZ 82, 21. Lehrreich Leenen/Häublein BGB AT § 8 Rn. 188, 192; § 21 Rn. 72. 76 BGHZ 90, 96. Vgl. auch J. Hager JuS 1985, 264. 77 Nach BGH ZIP 2022, 1655 (dazu Looschelders JA 2022, 772) gilt § 309 Nr. 7 auch bei Verkürzung einer gesetzlichen Verjährungsfrist; s. hierzu auch und zum Verbot der geltungserhaltenden Reduk- tion BGHZ 170, 31. 78 Vgl. zu § 308 Nr. 1 nur BGH NJW 2013, 3434 Rn. 22; dazu M. Schwab JuS 2014, 1120. 79 BGH NJW 1997, 739; zum Aufrechnungsverbot nach § 309 Nr. 3 BGHZ 218, 132. 80 Lesenswert Schrader JA 2023, 247 (248) zu BGHZ 235, 27. 81 BGH NJW-RR 2015, 690 Rn. 28; BGHZ 114, 238 (240); 135, 116 (121); 164, 196 (210). 82 BGHZ 217, 1 Rn. 23. 32 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 4 Der Vertragsschluss nach § 307 I 1, II Nr. 1 unwirksam, insbesondere mangels Gewährung eines angemes- senen Ausgleichs.83 Ein Wort zu den mietrechtlichen Schönheitsreparaturklauseln: Sie weichen von § 535 I 2 ab und kön- nen nach § 307 I 1, II Nr. 1 unwirksam sein. Nichtig ist etwa eine AGB-Klausel, die einen „starren Fris- tenplan“ ohne Berücksichtigung des Renovierungsbedarfs bestimmt; anders daher etwa bei Verwendung der Begriffe „regelmäßig“ oder „in der Regel“.84 Nach BGHZ 204, 302 sind ferner Schönheitsreparatur- klauseln bei einer unrenoviert oder renovierungsbedürftig übergebenen Wohnung ohne Gewährung eines angemessenen Ausgleichs nichtig. Unerheblich für die Wirksamkeit ist wegen der Relativität der Schuldverhältnisse auch eine Renovierungsvereinbarung mit dem Vormieter.85 Die Nichtigkeit einer Schönheitsreparaturklausel führt zur Unwirksamkeit sämtlicher, da sie Ausdruck einer „einheitlichen Rechtspflicht“ sind.86 Aufgrund des Verbots der geltungserhaltenden Reduktion kann die Klausel auch nicht auf einen möglichen wirksamen Inhalt beschränkt werden.87 Nach § 306 II liegt die Erhaltungs- pflicht daher vollständig gem. § 535 I 2 beim Vermieter. Der Mieter hat sogar im Fall einer unwirksamen Klausel bei einer unrenoviert oder renovierungsbedürftig übergebenen Wohnung nach wesentlicher Verschlechterung ihres Zustands einen Anspruch auf Durchführung von Renovierungsarbeiten, welche die Wohnung in einen „frisch renovierten Zustand“ versetzen.88 Der Vermieter kann den Mieter dann freilich nach Treu und Glauben (§ 242) infolge der Besserstellung gegenüber dem ursprünglichen Zu- stand der Wohnung angemessen an den Kosten beteiligen.89 Eine Klausel, die eine Zustimmungsfiktion bei Schweigen des Vertragspartners zu einer Vertragsänderung vorsieht, ist nach § 307 I 1, II Nr. 1 unwirksam, da sie von den „wesentlichen Grundgedanken“ der §§ 305 II, 311 I, 145ff. abweicht.90 § 307 II Nr. 2 fügt dem – wesentlich unbestimmter – die „Natur des Vertrages“ hinzu.91 Das passt vor allem für atypische Verträge, für die es kein vertragsspezifisches dispositives Ge- setzesrecht gibt.92 Doch werden durch die Nr. 2 auch bei Typenverträgen die ver- tragswesentlichen Pflichten (auch: Kardinalpflichten) einer Abbedingung durch AGB entzogen. So kann sich eine Bank nicht von der Pflicht freizeichnen, den Über- weisungsbetrag dem Konto des Empfängers gutzubringen.93 Aus § 307 I 2 ergibt sich das sog. Transparenzgebot:94 Der Verwender müsse „die Rechte und Pflichten seines Vertragspartners möglichst klar und durchschaubar dar- stellen“. Dagegen verstößt etwa eine Bank, wenn sie die zinssteigernde Wirkung einer Zinsabrechnungsklausel nicht deutlich macht.95 Mehr als der Gesetzgeber an Klarheit schaffen kann, sollte aber billigerweise auch von einem AGB-Verwender nicht verlangt werden.96 83 BGHZ 217, 1 (dazu M. Schwab JuS 2018, 813). 84 BGH NJW 2004, 2586; 2006, 2113; 2115; NJW-RR 2012, 907. 85 BGH NJW 2018, 3302 mAnm Pielsticker; dazu Looschelders JA 2018, 945; zur Unwirksamkeit sog. „Quotenabgeltungsklauseln“ BGHZ 204, 316. 86 BGH NJW 2015, 1874. 87 S. auch BGH BeckRS 2010, 8478. 88 BGH NJW 2020, 3523; krit. Gsell/Mayrhofer NZM 2020, 1065. 89 BGHZ 226, 208; dazu Emmerich JuS 2021, 73; Kumkar/Domisch JURA 2021, 889 (897). 90 BGHZ 229, 344; dazu Omlor NJW 2021, 2243; s. auch § 309 Nr. 9b zur stillschweigenden Vertrags- verlängerung. 91 Zu ihr Renner AcP 213 (2013), 677. 92 Vgl. auch Unberath/Cziupka AcP 209 (2009), 37; Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, 2010; s. auch G. Schulze JURA 2011, 481. 93 BGH VersR 1974, 590. 94 Eing. Stöhr AcP 216 (2016), 558. 95 BGHZ 106, 42 (49). 96 Vgl. BGHZ 112, 115 (119); s. auch BGH NJW 2015, 2244 (dazu Gutzeit JuS 2016, 354); NJW-RR 2019, 942 (943f.). 33 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag 4. Die beiderseitige Verwendung Allgemeiner Geschäftsbedingungen 75 Es bleibt noch ein durch die AGB-Regelung nicht erfasstes Problem. Vor allem im Ver- kehr zwischen Unternehmern versuchen nämlich oft beide Seiten, ihre eigenen AGB in den Einzelvertrag einzuführen:97 K bestellt etwa „zu seinen Einkaufsbedingungen“, V liefert daraufhin „zu seinen Verkaufsbedingungen“. Hier ginge es an der Wirklichkeit vorbei, mit Dissens zu arbeiten, soweit die beiden AGB nicht übereinstimmen. Denn wenn V liefert und K die Lieferung annimmt, zeigen beide, dass sie den Streit um die unterschiedlichen AGB nicht austragen, sondern sich so verhalten wollen, als liege eine Einigung vor. Ebenso wenig sollte man, wie die Rechtsprechung es früher getan hat, § 150 II anwen- den, also die Annahme zu den abweichenden eigenen AGB als neuen Antrag ansehen. Denn diese Ansicht zwingt die Parteien zu ständig neuen Protesten gegen die AGB der anderen, obwohl letztlich beide einen wirksamen Vertrag wollen. Bei dem nicht aus- getragenen Streit um einander widersprechende AGB gelten diese jeweils nur insoweit, als sie der anderen Partei günstig sind (zB der Verkäufer räumt dem Käufer Skonto ein) oder sich nicht auf den Schuldvertrag beziehen (zB ein einfacher Eigentumsvorbehalt, über den ja keine Einigung nötig ist).98 Nach Ansicht des BGH fällt die durch den Hinweis auf eigene AGB modifizierte „Auftragsbestätigung“ (= Annahme) zwar unter § 150 II und bringt daher allein den Vertrag noch nicht zustande. Aber durch die Ver- tragsausführung zeigten die Parteien, dass sie den Bestand des Vertrages nicht an der Frage scheitern lassen wollten, wessen AGB gelten sollten.99 Daher ist der Vertrag ge- mäß dem dispositiven Gesetzesrecht zu erfüllen (vgl. auch § 306 II).100 Letztlich ist das ein Anwendungsfall der Regel von der Unwirksamkeit einer protestatio facto contraria: Das Faktum der Ausführung des Vertrages wiegt rechtlich schwerer als der bloß verbale Streit darum, wessen AGB gelten sollen (doch ® Rn. 191). 5. Inhaltskontrolle notarieller Verträge 75a Unzweifelhaft bleiben die §§ 305ff. anwendbar, wenn der die AGB enthaltende Ver- trag notariell beurkundet wird. Dagegen passen die §§ 305ff. nicht, wenn der beurkun- dende Notar ohne Veranlassung durch eine Partei von sich aus auf von ihm üblicher- weise verwendete Klauseln zurückgreift; dann sind sie von der einen Partei nicht der anderen „gestellt“ worden. Doch hat der VII. ZS auch für solche Fälle eine Inhaltskon- trolle installiert, weil durch den „Sog des Vorformulierten“ ein „Anschein der Recht- mäßigkeit, Vollständigkeit und Ausgewogenheit“ entstehe.101 Diese Klauseln sollen daher nur nach einer gründlichen „Erörterung und Belehrung“ Vertragsinhalt wer- den.102 Eine solche „Erörterung und Belehrung“ könnte aber praktisch nur von dem Notar kommen. Und § 19 BNotO sieht bei der Verletzung von Notarspflichten nicht die Un- wirksamkeit des Beurkundeten vor, sondern eine Schadensersatzpflicht des Notars 97 Dazu Schlechtriem FS Wahl, 1973, 67. 98 Flume Rechtsgeschäft § 37, 3. Vgl. BGH NJW 1982, 1749 zur „Abwehrklausel“; BGH NJW 1985, 1838. Zur Vertragswidrigkeit einfacher Eigentumsvorbehalte J. F. Hoffmann JuS 2022, 697. 99 Seit BGHZ 61, 282. 100 Erhebliche Ausnahmen allerdings bei BGH NJW 1995, 1671. 101 BGHZ 74, 204 (211). 102 BGHZ 108, 164. 34 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 4 Der Vertragsschluss (eigene Anspruchsgrundlage!). Schon deshalb ist die genannte Rechtsprechung abzulehnen.103 Nach § 310 III gilt freilich Abweichendes für Verbraucherverträge, bei denen ein Verbraucher (§ 13) einem Unternehmer (§ 14) gegenübersteht: Dann gelten die Bedin- gungen als von dem Unternehmer gestellt, wenn nicht der Verbraucher sie in den Ver- trag eingeführt hat (also auch etwa, wenn sie von einem Notar stammen). Zudem ge- nügt im Gegensatz zu § 305 I 1 („Vielzahl“) schon die Absicht zu einmaliger Verwendung. § 310 III behandelt also auch solche Bedingungen als AGB, die nach § 305 I 1 keine AGB sind. 103 Vgl. Medicus/Petersen BGB AT Rn. 406a mit Belegen. 35 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag § 5 Die Stellvertretung1 76 Eine beim Vertragsabschluss häufig vorkommende Variante ist die Einschaltung eines Stellvertreters. Die rechtliche Beurteilung kompliziert sich dann insofern, als der Kon- sens zwischen dem Vertreter und dem Geschäftspartner allein nicht ausreicht, um die Vertragswirkungen für und gegen den Vertretenen eintreten zu lassen. Vielmehr müs- sen zusätzlich noch Entstehung, Ausübung und Rechtsbeständigkeit der Vertretungs- macht geprüft werden. Schwieriger verhält es sich bei der Untervertretung. Der Un- tervertreter vertritt den Vertretenen, ohne dass die Wirkungen der Erklärungen „durch den Hauptbevollmächtigten hindurch“ gingen.2 I. Abgrenzung der Stellvertretung 1. Botenschaft 77 Die übliche Formel zur Abgrenzung der Stellvertretung von der Botenschaft lautet: Der Vertreter erklärt eigenen Willen, der Bote übermittelt eine fremde Willenserklä- rung.3 Das ist besonders deutlich bei der verkörperten Willenserklärung: Der Vertre- ter schreibt den Brief selbst, der Bote überbringt meist (aber nicht notwendig) einen fremden. Der Vertreter hat also regelmäßig einen eigenen Entscheidungsspielraum, der Bote nicht. Daher ist für den Vertreter im Gegensatz zum Boten wenigstens be- schränkte Geschäftsfähigkeit nötig, § 165. Ob im Einzelfall Stellvertretung oder Bo- tenschaft vorliegt, entscheidet die hM nicht nach dem Innenverhältnis, sondern nach dem erkennbaren Auftreten.4 Dabei sind folgende Komplikationen denkbar: 78 a) Der Bote geriert sich als Vertreter. Erklärt er das, was ihm aufgetragen ist, wird man seine Erklärung dem Auftraggeber zurechnen dürfen. Weicht er aber von dessen Weisung ab, so gelten nicht die Regeln über den Boten ohne Botenmacht (® Rn. 80), sondern die §§ 177ff. direkt. 79 b) Der Vertreter geriert sich als Bote. Auch hier wird man die Erklärung des als Bote Auftretenden dem Vertretenen zurechnen dürfen, wenn sie durch die Vertretungs- macht gedeckt wäre. Ist diese dagegen überschritten, gelten die Regeln über den Boten ohne Botenmacht (® Rn. 80), nicht die §§ 177ff. direkt. 2. Einzelheiten zur Falschübermittlung durch Boten 80 a) Übermittelt der Erklärungsbote etwas anderes als das ihm Aufgetragene (dazu ge- hört auch die Übermittlung an eine falsche Person),5 so gibt das Gesetz eine Regel nur in § 120: Das Übermittelte wirkt zunächst, kann aber durch Anfechtung beseitigt wer- 1 Joussen, Abgabe und Zugang von Willenserklärungen unter Einschaltung von Hilfspersonen, JURA 2003, 577; S. Lorenz JuS 2010, 382; Mock JuS 2008, 309; 391; 486; Förster JURA 2010, 351; Himmen JURA 2016, 1345; Klingbeil ZfPW 2020, 150; Petersen, Bestand und Umfang der Vertretungsmacht, JURA 2003, 310. Zur „Abstraktheit“ im Stellvertretungsrecht näher K. Schmidt FS Canaris, 2017, 115; Petersen JURA 2004, 829; Klausurfall von Seifert/M. Leipold JuS 2021, 43; Werner/Werner/ Schrader BürgerlR Anfänger Fall 6–9. 2 So aber BGHZ 68, 391 (394); skeptisch Flume Rechtsgeschäft § 49, 5; Petersen JURA 1999, 401. Zur Haftung ® Rn. 121a. 3 Vgl. Petersen, Stellvertretung und Botenschaft, JURA 2009, 904. 4 Vgl. Flume Rechtsgeschäft § 43, 4. Zu § 165 instruktiv Chiusi JURA 2005, 532. 5 Zur Verspätung der Übermittlung vgl. Medicus/Petersen Grundwissen BürgerlR § 5 Rn. 11. 36 https://doi.org/10.15358/9783800671656-21 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 16:18:31. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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