§ 6 Willensmängel PDF
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This document discusses the concept of will defects in German contract law. It details the distinctions between a person's declaration and their actual intention. It elaborates on various aspects of the law concerning contracts and how mistakes and misinterpretations of intent can lead to legal consequences or contract invalidity.
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§ 6 Willensmängel § 6 Willensmängel Der Vertragsschluss beruht regelmäßig auf Willenserklärungen. In ihnen unterscheidet 122 die traditionelle Lehre ein objektives (Erklärung) und ein subjektives Element (Wille).1 Dabei muss die Rechtsordnung ihre Folgen primär an die Erklärung als den sichtbaren...
§ 6 Willensmängel § 6 Willensmängel Der Vertragsschluss beruht regelmäßig auf Willenserklärungen. In ihnen unterscheidet 122 die traditionelle Lehre ein objektives (Erklärung) und ein subjektives Element (Wille).1 Dabei muss die Rechtsordnung ihre Folgen primär an die Erklärung als den sichtbaren Teil knüpfen. Sekundär berücksichtigt sie dann aber, ob hinter der Erklä- rung ein entsprechender Wille steht. Diese Berücksichtigung trägt dem Gedanken der Privatautonomie Rechnung: Die Erklärung hat Rechtsgeltung, weil sie auf dem Wil- len beruht. Diese durch von Savigny geprägte Auffassung liegt den §§ 116ff. zugrunde. I. Abgrenzungsfragen zu §§ 119–122 BGB 1. Primat der Auslegung Voraussetzung für die Anfechtung nach § 119 ist die Inkongruenz von Wille und Er- 123 klärung. Hierfür muss zunächst durch Auslegung der rechtliche Sinn der Erklärung ermittelt werden (® Rn. 45). Die Auslegung ist daher vor der Frage nach der Anfecht- barkeit zu erörtern: Wenn die Erklärung schon durch Auslegung dem Willen angepasst werden kann, kommt eine Anfechtung wegen Irrtums nicht in Betracht.2 2. Falsa demonstratio Nur einen Sonderfall der Auslegung bildet die falsa demonstratio.3 Die empfangs- 124 bedürftige Willenserklärung wird selbst gegen ihren eindeutigen Wortlaut im Sinne des Gewollten ausgelegt, wenn der Empfänger dieses Gewollte richtig verstanden hat.4 Auch bei der falsa demonstratio wird also § 119 unnötig, weil der Wille schon durch Auslegung zur Geltung kommt. Hauptfall der falsa demonstratio ist die Parzellenverwechslung: Käufer und Verkäufer sind sich über die zu verkaufende Parzelle einig, benennen aber irrtümlich im Kaufver- trag eine andere. Hier ist nicht die genannte, sondern die beiderseits gewollte Parzelle verkauft. Auch auf die notarielle Form der Erklärung des Gewollten wird dabei ver- zichtet.5 Denn der Normzweck von § 311b I ist ja erreicht worden (® Rn. 185). Eben- falls wirksam im Sinne des Gewollten ist die Auflassung, an der gleichfalls nur Verkäufer und Käufer beteiligt sind.6 Gleiches gilt, wenn sich die Parteien für den Umfang der Eigentumsverschaffungspflicht übereinstimmend an örtlichen Gegebenheiten orientie- ren, im Kaufvertrag jedoch versehentlich eine Grundstücksbezeichnung gewählt haben, die nur einen Teil davon erfasst. Dann scheitert die erforderliche Bestimmtheit des ver- kauften Grundstücks nicht an der noch fehlenden katastermäßigen Vermessung.7 1 Rechtsökonomisch aufschlussreich de la Durantaye, Erklärung und Wille, 2020 (dazu Neuner AcP 221 (2021), 266). 2 S. Lorenz, Willensmängel, JuS 2012, 490; Petersen, Der Irrtum im Bürgerlichen Recht, JURA 2006, 660; Musielak, Die Anfechtung einer Willenserklärung wegen Irrtums, JuS 2014, 491; 583; Grobe/ Schellenberg, Auslegung, Umdeutung und Anfechtung von Willenserklärungen, JURA 2020, 799; Sonderprobleme der Anfechtung behandelt Rennig JURA 2021, 619; vgl. auch den lehrreichen Klau- surfall von Boecken/Hackenbroich JURA 2021, 687 (691). 3 Dazu Martinek JuS 1997, 136; s. auch Leenen Liber amicorum J. Prölss, 2009, 153. 4 BGH NJW 1994, 1528 (1529); BGHZ 168, 35 Rn. 13. 5 BGHZ 87, 150. 6 BGH NJW 2002, 1038 (1039f.). 7 BGH NJW 2008, 1658. 55 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag Anderes gilt aber, wenn Dritte im Spiel sind, die das Gewollte nicht erkennen können. Bedarf zB der Grundstückskauf einer behördlichen Genehmigung, so bleibt der Vertrag trotz deren Erteilung unwirk- sam. Denn die Genehmigung betrifft nur die genannte Parzelle, nicht die der Behörde unerkennbar ge- wollte. Die Genehmigung ihrerseits ist gleichfalls unwirksam, weil gegenstandslos. Auch die Anträge an das Grundbuchamt und die Eintragung können nicht nach den Regeln über die falsa demonstratio kor- rigiert werden. 3. Dissens 125 In der Nachbarschaft von Irrtum und Auslegung steht auch der Dissens.8 Das gilt allerdings nicht für den offenen Dissens, § 154: Hier wissen die Parteien, dass sie sich nicht geeinigt haben. Wohl aber nimmt beim versteckten Dissens (§ 155) mindestens eine Partei eine solche Einigung an; sie befindet sich also insoweit im Irrtum. Dabei ist kennzeichnend für den Dissens, dass sich die ausgelegten Erklärungen nicht miteinan- der decken. Irrtum nach § 119 I bedeutet also Inkongruenz von Wille und Erklärung; Dissens be- deutet Inkongruenz zweier ausgelegter Erklärungen. Daher ist Irrtum auch bei der einseitigen Willenserklärung möglich, Dissens dagegen nur beim Vertragsschluss. Bei dem von einer Partei verschuldeten Dissens nimmt die hM eine Ersatzpflicht wegen c. i. c. an.9 II. Nichtigkeit wegen Willensmängeln 1. Scheingeschäft und fiduziarisches Geschäft 126 Von den gesetzlichen Nichtigkeitsgründen der §§ 116 S. 2–118 sei hier behandelt das Scheingeschäft (§ 117).10 Es ist bisweilen nicht leicht abzugrenzen zum fiduziarischen Geschäft (® Rn. 488ff.): Bei diesem erhält ja der Treunehmer mehr Rechtsmacht, als er wirklich soll gebrauchen dürfen. Daher kann man zweifeln, ob die Einräumung einer so weiten Rechtsmacht ernstlich gewollt ist. BGHZ 36, 84: E baut auf seinem Grundstück. Die Bauhandwerker verlangen Sicherungshypotheken (§ 650e). Um den ersten Rang zur Sicherung eines erwarteten Baudarlehens freizuhalten, bestellt E sei- nem Sohn S eine Hypothek für eine Forderung aus von S angeblich geleisteten Bauarbeiten. E und S sind darüber einig, dass eine solche Forderung nicht besteht. Erst nach der Hypothek für S werden die Siche- rungshypotheken für die Bauhandwerker eingetragen. In der Zwangsversteigerung beanspruchen die Bauhandwerker den Versteigerungserlös für sich, da die erstrangig eingetragene Hypothek nicht ent- standen sei. Hier ist mangels einer Forderung sicher keine Hypothek für S entstanden. Wohl aber hätte E nach §§ 1163 I 1, 1177 I eine Eigentümergrundschuld erworben haben können. Die aus dem ersten Rang verdrängten Bauhandwerker machten dagegen geltend, die Erklärung des E (als Teil der Einigung E–S) sei nach § 117 I nichtig. Der BGH ist dem nicht gefolgt: Der von E beabsichtigte Erfolg sei die Freihaltung der ersten Rangstelle gewesen. Das habe sich nur durch die Begründung einer wirksamen Eigentümer- grundschuld erreichen lassen. Daher sei die Erklärung des E insoweit ernst gemeint ge- wesen und nicht nach § 117 I nichtig.11 Ein Scheingeschäft läge dagegen vor, wenn E 8 Dazu Leenen AcP 188 (1988), 381; Neuner BGB AT § 38; Petersen JURA 2009, 419. 9 Seit RGZ 104, 265 (268); aA Flume Rechtsgeschäft § 34, 5; Leenen/Häublein BGB AT § 17 Rn. 28ff.: keine Rechtspflicht verletzt. 10 Dazu BGH NJW-RR 2017, 114. 11 Zur unrichtigen Beurkundung der Kaufpreiszahlung BGH NJW 2011, 2785. 56 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 6 Willensmängel die Bauhandwerker durch den Schein einer hohen Vorbelastung von der Durchsetzung ihres Anspruchs auf Sicherungshypotheken überhaupt abbringen wollte. Davon kann aber keine Rede sein: E hatte diese Hypotheken ja gerade bewilligt. Daraus ergibt sich nach hM folgende Abgrenzung: § 117 I greift nur dann ein, wenn die Beteiligten ihr Ziel durch den bloßen Schein eines wirksamen Rechtsgeschäfts erreichen wollen. Dagegen liegt ein fiduziarisches Rechtsgeschäft vor, wenn die Betei- ligten die Wirksamkeit des nicht in allen Konsequenzen gewollten Geschäfts (und nicht nur den Glauben Dritter an das Geschäft) für ihr Ziel benötigen und daher in ih- ren Willen aufnehmen. Hier ist § 117 I unanwendbar; freilich können andere Nichtig- keitsnormen (etwa §§ 134, 138) eingreifen.12 Ist mit dem Scheingeschäft – etwa durch Unterverbriefung – neben der Kostenersparnis auch eine Steuerhinterziehung (§ 370 AO) beabsichtigt, so gilt § 134 nach stRspr für das verdeckte Geschäft nur dann, wenn die Steuerhinterziehung den Hauptzweck des Vertrags bildet.13 2. Strohmanngeschäfte Einen Sonderfall der fiduziarischen Geschäfte bilden die Strohmanngeschäfte: Eine 127 oder mehrere Personen werden nur formal eingeschaltet, weil der wirtschaftlich an dem Geschäft Interessierte den Erfolg nicht oder nicht allein erreichen kann. Auch hier wird bisweilen die Abgrenzung zu § 117 I fraglich.14 Wirksam ist der Vertrag mit dem Strohmann dagegen, wenn dieser selbst die Rechte 128 und Pflichten aus dem Vertrag haben und die Geschäftsfolgen nur im Innenverhältnis auf seinen Hintermann abwälzen soll.15 3. Mindestanforderungen an die Willensgrundlage Aber auch bei Nichtvorliegen der Nichtigkeitsgründe nach §§ 116 S. 2–118 kann ein 129 Willensmangel nicht bloß Anfechtbarkeit begründen.16 Vielmehr müssen, damit Nich- tigkeit vermieden bleibt, einige weitere Mindestvoraussetzungen hinsichtlich der Wil- lensgrundlage erfüllt sein.17 Doch ist an diesen gesetzlich ungeregelten Nichtigkeits- gründen manches streitig. Man wird sagen dürfen: a) Handlungswille Die Erklärungshandlung muss überhaupt auf einem Willen des Erklärenden beruhen (Handlungswille). Fehlt es daran (zB Bewegungen im Schlaf), so liegt nur der rechts- unwirksame Schein einer Erklärung vor. Meist greift in solchen Fällen zudem § 105 II ein.18 12 Zu den genannten Nichtigkeitsgründen Canaris, Gesetzliches Verbot und Rechtsgeschäft, 1983; J. Hager, Gesetzes- und sittenkonforme Auslegung und Aufrechterhaltung von Rechtsgeschäften, 1983. 13 Etwa BGH NJW-RR 2006, 283. Vgl. auch Petersen JURA 2003, 532 (533). 14 Vgl. OLG Karlsruhe NJW 1971, 619. 15 BGH NJW 1982, 569f. 16 Zum Folgenden Singer JZ 1989, 1030; Neuner JuS 2007, 881; Musielak AcP 211 (2011), 769; Petersen JURA 2006, 178; 426; Mankowski AcP 211 (2011), 153. 17 Gegen das Erfordernis subjektiver Tatbestandsmerkmale Leenen FS Canaris, Bd. I, 2007, 699 (714); JuS 2008, 577 (579); Neuner BGB AT § 32 Rn. 11–25, verlangt den von ihm sog. „Kommunikations- und Partizipationswillen“. 18 Zur Darlegungslast BGH NJW 2022, 3147. 57 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag Unnötig ist der Handlungswille aber, wo das Gesetz die Rechtsfolgen einer Willenserklärung an das Schweigen knüpft: Bei § 362 HGB wird auch der schlafende Kaufmann Vertragspartner. b) Erklärungswille und Erklärungsbewusstsein 130 Der die Erklärungshandlung tragende Wille muss auch darauf gerichtet sein, mit der Erklärung Rechtsfolgen herbeizuführen, also das Geschäft dem Recht zu unterstellen (Rechtsbindungs- oder Rechtsfolgewille). Daran fehlt es bei Erklärungen bloß auf der gesellschaftlichen Ebene (Gefälligkeiten, ® Rn. 365ff.). Weiter gehören hierhin das gentlemen’s agreement und Fälle der unzumutbaren Bindung sowie des Fehlens des Erklärungsbewusstseins. Speziell die Rechtsfolgen aus dem Fehlen eines solchen Erklärungsbewusstseins sind streitig: Viele haben in Analogie zu § 118 Nichtigkeit angenommen.19 Demgegenüber wird die Tragfähigkeit dieser Analogie jetzt immer häufiger geleugnet: Die Erklärung ohne Erklärungsbewusstsein soll regelmäßig20 oder doch jedenfalls dann unter § 119 I fallen, wenn der Handelnde ihre rechtliche Bedeutung hätte erkennen können.21 Zu diesem Streit BGHZ 91, 324: Der Gläubiger G hatte von seinem Schuldner S eine Bankbürgschaft verlangt. Wenig später schrieb die Sparkasse D an G, sie habe für S eine Bürgschaft übernommen. G erklärte die An- nahme. Dann schrieb D an G, eine Bürgschaftsübernahme sei nicht beabsichtigt gewesen; das entspre- chende Schreiben beruhe auf einem Irrtum. G nimmt D aus der Bürgschaft in Anspruch. Der BGH hat hier die eben an letzter Stelle genannte Ansicht angewendet: Die Erklä- rung sei der D als Bürgschaftserklärung zuzurechnen, da D hätte erkennen können, dass G die Erklärung so verstehen werde.22 Zwar könne D das Fehlen des Erklärungs- willens nach § 119 I geltend machen; hier sei jedoch die Anfechtung nicht unverzüglich (§ 121 I) erfolgt. Daher ist D verurteilt worden. Ein späteres Urteil23 hat die Ansicht der Ausgangsentscheidung auf schlüssiges Verhalten ohne Erklärungsbewusstsein er- weitert (die irrige Ansicht, es bestehe eine Bürgschaft, war wie eine Bürgschaftsüber- nahme formuliert worden). Doch soll ein Verhalten ohne Erklärungsbewusstsein die Position des „Erklärenden“ nicht verbessern können.24 Der vom BGH vorausgesetzten Ablehnung der Analogie zu § 118 ist zuzustimmen. Denn bei der nicht ernstlich gemeinten Willenserklärung hat der Erklärende die Nicht- geltung gewollt und soll daher auch nicht die Möglichkeit haben, das Geschäft durch Unterlassen der Anfechtung gelten zu lassen. Dagegen hat sich der Erklärende ohne Erklärungswillen über das Geschäft zunächst keine Meinung gebildet: Er mag deshalb wie der Irrende noch nachträglich über die Geltung entscheiden dürfen.25 Eine beschränkte Ähnlichkeit hiermit hat auch der Fall des Boten ohne Botenmacht (® Rn. 80): Über dessen Erklärung kann der angebliche Absender ja gleichfalls noch entscheiden, obwohl er die Erklä- 19 Etwa Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, 1995. 20 Flume Rechtsgeschäft §§ 20, 3; 23, 1; Leenen/Häublein BGB AT § 6 Rn. 134. 21 Bydlinski JZ 1975, 1, ähnlich Gudian AcP 169 (1969), 232. 22 Anders Canaris NJW 1984, 2281: Die Erklärung, eine Bürgschaft übernommen zu haben, bedeute nicht ohne Weiteres, sie jetzt übernehmen zu wollen. 23 BGHZ 109, 171 (177). 24 BGH NJW 1995, 953. S. dazu auch Habersack JuS 1996, 585; zu Rechtsgeschäften im Internet Oechsler JURA 2012, 422; 2012, 497; 2012, 581. 25 BGHZ 215, 126 Rn. 18, zum Erfordernis eines „besonderen“ Erklärungsbewusstseins bei spezial ge- setzlich bestimmten „ausdrücklichen“ (Verzichts-)Erklärungen (zu § 7 I VVG); abl. Pohlmann NJW 2017, 3341 (3342); Neuner BGB AT § 32 Rn. 42 Fn. 68. 58 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 6 Willensmängel rung in keiner Weise veranlasst zu haben braucht. Freilich wird hier nicht entschieden durch unverzüg- liche Anfechtung, sondern entsprechend § 177 durch nachträgliche Genehmigung.26 Fraglich ist allerdings, ob man entgegen dem BGH Nichtigkeit statt Anfechtbarkeit wenigstens dann annehmen soll, wenn der Erklärende die Bedeutung seiner Erklärung hätte erkennen können: Nur der Schuldlose sollte das Geschäft gelten lassen dürfen. c) Geschäftswille? Neben Handlungs- und Erklärungswillen wird als Erfordernis für die zunächst wirk- 131 same Willenserklärung bisweilen noch der Geschäftswille genannt. Er könnte aber vom Erklärungswillen nur dann unterschieden werden, wenn man ihn auf ein be- stimmtes Geschäft gerichtet sein lässt (zB Unterschrift unter eine andere Urkunde statt unter einen Wechsel).27 Dass dieser Wille nicht mit der Erklärung übereinstimmt, ge- hört sicher zu § 119 I und bewirkt daher keine Nichtigkeit. III. Irrtumsfälle nach § 119 I BGB 1. Die gesetzliche Regelung Der Inhalt jeder Erklärung muss zunächst durch Auslegung bestimmt werden 132 (® Rn. 123). § 119 I betrifft nur die Inkongruenz zwischen dem so ermittelten Erklä- rungsinhalt und dem Willen des Erklärenden. Dagegen betrifft § 119 I nicht die (viel häufigeren) Fälle, in denen der Wille zwar die Erklärung deckt, aber auf fehlerhafter Grundlage gebildet worden ist (meist Motivirrtum genannt). § 119 I betrifft also nur die Fehlerhaftigkeit der Willensäußerung (und § 120 der Willensübermittlung), aber nicht der Willensbildung. Gegenüber diesem Unterschied hat die Unterscheidung zwischen den (ohnehin inein- ander übergehenden) Fällen des § 119 I nur zweitrangige Bedeutung: Beim Erklä- rungsirrtum setzt der Erklärende ein anderes Erklärungszeichen, als er gewollt hat (Versprechen, Verschreiben; § 119 I Fall 2). Beim Inhaltsirrtum dagegen wird zwar das gewollte Erklärungszeichen gesetzt, doch bedeutet dieses etwas anderes, als der Erklärende gemeint hat, § 119 I Fall 1 (auch Bedeutungsirrtum genannt). Die bloße Unkenntnis oder das fehlende Verständnis über den Inhalt der Erklärung genügt hin- gegen nicht.28 Nach der Rechtsprechung liegt ein Erklärungsirrtum auch dann vor, wenn das richtig in einen Computer Eingegebene durch eine fehlerhafte Software verändert wird (zB Preis für ein Notebook 245 EUR statt richtig 2.450 EUR).29 Das entspricht wertungs- mäßig § 120 („Einrichtung“). 2. Weitere Fallgruppen Die nur durch § 119 II gemilderte Unbeachtlichkeit des Motivirrtums nach dem BGB 133 wird oft für unbefriedigend gehalten. Daher hat schon das RG den § 119 I auf (im Ein- zelnen nicht klar abgegrenzte) Irrtumsgruppen erweitert: 26 Vgl. Canaris NJW 1974, 521 (528 Fn. 44). 27 BGH NJW 1968, 2102f. 28 BGH NJW 2023, 846 Rn. 14. 29 BGH NJW 2005, 976f. Dazu Spindler JZ 2005, 793. 59 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag a) Rechtsfolgeirrtum BGHZ 168, 210: E hat eine ihm angefallene Erbschaft durch Verstreichenlassen der Ausschlagungsfrist (§ 1944) angenommen (§ 1943). Er ficht diese Annahme wegen Irrtums mit folgender Begründung an: Die Erbschaft sei so stark mit Vermächtnissen belastet, dass ihm als Erbe weniger bleibe als der Wert sei- nes Pflichtteils (§ 2303). Er habe nämlich geglaubt, die Erbschaft annehmen zu müssen, weil er sonst sein Pflichtteilsrecht verliere. Die entgegenstehende Regel des § 2306 I habe er nicht gekannt. Der Streit geht darum, ob das ein unbeachtlicher Motivirrtum oder ein nach § 119 I Fall 1 erheblicher Inhaltsirrtum ist.30 Der BGH lässt entscheidend sein, ob das vorgenommene Rechtsgeschäft wesentlich andere als die beabsichtigten Wirkungen erzeugt; nur dann liege ein beachtlicher Irr- tum vor. Nach Ansicht des BGH berechtigt ein Irrtum des eine Erbschaft Ausschla- genden über die an seine Stelle in der Erbfolge tretende Person nicht zur Anfechtung der Ausschlagung: Unmittelbare Rechtsfolge der Ausschlagung sei nach § 1953 näm- lich nur, dass der Anfall der Erbschaft als nicht erfolgt gelte und dem Nächstberufenen zufalle.31 Unerheblich sei dagegen der nicht erkannte Eintritt zusätzlicher oder mittel- barer Rechtswirkungen, die zu den gewollten und eingetretenen Folgen hinzuträten.32 Ein Teil der Rechtsprechung hatte wiederholt angenommen, die Erbschaftsannahme verfolge unmittelbar nur das Ziel, die Stellung als Erbe einzunehmen;33 der Verlust des Wahlrechtes aus § 2306 I sei bloß eine mittelbare Folge. Dagegen hatte das OLG Düs- seldorf umgekehrt gemeint, der Wegfall des Pflichtteilsanspruchs sei eine (ungewollte) Hauptfolge der Annahme.34 Dieser Ansicht hat sich der BGH angeschlossen: Die Er- klärung der Erbschaftsannahme und der Verlust des Rechtes aus § 2306 I seien gleich- rangige Erklärungsfolgen: Beide seien „zwei Seiten derselben Medaille“. Daran ist richtig, dass man wegen der Unkenntnis zusätzlicher Nebenfolgen nicht an- fechten kann. So darf etwa der Verkäufer nicht geltend machen, er habe seine strenge Gewährleistungshaftung nach den §§ 437ff. nicht gekannt: Diese Haftung gilt von Ge- setzes wegen und ohne Rücksicht auf den nicht erklärten Willen des Verkäufers. Da- gegen liegt es in dem vom BGH entschiedenen Fall anders: Dort ist dem Erben durch § 2306 I die Wahl zwischen dem Pflichtteil und dem (belastenden) Erbteil eröffnet. Die Annahme der Erbschaft (gleich ob durch Erklärung oder bloßes Verstreichenlassen der Ausschlagungsfrist, vgl. § 1956) bedeutet also zugleich den Verzicht auf den Pflichtteil. Beides ist nach dem Gesetz gleichrangig. Damit bildet der ungewollt miterklärte Ver- zicht keine zusätzliche Nebenwirkung, sondern er gehört zum Inhalt der Erklärung. Wenn dieser Teil nicht gewollt war, handelt es sich also um einen Inhaltsirrtum. Noch deutlicher wird das, wenn die weitere Rechtsfolge in die Erklärung selbst auf- genommen worden ist: Dann wird, wenn der andere Partner zugestimmt hat und die Rechtsfolge möglich ist, diese selbst Vertragsinhalt. Sonst ist die Erklärung wegen in- neren Widerspruchs (Perplexität) unwirksam, wenn sich der Widerspruch nicht durch Auslegung beheben lässt. RGZ 88, 278: Auf dem Grundstück des E sind drei Hypotheken eingetragen. Die erstrangige ist zur Eigentümergrundschuld geworden. E beantragt beim Grundbuchamt, diese Eigentümergrundschuld zu löschen und stattdessen die dritte Hypothek im ersten Rang einzutragen. Das ist rechtlich unmöglich: 30 Näher Musielak JZ 2014, 64. 31 BGH NJW 2023, 1725. 32 Ebenso BGHZ 177, 62. Zu § 2306 de Leve ZEV 2010, 184 und ® Rn. 148. 33 BayObLG NJW-RR 1995, 904; FamRZ 1999, 117. 34 OLG Düsseldorf FamRZ 2001, 946. 60 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 6 Willensmängel Bei wirksamer Löschung der Eigentümergrundschuld rückt die zweite Hypothek kraft Gesetzes nach (Prinzip des gleitenden Ranges).35 Das RG hat hier angenommen, E habe mit dem Löschungsantrag konkludent auch die Aufgabe seiner Eigentümergrundschuld nach § 875 I erklärt. Das habe er nicht tun wollen, daher gelte § 119 I. Die Erklärung des E enthält indes zwei miteinander unver- einbare Rechtsfolgen (Aufhebung der Eigentümergrundschuld; Nichtnachrücken der zweiten Hypothek). Die Erklärung ist daher ohne Anfechtung wirkungslos; ebenso die Löschung im Grundbuch, weil die nach § 875 I nötige wirksame Aufgabeerklärung des Berechtigten fehlt.36 b) Kalkulationsirrtum (1) Bei einem Bauvertrag errechnet der Unternehmer U die für sein Angebot maßgeblichen Kosten 134 richtig. Er verschreibt sich jedoch beim Angebot und bietet für 120.000 EUR anstatt für 210.000 EUR an. (2) Die Kalkulation des U ist rechnerisch richtig; auch entspricht sein Angebot dem Rechnungsergeb- nis. Aber die Kalkulationsgrundlage ist falsch (zB U hat Fließsand an der Baustelle nicht berücksich- tigt, der eine besonders aufwendige Fundamentierung erfordert). (3) U hat zwar die richtige Kalkulationsgrundlage, er verrechnet sich aber und bietet aufgrund des Re- chenfehlers zu niedrig an. Hier liegt bei (1) ein nach § 119 I beachtlicher Erklärungsirrtum vor. Das RG hat aber auch bei (2) und (3) einen nach § 119 I beachtlichen Irrtum (Kalkulationsirrtum) an- genommen, wenn die Kalkulation zum Gegenstand der Vertragsverhandlungen ge- macht und das geforderte Entgelt als Ergebnis der Kalkulation dargestellt worden war (sog. offener Kalkulationsirrtum).37 Das ist von der Rechtsprechung mit Recht nicht mehr übernommen worden38 und wird auch sonst überwiegend abgelehnt. Denn beim Kalkulationsirrtum decken sich Wille und Erklärung, nur ist der Wille fehlerhaft gebil- det worden. Daher liegt bloß ein Motivirrtum vor. In Betracht kommt freilich eine Pflicht des Erklärungsgegners aus § 241 II, den Erklärenden auf den vor dem Vertrags- abschluss erkannten Kalkulationsirrtum hinzuweisen (mögliche Verletzungsfolge: ein Schadensersatzanspruch aus c. i. c.).39 Der Empfänger ist aber zu einer Überprüfung des Angebots nicht verpflichtet;40 regelmäßig darf auch der Anbietende den Irrtum nicht selbst bemerken können.41 Auch im Ergebnis war die Argumentation des RG be- denklich: Soll etwa bei einem Rechenfehler die Hilfe für U wirklich davon abhängen, ob er die Kalkulation zum Gegenstand der Vertragsverhandlungen gemacht hat? Viel- mehr wird zu unterscheiden sein: Bei (2) kann § 119 II vorliegen (Irrtum über eine wesentliche Eigenschaft des zu errich- tenden Werkes). Es kann auch ein Anspruch aus culpa in contrahendo (§§ 280 I, 311 II) gegen den Besteller in Betracht kommen, wenn dieser schuldhaft falsche Angaben über den Bauplatz gemacht hat. Notfalls ist endlich an das Fehlen der Geschäftsgrundlage zu denken (® Rn. 152ff.). 35 Näher K. Schreiber, Der Rang im Grundbuch, JURA 2006, 502. 36 Flume Rechtsgeschäft § 23, 4d. 37 Etwa RGZ 64, 266. Vgl. auch Petersen JURA 2011, 430. 38 BGHZ 139, 177. 39 BGH NJW 2015, 1513. 40 BGHZ 139, 177 (184ff.). S. auch Singer JZ 1999, 342. 41 BGHZ 168, 35. 61 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag Bei (3) ist die Erklärung schon ohne Anfechtung wegen Perplexität nichtig, wenn die falsche Rechnung miterklärt worden ist (zB „Ich muss 100 cbm Erdreich bewegen. Je- der cbm kostet 100 EUR. Daher biete ich für 1.000 EUR an.“). In einem derart krassen Fall kommt sogar eine Auslegung in Richtung auf das richtige Rechenergebnis in Be- tracht.42 Andernfalls lässt sich wieder nur mit der Lehre vom Fehlen der Geschäfts- grundlage helfen (was im Gegensatz zur Anwendung von § 119 I bedeutet, dass der Rechenfehler bloß bei Unzumutbarkeit beachtlich ist, ® Rn. 166). IV. Irrtumsfälle nach § 119 II BGB 135 Bei § 119 II decken sich Wille und Erklärung. Bei der Willensbildung ist aber insofern ein Fehler unterlaufen, als ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft einer Person oder Sache vorliegt. Daher weicht das wirtschaftliche Ergebnis der Erklärung vom Gewollten ab. 1. Einzelheiten Im Einzelnen ist zu § 119 II zu beachten: 136 a) „Sache“ in § 119 II ist nicht in dem engen Sinne von § 90 zu verstehen. Vielmehr ist die Vorschrift unstreitig zu erweitern auf Rechte (zB Grundschuld, Forderung) und auf Gesamtheiten von Sachen, Rechten und Schulden (zB Erbschaft).43 137 b) § 119 II spricht von „Eigenschaften der Person oder der Sache“. Gemeint sind da- mit nur die Personen oder Gegenstände, auf die sich die Willenserklärung bezieht. Bei den Personen ist das stets der Geschäftsgegner, ausnahmsweise aber auch ein Dritter: der Leistungsempfänger beim Vertrag zugunsten Dritter, der Bürge beim Haupt- geschäft. So kann etwa der Gläubiger seine Kreditzusage an den Schuldner wegen eines Irrtums über die Solvenz des Bürgen anfechten. Und bei den Sachen beschränkt § 119 II sich auf den Geschäftsgegenstand. Beispiel: K kauft bei V ein Fertighaus, um es auf einem bestimmten Grundstück aufzustellen. Jedoch verweigert die Baubehörde die dazu nötige Genehmigung, weil das Haus nicht die in dieser Gegend vorgeschriebene Dachform habe. Eine Anfechtung des Kaufes durch K nach § 119 II kommt hier nur in Betracht, wenn K sich über die Dachform des gekauften Hauses geirrt hat, dagegen nicht bei einem Irrtum über die für das Grundstück geltenden Bauvor- schriften. 138 c) Der Irrtum muss eine Eigenschaft der Person oder Sache betreffen. aa) Zu diesem Merkmal „Eigenschaft“ gibt es eine verzweigte und im Einzelnen oft unklare Rechtsprechung. Sie zählt zu den Eigenschaften außer den körperlichen Eigenarten auch solche tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse des Vertragsgegen- standes, die vermöge ihrer Dauer wesentlichen Einfluss auf die Wertschätzung des Gegenstandes auszuüben pflegen. Unerheblich bleiben sollen dagegen die nur mittel- bar die Bewertung beeinflussenden Umstände, ebenso der Wert selbst. Kurz: Nach § 119 II erheblich sind nur diejenigen dauerhaften Faktoren, die den Wert unmittelbar wesentlich zu bestimmen pflegen. 42 Dazu ® Rn. 154; anders der Fall von BGHZ 168, 35. 43 RGZ 149, 235. 62 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 6 Willensmängel RGZ 149, 235 etwa sieht beim Kauf einer Hypothek (genauer: der hypothekengesicherten Forderung) oder Grundschuld die Ertragsfähigkeit des belasteten Grundstücks nicht als Eigenschaft des gekauften Rechtes an. (Die Ertragsfähigkeit ist unmittelbar eine Eigenschaft des Grundstücks selbst; für das Recht an dem Grundstück ist sie nur eine mittelbare Eigenschaft.) Das RG hat dann freilich entsprechend sei- nen Regeln über den Kalkulationsirrtum die Anfechtung nach § 119 I zugelassen, weil die Ertragsfähig- keit zum Gegenstand der Vertragsverhandlungen gemacht worden war. bb) Diese Rechtsprechung muss aber schon deshalb auf Zweifel stoßen, weil das Be- 139 griffspaar unmittelbar – mittelbar fast immer unscharf und mehrdeutig ist. So kann man die Dinge vorliegend auch anders sehen: Das Pfandrecht ist hier ein Sicherungs- mittel; wie viel Sicherheit es gibt, hängt unter anderem von der Ertragsfähigkeit des be- lasteten Grundstücks ab. Von der für den Käufer wesentlichen Sicherheit her gesehen betrifft sein Irrtum also eine Eigenschaft des Pfandrechts selbst. Daher wird im Schrifttum eine andere Abgrenzung vorgeschlagen: Ein Eigenschafts- irrtum sei dann beachtlich, wenn sich das Rechtsgeschäft „auf die Sache oder Person als eine solche mit der bestimmten Eigenschaft bezieht“.44 Diese Beziehung könne sich entweder aus den Erklärungen der Parteien oder aus dem Geschäftstyp ergeben. Der nach § 119 II beachtliche Irrtum erscheint so als „Irrtum über die Sollbeschaffenheit“. Danach könnte also im Ausgangsfall § 119 II eingreifen: Die Frage ist nur, welches Maß an Sicherheit nach dem Kauf vorausgesetzt war. Das wird sich oft aus der Höhe des Kaufpreises schließen lassen. Als Indiz kann auch dienen, dass die Ertragsfähigkeit Verhandlungsgegenstand war. cc) Im Ganzen ist die letztgenannte Ansicht vorzugswürdig. Denn sie trägt am besten 140 dem Gedanken der Privatautonomie Rechnung: Die Parteien selbst können bestim- men, auf was es ihnen ankommt. Andererseits müssen sie das aber auch wirklich tun, soweit ihnen nicht das dispositive Gesetzesrecht diese Aufgabe abnimmt. Damit wird vermieden, dass bloße Motive über § 119 II Erheblichkeit gewinnen, die nicht Ge- schäftsinhalt geworden sind. d) Daraus folgt für das letzte Tatbestandsmerkmal des § 119 II, nämlich für die Ver- 141 kehrswesentlichkeit der Eigenschaft: Sie reduziert sich auf die Geschäftswesentlich- keit. Das leuchtet ein: Der Verkehr beurteilt eben die Wesentlichkeit einer Eigenschaft nur in Bezug auf ein bestimmtes Geschäft. So sind etwa Vorstrafen wegen Urkunden- fälschung für eine Anstellung als Buchhalter wesentlich, für eine Anstellung als Hilfs- arbeiter dagegen unwesentlich. 2. Ausschluss von § 119 II BGB § 119 II wird verhältnismäßig oft durch gesetzliche Sonderregelungen ausgeschlossen. 142 So gehen beim Kauf und ähnlichen Verträgen die §§ 434ff. nach Gefahrübergang nicht zuletzt wegen der Haftungssperre des § 442 I 2 und der unterschiedlichen Ver- jährung nach hM vor. Insbesondere die Gelegenheit zur Nacherfüllung soll dem Ver- käufer nicht durch die Anfechtung genommen werden.45 Allerdings wird der Aus- schluss des § 119 II zunehmend bezweifelt.46 Der Verkäufer kann jedenfalls anfechten, es sei denn, dass er sich dadurch der Gewährleistung entzieht.47 44 Flume Rechtsgeschäft § 24, 2b–d, S. 477; anders die wohl hM; etwa Bork BGB AT Rn. 861ff. 45 Danach diff. Schur AcP 204 (2004), 883 (897). 46 P. Huber, Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung, 2001; FS Hadding, 2004, 105 (108). 47 BGH NJW 1988, 2597 (2598). 63 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag 143 Vor Gefahrübergang gelten weder die Gewährleistungsvorschriften (insbesondere kein „Recht zur zweiten Andienung“) noch die kurze Verjährung des § 438. Eine Kol- lision scheint daher ausgeschlossen.48 Dann aber könnte sich der Käufer auch bei grob fahrlässiger Unkenntnis des Mangels vom Vertrag lösen, während ihm nach § 442 I 2 Gewährleistungsrechte nur ausnahmsweise zustünden.49 Nicht wenige sprechen sich daher für einen Ausschluss des § 119 II bereits vor Übergabe aus.50 Zumindest kann aber § 442 zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen analog angewendet werden.51 V. Irrtumsfolgen 144 Die unverzügliche (§ 121) Anfechtung vernichtet den Vertrag rückwirkend, § 142 I.52 Nach der heute ganz hM53 soll der Irrende sich aber an dem festhalten lassen müssen, was er wirklich gewollt hat.54 Beispiel: K verschreibt sich und macht V einen Kaufantrag zu 110, während er nur 100 bieten wollte (Erklärungsirrtum). Wenn V den Kauf zu 100 gelten lassen will, ist K nach der genann- ten Ansicht hieran gebunden. Das ist richtig: Der Irrende soll nach § 119 nur von den Folgen seines Irrtums befreit, aber nicht noch freier gestellt werden. Auch bei falsa demonstratio, also wenn V den K richtig verstanden hätte, wäre K ja an das Gewollte gebunden. 145 Die Anfechtung führt zur Schadensersatzpflicht nach § 122.55 Das ist kein „echter“ Fall der c. i. c., weil § 122 eine Veranlassungshaftung begründet, die kein Verschulden des Irrenden voraussetzt. Auch der Anspruchsausschluss nach § 122 II weicht von dem sonst geltenden § 254 ab. Raum bleibt neben § 122 II für § 254 jedoch, wo es um den Umfang und nicht um den Grund des An- spruchs geht: etwa soweit der Anfechtungsgegner die Höhe seines Vertrauensschadens selbst verschul- det hat (zB durch Unterlassen eines rechtzeitigen Deckungsgeschäfts). Übrigens meint auch das den Anspruch ausschließende „Kennenmüssen“ in § 122 II nur die Evidenzfälle, ® Rn. 116. Der Irrende haftet, weil er durch seine Erklärung das Vertrauen des anderen Teils ver- anlasst hat. Nun kann aber dieser andere Teil zunächst seinerseits den Irrtum des An- fechtenden veranlasst haben. Das soll auch bei Schuldlosigkeit des anderen Teils ent- sprechend § 254 zu berücksichtigen sein, weil der Anfechtende gleichfalls schon bei schuldloser Veranlassung hafte.56 Doch ist das zweifelhaft: Der in § 122 geregelten Ver- anlassung gerade durch eine Willenserklärung kann nicht einfach jede andere, vielleicht weniger vertrauenswürdige Veranlassung gleichgestellt werden. 48 BGHZ 34, 32 (34); Brox/Walker SchuldR BT § 4 Rn. 134. 49 Zu § 442 Bergmann JURA 2018, 107 (110ff.). 50 Flume Rechtsgeschäft § 24, 3a, S. 485; Medicus/Petersen BGB AT Rn. 775; Reinicke/Tiedtke KaufR Rn. 799; diff. MüKoBGB/H. P. Westermann § 437 Rn. 54: nur bei behebbaren Mängeln. 51 Looschelders SchuldR BT § 8 Rn. 4. Zu § 442 auch BGHZ 193, 326; BGH NJW 2011, 2953 sowie ® Rn. 45. 52 Leenen JURA 1991, 393; Petersen Liber Amicorum Leenen, 2012, 219; konstruktiv anders BGH NJW 2017, 1660 Rn. 24; Brox/Walker BGB AT § 18 Rn. 37. S. auch Holler/Hinzpeter-Schmidt JuS 2021, 301 (302). 53 Vgl. Flume Rechtsgeschäft § 21, 6; Bork BGB AT Rn. 954f. 54 Dazu Lobinger, Irrtumsanfechtung und Reurechtsausschluss, AcP 195 (1995), 274. 55 Dazu J. Prütting/Fischer JURA 2016, 511. 56 So BGH NJW 1969, 1380. 64 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 6 Willensmängel VI. Sonderregelungen des Irrtums Solche Sonderregelungen finden sich außer etwa als Grund für die Aufhebung einer 146 Ehe (§ 1314 II Nr. 2) vor allem im Erbrecht.57 Die wichtigsten Sonderregeln, die nicht nur die Form der Anfechtung betreffen, sind die folgenden: 1. §§ 2078ff., 2281ff. BGB Im Erbrecht sind Verkehrs- und Vertrauensschutz wegen der Unentgeltlichkeit eines Erwerbs weniger dringlich als bei Rechtsgeschäften unter Lebenden. Zudem sind Tes- tamente regelmäßig frei widerruflich (§ 2253); insoweit ist ein Anfechtungsrecht für den Erblasser unnötig. Endlich leiden unter einem Irrtum des Erblassers meist Dritte, nämlich die Personen, die ohne den Irrtum bedacht worden wären. Daher bedarf es für Verfügungen von Todes wegen weithin einer Sonderregelung. Dabei betreffen die §§ 2078ff. die Anfechtung durch eine Person, die durch den Irrtum des Erblassers be- nachteiligt worden ist,58 und die §§ 2281ff. die Anfechtung durch den Erblasser selbst. Diese ist nur sinnvoll, wo der Erblasser nicht frei widerrufen kann, also in erster Linie beim Erbvertrag. Doch sind die §§ 2281ff. trotz ihrer Einordnung in das Recht des Erbvertrages auch beim gemeinschaftlichen Testament (§ 2265) anzuwenden, soweit dieses nach § 2271 bindend geworden ist. Beispiel: Die Eheleute M und F haben sich in einem gemeinschaftlichen Testament gegenseitig zu Erben und das gemeinsame Kind K zum Erben des Letztversterbenden (also zum Schluss- erben) eingesetzt, vgl. § 2269 I. M stirbt. Wenn F jetzt nicht die Erbschaft nach M ausschlägt, ist sie an die Einsetzung des K gebunden, § 2271 II. Sie kann aber nach §§ 2281 I, 2079, 2303 II ihre Verfügung (also die Erbeinsetzung von K) anfechten, wenn sie erneut heiratet. Dann wird freilich nach § 2270 auch die Verfügung des M hinfällig: F ist jetzt nicht mehr Alleinerbin des M, sondern dieser wird kraft Gesetzes beerbt. Im Einzelnen ist die erbrechtliche Irrtumsregelung vielfach großzügiger als diejenige durch §§ 119ff.: Auch jeder Motivirrtum ist beachtlich. Erheblich sind sogar unbewusste Erwartungen, also bloßes Nichtbedenken eines Umstandes, vgl. § 2079. Die „verständige Würdigung des Falles“ (§ 119 I) spielt keine Rolle: Von Todes wegen darf man unverstän- dig sein. Die Anfechtungsfristen sind nach §§ 2082, 2283 (vgl. aber § 228559) günstiger als nach § 121 I („unverzüglich“).60 Die Schadensersatzpflicht nach § 122 gilt nicht, § 2078 III, nicht einmal beim Erbvertrag oder beim gemeinschaftlichen Testament. 2. § 1949 BGB § 1949 I lässt bei der Annahme der Erbschaft den bloßen Motivirrtum über den Beru- 147 fungsgrund zur Nichtigkeit führen.61 Man braucht die Regelung nicht bei einer An- nahme durch bloßes Verstreichenlassen der Ausschlagungsfrist, § 1943. Denn diese Frist beginnt nach § 1944 II erst mit der Kenntnis des wahren Berufungsgrundes. Gleichfalls Nichtigkeit bewirkt § 1949 II für die Ausschlagung, da diese sich im Zwei- fel nur auf die dem Erben bekannten Berufungsgründe erstreckt. § 1949 beruht jedoch auf einer unbedachten Übernahme gemeinen Rechts (wo Irrtum noch zur Nichtigkeit 57 Dazu Petersen JURA 2005, 597; 2006, 660 (662). 58 Dazu Röthel JURA 2017, 1183 (1186); Olzen/Looschelders ErbR Rn. 672ff. 59 Aus der Rechtsprechung BGH NJW 2016, 2566; dazu Röthel JURA 2016, 1452. 60 Zur Beweislast S. Arnold AcP 209 (2009), 285. 61 Zur Annahme und Ausschlagung der Erbschaft Röthel JURA 2017, 545. 65 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag führte). Man sollte die verfehlte Vorschrift dadurch einschränken, dass man sie nicht anwendet, wenn der Berufungsgrund dem Erben gleichgültig ist: Dann fehlt die Kau- salität des Irrtums für die Ausschlagung. 3. §§ 1954, 2308 BGB 148 § 1954 enthält keine Sonderregelung hinsichtlich des Anfechtungsgrundes, sondern nur hinsichtlich der Fristen: Diese sind den Ausschlagungsfristen in § 1944 I, III an- gepasst. Ein wichtiger Fall von § 1954 ist die Anfechtung der Annahme (auch bei blo- ßer Versäumung der Ausschlagungsfrist, § 1956; entsprechend auch bei Annahme durch schlüssiges Verhalten, sog. pro herede gestio) wegen Irrtums über die Über- schuldung des Nachlasses. Ein solcher Irrtum wird von der Rechtsprechung seit jeher als nach § 119 II beachtlich angesehen.62 Nicht dagegen genügt für § 119 II der Irrtum über Beschränkungen oder Beschwerungen des Erben (vgl. § 2306); diese bilden keine Eigenschaft des Nachlasses. Hier hilft aber § 2308 dem Pflichtteilsberechtigten: Dieser soll die Ausschlagung der Erbschaft anfechten können, wenn sie auf der irrtümlichen Annahme einer solchen Beschränkung oder Beschwerung beruht. Beispiel: Der Witwer W hat sein einziges Kind K, das nach der gesetzlichen Erbfolge Allein- erbe wäre, zwar als Erbe eingesetzt, aber Testamentsvollstreckung angeordnet. K schlägt des- halb nach § 2306 I aus, um den Pflichtteil zu erhalten. Zur Zeit der Ausschlagung war aber, was K nicht wusste, der Testamentsvollstrecker gestorben; nach § 2225 war daher die Testaments- vollstreckung erloschen. K kann jetzt die Ausschlagung der Erbschaft nach § 2308 I anfechten: Er erhält dann die ihm zugewendete Erbschaft ohne Beschränkung, während er ohne die An- fechtung nur den Wert der Hälfte der Erbschaft erhielte, §§ 2306 I, 2303 I 2, 1924, 1930. VII. Probleme des § 123 BGB 149 Da die Arglistanfechtung dem Schutz der rechtsgeschäftlichen Entschließungsfreiheit in freier Selbstbestimmung dient, ist ein im Voraus vereinbarter Ausschluss des An- fechtungsrechts unwirksam, wenn der Geschäftspartner selbst oder ein sog. Nicht- Dritter täuscht.63 1. „Dritter“ bei § 123 BGB Eine durch Drohung veranlasste Willenserklärung kann unabhängig davon angefoch- ten werden, von wem diese Drohung stammt, § 123 I. Bei der arglistigen Täuschung gilt Gleiches nur für die nicht empfangsbedürftige Willenserklärung. Eine empfangs- bedürftige Willenserklärung dagegen kann wegen einer von einem Dritten verübten Täuschung nach § 123 II 1 nur dann angefochten werden, wenn der Erklärungsemp- fänger die Täuschung kannte oder kennen musste. Hieraus folgt die praktisch bedeut- same Frage, wer in diesem Sinne Dritter ist.64 Das zeigen die folgenden Beispiele: (1) BGHZ 33, 302: Verkäufer V und Käufer K vereinbaren einen von der Bank B zu finanzierenden Ratenzahlungskauf. Dabei stehen V und B für solche Finanzierungen in dauernder Geschäftsverbin- dung. Infolge einer arglistigen Täuschung durch V gibt K in dem an B gerichteten Darlehensantrag wahrheitswidrig an, V habe die gekaufte Ware bereits geliefert. B nimmt den Antrag an und zahlt das 62 RGZ 149, 235; 158, 50; BGHZ 106, 359. 63 BGH NJW 2007, 1058; 2012, 296 (298); krit. dazu Heyers JURA 2012, 539. 64 Dazu Röckrath FS Canaris, Bd. I, 2007, 1105; S. Arnold JuS 2013, 865 (868); Petersen Dritte im ZivilR § 1 Rn. 7ff. 66 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 6 Willensmängel Darlehen für Rechnung des K dem V aus. Dieser liefert nicht und wird insolvent. B verlangt von K Rückzahlung des Darlehens; K ficht demgegenüber den Darlehensvertrag wegen der arglistigen Täuschung durch V an. (2) BGH LM § 123 BGB Nr. 30: S erbittet von G ein Darlehen. Dieser verlangt jedoch die Beibringung eines Bürgen. S schwindelt dem D erhebliches Vermögen vor und veranlasst diesen so zur Über- nahme der Bürgschaft. Von G in Anspruch genommen, will D seine Bürgschaftserklärung wegen der arglistigen Täuschung durch S anfechten. In beiden Fällen hängt die Entscheidung davon ab, ob man den Täuschenden (V oder S) im Verhältnis zum Erklärungsempfänger (B oder G) als Dritten ansieht: Nur wenn man das nicht tut, kann sich jeweils der Beklagte seiner vertraglichen Zahlungspflicht durch Anfechtung nach § 123 entledigen. Unzweifelhaft ist „Dritter“ nicht etwa jeder außer dem Erklärungsempfänger. So ist nicht Dritter der Vertreter des Erklärungsempfängers; das gilt nach Genehmigung auch für den Vertreter ohne Vertretungsmacht.65 Wenn ein solcher Vertreter getäuscht hat, kann der Erklärende also in jedem Fall anfechten. Überhaupt schränkt die neuere Rechtsprechung den Begriff des „Dritten“ immer stärker ein und erweitert so die An- fechtungsmöglichkeit nach § 123: Dritter soll nicht sein, wer Vertrauensperson des Erklärungsempfängers ist66 oder diesem sonst nach Treu und Glauben zugerechnet wird.67 So hat der BGH im Fall (1) den Verkäufer V im Verhältnis zu der finanzieren- den Bank B nicht als Dritten angesehen und daher die Anfechtung durch K zugelassen. Später hat der BGH in solchen Fällen sogar auch auf das zunächst geforderte Merkmal einer dauernden Geschäftsbeziehung zwischen B und V verzichtet.68 Man kommt so beim fremdfinanzierten Abzahlungskauf (B-Geschäft) zu einem recht wirksamen Käuferschutz. Andere Wege hierhin eröffnen für den Widerruf § 358 und für Einwendungen § 359 (® Rn. 776) oder die Annahme von Aufklärungspflichten der Bank gegenüber dem Käufer: Wenn sich die Bank zur Erfüllung dieser Pflichten des Verkäufers als ihres Gehilfen bedient, haftet sie für dessen Verschulden nach den §§ 280 I, 278. Dieser letzte Weg hat aber den Nachteil, dass die Haftung grund- sätzlich abdingbar ist (einschränkend aber § 309 Nr. 7). Doch hilft er nicht bei der Verletzung von Pflich- ten, die nur dem Verkäufer und nicht auch der Bank obliegen, zB regelmäßig zur Aufklärung über die mit dem Kredit zu finanzierende Anlage. Der BGH hat sogar im Fall (2) den Hauptschuldner S im Verhältnis zum Bürgen D als Vertrauensperson des Gläubigers G erwogen.69 Aber das geht zu weit.70 Denn S und G stehen auf verschiedenen Seiten. Insbesondere nimmt S, wenn er sich um einen Bürgen bemüht, nicht die Interessen des G wahr, sondern eigene: Wenn sich kein Bürge findet, erhält S den Kredit nicht. 2. Verhältnis von § 123 BGB und culpa in contrahendo a) Fraglich ist auch das Verhältnis zwischen § 123 und Ersatzansprüchen aus culpa in 150 contrahendo:71 Diese Ansprüche entstehen ja regelmäßig schon aus bloß fahrlässigem 65 RGZ 76, 107. 66 Ähnlich Schubert AcP 168 (1968), 470. S. auch BGH NJW 2012, 296 (299). 67 BGH NJW 1979, 1593. 68 BGHZ 47, 224; BGH NJW 1970, 701. 69 BGH LM § 123 BGB Nr. 31; NJW 1968, 986. 70 Flume Rechtsgeschäft § 29, 3. Zu Aufklärungspflichten des Bürgschaftsgläubigers Bezzenberger AcP 222 (2022), 461. 71 S. Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997; Grigoleit, Vorvertragliche Informa- tionshaftung, 1999; Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, 2001; Schwarze, Vorver- tragliche Verständigungspflichten, 2001; Mankowski, Beseitigungsrechte, 2003. 67 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag Verhalten und unterliegen der gewöhnlichen Verjährung nach den §§ 195, 199 I, IV. Danach scheint es, als könne so der durch fahrlässige Irreführung zum Vertragsschluss Veranlasste aus c. i. c. über § 249 I bis zu zehn Jahre lang die Aufhebung des Vertrages fordern. Der BGH hat das in der Tat für das alte Verjährungsrecht zugelassen.72 Die Literatur zur „fahrlässigen Täuschung“ war uneinheitlich: Ein Teil der Lehre hat den Schadensersatzanspruch aus c. i. c. auf Rückgängigmachung des Vertrages als Rechtsfortbildung gebilligt.73 Eine andere Ansicht wollte den Ersatzanspruch dadurch mit § 123 vereinbaren, dass sie einen verschiedenen Schutzzweck angenommen hat: § 123 schütze die Willensfreiheit, der Ersatzanspruch dagegen das Vermögen.74 Das trifft nicht zu: Der auf Naturalrestitution nach § 249 I gerichtete Ersatzanspruch ist von einem Vermögensschaden unabhängig, arg. § 253 mit ® Rn. 821.75 Eine dritte Mei- nung wollte den Getäuschten auf einen Geldanspruch beschränken.76 Der BGH hat einen Anspruch aus c. i. c. nur dann bejaht, wenn die Täuschung zu einem Vermögens- schaden geführt hat.77 Auch hiergegen spricht aber, dass die Naturalrestitution nach § 249 I keinen Vermögensschaden verlangt. Umstritten ist weiter, ob dem Getäuschten auch schon bei vorvertraglichen Aufklä- rungspflichtverletzungen nach § 324 ein Rücktrittsrecht zusteht, wenn ihm die Ver- tragsbindung wegen der Täuschung unzumutbar ist.78 Dagegen wird eingewandt, dass § 324 ebenso wie § 282 auf leistungsbegleitende Schutzpflichten zugeschnitten sei.79 Wenn jedoch bei Vertragsdurchführung bereits Unzumutbarkeit zur Vertragsauf- hebung berechtigt, dann ist nicht einzusehen, warum dies im vorvertraglichen Stadium nur bei Arglist gelten soll. Die erforderliche Begrenzung der Vertragsaufhebung durch das – immerhin normierte – Kriterium der Unzumutbarkeit wird der Wertung des § 123 allemal besser gerecht als die fragwürdige Anknüpfung an einen Vermögensschaden. Unzumutbarkeit und damit c. i. c. wird jedenfalls bei Arglist anzunehmen sein. Arglist kann man auch bei Angaben „ins Blaue hinein“ bejahen und damit den Anwendungs- bereich von § 123 ausweiten (und zugleich den von § 438 I beschränken):80 so wenn der Verkäufer eines Pkw „Unfallfreiheit“ zusichert, obwohl er weder den Wagen unter- sucht noch sich nach dessen Vorgeschichte erkundigt hat. Falls der Verkäufer auf die Richtigkeit seiner Angabe hofft, lässt sich Arglist zumindest mit einer Täuschung über die fehlende Beurteilungsgrundlage rechtfertigen.81 Darüber hinaus kann Unzumutbarkeit bzw. c. i. c. auch dann zu bejahen sein, wenn den fahrlässig eine unrichtige Auskunft gebenden Vertragspartner eine besondere Auskunftspflicht trifft.82 Diese kann sich namentlich auch daraus ergeben, dass er die 72 BGH NJW 1984, 2014 (2015); NJW-RR 1988, 744; NJW 1979, 1983. 73 Larenz FS Ballerstedt, 1975, 397 (411). 74 Schubert AcP 168 (1968), 470 (504ff.). 75 In diese Richtung schon Medicus JuS 1965, 209 (211); zust. Canaris AcP 200 (2000), 273 (305). 76 Lieb FS Rechtswiss. Fak. der Univ. Köln, 1988, 251. 77 BGH NJW 1998, 302; Medicus ablAnm zu BGH LM § 249 (A) BGB Nr. 113; S. Lorenz ZIP 1998, 1053 (1055ff.); JuS 2015, 398 (400); Grigoleit NJW 1999, 900 (901f.). 78 Grunewald FS Wiedemann, 2002, 75 (79f.); MüKoBGB/Ernst § 324 Rn. 7; Soergel/Gsell § 324 Rn. 6. Zu §§ 282, 324 auch ® Rn. 248. 79 Mankowski, Beseitigungsrechte, 2003, S. 198ff.; Mertens ZGS 2004, 67 (68). 80 BGHZ 63, 382 (388); 230, 161 Rn. 30. Vgl. auch ® Rn. 300ff. 81 Skeptisch Faust JZ 2007, 101. Zur Konkurrenz von c. i. c. und Kaufrecht ® Rn. 301. 82 Ähnlich Häublein NJW 2003, 388 (391). 68 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 6 Willensmängel „Beratung“ als Werbeargument verwendet. Nur sollte man eine solche Aufklärungs- pflicht nicht schon schlechthin aus dem „Eintritt in Vertragsverhandlungen“ herleiten, sondern sie an eine Art Garantenstellung knüpfen:83 Sonst würden die Grenzen der §§ 123, 124 völlig niedergerissen, ohne dass die strengen Erfordernisse einer richter- lichen Gesetzeskorrektur (nicht bloß Lückenfüllung!) so allgemein vorlägen. Die Ver- weisung auf § 241 II in § 311 II am Anfang bedeutet keineswegs, dass Verhandlungs- partner allemal einander zur Information verpflichtet wären.84 Entscheidend ist vielmehr, ob ein offenbarungspflichtiger Umstand vorliegt.85 b) Die Berechnung des Schadens aus einem unerwünschten Vertrag führt zu Schwie- 151 rigkeiten.86 Sicher nicht verlangen kann der Geschädigte eine Anpassung des Vertrags- inhalts an denjenigen, der bei vollständiger Aufklärung vereinbart worden wäre.87 Vielmehr soll der Geschädigte den anderen Teil an dem ungünstigen Vertrag festhalten und zusätzlich Ersatz seines Vertrauensschadens verlangen müssen. Das bedeutet den Ersatz des Betrages, um den er zu teuer gekauft hat, und läuft auf eine Minderung hinaus.88 Ausnahmsweise soll auch das positive Interesse in Geld zu ersetzen sein, wenn der Geschädigte nachweist, bei ordnungsmäßiger Aufklärung wäre der Vertrag mit dem für ihn günstigen Inhalt zustande gekommen.89 Die zweifelhafte Vorausset- zung hierfür ist freilich, dass aus bloßer Schutzpflichtverletzung der Ersatz des Leis- tungs(Erfüllungs)interesses verlangt werden kann. Zu welchen konstruktiven Schwierigkeiten die Konkurrenz von § 123 und c. i. c. füh- ren kann, illustriert BGH NZM 2016, 582: K kauft von V eine Wohnung. Ihm wird bekannt, dass V ihn über den Schimmel- befall der Wohnung getäuscht hat. Dessen ungeachtet schreibt er ihm unter anderem: „Mit dem Erwerb der Wohnung letztes Jahr bin ich vollumfänglich zufrieden und bin froh, dass ich den Kaufvertrag letztes Jahr unterschrieben habe“. Eine Woche später verlangt er Rückzahlung des Kaufpreises wegen arglisti- ger Täuschung. Dem Anspruch aus § 812 I 1 steht die Wirksamkeit des Vertrags als Rechtsgrund ent- gegen, weil K das anfechtbare Rechtsgeschäft bestätigt (§ 144 I) hat. Gegenüber einem Anspruch auf Vertragsaufhebung aus §§ 280 I, 311 II, 241 II wirkt § 144 I zwar nicht. Jedoch nahm der BGH einen Erlassvertrag (§ 397) zwischen K und V an:90 Die bestäti- gende Wendung sei als konkludenter Antrag zu verstehen, den V unter Verzicht auf den Zugang (§ 151 S. 1) angenommen habe. 83 Zur Darlegungs- und Beweislast BGH NZBau 2020, 712. 84 BGHZ 168, 35 Rn. 18. 85 BGH FamRZ 2021, 1065 Rn. 11; NJW 2001, 64 (Altlastenverdacht). 86 Zum Anspruch aus § 826 bei einer sog. „Abschalteinrichtung“ eines Kfz spricht BGHZ 225, 316 ebenfalls vom unerwünschten Vertrag; allerdings „nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht“ des Geschädigten: Der Schaden besteht im „Abschluss des Kaufvertrags über das bemakelte Fahr- zeug“ (unter Verweis unter anderem auf die grundlegende Schrift von S. Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997, S. 385). 87 BGHZ 168, 35 Rn. 21, 28; anders Schwarze LeistungsstörungsR § 33 Rn. 51; Harke, Allgemeines Schuldrecht, 2010, Rn. 291 – insoweit krit. Bartels AcP 210 (2010), 917 (921). 88 BGHZ 168, 35 Rn. 22; 188, 78 (dazu lehrreich J. Hager JA 2011, 468). 89 BGHZ 168, 35 Rn. 23; dazu Emmerich JuS 2006, 1021. Krit. Theisen NJW 2006, 3102. 90 Eing. dazu Rühlicke, Entlastung und Rechtsverlust, 2015, S. 128ff.; zum Fall auch Regenfus JURA 2016, 1089; Riehm JuS 2016, 739. 69 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1. Abschnitt. Ansprüche aus Vertrag § 7 Die Geschäftsgrundlage1 I. Vorfragen 152 Die Lehre von der Geschäftsgrundlage wird im Privatrecht unter verschiedenen Be- zeichnungen seit langem diskutiert.2 Einigkeit bestand und besteht auch unter der Gel- tung des § 313 darüber, dass der allgemeinen Billigkeitslehre von der Geschäftsgrund- lage gesetzliche Sonderregeln vorgehen: Jedes voreilige Heranziehen dieser Lehre würde die Grenzen der speziellen Rechtsbehelfe verfehlen. II. Abgrenzung der Geschäftsgrundlage 1. Vorrangige Sonderregeln 153 Die Abweichung der Wirklichkeit von den Vorstellungen oder Erwartungen der Par- teien wird in vielen Einzelvorschriften berücksichtigt. Beispiele sind die §§ 311a, 321, 434 II 1 Nr. 1, 490, 519, 528, 530, 775 I Nr. 1 und 2, 779, 1614 II, 2077, 2079. Als zu- nächst nur in Spezialbestimmungen (§§ 543, 626, 725 II, IV, 731 I; zudem auch in § 648a3), zudem allgemein in § 314 geregelter Fall ist auch das Kündigungsrecht aus wichtigem Grund bei Dauerschuldverhältnissen zu nennen.4 Im – möglicherweise durch Analogie erweiterten – Anwendungsbereich dieser Vorschriften hat die Lehre von der Geschäftsgrundlage nichts zu suchen.5 Hier erübrigt sich auch die Frage, ob diese Fälle „eigentlich“ solche des Fehlens oder Wegfalls der Geschäftsgrundlage sind. 2. Vorrang der Auslegung 154 Auch durch Auslegung kann ein Vertrag der Wirklichkeit angepasst werden. Dabei kommt auch die ergänzende Vertragsauslegung in Betracht, wenn der Vertrag lücken- haft ist.6 Wo das möglich ist, bleibt für die Lehre von der Geschäftsgrundlage kein Raum. RGZ 105, 406: G hat dem S 1920 in Moskau 30.000 Rubel als Darlehen gegeben. Beide gingen davon aus, ein Rubel sei nach dem geltenden Umrechnungskurs 25 Pfennig wert. Daher stellte S dem G Schuld- scheine über 7.500 M aus. In Wahrheit entsprach der Rubel damals aber nur etwa einem Pfennig. Das RG hat die Anfechtbarkeit der Schuldscheine nach § 119 I bejaht. Später ist der Fall bisweilen als Beispiel für das Fehlen der Geschäftsgrundlage genannt worden. Möglich und vorzugswürdig ist aber folgende Lösung:7 Die Parteien haben hier eine zweiteilige Vereinbarung getroffen. Es sollte nämlich einerseits das Darlehen zum rich- tigen Kurswert des Rubels in deutscher Währung zurückgezahlt werden; andererseits 1 Riesenhuber/Domröse JuS 2006, 208; Eidenmüller JURA 2001, 824; Loyal NJW 2013, 417; JURA 2016, 1181 (1184); Thole JZ 2014, 443; Schollmeyer, Selbstverantwortung und Geschäftsgrundlage, 2014; Schwarze LeistungsstörungsR § 6; Werner/Werner/Schrader BürgerlR Anfänger Fall 5. 2 Spätestens seit Windscheid, Die Lehre des römischen Rechts von der Voraussetzung, 1850. 3 Looschelders SchuldR BT § 35 Rn. 6; s. auch Riehm/Q. Thomas JURA 2020, 1046 (1050f.); 1164. 4 Vgl. nur BGHZ 223, 260; BGH NJW-RR 2023, 965. Zur Subsidiarität gegenüber besonderen Kündi- gungstatbeständen BGH NJW 2016, 3720. Zur Verjährung bei Dauerschuldverhältnissen Eichel NJW 2015, 3265; monographisch A. Schneider, Vertragsanpassung im bipolaren Dauerschuldverhältnis, 2016. Nähe zum Dauerschuldverhältnis hat wegen der Aktualisierungspflicht aus § 327f sogar ein Vertrag über einen einmaligen Leistungsaustausch; näher Staudinger/Steinrötter, 2023, § 327 Rn. 4. 5 Zu § 2077 etwa Petersen AcP 204 (2004), 832. 6 BGH NJW 2007, 1884; 2014, 3439 Rn. 7ff.; NJW-RR 2023, 901. 7 Vgl. Flume Rechtsgeschäft § 26, 4a; zum Rubelfall auch Pfeifer JURA 2005, 774. 70 https://doi.org/10.15358/9783800671656-55 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 11:46:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.