Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und Bezugswissenschaften PDF

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This document looks into the relationship between psychoanalysis and developmental psychology, examining various perspectives, including empirical, hermeneutical, and constructivist approaches. It delves into the different ways in which developmental psychology impacts psychoanalytic practices.

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Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 19 2 Psychoanalyse, Entwicklungspsycholo- gie und »Bezugswissenschaften« »Entwicklungspsychologie und Psychotherapie, speziell die analytische bzw. tiefenpsychologisch fundierte Psycho...

Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 19 2 Psychoanalyse, Entwicklungspsycholo- gie und »Bezugswissenschaften« »Entwicklungspsychologie und Psychotherapie, speziell die analytische bzw. tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, haben lange Zeit ein Dasein als ›feindliche Schwestern‹ geführt« (Seiffge-Krenke, 2009, S. VII). Einführung Das Bild »feindlicher Schwestern«, das Seiffge-Krenke zum Beschrei- ben der Beziehung zwischen Psychoanalyse und Entwicklungspsy- chologie nutzt, weist auf die natürliche Verbundenheit und auf ein – in Phasen der Entwicklung vielleicht notwendiges – Bemühen um Abgrenzung und Unterschiedlichkeit hin. Aus Sicht eines Psychoanalytikers stellt Bohleber (2011) enttäuscht eine Abnahme des Interesses der Psychoanalyse an entwicklungsspe- zifischen Fragen fest. Die Entwicklungspsychologie habe sich »zu einer rein empirischen Forschungsrichtung entwickelt, deren Ergeb- nisse nicht mehr leicht an klinisch-psychoanalytische Konzeptualisie- rungen zurückzubinden« seien (S. 769). Diese Beschreibung steht im Gegensatz zu dem Erfolg psychoanalytisch ausgerichteter Bücher zur Entwicklung von Kindern (z. B. von Martin Dornes, 1993, [14. Aufl. 2015] »Der kompetenten Säugling«), in denen entwicklungspsycho- logische Forschungsergebnisse für eine psychotherapeutisch und päd- agogisch interessierten Öffentlichkeit zusammengefasst und disku- tiert werden. Die Bedeutung der Entwicklungspsychologie und der Ergebnisse aus anderen Bezugswissenschaften werden aus verschiedenen Per- spektiven der Psychoanalyse unterschiedlich beschrieben: 19 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 20 2 Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und »Bezugswissenschaften« Aus empirisch wissenschaftlicher Perspektive ist die Entwicklungs- psychologie eine wichtige Möglichkeit, klinische Arbeitsmodelle zu bestätigen. Aus hermeneutischer Sicht dienen entwicklungspsychologische Modelle als Grundlage für Theorien und Interventionen. Die Re- konstruktion einer individuellen Entwicklung kann sich dabei von empirisch gewonnenen Entwicklungsmodellen unterschei- den. Widersprüche bleiben dann ein Anlass zu weiterer Nachfor- schung. Aus der Sicht einer hermeneutisch-konstruktivistischen klinischen Arbeit können entwicklungspsychologische Konzepte als nicht re- levant für die psychoanalytische Behandlungspraxis betrachtet werden. Hier wird aus den Erinnerungen Erwachsener in der kli- nischen Arbeit kindliches Erleben rekonstruiert. Ein so »rekon- struiertes Kind« und das »Kind der empirischen Entwicklungs- forschung« haben dann wenig oder nichts miteinander zu tun. Das Einnehmen einer entwicklungspsychologischen Perspektive ist in der klinischen psychoanalytischen Arbeit oft mit der Betonung ei- nes aktiven lebenslangen Prozesses der Bewältigung von Konflikten verbunden. In der Gegenwart ist die Vergangenheit enthalten. Die Bewältigung vergangener Entwicklungsaufgaben stellt sich in der analytischen Situation dar und kann nachträglich neu und auch an- ders verstanden werden. Ein Verstehen der Verbindungen zwischen aktuellem Erleben in der analytischen Situation und der eigenen Entwicklungsgeschichte ergibt einen individuellen Sinn. Analysan- den können Vergangenes dann umfassender reflektieren und brau- chen es nicht mehr in alter Form zu wiederholen. Eine entwick- lungspsychologische Perspektive ist daher nicht allein auf die Vergangenheit, sondern auch auf die Gegenwart und auf eine Zu- kunft hin ausgerichtet. 20 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 21 2.1 Entwicklungspsychologische Begriffe und Konzepte Lernziele Entwicklungspsychologische Konzepte der Psychologie und der Psy- choanalyse kennenlernen. Übergreifende entwicklungspsychologische Annahmen in der Psy- choanalyse beschreiben können. Unterschiedliche Auffassungen von Entwicklung in den Psycholo- gien der Psychoanalyse (Triebtheorie, Ich-Psychologie, Objektbezie- hungstheorie, Selbstpsychologie, Bindungstheorie und strukturale Analyse) miteinander in Beziehung setzen können. Heuristische Bedeutung von Entwicklungstheorien für Therapien er- kennen. Empirische Kritik an den psychoanalytischen Entwicklungstheorien kennen. 2.1 Entwicklungspsychologische Begriffe und Konzepte Klinisches psychoanalytisches Arbeiten ist ohne ein Wissen um die ge- sunde und beeinträchtigte Entwicklung des Menschen nicht gut mög- lich. Zweifel und Nichtwissen bleiben. Entwicklungspsychologische Konzepte können für psychodynamische Überlegungen oder subjektive Krankheitstheorien nicht »wörtlich genommen« werden. Erkenntnisse aus der klinischen Situation, die retrospektiv für Therapeuten und Pa- tienten eine überzeugende Kausalität aufweisen (und damit möglicher- weise intersubjektiv und als Einsicht klinisch wirksam sind), können in prospektiven Untersuchungen nur einen geringen oder keinen Einfluss zeigen. Die »Überdeterminierung« (Freud, 1895) menschlichen Erlebens und Verhaltens (es gibt in aller Regel vielfache und zusammenwirkende Ursachen, kaum je eine einzelne, die ein Verhalten bestimmt) führt im konkreten Fall zu einer hohen Komplexität und Ungewissheit. Empi- risch wissenschaftliche Aussagen sind daher in ihrer Generalisierung auf 21 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 22 2 Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und »Bezugswissenschaften« konkrete Patienten ebenso mit Vorsicht und Kritik zu betrachten wie am Einzelfall gewonnene klinische Schlussbildungen in Hinsicht auf die Entwicklung von allgemeineren Konzepten. Neue Forschungsbefunde können unsere Sicht auf klinische Phäno- mene verändern. Sie regen zu neuen Konzeptualisierungen an und schaf- fen Verbindungen zwischen dem »Kind der empirischen Entwicklungs- forschung« und dem »aus der klinischen Situation konstruierten Kind«. Implizite und explizite Theorien zur Entwicklung beeinflussen als Vo- rannahmen von Therapeuten klinisches Verstehen und Handeln. Emde (2011) beschreibt Entwicklung als einen »fortwährenden, le- benslangen Prozess, der nicht nur eine Vergangenheit hat, sondern auch in der Gegenwart existiert und sich auf eine Zukunft zubewegt. Der Blick ist dabei nach vorn gerichtet« (S. 779). Aus der Sicht eines In- dividuums zeigt sich der »nach vorn gerichtete« Blick im Begriff des »Wunsches«, der heute entwicklungsbezogene Aspekte des Triebbegriffs aufnimmt. Psychoanalytische Konzepte tragen dazu bei, empathisch die Sichtweise von anderen Menschen nachzuvollziehen und verstehen zu lernen. So steht in der Psychoanalyse inhaltlich das subjektive Erleben des Einzelnen im Fokus der Aufmerksamkeit, das methodisch auch über Einfühlung und Selbstreflexion erschlossen wird. Daten werden vorwiegend aus der Perspektive eines Patienten (seiner Selbstwahrneh- mung) erfasst (siehe aber unten zur Frage von Konflikt und Struktur- modellen). Die akademische Entwicklungspsychologie dagegen beob- achtet Kinder vorwiegend aus einer um Objektivität bemühten Position und gewinnt ihre Daten aus Fremdwahrnehmungen. Fremdwahrneh- mung und Selbstwahrnehmung erfassen Unterschiedliches (McClelland et al., 1989). Es trägt zu Verwirrung bei, dass diese zwei Datenquellen be- grifflich oft nicht unterschieden werden. Moderne Säuglingsforschung und Entwicklungspsychologie verbinden und integrieren Fremdwahr- nehmung und Selbstwahrnehmung. Der »konstruierte Säugling« im Sin- ne des subjektiv erlebenden Säuglings, haucht dem »empirisch beobacht- baren Säugling« Leben ein. Akademische und psychoanalytische Entwicklungspsychologie be- schäftigen sich beide mit der Beschreibung, Erklärung und der Vorher- sage und Beeinflussung menschlichen Erlebens und Verhaltens. Sie un- tersuchen Veränderungen über die gesamte Lebensspanne hinweg. 22 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 23 2.1 Entwicklungspsychologische Begriffe und Konzepte Fragt man Menschen, wie sie sich erklären, dass sie so »geworden« sind, wie sie sind, dann werden vor allem die Erfahrungen in der Familie, Partnerschaft oder mit Freunden genannt, die ihre Entwicklung beein- flussten. Genetik, kulturelle Faktoren und einschneidende Lebensereig- nisse spielen ebenfalls eine Rolle. Konzepte dazu greifen auf unter- schiedliche Modelle zurück: Stufenmodelle der Entwicklung gehen von einem linearen Verlauf aus – deutlich etwa bei den psychosexuellen Entwicklungsstufen Freuds, den Entwicklungskrisen von Erik Erikson oder der Entwicklung des moralischen Urteils. Auch hier bleibt aber »Altes« erhalten und kann bei entsprechenden Auslösern »regressiv« wieder in den Vordergrund treten. Nicht alle Entwicklungsphänomene lassen sich gut als stufenför- mig verlaufend darstellen. Abzweigungen und Fehlentwicklungen müs- sen berücksichtig werden. So werden Stufenmodelle zunehmend durch komplexere Konzepte ersetzt. Während noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts das Bild vorherrschte, die menschliche Entwicklung sei mit der Adoleszenz abgeschlossen (ein Stufenmodell), gehen wir heute davon aus, dass Menschen ihr ganzes Leben lang lernen und sich verän- dern. »Entwicklungslinien« und ihre wechselseitige Beeinflussung sind dann zu beschreiben. Die wechselseitige Beeinflussung dieser Entwick- lungslinien führt zum Einbezug unterschiedlicher Wissenschaften. Die moderne Entwicklungspsychologie ist daher interdisziplinär angelegt. Sie nutzt Erkenntnisse aus Genetik, Neurowissenschaften, Sozial-, Kul- tur- und Sprachwissenschaften. Das Modell einer »sukzessiven Konstruktion« beschreibt, dass jede Entwicklung auf zuvor entwickelte Voraussetzungen aufbaut. Höhe- re Stufen sind also komplexer und integrieren Elemente und Relatio- nen der vorherigen Stufen. Dieses Modell gilt besonders für die ko- gnitive Entwicklung und die Entwicklung sensomotorischer Fähigkeiten. Das Modell der Sozialisation geht dagegen davon aus, dass Entwicklung durch Anleitung und Anforderung, Information und Belehrung, durch Beobachtung und Nachahmung von Vorbil- dern, durch Bestrafung und Belohnung voranschreitet. Dieser Pro- zess wird durch Familie, Freunde, Schule, Beruf und Medien gestal- 23 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 24 2 Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und »Bezugswissenschaften« tet und findet in einem Spannungsfeld zwischen Aneignung kultu- reller Normen, der Entwicklung von Reflexionsfähigkeit und der ei- genen Identitätsgestaltung statt. Für psychoanalytische Entwicklungspsychologien ist die Fokussierung auf das subjektive Erleben eines Menschen charakteristisch. Ein subjekti- ver »Sinn« von Entwicklung wird vorausgesetzt und in Therapien erkun- det. Dies kann als das Verfolgen einer besonderen Entwicklungslinie ver- standen werden – etwa als Entwicklung des »Selbst« in Abgrenzung von und Interdependenz mit biologischen und sozialen Entwicklungslinien. Innerhalb dieser Entwicklungslinie werden stufenförmige Modelle ver- wendet; zugleich kann auf »Altes« nachträglich Einfluss ausgeübt wer- den. So wird zum Beispiel mit dem Konzept von Entwicklungsstufen und sensiblen Perioden davon ausgegangen, dass ein bestimmter Ent- wicklungsstand gegeben sein muss, damit Erfahrungen bestimmte Wir- kungen haben können. In der Psychoanalyse wird dies mit dem Konzept der »Nachträglichkeit« aufgegriffen: Mit neuem Wissen kommt es zu ei- ner »nachträglichen« Reinterpretation von Erfahrungen. Dieser Vorgang kann Symptome hervorrufen – wenn Wissen in einer auslösenden Situa- tion plötzlich einsetzt und zugleich abgewehrt wird. Er kann aber auch dazu beitragen, Symptome wieder aufzulösen. In Therapien werden un- glückliche Erfahrungen dann z. B. nicht mehr vorwiegend als das Leben dauerhaft prägende Traumata erlebt, sondern als Erfahrungen, die über- lebt und überstanden wurden. Die Parallelität von somatischen, kognitiven, emotionalen und sozia- len Entwicklungen und die wechselseitige Abhängigkeit der Entwick- lungslinien voneinander führt zu »sensiblen Phasen« für den Erwerb vieler Kompetenzen. Wird eine solche Phase nicht genutzt, werden be- stimmte Fähigkeiten nicht oder nur stark eingeschränkt erworben. Es gibt »Fenster der Entwicklung« für bestimmte Fähigkeiten. Mit diesen Fenstern ist auch eine Verletzlichkeit der Entwicklung verbunden, wenn ein Entwicklungsschritt aus biopsychosozialen Gründen nicht zeitgerecht erfolgt ist. 24 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 25 2.1 Entwicklungspsychologische Begriffe und Konzepte Ein Kind, das in seinem ersten Lebensjahr unter schwer vernachlässi- genden Bedingungen aufgewachsen ist, macht nicht die Erfahrung, von wichtigen anderen Menschen »gehalten« zu werden. Diese Erfah- rung und ein damit einhergehendes »Urvertrauen« kann es später nur noch eingeschränkt nachholen. Es hat gelernt, sich nur auf sich allein zu verlassen – um zu überleben. Kognitiv reifer schreibt es sich in spä- teren Entwicklungsphasen das Erleben, von anderen Menschen gehal- ten zu werden, selbst zu (z. B. in einer liebevollen Adoptivfamilie, in die es im dritten Lebensjahr gegeben wird). »Gehalten zu werden« wird im eigenen Erleben zu einem Erfolg der eigenen Liebenswürdig- keit, der gekonnten Manipulation anderer oder der Anpassung an Er- wartungen. Es bleibt damit an das eigene Verhalten gebunden und führt tragischerweise trotz guter späterer Erfahrungen nicht mehr zu einem Vertrauen in andere Menschen (keine Bindungsentwicklung mehr). Die verschiedenen »Psychologien« innerhalb der Psychoanalyse unter- scheiden sich in vielen Aspekten (c Kap. 2.2). Einige Annahmen wer- den aber in ihren entwicklungspsychologischen Konzepten weitgehend geteilt: die Annahme von Kausalität in den Erzählungen eines Menschen; die Hypothese, dass aktuelle Verhaltensweisen und Symptome mit der Verarbeitung vergangener Erfahrungen zusammenhängen – eine Entwicklungsperspektive; das Konzept des Unbewussten – eines Wissens, auf das Menschen nicht aktiv zugreifen können und das ihr Erleben und Verhalten be- einflusst; die Betrachtung von Entwicklung als nicht abschließend und nicht linear – Altes bleibt erhalten und kann – regressiv – wieder aktiviert werden. Als theoretische Grundlagen psychoanalytischer Therapien sind diese Annahmen wiederholt überarbeitet und erweitert worden. Sie sind viel- fach als Konzepte in das Allgemeinwissen eingegangen und nicht mehr auf therapeutisches Fachwissen beschränkt. 25 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 26 2 Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und »Bezugswissenschaften« Unterschiedliche Weiterentwicklungen setzten dabei ihre je eigenen Schwerpunkte. So stellen manche Autoren das Vorliegen einer – mehr oder weniger – einheitlichen psychoanalytischen Entwicklungstheorie in Frage. Der kommende Abschnitt schaut daher auf die verschiedenen »Schulen« der Psychoanalyse und ihre jeweiligen entwicklungspsycholo- gischen Schwerpunktsetzungen. Er versucht, eine integrierende Perspek- tive zu erreichen. 2.2 Theorienpluralität innerhalb der Psychoanalyse: die »Psychologien« der Psychoanalyse Die verschiedenen psychologischen Modelle, die in der Psychoanalyse verwendet werden, haben jeweils eigene Vorzüge. Triebtheorie, Ich-Psy- chologie, Selbstpsychologie, Objektbeziehungstheorie, Bindungstheorie, relationale und strukturale Analyse beschreiben unterschiedliche Model- le des Psychischen, die auch entwicklungspsychologische Konzepte ent- halten, aber noch keine im engeren Sinne geschlossenen entwicklungs- psychologischen Theorien darstellen. Als Modelle klinischen Verstehens tragen sie zu unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben und Entwick- lungsphasen unterschiedlich viel bei. Sie alle sind aus dem Versuch her- aus entstanden, die Symptome und die Lebensgeschichte eines Men- schen in einen Zusammenhang zu bringen. Diese Psychologien werden im folgenden Abschnitt kurz in ihren zentralen Annahmen dargestellt, um sie in ihrer Unterschiedlichkeit sehen und vergleichen zu können. Als Leser werden Sie in den folgenden Kapiteln die Beiträge dieser Mo- delle zur Entwicklung im Lebenslauf kennen lernen – und vor dem Hintergrund der hier beschriebenen Pluralität an Sichtweisen einord- nen können (ausführlicher im Dialog der unterschiedlichen Schulen: Mertens, 2010, 2011). Das älteste psychologische Modell der Psychoanalyse, das triebtheoreti- sche Modell, zeichnet sich durch seine dichten Verbindungen zum Kör- 26 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 27 2.2 Theorienpluralität innerhalb der Psychoanalyse perlichen aus. Es betrachtet Menschen unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedürfnisse und Wünsche. Diese werden in frühen körperlichen, fami- liären und kulturellen Erfahrungen geformt und in Handlungen sowie bewussten und unbewussten Phantasien verkörpert. Hier stehen zentra- le Wünsche (als Abkömmlinge körperlicher Bedürfnisse oder »Triebe«) im Konflikt mit den Wünschen anderer, den Anforderungen der Gesell- schaft oder dem eigenen Bedürfnis nach Sicherheit. Ein unausgewoge- nes Verhältnis von Anpassung und Verzicht auf Befriedigung (zu viel oder zu wenig) wird als symptomauslösend betrachtet. Die Fähigkeit, sich eigene Wünsche in einer von körperlicher Befriedigung weiter ent- fernten, gesellschaftlich akzeptierten Form zu erfüllen (»Sublimation«), ist für Gesundheit und gesellschaftliche Anerkennung wichtig. Das »Fressen« von Büchern ersetzt dann das Essen großer Mengen an Nah- rungsmitteln. Als entwicklungsfördernde Botschaft dieser Sichtweise kann vereinfachend formuliert werden: »Kinder – und auch Erwachsene – sollte man, soweit das geht, gewähren lassen, wenn man ihnen Gutes tun will«. Allerdings sieht die Triebtheorie auch die Notwendigkeit von zeitgerechten an die Entwicklung angepassten Enttäuschungen (»Gren- zen«) vor, an denen gelernt werden kann. Die deutliche entwicklungspsychologische Ausrichtung innerhalb dieses Modells kann Therapeuten helfen, sich mit ihren Patientinnen und Patienten zu identifizieren und so emotionale Verbundenheit zu gestalten. Therapeut und Patient standen und stehen vor ähnlichen Ent- wicklungsaufgaben. Der Rückgriff auf diese Situation fördert Teilnahme und Empathie. Triebtheoretisch wird von abgrenzbaren Phasen der kindlichen Entwicklung ausgegangen. Mit der körperlichen Reifung ste- hen Kinder vor jeweils neuen Entwicklungsaufgaben mit charakteristi- schen interpersonellen Konflikten und Ängsten. Diese kindlichen Ent- wicklungsphasen werden in triebtheoretischen Konzepten beschrieben und dann zur kurzen Benennung von Verhaltensweisen Erwachsener verwendet. Manche dieser Begriffe sind in das alltagspsychologische Verständnis eingegangen. So beschreibt etwa »orale Phase« einen Zeit- raum, in der Erfahrungen überwiegend über den Mund und das Saugen an der Brust gesammelt werden. Mit diesem Zeitraum werden Konflikte um das Annehmen von Versorgung und bestimmte depressive Verhal- tensmuster in Verbindung gebracht. »Anale Phase« beschreibt die Zeit 27 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 28 2 Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und »Bezugswissenschaften« der »Sauberkeitserziehung« im 2. und 3. Lebensjahr mit Konflikten um Anpassung und Autonomie und mit einem Bezug zu zwanghaften Ver- haltensmustern. Hier geht es um Konflikte im Bereich von Kontrolle und Unterwerfung, um Ordnung und Eigensinn. In ihrer alltagspsycho- logischen Kurzform wirken manche Begriffe der Triebtheorie »ange- staubt«. Erst in Verbindung mit einem dynamischen Verständnis der für die Entwicklungsphasen charakteristischen Konflikte bleibt die enge Verbindung zum Körperlichen spannend und für die klinische Arbeit anregend (z. B. Müller-Pozzi, 2008). Aktuelle Modelle zum Verstehen somatoformer Störungen (z. B. Rupprecht-Schampera, 1997; Storck & Warsitz, 2016) beschreiben die Schicksale dieser Wünsche in Abhängig- keit von den Reaktionen der Umwelt. Beispiel: Klinisch kann ein Auftreten körperlicher Beschwerden (als »Mikrosymptome« in der therapeutischen Arbeit) als ein Versuch verstan- den werden, das Erleben starker Affekte in der dyadischen Beziehung (z. B. Nähe und Bezogenheit zum Therapeuten oder Enttäuschungswut) über die Beschäftigung mit etwas »Drittem« (dem Symptom) zu regulie- ren. So wird eine andere Form der Beziehung zum Therapeuten herge- stellt (eine trianguläre Struktur, siehe unten). Das aufmerksame Beachten des Auftretens von somatischen Mikrosymptomen trägt dann zum Verste- hen von (triebnahen) Wünschen bei und erschließt biografische Aspekte (Wurden z. B. in der Familie starke Affekte dadurch moderiert, dass kör- pernahe Versorgungshandlungen oder Pflegehandlungen einsetzten?). Auch zum Verstehen und zur Differenzierung unterschiedlicher For- men depressiven Reagierens tragen triebtheoretische Konzepte bei. Die Ich-Psychologie beschreibt, wie sich die Bewältigung von Aufgaben über die Lebensspanne und unterschiedliche soziale Kontexte entwi- ckelt. Das »Ich« vermittelt dabei zwischen Es (und den mit ihm verbun- denen, oben beschriebenen »triebhaften« Wünschen), den verinnerlich- ten Anforderungen des Über-Ich und der Umwelt. Eine möglichst funktionale Abwehr mit den Fähigkeiten, sofortige Befriedigung auf- zuschieben und Ängste zu bewältigen, bekommt hier eine große Be- deutung. Sie muss die subjektive innere Welt eines Menschen, seine An- passung an wechselnde Anforderungen der äußeren Welt und die Realitätsprüfung berücksichtigen (A. Freud, 1936). Es wird davon ausge- gangen, dass die Fähigkeit zur Anpassung, Realitätsprüfung und Ab- 28 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 29 2.2 Theorienpluralität innerhalb der Psychoanalyse wehr in der Entwicklung langsam erlangt wird und sich mit der Zeit entfaltet. Die Ich-Psychologie beachtet besonders die Fähigkeit, sich auf unterschiedliche soziale Situationen einstellen zu können. Schwierigkei- ten, sich an gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen anzupas- sen, werden als bedeutsame Ursache von Störungen betrachtet. Zusam- mengefasst und etwas vereinfachend kann diese Auffassung zu einem an Normen orientierten Denken führen, in dem eine nach bestimmten Kri- terien »optimale« Entwicklungsförderung angestrebt wird. Die Kriterien selbst, so beschreiben es Kritiker der Ich-Psychologie, werden dann nicht mehr oder zu wenig hinterfragt. Aufgabe von Therapeuten ist es in diesem Modell, für die Entwicklung von Funktionen des Ich mög- lichst gute Bedingungen zu schaffen. In der therapeutischen Arbeit ge- fördert (und aus entwicklungsorientierter Sicht »nachentwickelt«) wer- den z. B. Fähigkeiten, auf sofortige Befriedigung von Wünschen zu verzichten (Frustrationstoleranz), Gefühle differenziert wahrzunehmen und für die Steuerung des eigenen Verhaltens zu nutzen (Affektwahr- nehmung und Affektdifferenzierung), die Fähigkeit, Auswirkungen des eigenen Verhaltens auf andere zu antizipieren und die Toleranz gegen- über Unsicherheit und Uneindeutigkeit (Ambiguitätstoleranz). Auch Empathie mit anderen und mit sich selbst, die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen und eigene Wünsche und Bedürfnisse zu erken- nen, kann als eine solche Ich-Funktion beschrieben werden. Dieses Mo- dell der Psychoanalyse ist in moderner Form der akademischen Ent- wicklungspsychologie nah und mit ihr gut kompatibel. Das objektbeziehungstheoretische Modell konzentriert sich auf die Ge- schichte unserer wichtigen Beziehungen in uns – auf die Bildung von Repräsentationen dieser Erfahrungen als innere »Repräsentanzen«. Kin- der sind von Geburt an unterschiedlich und stoßen auf unterschiedliche familiäre und soziale Welten. Vorstellungen von anderen und damit einhergehenden Erwartungen werden vor dem Hintergrund dieser un- terschiedlichen biologischen Voraussetzungen und sozialer Erfahrungen gebildet. Damit beeinflussen sie die Wahrnehmung und Bewertung zu- künftig folgender Erfahrungen – und damit wiederum die Wahrneh- mung von anderen und von sich selbst. Eine Einengung der Bezie- hungsmöglichkeiten auf wenige, sich wiederholende Muster wird als ein unglücklicher und pathogenetisch wichtiger Faktor betrachtet. Gut 29 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 30 2 Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und »Bezugswissenschaften« für Kinder und im späteren Leben für Erwachsene ist es daher, wenn Kinder feinfühlige und auch vielfältig unterschiedliche Erfahrungen in ihren Beziehungen machen. Das objektbeziehungstheoretische Modell ist in Deutschland vor al- lem durch die Arbeiten zu schwereren Entwicklungsstörungen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung von Kernberg (z. B. 1975) und über die Arbeiten von Melanie Klein bekannt geworden. Hier wird die Be- deutung genetisch verankerter Vorannahmen zu Beziehungen betont und zugleich auf die Rolle der Phantasie eingegangen, die das kindliche (und erwachsene) Erleben prägt und auch zur nachträglichen Überar- beitung und Bewertung von Erfahrenem beiträgt. Entwicklung ist in diesem Modell mit einer Integration zunächst aktiv getrennt gehaltener Erfahrungen – guter und schlechter Bilder von anderen und von sich selbst – verbunden. Besonders Melanie Klein hat bereits bei kleinen Kindern (in ihrem ersten Lebensjahr) ein reiches inneres Erleben mit der Wahrnehmung von Konflikten und der Abwehr bedrohlicher Vor- stellungen beschrieben. Aus dieser Perspektive kann formuliert werden, dass es weniger wichtig ist, wie eine Mutter »wirklich gewesen« ist, als wie sie von diesem – individuellen – Kind erlebt wurde. Das selbstpsychologische Modell (Kohut, 1976, 14. Aufl. 2007) beschreibt die Entwicklung eines differenzierten und ganzheitlichen Gefühls für das eigene »Selbst« und die dabei zu bewältigenden Aufgaben. Ein anhal- tendes Gefühl des eigenen Wertes entsteht bei der Selbstentwicklung in- nerhalb eines ausreichend guten Umfelds. Vor dem Hintergrund eines interindividuell unterschiedlichen subjektiven Erlebens werden die Ent- wicklung von Vorstellungen und Bildern von uns selbst und die damit einhergehenden Beziehungsmuster zu anderen Menschen dargestellt. Als Ursache von Störungen im Erwachsenenalter rücken überfordernde Ent- täuschungen mit frühen Bindungspersonen, die sich nicht ausreichend empathisch auf das Kind einstellten, in den Vordergrund. Andere Men- schen werden als das eigene Erleben stabilisierende Objekte – »Selbstob- jekte« betrachtet. Dieser Aspekt menschlicher Beziehungen bleibt lebens- lang wichtig. Lob und Anerkennungserfahrungen fördern eine gesunde Entwicklung. Enttäuschungen der kindlichen und für die Entwicklung notwendigen Größenvorstellungen sollten als gut verarbeitbare (»opti- male«) Frustrationen erfolgen. 30 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 31 2.2 Theorienpluralität innerhalb der Psychoanalyse Selbstpsychologische Konzepte sind hilfreich, um Störungen des Selbst- erlebens und ihre interpersonellen Auswirkungen zu verstehen. Je nach Umfeld differenzierte, zugleich stabile und flexible Grenzen gegenüber anderen Menschen, ein Gefühl der Kontinuität des eigenen Handelns und Erlebens und Fähigkeiten in der Regulation des Selbstwerts werden auf gelingende Anerkennungserfahrungen zurückgeführt. Da- her ist elterliche Feinfühligkeit in Hinsicht auf die Bestätigung des Erle- bens eines Kindes in diesem Modell besonders wichtig. Größenvorstel- lungen und die Verachtung anderer Menschen werden als Versuche verstanden, Störungen im subjektiven Selbsterleben auszugleichen. Die entwicklungspsychologische Dimension bietet in diesem Modell wieder eine Möglichkeit, sich probeweise mit – sonst schwierig empathisch zu verstehenden – Patienten zu identifizieren und auf diese Weise zusätz- lich zu einer objektivierenden Beschreibung einen emotionalen Zugang vor allem zu narzisstisch gestörten Menschen zu gewinnen. Aktuelle Entwicklungen greifen selbstpsychologische und andere ent- wicklungspsychologische Aspekte auf. Sie untersuchen die vielfältigen Aspekte der Interaktion in der Beziehung zwischen Analysand und Ana- lytiker mit ihren wechselseitigen Beeinflussungen. In der relationalen Psychoanalyse (Mitchell, 1988), die als eine weitere »Psychologie« der Psychoanalyse aufgefasst werden kann, sind Modelle aus der empiri- schen Säuglingsforschung für die Konzeptualisierung therapeutischer Interaktionen von Bedeutung. Soziale Beziehungen und Interaktions- prozesse sind in diesen Modellen grundlegend für die Entwicklung des mentalen Systems – nicht umgekehrt. Beebe und Lachmann (2004) be- schreiben, wie interaktive Prozesse entstehen und zu Veränderungen führen. Forschung erfolgt hier überwiegend in dyadischen Beziehungen – Interaktionen in therapeutischen Beziehungen und dyadischen Situa- tionen zwischen Mutter und Kind werden verglichen. In Deutschland sind mit der psychoanalytisch-interaktionellen Methode (Heigl-Evers & Heigl, 1973) zunächst in Gruppen Konzepte entwickelt worden, in de- nen die Gestaltung von Interaktionen im Vordergrund steht. Hier wird ein beziehungsorientierter intersubjektiver Ansatz im therapeutischen 31 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 32 2 Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und »Bezugswissenschaften« Arbeiten konzeptualisiert. Veränderungen des interpersonellen Verhal- tens führen dann zu Veränderungen von inneren Mustern und Reprä- sentanzen. Die Strukturale Analyse Lacans hat keine eigene Entwicklungspsycho- logie entwickelt. Dennoch trägt sie mit ihrem Fokus auf symbolische, vor allem sprachliche Prozesse etwas Spezifisches zum Verstehen von Entwicklungsvorgängen bei. Die Beschäftigung mit den Theorien La- cans in diesem Buch stellt eine gewisse Zumutung für Leser dar. Sie müssen sich nicht nur in eine ungewohnte Begrifflichkeit einlesen, son- dern sich auch noch mit einer nur kursorischen Darstellung des Themas zufriedengeben. So ist das »Selbst« kein von Lacan verwendeter Begriff. Er zieht ihm die Bezeichnung »Subjekt« vor. Damit grenzt er sich klar von Theorien ab, die einer Entwicklungslogik folgen, in denen frühere Entwicklungsstadien spätere begründen. Im Prinzip sind die verschiede- nen Strukturen des Subjekts Ausdruck diskontinuierlicher Zustände. Die Konstituierung des Subjekts erfolgt aus Lacans Sicht sprunghaft, ohne Übergang. Infantilität begreift er wörtlich als anfängliche Sprach- unfähigkeit, da »infans« im Lateinischen »stumm« sein oder »lallend« bedeutet. »Subjekt« dagegen heißt übersetzt, der Sprache unterworfen (subjicere) zu sein. Um diesen Aspekt soll es im Folgenden gehen, näm- lich zu skizzieren, wie Lacan das Subjekt primär als von der Ordnung der Sprache, der symbolischen Ordnung her verfasst betrachtet. Ein fundamentaler Unterschied zu anderen Entwicklungstheorien liegt darin, dass Lacan das Subjekt aus der Alterität konzeptualisiert. Al- terität meint hier eine »konstitutive Andersheit«. Diese konstitutive An- dersheit geht dem Subjekt voraus. Die symbolische Welt existiert vor ihm, bevor das Subjekt sich seiner selbst bewusst wird, und konstituiert es. Das pointiert Lacan, wenn er sagt, das symbolisch verfasste Subjekt sei in erster Linie das Produkt einer diskursiven Erfahrung mit (einem) Anderen, bspw. zuerst repräsentiert durch den mütterlichen Anderen als Vertreter einer symbolischen Ordnung und damit von Sprache und Sprechen: Das Du geht dem Ich voraus. Mit einem ganz anderen methodischen Ansatz trägt die Bindungs- theorie zum Verstehen von Entwicklungen bei. Sie wurde stärker als die vorangegangenen Theorien von der akademischen Entwicklungspsy- chologie rezipiert und hat diese ihrerseits bedeutend beeinflusst. Die 32 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 33 2.2 Theorienpluralität innerhalb der Psychoanalyse Bindungstheorie und ihre Weiterentwicklungen zählen zu den psycho- analytischen Theorien, auch wenn dies nicht in der gesamten psycho- analytischen Welt so gesehen wird (z. B. Fonagy & Campbell, 2015, dt. 2017). Sie geht von dem Bedürfnis kleiner Kinder nach Sicherheit in der Beziehung zu ihren Müttern aus. Die Sicherung dieser Beziehung, auf die Kinder existentiell angewiesen sind, hat Vorrang vor anderen Bedürfnissen. Die Fähigkeit, sich über Bindungen Sicherheit zu ver- schaffen, ist über das ganze Leben für die Bewältigung von Entwick- lungsaufgaben bedeutsam. Hilfe von anderen Menschen zu gewinnen und anzunehmen, bleibt ein wichtiger Schutzfaktor. In der Bindungs- theorie wird beschrieben, wie Kinder sich an das Verhalten ihrer Müt- ter anpassen. Dies ist ein wechselseitiger Prozess. Der Begriff der »müt- terlichen Feinfühligkeit« beschreibt, wie gut oder schlecht eine Mutter die Signale ihres Kindes versteht, geeignete beruhigende Verhaltenswei- sen findet und die Reaktionen des Kindes angemessen bewertet. Auch die Bindungstheorie ist aus der klinischen Arbeit entstanden. Ihre Kon- zepte wurden dann aber rasch empirisch geprüft und weiterentwickelt. Beobachtungen an Kindern und Vergleiche mit Befunden der Verhal- tensforschung an Tieren zeigten überzeugend ein eigenständiges Be- dürfnis nach Bindung. Kinder versuchen, Bindung über unterschiedli- che Strategien und in Anpassung an das Verhalten der Mutter zu sichern. Experimentell lassen sich unterschiedliche »Typen« von Bin- dungsverhalten beobachten. Eine »sichere Bindung« wird als gute Grundlage für die weitere Entwicklung eines Kindes angesehen. Sie bietet die Möglichkeit, vergleichsweise frei zwischen dem Erkunden der Umwelt (Exploration) und dem Erleben der Eltern als »sicherer Ha- fen« hin und her zu pendeln. Exploration kann daher relativ angst- und konfliktarm und mit einer Rückversicherung durch die Eltern ge- schehen. Wenn sich die Mutter oder der Vater nicht ausreichend an die Bedürfnisse ihres Kindes anpassen, entwickeln Kinder Strategien, mit denen sie »über Umwege« eine gewisse Sicherheit erreichen kön- nen. Diese Beziehungsmodi werden als »unsicher-ambivalent« oder »unsicher-vermeidend« beschrieben (c Kap. 4). Sie sind mit stärkeren Konflikten, erhöhter Angst und mehr Stress verbunden und gelten als Risikofaktoren für spätere Störungen. Dennoch gelingt es Kindern auch hier, sich an die Bedingungen ihrer Umwelt so anzupassen, dass 33 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 34 2 Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und »Bezugswissenschaften« sie sich ein Bild von den zu erwartenden Reaktionen ihrer Bindungs- personen machen können. Sie erleben diese daher in der Regel als ver- lässlich. Gelingt eine solche Anpassung nicht, wird dies als »Desorgani- sation« im Bindungsverhalten beschrieben. Dieses Modell hat einen erheblichen Einfluss auf Entwicklungen in Kindergärten und Krippen. Mit einem besseren Verständnis für Über- gänge vom Elternhaus in die Krippe, von dort in den Kindergarten und vom Kindergarten in die Schule entwickelten sich Eingewöhnungsmo- delle, in denen darauf geachtet wird, eine angemessene Lösung von den Bindungspersonen zu schaffen. Eine solche zeitweise Trennung erfor- dert dann, dass Kinder eine andere Person in der Krippe oder im Kin- dergarten so kennenlernen, dass sie diese als Bindungsperson anneh- men. Auf diese Weise kann Angst und Stress gemindert werden. Die aufgeführten Modelle schließen sich nicht gegenseitig aus. Sie eignen sich für unterschiedliche Entwicklungsphasen und zum Verste- hen unterschiedlicher Menschen unterschiedlich gut und können sich in der Annäherung an ein Gesamtbild ergänzen. Zu Darstellungen wichtiger Vertreter psychoanalytischer Entwicklungstheorien und ihrer Beiträge siehe Streeck-Fischer (2018). 2.3 Ordnungsversuche und »Bilder vom Kind« In der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie bleibt bis heute die Bezugnahme auf eine vertikale Perspektive dominierend: Die Eltern, in der weiteren Entwicklung der psychoanalytischen Theorien überwie- gend die Mutter, und die Beziehung des Kindes zur Mutter bzw. den El- tern werden betrachtet. Beziehungen zu Geschwistern, Freunden, Lie- bespartnern spielten für die Konzeptualisierung und Konstruktion von Entwicklungen eine vergleichsweise geringere Rolle. Ein solcher Fokus auf einer »dyadischen« Zwei-Personen-Beziehung dient zunächst der Verringerung von Komplexität. Dies ist für Forschung an Grundlagen ein sinnvoller Weg. Klinisches Denken und Verstehen kann durch die 34 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 35 2.3 Ordnungsversuche und »Bilder vom Kind« Übernahme von solchen »empirisch gesicherten« Modellen aber auch eingeschränkt werden. Schon das Denken in triadischen Perspektiven, mit »ödipalen« Konflikten und unterschiedlichen Perspektiven von Kind, Mutter und Vater, erschwert es, Gewissheiten zu finden. Auch kulturelle Einflüsse erhalten oft wenig Aufmerksamkeit. Ziel ist es häu- fig, kulturell übergreifende Muster (z. B. Bindungstypen oder den Ödi- puskomplex) zu finden und zu untersuchen. Erst mit Erreichen der Adoleszenz wird die Bedeutung der Kultur deutlicher thematisiert – etwa in dem Modell, Kinder würden zunächst in die Familie, dann (in der Adoleszenz) in die Gesellschaft sozialisiert. Die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Mutter-Kind-Dyade hat praktische Auswirkungen – etwa zur Frage der Bedeutung von Mehrpersonenbeziehungen in den ersten Lebensjahren, zur Frage des Umgangsrechts der Väter oder der Krippenerziehung. Die Psychoanaly- tiker und empirischen Entwicklungsforscher von Klitzing und Stadel- mann (2011) fragen, ob Psychoanalytiker mit ihren Vorstellungen und Idealisierungen einer frühen Mutter–Kind-Beziehung nicht »weit hinter unserer Zeit herlaufen«. Die konzeptuelle Beschränkung auf dyadische Muster wird auch mit Verweis auf empirische Befunde kritisiert. Schachter (2005, dt. 2006, S. 466) schreibt, »entwicklungspsychologische Studien zum Bindungsverhalten zeigen einen vergleichsweise schwach ausgeprägten Zusammenhang mit Störungsmustern bei Erwachsenen. Dass sich solche Studien in erster Linie auf die Mutter-Kind- Beziehung konzentrieren, ohne das Gewicht von Bindungen an andere Be- zugspersonen wie Geschwister oder Spielkameraden zu berücksichtigen, und dass sie das Kind nicht wie ein Wesen behandeln, das sich weiterentwickelt, wird kritisiert«. So ergibt sich erneut ein mehrdeutiges Bild des Kindes und der Kinder: Auf der einen Seite wird die hohe Bedeutung der ersten Lebensjahre für die weitere Entwicklung in unserer Kultur inzwischen mit hoher Übereinstimmung geteilt, auch in der akademischen Psychologie (etwa Oerter & Montada, 2008, S. 94 f.). Auch die psychoanalytische Sicht auf das Kind als aktives Subjekt, das die Beziehung zu den Eltern und der Welt früh mitgestaltet, wird Teil des akzeptierten Allgemeinwissens. Frühe Beobachtungen von Sigmund Freud, Anna Freud, Melanie Klein und anderen trugen dazu bei, Kinder als handelnde Subjekte in Bezie- 35 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 36 2 Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und »Bezugswissenschaften« hungen zu betrachten. Das Buch von Martin Dornes »Der kompetente Säugling« (1993) hat in Deutschland eine wichtige Funktion zur Popu- larisierung dieser Auffassungen und zur Aufklärung über frühe kindli- che Kompetenzen übernommen. Wir haben oben gesehen, dass psychoanalytische Theorien unter- schiedliche Aspekte von Entwicklung in den Blick nehmen – selbst wenn sie alle einem subjektiven, verstehenden Ansatz verpflichtet sind. Die Vielfalt möglicher Perspektiven auf Entwicklung muss durch einen Überblick über Entwicklungsmodelle aus anderen Wissenschaften er- gänzt werden. Subjektivität und ihre Entwicklung kann nicht gut ohne einen Bezug auf somatische, kognitive, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen verstanden werden. Dabei können vier Sichtweisen un- terschieden werden: Die normativ beschreibende der in einem bestimmten Lebensalter zu erwartenden Fähigkeiten, die Reihenfolge der interpersonell wirksamen »Organisatoren« (Ver- haltensweisen wie soziales Lächeln oder Fremdeln, siehe unten) von Entwicklungsschritten, neurobiologische Aspekte von Entwicklung und Veränderungen des Selbstbilds. Eine erste Möglichkeit der Darstellung von Entwicklung ist die Orien- tierung an der Entwicklung durchschnittlich zu erwartender Fähigkei- ten. Sie spielt vor allem in den frühen Lebensjahren eine große Rolle – beim Lernen von Schlafen, Sprechen, Essen, dem Erwerb von Kontrolle über den Stuhlgang, dem Lesen usw. Für Kinder lassen sich hier norma- tive Erwartungen von Entwicklungen in den verschiedenen Bereichen formulieren. Im jungen Erwachsenenalter, im Erwachsenenalter und höheren Alter gelingt dies schwerer. Hier wird immer deutlicher, wie sich Entwicklungsaufgaben differenzieren. In Abhängigkeit vom Le- bensalter und von sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen wird es schwieriger, für bestimmte Lebensphasen Listen der zu erwar- tenden Fertigkeiten zu erstellen. 36 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 37 2.3 Ordnungsversuche und »Bilder vom Kind« Einfacher – und in den Kapiteln 4, 5 und 6 dargestellt (c Kap. 4, c Kap. 5, c Kap. 6) – ist es, Veränderungen der affektiven Regulation von Beziehungen zu beschreiben, die an die kognitive und somatische Reifung gebunden sind. Hier hat René Spitz (1965) anhand sorgfältiger Beobachtungen vier »Organisatoren« von Entwicklungsvorgängen entwi- ckelt. Sie sind auf die interpersonelle Regulation von Verhalten bezogen: Das noch nicht an die Wahrnehmung einer Person gebundene Lä- cheln des Neugeborenen, das »Engelslächeln« der ersten zwei Lebens- monate wird ersetzt durch das »Dreimonatslächeln«, das ein Erken- nen eines zugewandten menschlichen Gesichts beschreibt und eine Interaktion einleitet. Die etwa im achten Lebensmonat beginnende Fremdenangst, die deutlich macht, dass das Kind unterscheiden kann zwischen vertraut und unvertraut und dass es aktiv auf Erinnerungsspuren zur Interpre- tation einer Situation zurückgreift. Das »Nein« des Kindes und der Beginn des sich »Selbst«-Behauptens im Trotz im zweiten und dritten Lebensjahr. Und das Erreichen von Objektkonstanz (und, so wäre heute zu er- gänzen: Mentalisierungsfähigkeit in triadischen Beziehungen) im Al- ter von etwa vier Jahren. Für zahlreiche psychoanalytische Konzepte finden sich inzwischen neu- robiologische Korrelate. Kapitel 3 geht auf die Entwicklung von Individua- lität ein (c Kap. 3). Sie ist auch mit einem Verlust von möglichen Kom- petenzen durch den Abbau von Nervenzellen verbunden, die in den ersten Lebensmonaten nicht »benutzt« werden. Dieser Entwicklungs- prozess wird als ein »Ausjäten«, »Priming« beschrieben. An vielen Stel- len des Buches wird auf die mit diesen Einschränkungen weiter beste- hende hohe Flexibilität des menschlichen Gehirns Bezug genommen. Lebenslanges Lernen ist mit einem Erleben und Bewältigen von Kon- flikten verknüpft. Es zeigt sich auch in Umbauten an der »Hardware« unseres Gehirns, seiner »Struktur« (siehe unten). Mit den Veränderungen des Erlebens anderer Menschen verändert sich auch das Selbstbild eines Menschen. Aus einer subjektiven Sicht kann für die verschiedenen Entwicklungsphasen formuliert werden: 37 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 38 2 Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und »Bezugswissenschaften« »Ich bin, was Du mir zeigst« charakterisiert die Erfahrungen des Kin- des mit der frühen Affektregulation in dyadischen Beziehungen. Vor allem die Mutter benennt und »spiegelt« in unserer Kultur das Erle- ben ihres Kindes (c Kap. 4). »Ich bin ›der‹ oder ›die‹ für Dich« drückt die Erfahrungen des aktiven Erprobens der Geschlechtsrolle und des Findens des eigenen Platzes in der Familie in der ödipalen Entwicklungsphase aus (c Kap. 7). »Ich bin, was ich kann« kennzeichnet das Erleben eines Kindes in der Latenzphase (»Ich kann schon lesen«, »Ich gehe schon in die Schule«, »Ich kann schon Radfahren«; c Kap. 9). Die in diesem Abschnitt kurz dargestellten somatischen, kognitiven und das Selbstbild betreffenden Entwicklungsschritte verändern dauer- haft das Erleben eines Menschen. Solche dauerhaften Veränderungen – auch wenn sie in einem nicht unerheblichen Maße flexibel bleiben – werden als »Struktur« bezeichnet. Seelische Strukturen bilden den stabi- leren Hintergrund des subjektiven Erlebens eines Menschen, das aus psychoanalytischer Perspektive meist unter dem Modell äußerer und in- nerer Konflikte betrachtet wird. Der folgende Abschnitt beschreibt die Bildung solcher Strukturen. 2.4 Strukturbildung und Konflikte Entwicklung verändert die seelische Struktur und beeinflusst damit das Erleben und Bewältigen aktueller Konflikte. Der Kontext des individuel- len Erlebens oder Verhaltens ist entscheidend – einfache Kausalbeziehun- gen im Sinne eines »Wenn-dann« können daher nur sehr eingeschränkt gelten. Die »Mehrfachdeterminierung« menschlichen Verhaltens trägt dazu bei, gebildete Strukturen als Ergebnis eines Zusammenspiels vieler unterschiedlicher Faktoren anzusehen. Struktur beschreibt die wenig variablen Aspekte von Verhalten und Erleben, wie sie durch eine Fremdbeobachtung erfasst werden. Beob- 38 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 39 2.4 Strukturbildung und Konflikte achter führen Verhalten weniger auf äußere Ereignisse zurück und be- rücksichtigen stärker Persönlichkeitsaspekte (»Sie kommt immer zu spät, weil sie die Aufmerksamkeit genießt, die sie damit kriegt«). Aus ei- ner solchen Perspektive beschreibt Struktur ein Netzwerk zeitlich über- dauernder, individuell ausgestalteter Repräsentanzen und Ich-Funktio- nen, mit dem intrapsychische und interpersonelle Prozesse reguliert werden (Arbeitskreis OPD, 2014). Struktur entsteht in Beziehungen – sie wird »gelernt« – in einem Wechselspiel von angeborenen Merkma- len (z. B. dem »Temperament« eines Kindes) und deren Aufnahme durch die Umwelt. Entwicklung führt zu – neuen oder veränderten – Strukturen. Vor allem bei Kindern ist daher deutlich zu beobachten, wie sich seelische Strukturen mit dem Alter ändern. Kenntnisse der altersentsprechenden Entwicklung von Strukturen sind daher von hoher Bedeutung. Zu wissen, welche Kompetenzen ein Kind in welchem Alter besitzt und erwirbt und mit welchen lebenspha- sentypischen Konflikten sich ein Kind, ein Jugendlicher oder Erwachse- ner auseinandersetzt, hilft dabei, andere zu verstehen und Schuldzuwei- sungen zu vermeiden. Nicht selten werden von Eltern oder anderen Bezugspersonen bei Kindern Fähigkeiten vorausgesetzt und verlangt (etwa zur Antizipation der Folgen des eigenen Verhaltens auf andere und zur Steuerung des eigenen Verhaltens aufgrund von Einsicht), die Erwachsenen nicht oder nur selten zur Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund wird in der klinischen und der pädagogischen Arbeit zwi- schen Struktur- und Konfliktmodell unterschieden. Diese Unterschei- dung ist oft nicht leicht zu treffen. Mit ihr verbundene Schwierigkeiten werden besonders deutlich, wenn die Differenzierung von struktur- und konfliktbedingten Verhaltensweisen bei erwachsenen Menschen ver- sucht wird. Ein Erfassen von inneren Konflikten (Konfliktmodell) erfordert als Grundhaltung ein empathisches Sich-Hineinversetzen in die Erzählun- gen eines Menschen, bei dem die Welt probeweise mit den Augen eines anderen gesehen wird. Diese empathische Betrachtungsweise entspricht der Selbstwahrnehmung eines Menschen und unterscheidet sich von der Position einer Fremdwahrnehmung (Strukturmodell). Aus der Posi- tion einer Selbstwahrnehmung oder eines empathischen Sich-Hinein- versetzens in einen anderen werden Erlebens- oder Verhaltensweisen in 39 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 40 2 Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und »Bezugswissenschaften« der Regel auf äußere Ereignisse bezogen (»Ich bin zu spät gekommen, weil ein Stau war«). Die Perspektive auf den Stau (und vielleicht zu- künftig dort auftretende Staus) ist für den Erzähler handlungsrelevant. Für den Fremdbeobachter sind dagegen die zeitlich überdauernden Merkmale der Person für die Vorhersage zukünftig zu erwartender Ver- haltensweisen wichtig, die Persönlichkeitseigenschaften als ein Merkmal von Struktur (»Du kommst immer zu spät, weil Du nicht rechtzeitig losgehst«). Werden sowohl (empathisch) die Konflikte als auch (beobachtend) die mit der Persönlichkeit eines Menschen verbundene Verhaltenswei- sen untersucht, zeigen sich meist rasch Verbindungen zwischen kon- fliktbedingter und »struktureller« Entstehung von Verhalten. Ein – ur- sprünglich – konfliktbedingtes Vermeiden von Verhalten führt mit der Zeit zu einem Verkümmern der entsprechenden Fähigkeiten: Nicht ge- nutzte kognitive und emotionale Bewältigungsstrategien verkümmern ebenso wie nicht aktiv bewegte Muskeln. Zugleich werden die Bewälti- gungsstrategien, die sich bereits bewährt haben, vermehrt eingesetzt und damit verbundene Verarbeitungsweisen weiter gebahnt. Diese kön- nen kurzfristig erfolgreich, aber mittelfristig unglücklich und dysfunk- tional sein. Dann kommt es zu einer Interaktion struktureller und kon- fliktbedingter Störungsanteile, die sich im Sinne eines »Teufelskreises« wechselseitig verstärken. Diese Interaktion lässt sich gut mit neurobiolo- gischen Konzepten zur Plastizität des Gehirns darstellen: Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn unterliegen einer beständigen erfah- rungsabhängigen Umorganisation. Für das vorhergehende Beispiel be- deutet dies, dass die nicht genutzten kognitiven und emotionalen Be- wältigungsstrategien aufgrund des Nichtgebrauchs »entknüpft« werden und sich zugleich neue Verbindungen verknüpfen, die die Informatio- nen der bewährten Bewältigungsstrategien enthalten. Die Differenzie- rung von Struktur und Konflikt ist daher aus biologischer und psycho- logischer Perspektive oft nicht klar zu treffen. Sie hängt auch von der Sichtweise des Untersuchers ab. Mit dem Berücksichtigen der Perspektive des Untersuchers als Bei- trag zur Unterscheidung von Konflikt und Struktur werden auch Ver- bindungen zu den Sozial- und Geisteswissenschaften sichtbar. Sie kön- nen hier nur angedeutet werden. Die Vorstellung, dass ein Verstehen 40 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 41 2.4 Strukturbildung und Konflikte der eigenen Verhaltens- und Erlebensweisen vor dem Hintergrund der eigenen Lebensgeschichte einen Wert an sich darstellt, beruht auf der Idee einer Entscheidungsfreiheit, die sich aus diesem Wissen ableitet. Eine größere Freiheit im Handeln liegt in der Chance, Erlebtes nicht wiederholen zu müssen, sondern reflektieren zu können. Dies ist eines der übergreifenden Ziele des psychoanalytischen Arbeitens. Aus einem selbstverständlichen und nicht bewussten »So ist die Welt« soll ein »So war sie; sie kann auch anders sein und werden« entstehen. Gabriel Gar- cía Márquez (»Leben, um davon zu erzählen«) beschreibt seine Wertschätzung dieses Erinnerns: »Nicht das, was wir gelebt haben, ist das Leben. Sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.« Er betont die Wichtigkeit, sich seiner Geschichte bewusst zu werden und sie erzählen zu können. Dabei werden zwei un- terschiedliche Haltungen beschrieben: Archäologen und Architekten Es ist oft strittig, wann es sich bei der Rekonstruktion von Sinnzusam- menhängen um eine Annäherung daran handelt, wie etwas tatsäch- lich gewesen ist, und wann es sich um eine »konstruktivistische« Sinn- stiftung handelt. Aus konstruktivistischer Sicht kommt es vor allem auf die Kohärenz an, den in sich logischen, sinnstiftenden Zusammen- hang einer sich entwickelnden Geschichte – nicht auf die Annäherung an eine mehr oder weniger objektive Wahrheit. Die »rekonstruktive« Sichtweise geht davon aus, sich der Wirklichkeit anzunähern: z. B. mit einem »Ich bin für Trennungen anfällig und muss solche Situationen sorgfältig handhaben; dies hängt damit zusammen, dass meine Mutter nach dem Tod meines Vaters depressiv war und ich mich in Situatio- nen, die mich daran erinnern, hilflos und verlassen fühle, wie da- mals«. Eine mit dieser Sichtweise verbundene therapeutische Haltung wird mit der des »Archäologen« verglichen. Aus konstruktivistischer Perspektive kann es darum gehen, inner- halb einer diagnostischen oder therapeutischen Beziehung gemein- sam eine konsistente Geschichte zu konstruieren – eine Geschichte, mit der ein Patient in besserer Weise als zuvor zurechtkommt. So 41 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 42 2 Psychoanalyse, Entwicklungspsychologie und »Bezugswissenschaften« kann im Laufe einer Therapie aus einem »Ich bin ein Opfer meiner Eltern, die mich verlassen haben und kaum für mich da waren« et- was entstehen wie »Ich bin jemand, der Härten überstehen konnte«. Eine therapeutische Haltung, die nach »Nützlichkeit und Funktion« statt nach »Wahrheit« fragt, wird mit der eines »Architekten« vergli- chen. Zusammenfassung Die Vielfalt der psychoanalytischen Entwicklungsmodelle trägt mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen zu einem breit angelegten Ver- stehen von Entwicklungsaufgaben bei. Triebtheorie, Ich-Psychologie, Selbstpsychologie, Objektbeziehungstheorie, Bindungstheorie, rela- tionale und strukturale Analyse beschreiben unterschiedliche Model- le des Psychischen. Sie sind mit jeweils eigenen Bildern von Kindern und Kindheit verbunden. Mit dem Bewältigen von Konflikten und Entwicklungsaufgaben entwickeln sich psychische Strukturen. Ob Verhalten eher unter dem Gesichtspunkt des Erlebens von Kon- flikten oder besser als Ausdruck struktureller Entwicklungen be- schrieben werden kann, hängt auch von der Haltung des Beobach- ters und den Modellen ab, die er verwendet. Kritische Fragen an die psychoanalytischen Entwicklungspsycho- logie betrafen früher vor allem die Betonung der frühen Jahre für die Entwicklung eines Kindes. Die hohe Bedeutung dieser ersten Le- bensjahre für die menschliche Entwicklung über die gesamte Lebens- spanne wird inzwischen kaum noch bezweifelt. Aktuelle Fragen und Kontroversen beziehen sich auf die Bedeutung unbewusster Prozesse und Phantasien für die Entwicklung von Kindern, auf Veränderun- gen der Bedeutung von Lust und Sexualität und auf die Entwicklung von Identität unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingun- gen. 42 Staats, Grundlagen 27.4.21 S. 43 2.4 Strukturbildung und Konflikte Literatur zur vertiefenden Lektüre Dornes, M. (2010). Die Seele des Kindes (3. Aufl.). Frankfurt am Main: Fischer. Mertens, W. (2011). Entwicklungsorientierung in der Psychoanalyse – überflüssig oder unerlässlich? Psyche Z. Psychoanal 65, 808–831. Mertens, W. (2010, 2011). Psychoanalytische Schulen im Gespräch. Bern: Huber. Pine, F. (1990). Die vier Psychologien der Psychoanalyse und ihre Bedeutung für die Praxis. Forum der Psychoanalyse Bd. 6, Heft 3, 232–294. Fragen zum weiteren Nachdenken Welche Theorien der Psychoanalyse finden Sie überzeugend –welche befremden Sie eher? Beschreiben Sie Unterschiede und Wechselwirkungen von Konflikt und Struktur. Sehen Sie psychoanalytische Entwicklungspsychologie eher konstruk- tivistisch oder rekonstruierend – als Handwerkszeug eines Architek- ten oder eines Archäologen? 43

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