Diagnosen & Klassifikationssysteme PDF
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Diese Präsentation behandelt Diagnosen und Klassifikationssysteme, insbesondere die Kritikpunkte und Argumente zur Antipsychiatrie, das Etikettierungs-Problem, die Rosenhan-Studie, und die Herausforderungen in der psychiatrischen Diagnostik. Die Präsentation deckt Themen wie die Klassifikation psychischer Störungen, die verschiedenen Ebenen und die wissenschaftliche Validität diagnostischer Systeme ab. Ein Fallbeispiel und die Vorteile einer diagnostischen Klassifikation sind ebenfalls vertreten.
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Diagnosen & Klassifikationssysteme Klassifikatorische Diagnostik Definition: > Zuweisung von Diagnosen zu einem Symptomkomplex einer Person. Ebenen: Diagnosen Kritikpunkte Antipsychiatrie: Defekt liegt in der Gesellschaft. Etikettierung: psychisch krank ≠ realer Zustand, sondern Zuschreibung der Kra...
Diagnosen & Klassifikationssysteme Klassifikatorische Diagnostik Definition: > Zuweisung von Diagnosen zu einem Symptomkomplex einer Person. Ebenen: Diagnosen Kritikpunkte Antipsychiatrie: Defekt liegt in der Gesellschaft. Etikettierung: psychisch krank ≠ realer Zustand, sondern Zuschreibung der Krankenrolle vergleiche auch Hoyer & Knappe, 2020, Kapitel 2.1.2, Tabelle 2.1 Zusatzinformation: Problem „Etikettierung“ Rosenhan‐Studie (Science, 1973) Acht normale Menschen (Pseudopatient:innen) stellten sich in verschiedenen psychiatrischen Kliniken vor und sagten, sie würden Stimmen hören, die die Worte „leer“, „hohl“ und „bums“ aussprächen. Jeder der Patient:innen wurde mit der Diagnose „Schizophrenie“ stationär aufgenommen Dauer der Hospitalisierung: 7‐52 Tage (obwohl sich alle Pseudopatient:innen normal verhielten) Etikett „Schizophrenie“ beeinflusste Wahrnehmung der Pseudopatient:innen durch Klinikpersonal (wenn einer aus Langeweile im Flur auf‐ und abging, wurde notiert, dass er sehr „nervös“ sei). Verhalten des Personals wurde von Pseudopatient:innen als autoritär, herablassend und kontraproduktiv eingeschätzt Die Pseudopatient:innen entwickelten darauf hin tatsächlich Symptome wie Depersonalisation, depressive Symptome und Ohnmacht https://www.youtube.com/watch?v=D8OxdGV_7lo Achtung: Wissenschaftliche Integrität dieser Studie nicht gegeben! Zusatzinformation: Problem „Etikettierung“ Rosenhan‐Studie (Science, 1973) Acht normale Menschen (Pseudopatient:innen) stellten sich in verschiedenen psychiatrischen Kliniken vor und sagten, sie würden Stimmen hören, die die Worte „leer“, „hohl“ und „bums“ aussprächen. Jeder der Patient:innen wurde mit der Diagnose „Schizophrenie“ stationär aufgenommen Dauer der Hospitalisierung: 7‐52 Tage (obwohl sich alle Pseudopatient:innen normal verhielten) Etikett „Schizophrenie“ beeinflusste Wahrnehmung der Pseudopatient:innen durch Klinikpersonal (wenn einer aus Langeweile im Flur auf‐ und abging, wurde notiert, dass er sehr „nervös“ sei). Verhalten des Personals wurde von Pseudopatient:innen als autoritär, herablassend und kontraproduktiv eingeschätzt Die Pseudopatient:innen entwickelten darauf hin tatsächlich Symptome wie Depersonalisation, depressive Symptome und Ohnmacht https://www.youtube.com/watch?v=D8OxdGV_7lo Achtung: Wissenschaftliche Integrität dieser Studie nicht gegeben! Diagnosen Kritikpunkte Antipsychiatrie: Defekt liegt in der Gesellschaft. Etikettierung: psychisch krank ≠ realer Zustand, sondern Zuschreibung der Krankenrolle Humanismus: Krankheitskonzept nicht hilfreich. Psychische Störungen als Wachstums‐ und Reifestörungen. Dimensionalität: Kategorialer Charakter der Diagnosesysteme negiert Kontinuum und Vielschich gkeit der Realität. (→ Widerspruch z.T. aufgehoben) Informationsverlust: ungenügende Beschreibung des Einzelfalls Hypothetische Konstrukte: künstliche Einheiten Validität: Abbildung realer Einheiten? Reliabilität: können Störungen zuverlässig diagnostiziert werden? (→ deutlich besser als früher) vergleiche auch Hoyer & Knappe, 2020, Kapitel 2.1.2, Tabelle 2.1 Zusatzinformation Diagnosen als Konstrukte Kritikpunkte «Bildet eine psychiatrische gleich einem Fotoapparat, die Antipsychiatrie: Defekt liegt inDiagnose, der Gesellschaft. «dahinter» einfach ab? Zementiert sie in diesem Etikettierung:stehende psychischKrankheit krank ≠ realer Zustand, sondern Zuschreibung der Fall nicht ein unkritisches medizinisches Modell? Oder sind unsere Diagnosen Krankenrolle begriffliche Konstrukte, die je nach wissenschaftlichem Erkenntnisstand Humanismus: Krankheitskonzept nicht hilfreich. Psychische Störungen als veränderbar sindReifestörungen. und deren alleiniges Ziel es ist, eine reliable psychiatrische Wachstums‐ und Terminologie zu etablieren? Oder sind sie gar, wie immer häufiger Dimensionalität: Kategorialer Charakter der Diagnosesysteme negiert Kontinuum und argumentiert überflüssige Relikte einer Vielschichtigkeitwird, der Realität. (→ Widerspruch z.T.vergangenen aufgehoben) Epoche… « (Hoff, 2018) Informationsverlust: ungenügende Beschreibung des Einzelfalls Hypothetische Konstrukte: künstliche Einheiten Validität: Abbildung realer Einheiten? Reliabilität: können Störungen zuverlässig diagnostiziert werden? (→ deutlich besser als früher) vergleiche auch Hoyer & Knappe, 2020, Kapitel 2.1.2, Tabelle 2.1 Zusatzinformation: Diagnostik ohne klare Klassifikationsregeln? Problem: Kliniker:innen als «fehlerhafte Informationsverarbeiter:innen» angewendete Heuristiken führen zu Fehlschlüssen (Kahnemann & Tversky, 1974). Beispiel Availability‐Heuristik (Fiske & Tayler, 1982): Wahrscheinlichkeit eines Umstandes wird aus der Leichtigkeit geschätzt, mit der einem die entsprechende Information einfällt. im Zweifelsfall wird Störung bzw. von schwerere Störungen, vergeben: Gefahr falsch‐positiver Diagnosen Berühmte Untersuchung von Bakwin (1945): Bei 611 von 1000 Schüler:innen wurden Mandeln entfernt. Die verbliebenen wurden ärztlich untersucht, was bei weiteren 174 zur Empfehlung «Mandeln entfernen» führte. Von verbliebenen 215 wiederum 99...etc. Diagnosen Vorteile Nachvollziehbarkeit und Reliabilität durch deskriptive, kriteriumsorientierte und operationalisierte Klassifikationssysteme gestiegen. Dies dient als Basis für präzise Kommunikation: vom Gleichen sprechen Wissenschaftliche Untersuchung von (hypothetisch) homogenen Gruppen ermöglicht Erkenntnisgewinn bzgl Aetiologie, Epidemiologie, Behandlung… Therapieindikation & Prognose in der Praxis werden durch klassifikatorische Diagnostik unterstützt Rechtliche und abrechnungstechnische Fragen: Diagnose zur Dokumentation und Abrechnung nötig vergleiche auch Hoyer & Knappe, 2020, Kapitel 2.2.2 und Folie «Ziele heutiger Klassifikationssysteme» Diagnosen & Klassifikationssysteme Klassifikatorische Diagnostik Definition: > Zuweisung von Diagnosen zu einem Symptomkomplex einer Person. Ebenen: Merkmale heutiger Klassifikationssysteme Kriteriumsorientiert: Klare Kriterien, die möglichst exakt exploriert und beobachtet werden können (z.B. „Vorliegen einer depressiven Verstimmung die meiste Zeit über mindestens 14 Tage“) Operationalisiert: explizite Ein‐ und Ausschlusskriterien und diagnostische Entscheidungs‐ und Verknüpfungsregeln (z.B. mindestens 4 von 12 Kriterien für die Diagnose einer Störung durch Glücksspielen) Ziel: Höhere Reliabilität Deskriptiv: Möglichst umfassend beschreibend (≠ erklärend) Atheoretisch: Ätiologische Annahmen (Annahmen über Ursachen) aufgegeben aufgrund des unbefriedigenden Wissensstandes Prototypen‐Modell: Diagnosen = prototypische Konstellation. In der Realität variieren Patient:innen (individuelle Merkmalskonstellation) ‐> Diagnosen = über Ähnlichkeiten abstrahierte Konstrukte Ziele diagnostischer Klassifikationssysteme > > > > > > Beitrag zur Indikationsstellung: ‐ Welche Intervention ist angezeigt? Aber: Diagnose meist nicht hinreichend zur Indikationsentscheidung ‐ Hinweise auf Kontraindikationen: Welche Intervention ist NICHT angezeigt? Verbesserte Kommunikation zwischen Forscher:innen, Praktiker:innen, Einrichtungen (in wissenschaftlichen Studien und in der Praxis wird vom „Gleichen“ gesprochen) Informationsreduktion: von Diagnosen kann z.B. auf Störungsmerkmale (typische Symptome, …) geschlossen werden Verbesserte Prognose im Hinblick auf den zu erwartenden Verlauf Begründung und Rechtfertigung einer Behandlung (abrechnungstechnisch; Diagnosen für Abrechnung einer Intervention notwendig; auch zur Dokumentation eines Falles) Wissenschaft: Bildung von Klassen (Diagnosen) ermöglicht empirische Analysen zu hypothetisch homogenen Gruppen von Patient:innen (z.B. Ätiologie, Epidemiologie, Symptomatologie, Behandlungsmöglichkeiten der Depression) vergleiche auch Hoyer & Knappe, 2020, Kapitel 2.2.2 und Folie «Diagnosen – Vorteile» Klassifikatorische Diagnostik Definition: > Zuweisung von Diagnosen zu einem Symptomkomplex einer Person. Ebenen: Klassifikationssysteme psychischer Störungen Überarbeitung im Expert:innenkonsens circa alle 15 Jahre Klassifikationssysteme psychischer Störungen International Classification of Diseases (ICD) Weltgesundheitsorganisation (WHO) Alle Krankheiten (nicht nur psychische Störungen) Heute meist ICD‐10 im Gebrauch abrechnungstechnisch verpflichtend 11te Revision (ICD‐11): Juni 2018 erschienen, Mai 2019 von WHO verabschiedet. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) American Psychiatric Association (APA) Nur psychische Störungen Differenziertere Beschreibung psychischer Störungen als in ICD Wissenschaftsnähe: In Forschung fast verpflichtend 5te Revision (DSM‐5) 2013 (E) bzw 2015 (D) erschienen Fallbeispiel Der 52jährige Lehrer war bereits vor 14 Jahren erstmalig „in einer schlimmen Phase“ erkrankt und in stationär‐psychiatrischer Behandlung gewesen. Nachdem sich seine Ehefrau vor einem Jahr von ihm getrennt habe, kam es erneut zu einer „Krise“. Meist sei er Stunden bevor der Wecker klingelt wach und könne nicht mehr einschlafen. Er grüble viel und frage sich, warum es so kommen musste. Oft denke er abends vor dem Einschlafen wie schön es wäre, am nächsten Tag einfach nicht mehr aufzuwachen und alles hinter sich zu lassen. Er fühle sich völlig energielos und niedergeschlagen. Er gehe in der letzten Zeit auch nicht mehr in den Sportverein, wo er Mitglied sei. Er merke auch, dass er Probleme mit seiner Konzentration habe, weshalb es bei der Arbeit bereits zu Ärger mit Kollegen gekommen sei. Außerdem habe er in den letzten Monaten wenig Appetit. Momentan sei er durch seinen Hausarzt krank geschrieben. Psychische Störungen (DSM‐5) Depressive Störungen (DSM‐5) (Hoyer & Knappe, 2020, Kapitel 46, Abb. 46.1) Fallbeispiel Der 52jährige Lehrer war bereits vor 14 Jahren erstmalig „in einer schlimmen Phase“ erkrankt und in stationär‐psychiatrischer Behandlung gewesen. Nachdem sich seine Ehefrau vor einem Jahr von ihm getrennt habe, kam es erneut zu einer „Krise“. Oft sei er Stunden bevor der Wecker klingelt wach und könne nicht mehr einschlafen. Er grüble viel und frage sich, warum es so kommen musste. Oft denke er abends vor dem Einschlafen wie schön es wäre, am nächsten Tag einfach nicht mehr aufzuwachen und alles hinter sich zu lassen. Er fühle sich völlig energielos und niedergeschlagen. Er gehe in der letzten Zeit auch nicht mehr in den Sportverein, wo er Mitglied sei. Er merke auch, dass er Probleme mit seiner Konzentration habe, weshalb er bei der Arbeit bereits Ärger mit den Kollegen habe. Außerdem habe er in den letzten Monaten wenig Appetit. Momentan sei er durch seinen Hausarzt krank geschrieben. Diagnose nach DSM‐5: Major Depression, rezidivierende Episode, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome (F33.2) Fazit zur klassifikatorischen Diagnostik Klassifikation bringt viele Vorteile, sollte jedoch mit Bedacht angewendet werden Diagnosen sind wissenschaftstheoretische Konstrukte: Diskussion um Validität von Diagnosen wurde und wird laufend geführt: Wie genau bilden diagnostische Kategorien reale Krankheitseinheiten ab? → Deshalb auch fortlaufende Anpassung von Diagnosesystemen Diagnostische Klassifikation ist heute notwendig, aber im Kontext der individualisierten Therapie nicht hinreichend Diagnostische Klassifikationssysteme sind heute: atheoretisch, deskriptiv, kriteriumsorientiert und operationalisiert → damit Diagnosen reliabler gestellt werden können Menschen/Kliniker:innen klassifizieren sowieso: Deshalb besser explizit und anhand operationalisierter Kriterien