Zusammenfassung Literaturwissenschaft PDF
Document Details
![LeanPopArt1082](https://quizgecko.com/images/avatars/avatar-17.webp)
Uploaded by LeanPopArt1082
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Tags
Summary
Diese Zusammenfassung fasst die ersten Vorlesungen einer Vorlesungsreihe zur Literaturwissenschaft zusammen. Sie behandelt Themen wie Wort- und Begriffsgeschichte, Mündlichkeit/Schriftlichkeit, die Bedeutung des Buchdrucks und die Entstehung der Figur des Autors.
Full Transcript
Vorlesung 1 – 17.10.2022 Einführung: Was ist Literatur? Eine Übersicht über mögliche Antworten 1. Wort- und Begriffsgeschichte Bedeutung: Literatur → Gesamtheit des Schrifttums Herleitung: aus dem Lateinischen (litteratura = Buchstabenschrift) Kernbedeutung: Literatur hat mit dem Buchstaben, der S...
Vorlesung 1 – 17.10.2022 Einführung: Was ist Literatur? Eine Übersicht über mögliche Antworten 1. Wort- und Begriffsgeschichte Bedeutung: Literatur → Gesamtheit des Schrifttums Herleitung: aus dem Lateinischen (litteratura = Buchstabenschrift) Kernbedeutung: Literatur hat mit dem Buchstaben, der Schrift, dem Geschriebenen zu tun Literatur bis zum 18. Jhd: Gesamtheit des Schrifttums, Gelehrsamkeit/Wissenschaft Literatur ab dem 18. Jhd: semantische Wandlung → „schöne“ Literatur, Werke der Dichtung heutige Bedeutung: 1. Gesamtheit des Schrifttums (insbesondere der Druckwerke) → zB Export u. Vertrieb 2. Gesamtheit des Schrifttums (insbesondere der Druckwerke) in einem bestimmten Bereich / auf einem Fachgebiet → zB medizinische, technische, pädagogische Literatur 3. Gesamtheit der Dichtung / Belletristik → klassische, unterhaltende, bürgerliche, zeitgenössische, deutsche, französische Literatur 2. Mündlichkeit/Schriftlichkeit – Oralität/Literalität Platos Kritik an der Schrift im „Phaidros“ - schwächt Gedächtnis - zur Vermittlung von Weisheit ungeeignet (nur mündl.) - führt zu falscher Selbsteinschätzung - mangelhaftes Abbild des Redens - wahrer Philosoph vermittelt sein Wissen über das Reden Paradox: nur dank schriftlicher Überlieferung Verbreitung der Meinung Sokrates in der Literaturtheorie des 20. Jhd. Jacques Derrida: kritisiert Phonozentrismus (Primat des gesprochenen Wortes) zwei Arten von Schrift: 1. phonetische/alphabetische Schrift = untrennbar mit Stimme/gesprochenem Wort verbunden 2. Schrift im eigentlichen Sinne („Archi-Schreiben“) = verlagert Schreiben vom Phonozentrismus zum Logozentrismus Erforschung der Mündlichkeit - Tradition schon im frühen 19. Jhd → Brüder Grimm sammeln mündlich tradierte Märchen - Jack Goody (20. Jhd) untersucht soziale Veränderungen im Zusammenhang mit Entwicklung des Schreibens u. der Alphabetisierung - Semantik mündlicher Aussagen beruht auf vielen Parametern: Bedeutung eines Wortes ergibt sich aus der Abfolge konkreter Situationen, nicht außerhalb dieses Alltags im gleichen Wortlaut fixiert Mittelalterliche Literatur als orale Literatur - schriftliche u. mündliche Literatur treffen zusammen - Entstehung schriftlicher Werke durch mündliche Überlieferung (zB Nibelungenlied) - volkssprachliche Literatur setzt Anwesenheit eines Erzählers/Sängers u. Publikums voraus 3. Literatur im Zeitalter des Buchdrucks: Gutenberg und die Folgen - Buchdruck um 1440 in Mainz entwickelt - ermöglicht Wiederholbarkeit von Texten - Entstehung eines Publikums, das identische Texte lesen konnte vor dem Buchdruck: - Text als Unikat, vom Träger u. Abschreiber geprägt Konkurrenz von Buchdruck und Manuskriptkultur: - Geschwindigkeit, Komfort, ästhetische Vollkommenheit - Drucktypen nach Vorlage ausgesuchter Handschriften gefertigt 4. Die frühe Neuzeit: Literatur im Zeitalter der Vervielfältigung Verteilung der Buchproduktion in der Neuzeit - England u. Frankreich: Buchproduktion wächst in Neuzeit kontinuierlich - Deutschland: 30-jähriger Krieg verhindert ähnliche Entwicklung, wird Ende 17. Jhd nachgeholt zwei entgegengesetzte Tendenzen - frühaufklärerische Begeisterung für das Buch als Garant des Wahren = Buch als Werkzeug des Rationalismus - Kritik an der „Lesesucht“ im späten 18. Jhd = Buch als Gefährder, Auslöser von Leidenschaften Briefkultur - „Kunst der gewollten Kunstlosigkeit“ → ungeschminkte Darstellung des Subjekts individuelle Autorschaft - Autor als Rechtssubjekt in ökonomischer, juristischer u. philosophischer Hinsicht - individueller Stil wird Unterscheidungsmerkmal u. Markenzeichen Schlussbetrachtung 1. Entwicklung des Literaturbegriffs hängt mit Mediengeschichte zusammen - mündliche/schriftliche Tradierungsformen von Texten (von Antike bis frühe Neuzeit) - handschriftliche Überlieferungsformen / Buchdruck (seit 15. Jhd) 2. Erfindung des Buchdrucks hat paradoxen Einfluss auf Literaturbegriff - Vermehrung von gedruckten Texten, Ausweitung der Leserschaft - Literaturbegriff auf einen kleinen Teil der Textproduktion eingegrenzt („schöne“ Literatur) → beide Phänomene miteinander verbunden: „Literatur“ muss sich im Sinne ihrer qualitativen Wahrnehmung vor der „Masse“ schützen Vorlesung 2 – 24.10.2022 Der Autor – ein vielschichtiger Begriff 1. Entstehung und Funktionen der Figur des Autors – Fragen, Beispiele u. historische Einblicke Funktionen des Autornamens - kognitive Funktion (erkennen, klassifizieren) - ökonomische Funktion (Markenzeichen, Wiedererkennungseffekt) - juristische Funktion (zentrale Funktion, Autor verfügt über Eigentumsrechte) Frühgeschichte des Urheberrechts (18. Jhd) - individualisierter Autorbegriff - Originalitätsbegriff - Autor als eine mit Rechten versehene Instanz Brecht - kopierte übersetzte Balladen in sein Werk - befürwortet Kopien Diderot - wegen seiner Texte im Gefängnis - Verantwortung für seine Publikation Homer - wahrscheinlich mehrere Autoren, die unter dem Namen „Homer“ zusammengefasst wurden Ossian - existiert nicht, wird dennoch als Autor angesehen Fazit - Rückführung der als Autor bekannten bzw. angegebenen Figur auf eine historisch gegebene Person fraglich/unmöglich/unklar (Homer, Ossian, Winckelmann) - haben dennoch Funktion als Autor erfüllt 2. Roland Barthes und der „Tod“ des Autors - Autor ist Produkt der Neuzeit, Wert des Individuums wurde entdeckt - früher: Erzählung eines Vermittlers, man konnte nur Ausführung bewundern, nicht Erfindung des Inhalts - Schrift zerstört das Werk - Text wird so gemacht u. gelesen, dass der Autor verschwindet Etymologie „Auctor“ - quantitativ = vergrößert Textmenge - qualitativ = bürgt für enthaltene Aussagen, erhöht Glaubwürdigkeit - Text: Gewebe von Zitaten vieler Kulturstätten - Autor kann nur Schriften vermischen 3. Michel Foucault: „Was ist ein Autor?“ -Autorname - klassifikatorische Funktion (Texte gruppieren, abgrenzen) - Inbezugsetzung der Texte zueinander (Homer u. Ossian gab es nicht, aber mehrere Texte laufen unter gleichem Namen → Verhältnis gegenseitiger Erklärung) Autor, Schreiber, Verfasser: Begriffliche Unterscheidung - privater Brief hat Schreiber, aber keinen Autor - anonymer Text hat Verfasser, aber keinen Autor Autorfunktion - in Antike, Mittelalter u. frühe Neuzeit: Texte bedurften keines Autors - je nach Epoche o. Gattung anders - nicht identisch mit Erzähler o. Person des Schriftstellers → partizipiert aber an diesen Identitäten: „Ego-Pluralität“ Ausdifferenzierung des Autorbegriffs - nach außen (zur Welt): Autor =/= Schriftsteller - nach innen (zum Werk): Autor =/= Erzähler Einwände des Buchhistorikers Roger Chartier: - Mittelalter nicht autorlose Schriftproduktion - heutiger Literaturbetrieb (Werbung) braucht Autorfigur → Rückkehr des Autors Vorlesung 3 – 07.11.2022 Vom Lesen zum Schreiben: Intertextualität, Zitat, Plagiat 1. Nachahmung/Originalität: Historische Einblicke in die Begriffs- und Praxisgeschichte Nachahmung: vieldeutiger Begriff der Rhetorik - Reproduktion eines Vorbildes: imitatio - Wettstreit mit diesem Vorbild: aemulatio - Überbietung dieses Vorbildes: superatio Nachahmung in der frühen Neuzeit → Aneignungsprozess bietet vielfältige Formen und Grade - Übersetzung - Adaption - Zitat (ausgewiesen oder unausgewiesen) - Zusammenfassung - Anspielung - Variation (von Themen, Stilelementen, Ideen usw) mit verschiedenen Absichten (Parodie, Respektbekundung usw) → ab 18. Jhd: Paradigma der Originalität verdrängt Paradigma der Nachahmung, dennoch bleibt diese Praxis konstant u. zieht sich durch gesamte Literaturgeschichte hindurch → Nachahmungspraktiken gehören zur Literatur 2. Nachahmung/Originalität: Theoretische Ansätze der Literaturwissenschaft Roland Barthes: Tod des Autors - grundsätzliche Autorlosigkeit von Literatur - löst traditionelle Verbindung von Autor u. Text auf - übrig bleibt Text, struktureller Mittelpunkt des Literaturbegriffs: → Text ohne Autor als Gewähr für die „echte“ Bedeutung des Geschriebenen → Text ohne Urheber mit Anspruch auf „Originalität“ → Text als „Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur“ Vorgänger: Der russische Formalismus - Wiktor Borissowitsch Schklowski: Begründer OPOYAZ → Autonomie unterscheidet literarischen von nicht literarischen Texten (Selbstreferenzialität) 3. Praktiken der Speicherung und Verwertung von Gelesenem: Exzerpieren, Zitieren, Plagiieren Historische Einblicke → Exzerpte gab es schon in der Antike effiziente Auswertung von Exzerpten → Herstellung von Registern, Katalogen, Verzeichnissen Kritik des Exzerpts im 18. Jhd → exzerpieren: aus einem Buch in ein anderes übertragen, „neben dem Kopfe vorbei“ Vorlesung 4 – 14.11.2022 Wozu Epochenbegriffe in der Literaturwissenschaft? (am Beispiel von Klassik und Aufklärung) 1. „Klassik“ und „Klassizismus“ als Epochenbegriffe 1. Klassik, Klassizismus, klassisch: Einblicke in die Begriffsgeschichte Das Wort „classicus“ 1. sozial-wirtschaftliche Bedeutung: civis classicus = Bürger der höchsten Steuerklasse (es geht um Wert u. Kapital) 2. metaphorische Anwendung auf den Bereich der Literatur: classicus = Autor aus der Vergangenheit mit sprachlicher Mustergültigkeit (Autor als Vorbild, an dem man sich orientieren konnte) 3. erste Anwendung in einer modernen Sprache (16. Jhd auf Frz.) = Lektüre der guten u. klassischen französischen Dichter „klassisch“: erste Anwendung in der deutschen Sprache: 2. Hälfte 18. Jhd (200 Jahre nach fr. Renaissance) → Johann Gottfried Herder: klassische Schriftsteller (Winckelmann, Lessing usw) → Werke der Unsterblichkeit würdig, der Name unseres Jahrhunderts erste semantische Bilanz - Bezeichnung „klassisch“: Qualitäten (Klarheit, Schlichtheit usw) → normative Bedeutung - „klassisch“ kann zeitlich gesehen auf antike Autoren angewandt werden, aber auch auf moderne (kann auf eine Periode hinweisen) → historische/historisierende Bedeutung - 18. Jhd – 19. Jhd: „klassisch“ als Bezeichnung einer vorbildlichen Epoche der eigenen modernen Literatur- u. Kunstgeschichte → historisch moderne, nationale Bedeutung Klassik: Semantische Felder - Gegenpol zur Romantik: agonale (kämpferische) Dimension - historiographische Dimension → Epochenbegriff: glanzvoll wahrgenommene Periode (zeitlich je nach Land variabel; DE Lessing bis Goethe) - ästhetische Einstellung, Orientierung am antiken Modell (Ausgewogenheit, Harmonie) Zwei Dimensionen normative Dimension (Klassik als „schön“) vs. historische Dimension (Klassik als Epoche) → man kann beide Dimensionen nicht voneinander trennen, nie historisch/normativ neutral → eine Epoche als „Klassik“ zu bezeichnen, setzt immer eine Wertschätzung voraus 2. Die deutsche Klassik als Begriff - Winckelmann ist für Goethe eine antike Figur in der Moderne - Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke → hat keine einheitliche Theorie - Laokoon: unruhige Gruppe, dennoch „schön“ u. „klassisch“ → uneinheitliche Theorie - Winckelmann: Stilphasen im antiken Griechenland → 1. Periode (vor 5. Jhd v. Chr.): älterer Stil → 2. Periode (5. Jhd v. Chr.): hoher/großer Stil → 3. Periode (Anfang 4. Jhd v. Chr. - Tod Alexander d. Gr.): schöner Stil → 4. Periode (Ende 4. Jhd. v. Chr. - römisches Reich): Stil der Nachahmer (Dekadenz der Kunst) 3. Klassizismus als Denkstruktur - Rückbesinnung auf Vergangenheit - Norm für die Gegenwart - Maßstab für die Zukunft 2. „Aufklärung“ als Epochenbegriff - axiomatische Bedeutung: Set von Ideen/Wertvorstellungen mit universellem Geltungsanspruch - historische u. historiographische Bedeutung: bestimmter Zeitraum der Geschichte - Aufklärungsbegriff besitzt zweifache Dimension → außerhalb der Geschichte (außerhalb historischer Perspektive): Ensemble von Leitideen, zeitlose Werte, Status des Menschen im Allgemeinen (Freiheit u. Würde, Gleichheit vor dem Gesetz) → in der Geschichte: bestimmter Zeitraum der Geschichte, bestimmte Bewegung - Pierre Bayle: Aufklärung = Toleranz - Jean Le Rond d‘Alembert = mehrere Revolutionen in der Geschichte → Mitte 15. Jhd.: Eroberung Konstantinopels (wissenschaftliche Revolution) → Mitte 16. Jhd.: Religion und System (religiöse Revolution) → Mitte 17. Jhd.: Aufklärung (philosophische Revolution) Kritik der Aufklärung (in Frankreich) - Alexis de Tocqueville: negative Auswirkungen auf Kirche, in DE keine Aufklärungsbewegung im 18. Jhd weil kein Angriff auf die Kirche Hermann Hettner: Literaturgeschichte des 18. Jhd - historische Dimension: Aufklärung nur allgemeine Literaturgeschichte des 18. Jhd - normative Dimension: deutsche Bildung u. französische Revolution von Aufklärung geleitet - deutsche Aufklärung ist die stärkste aller Aufklärungsformen - axiomatisch, kontrovers, nicht neutral, kritisch Vorlesung 5 – 21.11.2022 Klassiker – Versuch einer Begriffsbestimmung (am Bsp Shakespeare in DE und FR) Einleitung - Klassiker: Verfasser von Texten, die einer literarischen Klassik zugeordnet werden - Autor maßstabsetzender u. als mustergültig anerkannter literarischer Texte - Klassiker-Begriff mit „Klassik“ verbunden; historische u. semantische Gemeinsamkeiten →am Nationalisierungsprozess beteiligt, zur nationalen Identitätsbildung werden nationale Klassiker/Klassiken gebildet → politische, ökonomische usw Akteure (Schulen, Unis, Museen usw) fördern Klassiker → gemeinsame Semantik, gleiche historische u. normative Bedeutung - Klassiker je nach Land verschieden (DE: Goethe u. Schiller, EN: Shakespeare) - zwei Bedeutungsebenen: normativ (Vorbild), historisch (Epoche) → Dimensionen nie zu trennen, immer beides / nicht wertneutral 1. „Klassiker“: Wort- und Begriffsgeschichte - Anhänger der Moderne: Charles Perrault, Fontenelle - Anhänger der Antike: Nicolas Boileau, Jean Racine → können die großen Autoren der Moderne die Mustergültigkeit der Autoren der Antike erreichen → Perrault: Moderne ist Antike in Naturwissenschaften überlegen Du Bos: 4 große Kulturepochen - Zeitalter des Perikles (Antike) - Zeitalter des Augustus (römischer Kaiser) - Zeitalter der Mediceer (Florenz) - Zeitalter Ludwigs XIV. (lobt besonders diese Klassiker) Deutsche Sprache - Johann Gottfried Herder: „klassische Schriftsteller“ → Voltaire bezieht sich in seiner Aufzählung französischer klassischer Autoren auf alte/verstorbene Schriftsteller; Herder bezieht sich auf lebende Zeitgenossen; zeitgenössische Literatur wird als normativ definiert Friedrich Schlegel - betont nationale Dimension des Klassiker-Begriffs - Klassiker als Wohltäter der Nation semantische Bilanz - normative Bedeutung: hervorragende literarische Eigenschaften (Klarheit, Schlichtheit usw) - historische/historisierende Bedeutung: verweisen auf Autoren eines bestimmten Zeitalters (FR: Ludwig XIV.: 17./18. Jhd), (DE: 18./19. Jhd, Lessing bis Goethe); inzwischen gibt es Klassiker jeder Epoche - in Neuzeit: starke nationale Bedeutung → Klassiker als Figuren einer vorbildlichen Epoche der eigenen modernen Literatur- und Kunstgeschichte 3 Bedeutungsebenen - normative Bedeutung - historische Bedeutung (nie neutral, setzt Wertschätzung voraus) - nationale Bedeutung → Klassikbegriff: nationale Bedeutung eher neutraler → Klassikerbegriff: nationale Bedeutung viel ausgeprägter (- agonale Dimension: Gegensatz zu „Romantiker“) 2. Konstruktion und Rezeption eines europäischen Klassikers: Shakespeare in Deutschland und Frankreich (18. - 19. Jhd) Was passiert, wenn ein nationaler Klassiker-Kanon in ein anderes Land übertragen wird? Gemälde „Homère déifé, dit aussi L‘Apothéose d‘Homère“ von Ingres - Homer wird gekrönt als „König der Dichter“ von einer engelhaften Figur - Darstellung von Klassikern aus Kunst u. Literatur, auch eigene Klassiker mit eingebunden → Klassiker aus der französischen Kunst (Schriftsteller, Maler, Bildhauer) - v.a. antike u. französische Klassiker, nur am Rande zwei weitere nicht französische Klassiker (Shakespeare und Tasso) deutsche Shakespeare-Rezeption - in Frankreich eher kritisiert, in Deutschland für dieselben Eigenschaften eher gelobt - Merkmale nicht als Schwäche darstellen, sondern als eine Stärke seiner Dramen - Shakespeare genauso Deutscher wie Engländer, weil die Deutschen ihn genauso sehr lieben Vorlesung 6 – 28.11.2022 Gattungen – Versuch einer Begriffsbestimmung (am Beispiel „Roman“) 1. Zum Gattungsbegriff überhaupt „Gibt es Gattungen wirklich?“ → „Universalienstreit“ - für Nominalisten: Allgemeines (zB Gattungskategorien) gibt es nur als Namen - für Realisten: Allgemeines existiert wirklich Nominalisten - Etiketten ohne Erkenntniswert - Misstrauen gegenüber „Wissenschaft“ von Literatur Realisten - Gattungen als „Naturformen der Poesie“ - drei Gattungen: Epos, Lyrik, Drama (Goethe) Goethe über Dichtarten Allegorie, Ballade, Cantate, Drama, Elegie, Epigramm usw → Dichtarten alphabetisch sortieren geht nicht, man kann nach äußeren Kennzeichen, Inhalt und Form kategorisieren - Epos: klar erzählend - Lyrik: enthusiastisch aufgeregt - Drama: persönlich handelnd Missverständnis: es geht nicht darum, Existenz von Gattungen zu beweisen - es geht um Entstehung und Ausarbeitung von Gattungskategorien, seit Antike historisch verfolgen - Wirkung dieser Gattungskategorien auf literarische Produktion untersuchen Wozu Gattungen - Ordnungskategorien, Textklassen und ihre Begriffe in geordnetes System bringen - System eigentlich recht unsystematisch (lange Literaturgeschichte) zwei methodische Herangehensweisen an Gattungsbegriff - logische, ahistorische Herangehensweise: Gattungen zur Klassifikation von Texten, geschichtliche Entwicklung wird nicht beachtet, Gattungen als aktuell geltende Kategorien - historische Herangehensweise: Gattungen als historische „Institution“ ahistorisch → unterschiedliche Gattungstypen mit unscharfen Trennlinien - drei Hauptgattungen: Epik, Lyrik, Dramatik (seit Antike) - kleinere Gattungen: Elegie → Lyrik, Novelle → Epik, Komödie → Dramatik - Hauptgattungen u. kleinere Gattungen haben verschiedene Namen → Goethe: Hauptgattungen „Naturformen“, kleinere Gattungen „Dichtarten“ historisch - Aristoteles: Gattungen haben gemeinsames Prinzip: Mimesis = Nachahmung - Batteux (Moderne): Nachahmung der schönen Natur - Herder: „jede kann schön sein, nur keine ist Schönheit“ (Infragestellung der Gattungen) - Hegel: „philosophischer Blick“ erkennt elementare Ausdrucksweisen der menschlichen Seele: lyrische, epische u. dramatische Züge → zeitlos u. nicht an Gattungen gebunden → Epik: objektive Dichtart (auf äußere Erscheinungen gerichtet) → Lyrik: subjektive Dichtart (innere Welt betrachten) → Drama: verknüpft objektiv u. subjektiv 2. Der Roman als Gattungsbegriff 2.1. „Roman“: ein prekärer Gattungsbegriff - viele Formen u. Untergattungen (Abenteuerroman, Bildungsroman etc) - verschiedene theoretische / kritische Ansätze (historisch, soziologisch) - verschiedene Wertungen (bis 19. Jhd. gefährliche Gattung für Frauen u. Jugendliche) 2.2. Was ist ein Roman? Versuch einer Umgrenzung - Begriff in Frankreich seit 13. Jhd, in Deutschland seit 17. Jhd - moderne Gattung (im Gegensatz zur Antike) - formal: unregelmäßig, Volkssprache statt Gelehrtenlatein - Hegel: Roman als Entzweiung → antikes Epos: Einheit des menschlichen Bewusstseins in Ich und Wirklichkeit → moderner Roman: Menschen in Auseinandersetzung mit Gesellschaft 2.3. Der Roman in Deutschland (von der frühen Neuzeit bis zur Romantik) - späte Erscheinung von Prosatexten in deutscher Sprache - traditionelle Erzählform: Vers (Artus / Nibelungenlied) - um 1400 erster deutscher Roman Jörg Wickram (16. Jhd) - Begründer der deutschen neuzeitlichen Romantradition Romane und Romanpoetiken des 17. Jhd: Poetologische Paradigmen Aristoteles - Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Poesie: zwischen tatsächlich Geschehenem u. dem Möglichen; Poesie stellt Allgemeines dar, Geschichte das Einzelne Rezeption der aristotelischen Poetik in Deutschland Opitz: Dichter beschreibt Dinge, so wie sie sein könnten Sigmund von Birken: Poet schreibt was geschehen könnte, Historicus schreibt, was geschehen ist → Poesie hat die Freiheit, eine Welt zu erfinden Freiheit in den Grenzen der Moral - Ziel des Schreibens: ethisch-religiöse Erbauung; Richtwert: Wahrheit Würde des Romans - Romane verdrängen Bibel/Religion Pierre Daniel Huet - Roman ist Epos gleichzusetzen; gehört zu den ältesten Gattungen - Kategorie der Erfindung / Aufwertung der Einbildungskraft Roman in Ästhetik der Aufklärung - Baumgarten: Ästhetik als Wissenschaft des Empfindens - Aufwertung der „sinnlichen Erkenntnis“ ggü der rationalen Erkenntnis - philosophische Ästhetik als Grundlage der Poetik des Romans Unterscheidung zwischen historischen Erdichtungen und poetischen Erdichtungen - poetisch: heterokosmisch, Erfinder schafft neue Welt → utopische Erdichtung: stellen andere/bessere Welt dar → analogische Erdichtung: basiert auf Realität => Wahrheitsbegriff ausgeweitet, mit Dichtung kompatibel Gottsched - verurteilt Barockdichtung aus Sicht der Aufklärung - Roman sollte realistisch sein Schlegel - Roman als Gattung der Moderne schlechthin - hauptsächlich Prosa Jean Paul - Roman mit antikem Epos verbunden, offene Form Vorlesung 7 – 05.12.2022 Fiktion – Fiktionalität – Wahrheit: Wie wirkt Literatur? 1. Fiktion: Versuch einer Begriffsbestimmung - definitorisches Merkmal der Literatur → Literatur als Fiktion Aristoteles Grenzziehung zwischen Geschichte (=Geschichtsschreibung) u. Poesie (=Literatur) → Geschichte als Erzählung von „realen“, empirisch gegebenen Fakten → Poesie als Darstellung des Möglichen, Imaginierten → Poesie nicht weniger „wahr“ o. weniger erkenntnisreich, sondern „philosophischer und idealischer“ als Geschichte, hat „allgemeineren“ Anspruch Plato - Politeia: Skizze eines idealen Staates → Dichtung hat keinen Platz - pädagogisch-moralische Argumente: erfundene Texte vermitteln falsches Bild der Wirklichkeit - gegen Homers Ilias, unterstellt Göttern ethisch verwerfliche Absichten vor, doch diese sind ideale Figuren u. Vorbilder - Darstellungen von Verbrechern, die sich ihres Lebens erfreuen, statt von ihrem Gewissen geplagt zu werden → Dichtung gegen Moral u. Religion ausgespielt → Plato kritisiert nicht Erfindungen an sich, sondern dass sie sich gegen Staat, Moral, Götter richten Fiktionalität: Versuch einer Begriffsbestimmung - nicht identisch mit „Poetizität“ oder „Literarizität“ - es gibt fiktionale Texte, die nicht literarisch sind, zB philosophische Lehrdialoge (18. Jhd) - es gibt literarische Texte, die nicht fiktional sind, zB Tagebuchaufzeichnungen, Briefe Merkmale der Fiktionalität - fiktional: Darstellungsweise, dass das Dargestellte nicht existiert - fiktiv: Existenzweise von Gegenständen, dass diese Gegenstände nicht existieren 2. Wie wirkt Fiktion? Jean-Baptiste Du Bos - fachliche Nicht-Ausgewiesenheit: Publikum hat keine praktischen Erfahrungen o. Kenntnisse von Herstellung von Kunstwerken, meint aber, Kunstwerke kompetent einschätzen zu können - Teilung der Seelenvermögen (emotionales Vermögen: Empfinden; rationales Vermögen: Denken) → getrennte Bereiche (unreflexive Empfindungen ermöglichen Interesse) - Übertragbarkeit von Emotionen: Menschen teilen anderen Menschen ihre Emotionen mit - Mensch hat bei Kunstbetrachtung mehr Vergnügen daran, zu weinen als zu lachen - reales Schauspiel kann unangenehme Empfindungen hervorrufen, Poesie (Kunst) kann negative Emotionen verhindern - künstliche/nachgeahmte Leidenschaften möglich - fiktionale Welt, in der anderes Regime der Empfindungen vorherrscht, als in der Realität Gotthold Ephraim Lessing - einheitliches, unteilbares Regime der Empfindungen im Menschen Johann Georg Sulzer - Philosophen kennen menschliche Seele, können Mechanismen des Empfindungsvermögen untersuchen - im Gegensatz zu Du Bos: Künstler drücken wirkliche, nicht nachgeahmte Empfindungen aus - einheitliche Vorstellung des menschlichen Empfindungsvermögens → folgt denselben Gesetzen wie in der Realität → Undividierbarkeit des menschlichen Empfindungsvermögens sichert Kunst Wirkung auf Entwicklung des Menschen, macht moralische/erzieherische Funktion möglich Vorlesung 8 – 12.12.2022 Die Grenzen der Literatur: Lessing über Dichtung und Malerei – und die Folgen 1. „Ut pictura poesis“: eine zentrale Debatte seit der Antike 1.1 Ein beflügeltes Wort von Horaz - ut pictura poesis: Satz von Horaz → „Wie die Malerei so die Poesie“ - Einfluss auf Poetiken des Mittelalters, der Renaissance und der Neuzeit 1.2 Zur Vorgeschichte des Spruchs von Horaz - Aristoteles: Poetik → Mensch ist Gegenstand der darstellenden Künste 1.3 Die „Paragone“-Debatte - Streit um Vormachtstellung verschiedener Künste - Dolce: Maler ahmt nach, was er sehen kann, Dichter kann auch nachahmen, was sich dem Verstand zeigt → breiteres Arsenal - Du Fresnoy: Malerei stumme Poesie, Poesie redende Malerei Fazit - Debatte: Vergleich zwischen Dichtung und anderen Künsten - zentrale Debatte, schreibt Dichtung ihre Grenzen vor 2. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und der Poesie (1766) 2.1. Gegenstand der Schrift: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und der Poesie (1766) - Laokoon von Plinius dem Älteren - Laokoon allen Gemälden und allen Bronzekunstwerken vorzuziehen 2.2. Lessings Kritik an der „Ut pictura poesis“-Theorie - Dichtung und Malerei als Schwesterkünste → Missverständnis - Dichtung: stellt Handlungen in der Zeit anhand von willkürlichen Zeichen dar - Malerei: stellt Körper im Raum anhand von natürlichen Zeichen dar Malerei Zeichen: Farben, im Raum, nebeneinander geordnet, natürliche Zeichen Gegenstände der Darstellung: Körper (Gegenstände, die nebeneinander existieren, heißen Körper), kann nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen Poesie (= Dichtung) Zeichen: Töne, in der Zeit, aufeinander geordnet, willkürliche Zeichen Gegenstände der Darstellung: Handlungen (Gegenstände, die aufeinander folgen, heißen Handlungen), kann nur eine einzige Eigenschaft der Körper nutzen 2.3. Lessings Kritik an Winckelmanns Kunsttheorie vier Kritikpunkte - Semiotik: Winckelmann sei Vertreter des Ut pictura poesis und habe Dichtung und Malerei irrtümlich vermischt - Affektenlehre: Winckelmann habe am Laokoon Theorie des griechischen Heldenmutes entworfen, missachtet grundlegende Komponente des Mitleidens, der Humanität - Kunstbeschreibungen nicht zulässig - Kunstwerke der Antike am besten über Textuntersuchung erschließen, Winckelmann schwört auf das Sehen (empirische Erkenntnis) 2.4. Winckelmanns Position Winckelmanns Semiotik: Kein Anhänger der „Ut pictura poesis“-Theorie - fast alle Apollo-Gemälde/Werke der Beschreibung Homers unterlegen - Lessing versucht höhere Rechte der Philologie zu behaupten - Winckelmann hat Laokoon in Rom mit eigenen Augen untersucht - Lessing hat Laokoon nie gesehen, großer Aufwand an philologischem Können ermöglicht genauere Datierung des Werkes als Winckelmann Vorlesung 9 – 19.12.2022 Die Literatur im System der Künste – eine komplexe Verortung 1. Die Entstehung von „Kunstsystemen“ in der Moderne: Historischer Überblick 1.1 „Künste“/“Kunst“: kurze Begriffsgeschichte - Kunst = Vielzahl von Verfahren menschlicher Erfindung und Ausführung, zielt auf ein bestimmtes praktisches Ergebnis ab - Kunst auf Griechisch „Techne“ (= Fertigkeit, Technik) → Fähigkeiten eines Schreiners, Arztes u Bildhauers - Moderne: Lösung von technischer Bedeutung als „Techne“, Zuwendung zum ästhetischen Sinn 1.2 Kunstsysteme Antike: sieben „artes liberales“ (= „freie Künste“) → Künste für das Ohr: Poesie, Rhetorik, Musik → Künste für das Auge: Malerei, Bildhauerei, Architektur, Tanz Mittelalter bis 18. Jhd - bildende Künste: Malerei, Bildhauerei, Architektur - redende Künste: Poesie, Rhetorik - darstellende Künste: Tanz, Theater → ab Ende 17. Jhd in Europa „schöne Künste“ genannt 1.3 Die Bedeutung des 18. Jhd. für die Bestimmung der Kunst grundlegende Neuansätze für das Kunstdenken - Abkehr vom Grundsatz der Naturnachahmung als Grundsatz der Kunst - Subjektivierung der Kunst - kritische Reflexion über Kunstsysteme, Infragestellung der Kunstsysteme - Entstehung der modernen Kunstgeschichte - Entstehung der neuen philosophischen Wissenschaft der Ästhetik - Unterscheidung Künste und Wissenschaften 1.4 Johann Georg Sulzer: System der Künste - Nachahmung der schönen Natur als gemeinsames Prinzip aller schönen Künste - Unterscheidung: positiver Grundsatz der Nachahmung, negativer Grundsatz der Nachbildung - Kunst nicht prinzipiell durch Beziehung zur Natur definiert, sondern durch Beziehung zur menschlichen Psyche - Hauptzweck der Kunst: nicht Nachahmung, sondern Einwirkung auf Herz/Einbildungskraft der Menschen - Grundbestimmung der Künste verlagert sich von einem außen stehenden Objekt zum Subjekt - Unterschied: mechanische Künste dienen zu Bedürfnissen u. Bequemlichkeit des Lebens, schöne Künste dienen Vergnügen u. Beschäftigung der Einbildungskraft / des Herzens - schöne Künste: Baukunst, Malerkunst, Tanzkunst, Musik, Redekunst, Dichtkunst, Schauspielerkunst 1.5 Sulzers unmittelbare Vorgänger und Zeitgenossen Charles Perrault - 1690: beaux-arts (schöne Künste) → Kategorien der freien und mechanischen Künste seien überholt, Entgegenstellung beaux-arts - acht Disziplinen: Beredsamkeit, Dichtung, Musik, Architektur, Malerei, Bildhauerkunst, Optik, Mechanik Charles Batteux - beaux-arts: Nachahmung der schönen Natur, Vergnügen im Menschen auslösen - dadurch Unterscheidung von mechanischen Künsten, diese befriedigen Bedürfnisse der Menschen - dritte Art von Künsten: erregen angenehme Empfindungen u. weisen Nutzen auf, zB Architektur u. Beredsamkeit Beredsamkeit - von Perrault den „schönen Künsten“ zugezählt - von Batteux extra Bereich zugeordnet, bringt Vergnügen hervor und weist Nutzen auf → offene Fragen u. Widersprüche in den Kunstsystemen des 18. Jhd Georg Friedrich Meier - Natur: unspezifischer Begriff - sinnliche Erkenntnis schön und möglich - hohe Wissenschaften (Mathe, Physik) beruhen nur auf deutlicher Erkenntnis, Hervorbringungen des oberen Erkenntnisvermögens, der Vernunft - schöne Künste u. Wissenschaften: unteres und oberes Erkenntnisvermögen (Vernunft und Empfindung) wirken eng miteinander Moses Mendelssohn - schöne Künste u. Wissenschaften Bereich der sinnlichen (klaren aber undeutlichen) Erkenntnis der Vollkommenheit - Unterschied zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen → schöne Wissenschaften: willkürliche Zeichen (Töne, Buchstaben) → schöne Künste: natürliche Zeichen (Töne für Musik, Farben u. Linien für Malerei), dadurch Feld eingeschränkter => gibt dem intellektuelleren Feld der schönen Wissenschaften Vorzug vor bloß sinnlichem Bereich der schönen Künste Was bedeutet Wort ‚litteraria‘ in dem Terminus ‚Historia litteraria‘? – So wie das Fz. Wort ‚Lettres‘ bedeutet es ‚Gelehrsamkeit‘ bzw. ‚Wissenschaften‘ oder ‚sciences‘ überhaupt. – Mit ‚historia litteraria‘ ist ein Wissensbereich gemeint, der die Geschichte der Gelehrsamkeit umfasst – der gesamten Gelehrsamkeit, nicht nur der im heutigen Sinne ‚literarischen‘. – Die ‚historia litteraria‘ greift auf ein ‚polyhistorisches‘ Wissenschaftsmodell zurück = schließt tendenziell die Gesamtheit des Geschriebenen ein. Eine Fachdisziplin – Die ‚historia litteraria‘ war ein Fach , das an der deutschen Universität seit ca. Mitte des 17. Jh. gelehrt wurde. – Gegenstand dieses Faches war die Geschichte der Gelehrsamkeit, die sich vor allem aus der Kombination von zweierlei Gegenständen ergab : 1. Geschichte der Gelehrten als Personen 2. Geschichte ihrer Publikationen - Also eine bio-bibliographische Geschichte : Geschichte von Akteuren und von Büchern. - Auf der chronologischen und fachlichen Einordnung dieser beiden Gegnstände – gelehrte Akteure und Buchpublikationen – beruhen die meisten Publikationen zur Historia litteraria. Kurzer Überblick über die Literaturgeschichtsschreibung (5) Die Zäsur des 18. Jh. – Nicht mehr nur Archivierung von Biographien und Fakten, sondern kritische Auseinandersetzung mit Geschichtsmodellen und dem Literaturbegriff selber. – Wichtiges französisches Modell: Voltaire: Le siècle de Louis XIV, 1. Aufl. Berlin 1751 → Vor allem auf die ‚schöne Litartur‘ (Racine, Corneille, Boileau, Molière) ausgerichtet, aber nicht nur: auch die Historiker sind bspw. dabei. Kurzer Überblick über die Literaturgeschichtsschreibung (6) Das 19. Jh.: Gervinus und die ‚National-Literatur‘ – Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, 5 Bde., Leipzig 1835-1842. – als einheitsstiftendes Subjekt, das den Entwicklungsprozess der Poesie trägt, fungiert bei Gervinus das ‚Volk‘. – der ‚Nationalcharakter‘ verkörpere sich vorrangig in der Literatur. – die deutsche Literatur nehme somit die politische Einigung Deutschlands vorweg, die erst 1871 realisiert wird. – Daher die zentrale Funktion der Literaturgeschichte: durch sie mache sich das Wesen der Nation kund. – Die Literaturgeschichte gewinnt mit Gervinus eine didaktische Funktion: sie erzieht den deutschen Bürger/die deutsche Bürgerin zum Nationalbewusstsein. – Mit Gervinus und mit den Literaturhistorikern des 19. Jh. überhaupt erfährt das Lesepublikum von Literaturgeschichten eine deutliche Erweiterung: Literaturgeschichte ist Stoff für die gesamten deutschen Bürger, nicht nur für Gelehrte (wie früher die Historia litteraria). Kurzer Überblick über die Literaturgeschichtsschreibung (6) Das 19. Jh.: Hermann Hettners Geschichte der europäischen Literatur – Hermann Hettner: Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. 3 Bde. Braunschweig, 1856-1864 – Hettners Blick gilt ganz Europa: „Weil die Literatur der Aufklärung nicht ausschließlich diesem oder jenem Volk zufällt, sondern nach einer bekannten Bezeichnung Goethe’s durchaus Weltliteratur ist, so kann eine Geschichte der Aufklärung nur eine allgemeine, d. h. eine die Wirkungen und Gegenwirkungen aller abendländischen Völker in gleicher Weise umfassende Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts sein. “Lessing’s „Kampf gegen die Franzosen“ in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung Carl Hebler, Lessing-Studien, Bern, 1861, S. 166. Fazit – Ab ca. 1750 wird die Frage nach der Orientierung der deutschen Literatur an französischsprachigen Modellen zu einem kulturpolitischen Thema nationaler Prägung. → Nachahmung von als ‚fremd‘ oder ‚ausländisch‘ wahrgenommenen literarischen Vorbildern wird als Symptom von kulturpolitischer Unselbständigkeit interpretiert.