Immer-mehr und Nie-genug! Eine kurze Geschichte der Ökonomie der Maßlosigkeit PDF
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2021
Bernhard Ungericht
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Summary
Dieses Buch untersucht die Geschichte der Ökonomie der Maßlosigkeit, angefangen vor fünftausend Jahren, als einer kleinen Machtelite erstmals gelang, ihren Willen zum Mehr gegen den Widerstand der Mehrheit durchzusetzen. Die Geschichte beleuchtet die Entwicklung von Institutionen und Glaubenssystemen, welche die Maßlosigkeit in der Gesellschaft und der individuellen Psyche verankerten. Es werden die Auswirkungen auf die Beziehungen zu Menschen, Natur und sich selbst angesprochen, sowie die Frage, wie diese Ökonomie gestaltet wurde und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.
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Bernhard Ungericht Immer-mehr und Nie-genug! Eine kurze Geschichte der Ökonomie der Maßlosigkeit Bernhard Ungericht Immer-mehr und Nie-genug! Eine kurze Geschichte der Ökonomie der Maßlosigkeit Metropolis-Verlag Marburg 2021 Bibliografische Informati...
Bernhard Ungericht Immer-mehr und Nie-genug! Eine kurze Geschichte der Ökonomie der Maßlosigkeit Bernhard Ungericht Immer-mehr und Nie-genug! Eine kurze Geschichte der Ökonomie der Maßlosigkeit Metropolis-Verlag Marburg 2021 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Metropolis-Verlag für Ökonomie, Gesellschaft und Politik GmbH https://www.metropolis-verlag.de Copyright: Metropolis-Verlag, Marburg 2021 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-7316-1482-1 Inhaltsverzeichnis Prolog...................................................................................................... 7 Die Verwandlung der Welt................................................................. 11 Eine lange Vorgeschichte....................................................................... 11 Die Geburt der Ökonomie der Maßlosigkeit.......................................... 17 Elitenbildung, privates Land und Schulden................................... 19 Der versäumte Widerstand............................................................. 26 Griechische Antike und Römisches Reich – der Aufstieg der maßlosen Ökonomie......................................................................... 28 Münzgeld und militärische Gewalt................................................ 30 Gesellschaftliche Schichtung.......................................................... 38 Ein dunkles Geheimnis – Eigentum und Recht.............................. 40 Das Erbe der Antike....................................................................... 43 Das Mittelalter – Niedergang und Wiederbelebung der maßlosen Ökonomie............................................................................... 46 Wiederbelebung und Expansion des Münzgeldwesens.................. 46 Elitensolidarität und der Aufstieg der Geldmenschen.................... 54 Repression und Krieg als Geschäft................................................ 65 Das Erbe des Mittelalters................................................................ 69 Die Neuzeit – Die Ökonomie der Maßlosigkeit sprengt alle Grenzen.................................................................................................. 71 Kontinentale Überschreitung.......................................................... 72 Neuzeitliche Expansion des Münzgeldwesens............................... 80 Institutionen der Maßlosigkeit – Kapitalgesellschaft und Börse........ 83 Forcierte Verwertbarkeit – Wissenschaft und industrielle Revolution.................................................................................... 101 Die Globalisierung der maßlosen Ökonomie............................... 109 Neuzeitliche Gewaltexplosion...................................................... 117 Bastionen neuzeitlicher Elitenmacht – Finanzsektor und beschränkte Demokratie............................................................... 128 Soft Power: Entwicklungsideologie und neoliberale Kulturrevolution........................................................................... 143 Maßloser Konsum und imperialer Lebensstil.............................. 156 Fünftausend Jahre................................................................................ 160 Die Verwandlung des Menschen....................................................... 163 Die Rechtfertigung des Willens zum Immer-mehr............................... 171 Die Kirche – Gott und das Geschäft............................................. 171 Die neue Wirtschaftslehre – eine Wissenschaft für die Elite....... 178 „Zahlen und Zählen“ – der Aufstieg des quantifizierenden Denkens................................................................................................ 193 Beziehungsstörungen.................................................................... 214 Drei neue Erzählungen................................................................. 226 Verrückte Welt...................................................................................... 240 Scheidewege – Wie wird es weitergehen?........................................ 243 Weiter wie bisher – Dystopische Ausblicke......................................... 245 Expansionismus und totale Verwertung: Weltraum, Körper, Geist und Gene............................................................................. 245 Elitenmacht und Repression 4.0................................................... 256 Techno-Religionen und der „neue“ Mensch................................ 271 Pfadwechsel......................................................................................... 282 Wird das geschehen?........................................................................... 292 Literatur................................................................................................ 293 Prolog Immer mehr Menschen spüren, dass etwas nicht stimmt. Langsam aber stetig beschleicht uns ein kollektives und individuelles Unbehagen. Es dämmert uns, dass etwas gefährlich aus dem Lot geraten ist. Warum gibt es ein Nebeneinander von obszönem Reichtum und erschreckendster Armut und warum wird das weitgehend als normal betrachtet? Warum gilt eine durch ökonomische Ungleichheit, Konkurrenz und soziale Hie- rarchie zerrissene Gesellschaft als Höhepunkt zivilisatorischer Entwick- lung? Warum kann heute die Wirtschaft erfolgreich als weitgehend moral- freie und von angeblichen ökonomischen Gesetzen beherrschte Sphäre dargestellt werden? Wie kommt es, dass die Wirtschaftswissenschaft als vernunftgeleitete Disziplin gilt, während ihre grundlegenden theoreti- schen Annahmen und Empfehlungen die natürlichen Lebensgrundlagen systematisch bedrohen? Warum akzeptieren wir, dass junge Menschen an den Wirtschaftshochschulen alles über die Maximierung der Profite, die effiziente Ausbeutung von Humanressourcen, die Manipulation von Kon- sumenten, den Verkauf von Nutzlosem oder die rücksichtslose Beseitigung von Mitbewerbern lernen, aber absolut nichts darüber, wie eine lebens- dienliche Wirtschaft aussehen könnte? Und wie ist es zu erklären, dass bei jeder vermeintlichen Wirtschaftskrise eine privilegierte und immer rei- cher werdende Minderheit der Mehrheit erklären kann, dass diese „über ihre Verhältnisse“ gelebt habe und ab nun „den Gürtel enger schnallen“ müsse? Was heute in ökonomischen Belangen als normal, vernünftig und vielleicht sogar legitim erscheint, hat eine erstaunliche Geschichte. Wenn wir hinter das vielfältige Unbehagen angesichts dieser Ökono- mie blicken, erkennen wir, dass es eine ganz spezifische Haltung zur Welt ist, welche die Wirtschaft und Gesellschaft im 21. Jahrhundert cha- rakterisiert: dass es nie genug ist und dass alles immer mehr werden muss – Wirtschaftswachstum, Gewinnsteigerung, Konsum, Arbeitsleistung und Arbeitsproduktivität, Einkommen und Besitz. Es ist ein Drang zum Mehr – ohne Grenze und um jeden Preis. Stillstand oder gar ein Schrumpfen gelten als Versagen und als Rückschritt und müssen mit allen Mittel ver- hindert werden. Das „Immer-mehr“ ist zugleich Versprechen, Anspruch und Befehl. Ein antiquiert anmutender Begriff hilft uns vielleicht, den Zustand der Welt und das Wesen dieser Ökonomie klarer zu fassen: 8 Prolog Maßlosigkeit. Die Ökonomie des 21. Jahrhunderts ist eine Ökonomie der Maßlosigkeit. Der „Wille zum Immer-mehr“ und die „Ökonomie der Maßlosigkeit“ beschreiben zwei unterschiedliche Ebenen desselben Phänomens: Der Wille zum Immer-mehr bezieht sich auf die individuelle Ebene. Es ist eine Mentalität, die kein Genug kennt und die auf ein materielles Immer- mehr fixiert ist. Es ist ein individuelles Haben-Wollen über jede materielle Notwendigkeit, über jede soziale Verantwortbarkeit und über jede ökolo- gische Vernünftigkeit hinaus. Die Ökonomie der Maßlosigkeit hingegen stellt den über-individuellen Rahmen dar, in dem Institutionen, Macht- strukturen, Denkformen und eine ganz spezifische ökonomische Rationa- lität systematisch alle maßhaltenden ethischen und ökologischen Maßstäbe und Begrenzungen untergraben. Die maßlose Ökonomie wurde über die Jahrhunderte durch das Wirken des – zunächst elitären – Willens zum Immer-mehr hervorgebracht. Heute ist diese Ökonomie der psychologi- sche, institutionelle und strukturelle Rahmen innerhalb dessen sich der individuelle Wille zum Immer-mehr allgemein verwirklicht. Die Ge- schichte der Ökonomie der Maßlosigkeit beginnt vor fünftausend Jahren, als es einer kleinen Machtelite erstmals gelang, ihren Willen zum Mehr gegen den Widerstand der Mehrheit durchzusetzen. Und mit ihr beginnt auch die systematische Herrschaft des Menschen über den Menschen. Drei Merkmale charakterisieren diese Ökonomie von ihrem Anbeginn bis heute: die Macht einer Elite, der Drang zur Expansion und repressive Gewalt. Denn wenn es nie genug ist, müssen beständig neue Territorien erobert werden, muss immer mehr Natur zerstört, müssen immer mehr Menschen und muss immer mehr von ihrer Arbeitskraft ergriffen werden. Diese Ökonomie strebt – wie wir noch sehen werden – aus ihrem inners- ten Wesen heraus danach, sich gewalttätig auszudehnen. Im Verhältnis zur zweihunderttausendjährigen Geschichte des moder- nen Menschen ist die fünftausendjährige Geschichte der Ökonomie der Maßlosigkeit eine sehr kurze Zeitspanne. Aber der Pfad, der vor 5 000 Jahren eingeschlagen wurde, hat enorme Konsequenzen, denn im Laufe dieser Geschichte wurden Institutionen und Glaubenssysteme geschaffen, welche die Maßlosigkeit immer tiefer in der Gesellschaft und in der indi- viduellen Psyche verankerten und diese formten. Heute sind wir eine Gesellschaft, die nicht nur immer mehr will, sondern auch vergessen hat, was verloren ging, und blind geworden ist für das, was auf dem Spiel steht. Der historische Siegeszug des Willens zum Immer-mehr, die Ge- Prolog 9 schichte der meist gewaltsamen Durchsetzung der maßlosen Ökonomie ist damit auch die Geschichte eines schleichenden Verlustes. Im Verlauf der letzten Jahrhunderte scheint uns der rechte Maßstab abhandengekom- men zu sein, und das Nachdenken über ein „rechtes Maß“ in der Ökono- mie wurde im Verlauf der Epochen beständig und in vielfältiger Weise zurückgedrängt. Angesichts der vielfältigen Krisen unserer Zeit tun wir gut daran, darüber nachzudenken, wo und wie das geschehen konnte. Wenn man sich verirrt hat, empfiehlt es sich, an jene Orte zurückzukeh- ren, an denen man falsch abgebogen ist. Blicken wir in den Spiegel unse- rer Geschichte, suchen wir die Orte auf, an denen sich der Wille zum Immer-mehr über eine Vernunft des rechten Maßes erhoben hat und be- trachten wir den Irrweg, den wir gegangen sind. Wir werden dabei auf kaum erzählte Aspekte und Zusammenhänge stoßen. Was wir sehen wer- den, hat wenig mit der harmonischen Erfolgsstory voranschreitender Zivilisierung und stetigen Fortschritts zu tun, die uns meist erzählt wird. In den Spiegel der Geschichte zu blicken ist auch schmerzhaft. Es zeigt uns, wozu wir als Spezies und als Individuen fähig sind. Es zeigt uns, wie wir zu dem geworden sind, was wir heute sind. Dieses Buch folgt drei grundlegenden Fragen: Die erste Frage führt uns in die Vergangenheit: Wie hat sich die maßlose Ökonomie herausgebildet? – Welche Entwicklungen und historische Wendepunkte haben uns auf diesen destruktiven Pfad gebracht? Die zweite Frage blickt auf die Kon- sequenzen: Wie verändert sich die Welt des Menschen durch die Ökonomie der Maßlosigkeit? – Welche Auswirkungen hat sie auf unsere Beziehun- gen zu anderen Menschen, zur Natur und zu uns selbst? Und wie ver- ändert sie allmählich auch unser Denken, Wahrnehmen und Empfinden? Die dritte Frage blickt in unsere Zukunft: Wie geht es weiter? – Wohin könnte uns dieser historische Irrweg noch führen? Was droht uns, wenn wir ihn weiter beschreiten? Und wie kann uns ein Pfadwechsel noch recht- zeitig gelingen? Lizenziert für 7GG14707U77030318. © Metropolis-Verlag. Weitergabe oder Vervielfältigung ist nicht statthaft. Die Verwandlung der Welt Eine lange Vorgeschichte Jede Geschichte hat einen Anfang. Auch die Geschichte der Ökonomie der Maßlosigkeit. Aber wo finden wir ihn? Zwei Millionen Jahre lang haben frühe Menschenarten von dem gelebt, was sie Tag für Tag in der unbearbeiteten Natur gefunden haben. Sie lebten auf den Augenblick bezogen und ohne soziale Hierarchien. Der Homo sapiens existiert seit gut 200 000 Jahren, wurde erst vor etwa 10 000 Jahren sesshaft und be- gann im 18. Jahrhundert damit, systematisch eine industrielle Wachstums- und Plünderungsmaschinerie in Gang zu setzen. Wenn wir diese Zeit, in der unsere Gattung den Planeten bewohnt, auf einen Tag verdichten, so haben wir knapp 23 Stunden als egalitäre und kooperative Jäger- und Sammlergesellschaft verbracht und nur eine gute Stunde als Sesshafte. Und von dieser einen Stunde haben wir 58 Minuten in einem genüg- samen, subsistenzorientierten ökonomischen System gelebt. Es ging dem Menschen die meiste Zeit seiner Existenz nur darum, das für das Leben Notwendige zu erzeugen. Und nicht mehr. Als Jäger und Sammler ernte- ten wir, was wir bei unseren Streifzügen vorfanden, als Bauern taten wir im Garten, auf dem Feld und im Stall das, was notwendig war. Die maxi- male Steigerung der Produktivität über die Befriedigung der eigenen Be- dürfnisse hinaus wäre genauso sinnlos gewesen wie ein ökonomischer Wettbewerb mit dem Nachbarn. Höchstens zwei Minuten unserer auf einen Tag verdichteten Existenz sind wir Bestandteil einer am Immer- mehr orientierten Ökonomie der Maßlosigkeit. Und erst vor einigen Sekun- den wurde diese destruktive Logik so global, dass sie heute das Leben auf dem ganzen Planeten bedroht. Die Anthropologen und Historikerinnen sind sich in dieser Frage einig: Die ursprüngliche Erfahrung eines „Genug“ begleitete den Menschen 12 Die Verwandlung der Welt über den Großteil seiner bisherigen Existenz. Der Grund für diese Genüg- samkeit lag aber nicht an mangelnden technologischen Möglichkeiten. Der Anthropologe Marshal Sahlins zeigte in seinen Studien, dass Jäger- und Sammlerkulturen und sogar Brandrodungsfeldbauern1 bewusst unter- halb ihrer jeweiligen technischen und ökonomischen Möglichkeiten produ- zierten. Zum einen hatten traditionelle Hauswirtschaften sehr beschränkte Konsumbedürfnisse – sie produzierten, was sie brauchten, und nicht mehr. Die von Sahlins untersuchten Gesellschaften benötigten dafür im Durch- schnitt drei bis vier Stunden pro Tag. Zudem folgten diese Menschen einer völlig anderen ökonomischen Rationalität, als wir das heute tun. Das ökonomische Handeln war sozial eingebunden. Der ökonomische Austausch innerhalb und zwischen Gruppen diente lange vor allem einem Zweck: der Herstellung guter sozialer Beziehungen. Dieser Austausch folgte deshalb eher einer Logik des Schenkens als einer Logik des Besit- zens.2 Wenn wir uns die Lebenssituation dieser Menschen vorstellen, wird deutlich, dass ein Wille zum Immer-mehr sinnlos gewesen wäre: Die grundlegenden materiellen Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Be- hausung wurden in enger Kooperation mit anderen Mitgliedern einer überschaubaren Gruppe befriedigt. Sozialer Zusammenhalt wurde als angenehmer Normalzustand empfunden. Der individuelle Wille, grenzen- los mehr haben zu wollen, wurde weder durch Werbung, Supermärkte oder einen Wettbewerb des Konsumierens angeregt, noch konnte er gegen die Mehrheit der anderen durchgesetzt werden. Eine Kultur des „Genug“ prägte lange das ökonomische Handeln des Menschen. Anthropologen wie George Foster führen diese genügsame Haltung auf das „Konzept begrenzter Güter“3 zurück. In solchen Gesellschaften wurde alles – Land, Güter und sogar Titel und Ämter – als begrenzt gedacht. Das bedeutet aber auch, dass – folgt man dieser Weltsicht – die Vermehrung des Reichtums des einen zur Knappheit oder zur Verarmung bei anderen – Menschen aber auch anderen Lebewesen – führen muss. Der egoistische Wille zum Immer-mehr widersprach deshalb sehr lange dem, was die Menschen als 1 Sahlins, 1974. 2 Der Sozialhistoriker Edward Thompson bezeichnete diese ökonomische Rationalität als „moral economy“ (Thompson, 1980; Thompson, 1971). Der Anthropologe David Graeber spricht von der „humanen Ökonomie“ und meint damit etwas sehr Ähn- liches: Der ökonomische Austausch dient in erster Linie dazu, ein stabiles soziales Netzwerk zu schaffen (Graeber, 2012). 3 Foster, 1965. Eine lange Vorgeschichte 13 göttliche, natürliche, soziale oder einfach nur vernünftige Ordnung be- trachteten. Das Konzept begrenzter Güter ist keineswegs nur ein Merk- mal vormoderner oder außereuropäischer Kulturen. Lange Zeit dominierte auch im heutigen Europa die Vorstellung einer Welt, die gegeben ist und nicht einfach mehr wird. Da damit auch die Ressourcen als beschränkt gedacht wurden, musste die egoistische Vorteilsmehrung als etwas ge- sehen werden, das zulasten anderer ging. Diese Vorstellung eines ökono- mischen Nullsummenspiels findet sich in der Bibel – etwa in dem Gleich- nis, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr ginge, als ein Reicher in das Reich Gottes gelange (Markus 10,25; Lukas 18,25). Im Mittelalter wird das ökonomische Treiben frühkapitalistischer4 Händler und Geldverleiher deshalb noch mit Argwohn betrachtet. Diese Vorstellung eines ökonomi- schen Nullsummenspiels regelte bis ins 18. Jahrhundert hinein die Hand- werksgilden und Zünfte, Produktionsverfahren und Techniken. Die Zunft- regeln waren vertragliche Selbstbeschränkungen. Der Konkurrenz unter- einander und den Gewinnmöglichkeiten der einzelnen Akteure wurden Grenzen gesetzt, um die Gemeinschaft nicht zu schädigen. Heute sind der Gedanke der Nachhaltigkeit und das Ziel der Bewahrung der Lebens- grundlagen moderne Beispiele für das Konzept begrenzter Güter und einer daraus resultierenden Ethik. Wenn es aber eine derart lange Ge- schichte des „Genug“ gibt, wie konnte sich dann eine – heute globale – Ökonomie der Maßlosigkeit durchsetzen? Was ist geschehen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir etwa zwölftausend Jahre zurückblicken. Es ist jene Epoche, die Historikerinnen als „Neolithische Revolution“ bezeichnen. Aus umherwandernden Wildbeutern, die sich von Jagdtieren und gesammelten Wildpflanzen ernährten, wurden in eini- gen Regionen der Welt allmählich sesshafte Bauern. Der Prozess verlief über Jahrtausende und veränderte alles: Vor 11 000 Jahren gab es etwa sieben bis acht Millionen Wildbeuter auf der Erde. Zu Beginn unserer Zeitrechnung vor zweitausend Jahren waren es noch ein bis zwei Millio- 4 Wenn ich hier und in weiterer Folge von Kapitalismus spreche, dann in einem primär funktionalistischen Sinn: Kapitalismus bezeichnet ein hierarchisches öko- nomisches System, das auf die Vermehrung des eingesetzten Kapitals ausgerichtet ist. Dieses Ziel wird durch die Inwertsetzung menschlicher Arbeitskraft und die Ver- wertung von Natur erreicht, wobei die monetären Erträge die monetären Aufwen- dungen übersteigen müssen. Der Kapitalist ist dabei in der Lage, sich den Mehrwert anzueignen und zu reinvestieren. 14 Die Verwandlung der Welt nen Wildbeuter, aber es gab schon 250 Millionen Bauern, die in festen Siedlungen lebten.5 Warum der Mensch sesshaft wurde, ist nicht sicher geklärt, und es gibt zwei unterschiedliche Erzählungen dazu. Die erste schmeichelt uns – sie ist aber sehr viel unwahrscheinlicher. Ihr zufolge entwickelte der den- kende Mensch einfach eine neue, revolutionäre Möglichkeit der Nahrungs- gewinnung, indem er Ackerbau und Viehzucht erfand. Die zweite Erzäh- lung geht davon aus, dass der Mensch sich einfach nur an günstige natür- liche Bedingungen in einigen Regionen der Welt anpasste. Stromtäler und Flussdeltas waren die ersten Inseln der Sesshaftigkeit, denn hier ver- sorgte die Natur den Boden periodisch mit fruchtbarem Schlamm. Das reiche Vorkommen an essbaren Pflanzen und Jagdtieren bewog umher- wandernde Gruppen, sich an diesen Orten länger aufzuhalten. Die Sess- haftwerdung veränderte nicht nur die Welt des Menschen, sie veränderte den Menschen selbst, seine Gedanken, seine Wahrnehmung und seine Empfindungen. Denn die Zucht von Tieren und Pflanzen setzte ihn in ein anderes Verhältnis zur Natur. Erstmals gestaltete er sie und begann sich als Herrscher über die Natur zu fühlen. Gleichzeitig schrumpfte die Raumvor- stellung des Menschen. Er lebte nun meist in einer engen Hütte und be- wirtschaftete ein kleines, der Wildnis mühsam abgerungenes Stück Land. Generationen von Kindern wurden auf bestimmte Landschaftsformen ge- prägt und verstorbene Familienmitglieder wurden in der Nähe des Wohn- ortes bestattet. Grenzen und Zäune wurden erstmals wichtig. Aber parallel zur Schrumpfung seines Raums dehnte sich für den sesshaften Menschen nun die Zeit aus: Für die Wildbeuter war Zukunftsplanung nicht möglich und nicht nötig. Sie jagten und sammelten, was sie vorfanden, und zogen weiter, wenn es ihnen sinnvoll erschien. Die Bauern mussten an die Zu- kunft denken und im Rhythmus der Jahreszeiten planen. Der sesshafte Mensch lernte, sich Sorgen um die Zukunft zu machen, denn sein Über- leben hing davon ab, dass er jedes Jahr mehr produzierte, als er aß. Er musste auch in mageren Jahren noch genügend Saatgut übriglassen für die neue Aussaat. Dieser der sesshaften Lebensweise eingeschriebene Zwang zum „Mehr“ ist der unschuldige Keim der Ökonomie der Maßlosigkeit. Der sesshafte Mensch war abhängiger geworden als der umherwan- dernde. Sein Überleben hing nun vom Gedeihen der Pflanzen und Tiere ab, die er permanent mit hohem Aufwand pflegen musste. Und er war da- 5 Maddison, 2006. Eine lange Vorgeschichte 15 von abhängig, dass er die landwirtschaftlichen Erzeugnisse nach der Ernte lagern konnte. Die dem Menschen schmeichelnde Erzählung, welche die Neolithische Revolution als Produkt des überlegenen menschlichen Geis- tes betrachtet, blendet nicht nur diese neue Form der Abhängigkeit aus. Für sie weist die weitere Geschichte des Menschen nur mehr in eine Rich- tung: zivilisatorischer und wirtschaftlicher Fortschritt. Und dieser Fort- schritt wird gleichgesetzt mit einem materiellen Immer-mehr. Viele In- dizien sprechen gegen diese Erzählung: Mit der landwirtschaftlichen Revolution erhöhte sich zwar die Gesamtmenge der verfügbaren Nahrung, aber das bedeutet nicht gleichzeitig, dass es den einzelnen Menschen da- durch besser ging. In den Skeletten der frühen Sesshaften ist es unzweifelhaft ersichtlich: Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich. Sie litten an Minderversor- gung – periodischer Hunger verursachte einen Vitamin- und Eiweiß- mangel. Die Anzahl der Menschen stieg, aber die Individuen wurden im Durchschnitt kleiner; Körpergröße und Hirnvolumen schrumpften in den ersten Jahrtausenden der Neolithischen Revolution. Der sesshafte Mensch war ein Gefangener. Für den Historiker Michael Mann war der sesshafte Mensch in einem sozialen und territorialen Käfig gefangen.6 Der durch die Sesshaftigkeit ermöglichte periodische Nahrungsmittelüberschuss und die Möglichkeit der Bevorratung führten in den fruchtbaren Gebieten zu einem Bevölkerungswachstum. Gleichzeitig machte die neue Abhängig- keit vom bebauten Boden den Weg zurück unmöglich. Bei schlechten Ern- ten konnte nicht mehr einfach in ertragreichere Sammel- und Jagdgebiete weitergezogen werden. Die Menschen mussten nun viel härter arbeiten und ernährten sich zunehmend von einer geringen Anzahl an Pflanzen- arten. Vor der landwirtschaftlichen Revolution lebte der Mensch von hunderten unterschiedlichen Nahrungsquellen. Später nur mehr von einer Handvoll Nutzpflanzen oder domestizierten Tierarten. Heute werden von etwa 30 000 verzehrbaren Kulturpflanzen nur 30 Arten genutzt, um 95 % der Nahrungsmittelenergie für Menschen zu erzeugen. Mehr als die Hälfte davon machen Reis, Weizen, Mais und Hirse aus. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzten multinationale Agrokonzerne wenige Hoch- leistungssorten durch, was zum Verlust von drei Viertel der genetischen Diversität der Kulturpflanzen führte.7 Für den Historiker Yuval Harari ist 6 Mann, 1994. 7 IPBES, 2013, zitiert nach: Winiwarter und Bork, 2014. 16 Die Verwandlung der Welt die landwirtschaftliche Revolution deshalb weder ein zivilisatorischer Fort- schritt noch die rationale Entscheidung eines vernunftbegabten Wesens. Er beschreibt sie als „eine Falle“, in die der Mensch blindlings tappte. Wie immer wir diesen Wandel auch betrachten – ob als zivilisatorischen Fortschritt oder als existenzielle Falle –, er führte zu gesellschaftlichen Veränderungen, welche die sozialen Grundlagen des Aufstiegs der Öko- nomie der Maßlosigkeit bilden. Folgen wir dem Pfad dieser Ökonomie durch die Jahrtausende. Die Geburt der Ökonomie der Maßlosigkeit Vor etwa 5 000 Jahren lebte der Mensch in einigen Regionen bereits in großen Gruppen und in festen Siedlungen. Zunächst änderte sich aber noch relativ wenig an den Sozialstrukturen. Die Menschen waren es seit 200 000 Jahren gewohnt, in egalitären Gemeinschaften zu leben. In den sumerischen Stadtstaaten – Eridu, Uruk, Nippur, Lagasch, Kisch und Ur – wurde das Land lange Zeit gemeinschaftlich bewirtschaftet. Aber allmählich begann sich etwas zu ändern: Eine soziale Hierarchie bildete sich heraus und erstmals begannen Menschengruppen systematisch und dauerhaft über andere Menschen zu herrschen. Was war die Ursache dieser folgenreichen Veränderung? Eine plausible These lautet, dass die Menschen ein Organisationspro- blem zu lösen hatten: Das Zusammenleben in großen Gruppen zu organi- sieren, war zu einer neuen Herausforderung geworden. Denn dem Men- schen fehlt – anders als Herdentieren – ein biologischer Instinkt für das Leben in Großgruppen. 200 000 Jahre lang lebte der Homo sapiens in relativ kleinen Gemeinschaften. Wenn wir die frühen Menschen noch hinzunehmen, sind es zwei Millionen Jahre, in denen wir in überschau- baren Gruppen gelebt haben. Das „soziale Hirn“ des Menschen ist bis heute auf Gemeinschaften von einigen Dutzend Exemplaren ausgelegt. Das ist nicht nur historisch belegbar, sondern auch naturwissenschaftlich messbar: Die sogenannte Dunbar-Zahl besagt, dass die natürliche Grup- pengröße einer Säugetierspezies relativ exakt mit dem Anteil des – für Sinneseindrücke zuständigen – Neocortex an der Großhirnrinde korre- liert. Die Dichte der Neuronen im Neocortex bestimmt die Verarbeitungs- kapazität für soziale Informationen und die Anzahl der Kontakte, die ein einzelnes Exemplar einer Gattung gleichzeitig aufrechterhalten kann. Der Psychologe und Anthropologe Robin Dunbar, auf den diese empirisch gut belegte These zurückgeht, berechnete für den Menschen eine natür- liche Gruppengröße von etwa 150 Individuen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass Gruppen zerfallen und ihre Beziehungen nicht mehr koordi- nieren können. Bis zu einer Gruppengröße von 150 Individuen ist der Mensch sehr gut in der Lage, ein soziales Beziehungsgeflecht zu über- 18 Die Verwandlung der Welt blicken und stabile und auf Gegenseitigkeit beruhende persönliche Be- ziehungen zu pflegen. Bis zu dieser Größe brauchen menschliche Gruppen auch keine formalen Hierarchien und können doch ausreichend unter- schiedliche und einander ergänzende Kompetenzen entwickeln, um als Gruppe zu funktionieren und flexibel reagieren zu können. Tatsächlich deckt sich dieser Wert mit der typischen Größe autarker Gemeinschaften: Er entspricht der maximalen Größe von Jäger- und Sammlergesellschaf- ten, die sich – bei stärkerem Bevölkerungswachstum – in kleinere Grup- pen aufteilten. Er entspricht der Durchschnittsgröße neolithischer Sied- lungen in Mesopotamien vor 8000 Jahren. Etwa 150 Personen sind eben- so typisch für europäische Dörfer vor der industriellen Revolution wie für – bis heute existente – Gemeinden der traditionell lebenden religiösen Gemeinschaften der Hutterer und Amischen, die sich ab einer Obergrenze von etwa 150 Personen aufteilen und neue Dörfer gründen. In Unterneh- men erfordert ein Mitarbeiterwachstum über 150 Individuen hinaus sehr viel komplexere und unpersönlichere Systeme der Koordination und Kontrolle und selbst die kleinste militärische Einheit – die Kompanie – orientiert sich an dieser Zahl. Das Problem der Organisation des Zusammenlebens stellte sich zuerst und vor allem dort, wo es ein starkes Bevölkerungswachstum innerhalb eines begrenzten Territoriums gab. Menschheitsgeschichtlich waren dies die fruchtbaren Schwemmlandgebiete Mesopotamiens. Etwa ab 5500 vor unserer Zeitrechnung lernten die Menschen, wie sie durch Bewässerungs- systeme das Wasser und den fruchtbaren Schlamm über eine immer grö- ßere Fläche verteilen konnten. Die dadurch erzielten Produktionsüber- schüsse führten zu einer weiter anwachsenden Zahl von Menschen in einem begrenzten Gebiet. Ab 4000 v. Chr. gab es eine institutionelle Ant- wort auf das Organisationsproblem: die Tempel und die Tempelwirtschaft. Da der Bau künstlicher Kanäle sehr arbeitsintensiv war und der Koopera- tion vieler Menschen bedurfte, erwies sich eine zentrale Koordinations- stelle als nützlich. Anfangs organisierten sich die Tempelstaaten noch ohne Zwang. In einfachen demokratischen Zusammenkünften der Erwach- senenbevölkerung wurden die notwendigen Entscheidungen getroffen. Die Tempel agierten als Schlichter zwischen verschiedenen Dörfern und übernahmen administrative Aufgaben. Sie koordinierten die Bewässe- rung und Bewirtschaftung großer Flächen, sie verwalteten die Getreide- speicher und verteilten die zentral gelagerten Güter an die Bevölkerung. Die ganze sumerische Wirtschaft war darauf ausgerichtet, die Tempel zu Die Geburt der Ökonomie der Maßlosigkeit 19 erhalten. Der Tempel war das Definitionszentrum allen ökonomischen Handelns und er war das Kraftzentrum des sozialen Zusammenhalts. Er galt als die Heimstätte der Götter, und die Tempelverwalter waren die irdischen Statthalter der Götter, denen allein das Land gehörte. Elitenbildung, privates Land und Schulden Anfang des 3. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung bildete sich in Sumer eine soziale Hierarchie heraus. Eine kleine Elite von Beamten, Priestern und bald auch Königen erhob sich über die Mehrheit der Bevölkerung. Das wirkte sich auch auf die ökonomischen Verhältnisse aus. Im Tempel- staat gab es bald drei Formen des Grundeigentums: Felder, die den Göt- tern der Stadt gehörten und von den Tempelbeamten verwaltet wurden; Felder, die der Tempel an einzelne Familien verpachtete, und drittens Felder, die einzelnen Familien ohne Pachtzahlung auf Dauer überlassen wurden. Der Zugang zu Grund und Boden wurde nun immer deutlicher von einer Elite monopolisiert, welche die religiösen, zivilen und militäri- schen Ämter innehatte. Diese Elite übernahm Aufsichts- und Kontroll- funktionen, und damit vollzog sich der Übergang von einer Rangautorität zum Schichtungsstaat.8 Es bildeten sich vier gesellschaftliche Schichten heraus: führende Familien mit Zugang zu den Ressourcen von Tempeln und Palästen, gewöhnliche freie Personen, halbfreie abhängige Arbeiter und einige wenige Sklaven, die auf den großen kollektiven und privaten Ländereien schufteten. Die Tempelverwalter organisierten die Bewässe- rung der Felder, die Lagerhaltung, den Handel und die militärische Ver- teidigung.9 Zentrale Lagerhaltung und die Ausweitung des Handels för- 8 Mann, 1994, S. 149. 9 Die steigende Produktivität führte zu vermehrtem Handel mit Nachbarregionen und die Tempel organisierten auch den Fernhandel. Mesopotamien war zwar reich an Ge- treide und Nutztieren, aber es fehlte an vielem anderen: Holz, Stein, Metalle, Silber. Um 3500 v. Chr. entwickelten die Tempelverwalter ein Kreditsystem mit einer Edel- metallwährung: dem Silberschekel. Ein Schekel war das Äquivalent zu 300 Liter Getreide und entsprach dem Wert von 8,3 Gramm Silber. Dieses Geld war eine reine Recheneinheit und kein Instrument kommerzieller Transaktionen, denn die ersten Münzen wurden erst knapp dreitausend Jahre später geprägt. Die Tempelverwalter berechneten damit Pacht, Gebühren oder Kredite. Tatsächlich bezahlt wurde aber nicht damit, sondern mit Gerste oder mit anderen Dingen mit realem Nutzwert (vgl. 20 Die Verwandlung der Welt derten aber auch eine militärische Zentralisierung und damit die Heraus- bildung militärischer Macht, denn die Handelswege mussten militärisch gesichert werden und die vollen Lagerspeicher mussten gegen feindlich gesinnte Nachbarn verteidigt werden. Und je größer der in den Speichern gelagerte Überschuss war, umso interessanter wurde eine Siedlung für beutesuchende Angreifer. Gleichzeitig waren die fruchtbaren Gebiete durch die Agrarüberschüsse in der Lage, mehr Männer und Mittel für militärische Zwecke aufzubringen, und konnten so auch andere bedrohen. Zentralisierte Befehlsgewalt und die Weiterentwicklung von Waffen und militärischer Strategie ermöglichten es nun erstmals, den Tempelspeicher eines Nachbarn zu erobern und dauerhaft zu kontrollieren. Den Besiegten konnte so ihre Überschussproduktion abgepresst werden. Krieg war erstmals zu einem strategisch geplanten, lukrativen Unternehmen gewor- den und nicht mehr wie bisher ein seltener und spontaner Ausbruch von nachbarschaftlichen Feindseligkeiten.10 Die militärischen Eliten gewannen deshalb im Laufe der Zeit gegenüber den religiösen und administrativen Eliten deutlich an Einfluss. Ehrgeizige Herrscher begannen die Tempel- anlagen nachzuahmen und Palastanlagen zu errichten. Der private Palast schob sich allmählich vor den umverteilenden Tempel als gesellschaft- liches Macht- und Definitionszentrum. Vermutlich waren die ersten Herr- scher noch von einer demokratisch-oligarchischen Stadtversammlung auf begrenzte Zeit gewählte Befehlshaber in Zeiten kriegerischer Auseinander- setzungen mit Nachbarn. Die Kriegsherren verfestigten aber ihre Macht im Laufe der Zeit zum permanenten Königtum. Ein unterstützender Fak- tor dafür war – neben der wechselseitigen militärischen Bedrohung – auch die Errichtung massiver Stadtmauern um die Mitte des 3. Jahrtau- sends. Die Koordination von Festungsbau und Truppenversorgung ver- schaffte der militärischen Elite zusätzliche Ressourcen. Ihr steigender Stellenwert zeigte sich auch in der mesopotamischen Kunst: Darstellun- gen von Krieg und Eroberung wurden nun auf einmal deutlich wichtiger als die bisher vorherrschenden rituellen Motive. Im Laufe der Zeit lösten die Könige auch den Tempel als Hauptinitiator des religiösen Rituals ab Graeber, 2012, S. 47 f.). Diese Silber-Recheneinheit war aber die Grundlage des Buch- führungs- und Lagersystems der Palastwirtschaft. 10 Der erste nachweisbare Krieg der Menschheitsgeschichte ereignete sich vor 5 500 Jahren in Mesopotamien. Er wurde aus ökonomischen Gründen geführt und hatte die Zerstörung der Handelsstadt Hamoukar zur Folge (Reichel, 2006; Der Spiegel, 2007). Die Geburt der Ökonomie der Maßlosigkeit 21 und um 2500 v. Chr. wurden die Stadtstaaten endgültig von despotischen Herrschern gelenkt. Mit der Elitenbildung und der zunehmenden sozialen Schichtung wurde das mesopotamische Staatswesen repressiv und expansiv; wurde die su- merische Gesellschaft hierarchisch und autoritär; wurde Reichtum privat und exklusiv. Man kann noch nicht von einer systematischen Ökonomie der Maßlosigkeit sprechen, aber ihre zentrale soziale Grundlage wird in dieser Epoche gelegt: Erstmals in der Geschichte der Menschheit ist es einer Minderheit möglich, dauerhaft Zwangsgewalt über die Mehrheit auszuüben und sich ihre Überschussproduktion anzueignen. Die junge Ökonomie der Maßlosigkeit brachte neue Eigentumsverhältnisse, ein Rechtssystem, das die Gesellschaft erstmals in Schuldner und Gläubiger spaltete, und eine neue, patriarchale Herrschaft der Männer über die Frauen mit sich. Zeitgleich mit dem Aufstieg einer militärischen Oligarchie begann die Privatisierung von Land. Die frühesten Belege für den Kauf von Land da- tieren auf das dritte Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung. Kredite – und damit Schulden – bildeten neben der Privatisierung des Landes ein zwei- tes ökonomisches Machtmittel. Die erste Form des Kredits dürfte schon von den Verwaltern der Tempel eingeführt worden sein. Sie brachten Getreide zu den reisenden Händlern und erhielten einen Teil des Ver- kaufspreises, mit dem sie andere Dinge kaufen konnten, an denen es in Sumer mangelte: Holz, Stein, Metalle, Silber. Aber mit der Privatisierung von Land und dem Wunsch der Eliten nach immer mehr änderte sich der Charakter von Krediten und Schulden: Sie wurden zum Instrument per- sönlicher Bereicherung, systematischer Ausbeutung und der Schaffung generationenübergreifender Herrschaftsverhältnisse. Um 2400 vor unse- rer Zeitrechnung war es im Zweistromland bereits weit verbreitet, dass lokale Eliten den ärmeren Bauern in Notlagen Kredite gewährten. Wenn diese im darauffolgenden Jahr nicht genug erwirtschafteten, mussten sie ihr Land, ihre Familie und sich selbst verpfänden. Die Folge war eine Konzentration von Land in den Händen einer wohlhabenden Minderheit und eine Zunahme des Anteils von Schuldsklaven in der Bevölkerung. Bald waren Sklaven nach Gerste das am zweithäufigsten gehandelte Gut in Sumer, denn in schlechten Erntejahren geriet ein Großteil der Bauern in Schuldknechtschaft. Der Anthropologe David Graeber weist in seinem Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ auf den wichtigen Unterschied zwischen Schulden und sozialen Verpflichtungen hin: Soziale Verpflich- 22 Die Verwandlung der Welt tungen sind Fürsorgeverpflichtungen und gelten wechselseitig. Diese Wechselseitigkeit ist typisch für nachbarschaftliche, freundschaftliche, familiäre und sogar für feudale Verpflichtungsbeziehungen. Schulden hin- gegen kennen keine wechselseitige soziale Verantwortung. Nur deshalb sind Schulden handelbar und nur deshalb können sie mit Gewalt einge- trieben werden.11 Es zählt nicht der Mensch und seine konkreten Bezie- hungen zu anderen Menschen, sondern die abstrakte Zahl. Schulden stel- len eine präzise Quantifizierung dessen dar, was eine Person einer ande- ren geben muss. Da dazu eine Form von Geld als Recheneinheit nötig ist, tauchen Schulden und Geld als Recheneinheit historisch gleichzeitig auf. Aber auch die Schuldsklaverei. Verschuldung und Schuldsklaverei nah- men in den mesopotamischen Großreichen derartige Ausmaße an, dass es immer wieder zu Revolten kam. Alle Aufstände des Altertums und der Antike hatten ein zentrales Ziel: Schuldenstreichung und die Neuvertei- lung des Landes. Die mesopotamischen Herrscher waren deshalb zu regel- mäßigen Schuldenerlässen gezwungen. Nur so konnten sie ihre Macht er- halten, denn ihre Armeen waren noch nicht stark genug, um große Revol- ten niederzuschlagen. Deshalb war es üblich, alle persönlichen Schulden anlässlich der Krönung eines neuen Herrschers oder zum Neujahrsfest zu streichen. Die Tontafeln, auf denen die Schulden vermerkt waren, wur- den periodisch zerschlagen. Als Quasi-Gott schuf jeder neue Herrscher Mesopotamiens eine neue Gesellschaft nach seinem Willen – er schuf neue Verpflichtungen und konnte die alten auflösen. Mit der zunehmenden Bedeutung von Schulden und Steuern entwickelte sich die Schrift. Der Anthropologe Claude Lévi-Strauss war der Ansicht, dass „die primäre Funktion der Schrift als Mittel der Kommunikation darin (besteht), die Versklavung der Menschen zu erleichtern.“12 Es waren nicht zufällig die Sumerer, die als Erste im dritten Jahrtausend vor unse- rer Zeitrechnung ein sogenanntes partielles Schriftsystem entwickelten. Es bestand aus Symbolen für unterschiedliche Gegenstände und aus ma- thematischen Zeichen, mit denen Mengen gezählt werden konnten. Das erste Schriftsystem der Menschheit diente dazu, ökonomische Daten fest- zuhalten und zu berechnen. In den ersten schriftlichen Aufzeichnungen der Menschheit ging es um Lagerbestände, Besitzurkunden, Steuerzah- lungen oder Schulden. Die Schrift entwickelte sich weiter und aus einem 11 Vgl. Graeber, 2012, S. 27. 12 Lévi-Strauss, 1996, S. 294. Die Geburt der Ökonomie der Maßlosigkeit 23 partiellen Schriftsystem wurde ein vollständiges Schriftsystem, das der gesprochenen Sprache entsprach. Nun konnten auch Ideen und Gesetze formuliert werden. In Mesopotamien wurde um 1800 v. Chr. erstmalig in der Geschichte der Menschheit ein privates Eigentumsrecht verfasst und die privaten Eigentumsansprüche der Elite in Gesetzestexten festgeschrie- ben. Der Codex Hammurapi widmete sich maßgeblich dem Eigentums- recht, dem Liegenschaftsrecht, dem Schuldrecht und dem Sklavenbesitz. Er spiegelte die hierarchische babylonische Gesellschaftsordnung wider. Menschen wurden erstmals nach ihrem „ökonomischen Wert“ eingeteilt: Das Leben einer Sklavin war 20 Schekel Silber wert (ein Schekel ent- sprach 12 Gramm), das Leben einer „Gemeinen“ 30 und das eines „frei- geborenen“ Mannes 60 Schekel Silber.13 Für Eigentumsdelikte, die sich gegen das Eigentum des Tempels, der Herrscherfamilien oder gegen die soziale Klasse der Muškēnu (Freigeborene) richteten, galt die Todesstrafe. Auch die Stellung der Frau in der Gesellschaft veränderte sich: In den ältesten mesopotamischen Texten bis 2500 vor unserer Zeitrechnung tau- chen die Namen vieler Frauen auf. Sie sind Herrscherinnen, Ärztinnen, Schreiberinnen, Händlerinnen. In den nächsten 1000 Jahren bildeten sich – begünstigt durch die zunehmende Bedeutung militärischer Konflikte und Bedrohungen – patriarchale Verhältnisse heraus und Einfluss und rechtlicher Status der Frauen nahmen allmählich ab. Die Frauen wurden zum Eigentum oder zu abhängigen Schutzbefohlenen von Vätern und Ehe- männern. Und diese Beziehungen wurden immer stärker kommerzialisiert: Bei Hochzeiten musste der Vater des Bräutigams dem Vater der Braut nicht nur Lebensmittel für die Ausrichtung der Hochzeit, sondern auch Silber übergeben. Der „Preis einer Jungfrau“ betrug 40 Schekel. Bezeich- nenderweise musste für den Kauf einer Sklavin genauso viel bezahlt wer- den.14 Frauen – auch wenn sie nicht versklavt waren – wurden zu handel- barem Gut. Mit der zunehmenden gesellschaftlichen Schichtung veränderten sich auch die wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander. Die Anthropologen sprechen von einem Paradigmenwechsel der ökonomi- schen Logik: Die „humane Ökonomie“ wird zu einer „kommerziellen Ökonomie“. In einer humanen Ökonomie stehen die sozialen Beziehun- gen und das Beziehungsgeflecht eines Menschen im Mittelpunkt des öko- 13 Harari, 2015, S. 136. 14 Graeber, 2012, S. 187. 24 Die Verwandlung der Welt nomischen Handelns. Die ausgetauschten Dinge haben keinen „Markt- preis“, denn der Austausch dient vor allem dazu, gute Beziehungen zu stiften und zu erhalten. Der ökonomische Tausch folgt eher einer Logik des Schenkens. Ein Geschenk ist mit der Erwartung verknüpft, dass es irgendwann vom Beschenkten erwidert wird. So werden die wechselsei- tige Verpflichtung und das soziale Band zwischen den Beteiligten ge- stärkt. In hierarchischen Gesellschaften wird dieses Prinzip der Gegensei- tigkeit meist außer Kraft gesetzt, denn es besteht ein grundlegendes Machtungleichgewicht, das es dem Mächtigeren erlaubt, sich den Regeln der Reziprozität zu entziehen. Aus dem Geschenk wird die periodische Pflichtabgabe. In den nicht-hierarchischen Gesellschaften der Indigenen Nordamerikas waren die Häuptlinge mitunter die materiell Ärmsten der Gemeinschaft, denn von ihnen wurde ein hohes Maß an Großzügigkeit erwartet. Diese Gesellschaften folgten einer Logik der Gleichheit und der Umverteilung. In der hierarchischen babylonischen Gesellschaft hin- gegen strebten die Könige nach Gold und forderten von ihren Untertanen, dass diese sie mit Gold überhäuften. Hierarchische Gesellschaften forcie- ren den Übergang von einer humanen zu einer kommerziellen Ökonomie. Hier dominiert die Logik der Akkumulation und der individuellen Be- reicherung. In hierarchischen, aristokratischen Gesellschaften geschieht diese Akkumulation zumeist mit Gewalt: durch Plünderung, Raub und Ausbeutung. Der Grund dafür ist denkbar einfach – die Eliten verfügen über geeignete militärische Machtmittel, ihren Willen zum Immer-mehr gegen die Interessen der Mehrheit durchzusetzen. Eine unmittelbare Folge des Akkumulations- und Expansionsdrangs der dynastischen Eliten war, dass nicht nur die Gewalt innerhalb einer Gesellschaft anstieg, sondern auch die Häufigkeit und Intensität von kriegerischen Auseinandersetzun- gen mit Nachbarn. Die vergleichende Anthropologie macht deutlich, dass mit der zunehmenden „Zivilisierung“ – bemerkenswerterweise in der Geschichtswissenschaft definiert durch das Vorhandensein von Schrift, Großbauten und sozialer Schichtung – die Häufigkeit von Kriegen, ihr Organisationsgrad und ihre Härte (gemessen an der Zahl der Toten) sprunghaft zunahmen.15 15 Die Kriegshandlungen sogenannter primitiver Völker hingegen sind typischer- weise relativ sporadisch und laufen unorganisiert, ritualisiert und in der Hälfte der Auseinandersetzungen ohne Blutvergießen ab (vgl. Mann, 1994, S. 88). Die Geburt der Ökonomie der Maßlosigkeit 25 Mit der Herausbildung von Elitenherrschaft ging eine weitere bemer- kenswerte Entwicklung einher: neuartige Religionen. Die dauerhafte Lenkung der Mehrheit durch eine Minderheit setzt voraus, dass der elitäre Machtanspruch in Gesetzen, aber auch in den Normen aller gesellschaft- lichen Schichten verankert ist. Der Historiker Yuval Harari spricht von „erfundenen Ordnungen“. Die „erfundene Ordnung“ von göttlichen Eigen- tümern und menschlichen Verwaltern im Zweistromland verankerte den Gedanken der Hierarchie im Bewusstsein der Menschen. Das hierarchi- sche Verhältnis von Göttern und menschlichen Verwaltern spiegelte und rechtfertigte auch die noch junge Herrschaft des Menschen über seines- gleichen. Der Götterglaube spielte eine zentrale Rolle für die Stabilisie- rung gesellschaftlicher Macht. Er sorgte für Massenkooperation und Massengehorsam. Wenn wir wieder in die Epoche vor der Neolithischen Revolution zurückblicken, wird deutlich, welche enorme gesellschaft- liche Revolution der Götterglaube darstellte. Jäger und Sammler waren Animisten. Für sie waren alle tierischen und pflanzlichen Lebewesen, selbst Flüsse oder Berge beseelt. Der Mensch begegnete diesen „Kräften“ auf Augenhöhe und die menschlichen Normen und Werte berücksichtig- ten die Interessen aller anderen Wesen und selbst der Ahnen. Doch mit der Sesshaftigkeit des Menschen änderten sich auch seine Kosmologie und sein Weltbild: Bauern leben davon, Pflanzen und Tiere zu besitzen, sie züchterisch zu verändern oder zu verkaufen. Von gleichberechtigten Wesen verwandelten sie sich allmählich zu stummen Nutz- und Besitz- gegenständen. Die Bauern wandten sich in ihren Gebeten im Laufe der Zeit deshalb nicht mehr an die Tier- und Naturgeister, sondern an neue Fruchtbarkeitsgötter, an Regengötter, Stadtgötter und bald auch an Kriegs- götter. Die Beziehungen zwischen Menschen und Göttern hatten einen Vertragscharakter: Der Mensch versprach den Göttern Anbetung und Opfer und durfte sich dafür ohne schlechtes Gewissen die Erde und alle Lebewesen aneignen. Er stellte sich damit erstmals über seine Mitlebe- wesen, die er zur Arbeit nutzt und die er züchtet, um sie später zu töten. Um reiche Ernten zu erhalten, opferte er jene Dinge, die er mit der neuen Produktionsweise herstellte: Wein, Nutztiere, Brot. Mit der Erfindung der Herrschergötter betrachtete sich der Mensch selbst als Herrscher und legi- timierte damit auch die Herrschaft des Menschen über seinesgleichen. Und allmählich ernannten sich die Könige selbst zu Göttern. Ihre weltliche Macht und ihr Wille zum Immer-mehr wurden so mit einer transzenden- ten Legitimation versehen. 26 Die Verwandlung der Welt Der versäumte Widerstand Diese ersten Regungen der maßlosen Ökonomie haben das Leben der meisten Menschen objektiv verschlechtert. Die gesellschaftliche Struktur wurde hierarchischer und eine Elite begann damit, andere auszubeuten. Die Frage drängt sich auf: Was hat die Mehrheit der Menschen dazu be- wogen, die Ansprüche einer selbsternannten Elite zu akzeptieren? Der Mensch der Gattung Homo sapiens lebte zumindest 200 000 Jahre lang in egalitären und kooperativen Gesellschaftsformen. Gewalt hatte es auch früher gegeben, aber die systematische Herrschaft einer Minderheit über eine Mehrheit war bislang unbekannt. Haben die Bewohner Mesopota- miens diese Veränderungen nicht erkannt oder einfach zu spät reagiert? Waren sie traumatisiert angesichts der organisierten Gewalt, der sie nun ausgesetzt waren? Die Antwort auf die Frage, was die Mehrheit dazu bewogen hat, sich von einer Minderheit beherrschen zu lassen, ist ver- mutlich in den strukturellen Merkmalen der Gesellschaften nach der landwirtschaftlichen Revolution zu finden. Der Soziologe Michael Mann argumentiert mit der Herausbildung von sogenannten „Käfigfaktoren“16 im Zweistromland: Die im fruchtbaren Zweistromland sesshaften Bauern wollten und konnten ihr fruchtbares Land nicht mehr verlassen. Sie waren längst keine umherwandernden Wildbeuter mehr. Das mag sie genötigt haben, zunächst die sich herausbildende soziale Hierarchie und später eine zentralisierte Elitenmacht zu akzeptieren. Gleichzeitig perfektionier- ten die Eliten kontinuierlich ihre Fähigkeit, physische Macht zu organi- sieren. Diese Macht wurde allmählich durch strukturelle und institutio- nelle Gewalt ergänzt und gestärkt: ein Rechtssystem, das die Eigentums- ansprüche der Elite festschrieb und durchsetzte, die Erfindung ökonomi- scher Herrschaft in Form von Krediten und Schulden und ein religiöses Glaubenssystem, das die ausbeuterische hierarchische Ordnung als gott- gewollt darstellte. Die Propheten in Israel und Juda reagierten in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung auf die weitere Ausbreitung der maßlosen Ökonomie. Sie übten scharfe Kritik und forderten Gerechtig- keit und Recht, um die Verarmung weiter Bevölkerungsteile zu stoppen. Das Hauptthema des sozialkritischen Propheten Amos war die Gefähr- dung der Kleinbauern durch Pfändung und Schuldsklaverei sowie der 16 Mann, 1994. Die Geburt der Ökonomie der Maßlosigkeit 27 Kreditbetrug, dessen Opfer die Kleinbauern vielfach wurden. Der Prophet Micha prangerte erstmals die Vollstreckung des Kreditvertrags als Raub an. Die Tora versuchte durch Zinsverbot, Schuldenerlass und Schuld- sklavenbefreiung alle sieben Jahre, periodische egalitäre Landverteilung oder Armensteuern der gesellschaftlichen Spaltung entgegenzuwirken.17 Doch diese frühen Versuche der Gegenwehr konnten den weiteren Auf- stieg der Ökonomie der Maßlosigkeit nicht verhindern. 17 Vgl. Durchrow, 2013. Griechische Antike und Römisches Reich – der Aufstieg der maßlosen Ökonomie In der Zeit zwischen 800 und 600 v. Chr. zerfielen die großen Imperien des Zweistromlandes in kleinere, instabile Königreiche, die permanent in kriegerische Konflikte verwickelt waren. In diesem Klima der Gewalt und der Verunsicherung entwickelte sich allmählich etwas völlig Neues: das Münzgeldwesen. Im alten Mesopotamien äußerte sich der elitäre Wille zum Immer-mehr im Raub von Nahrungsmitteln und der privaten Aneignung von Land. Diese geraubten Nahrungsmittelüberschüsse waren der erste Treibstoff für die Ökonomie der Maßlosigkeit. In der griechi- schen und römischen Antike war es das Münzgeldwesen, das diese Öko- nomie vorantrieb. Es war nicht nur das wesentliche Element des militäri- schen Expansionismus der Griechen und Römer, sondern spielte auch eine zentrale Rolle für die beginnende Kommerzialisierung der Gesell- schaft, die Ausweitung und Stabilisierung von Elitenherrschaft, die ex- plodierende soziale Ungleichheit und die Institution der Sklaverei. In der Zeit zwischen 600 v. Chr. bis ungefähr 400 n. Chr. und im Einflussbereich des antiken Griechenlands und des Römischen Reichs nahmen die drei Triebkräfte der maßlosen Ökonomie – Elitenherrschaft, Expansionismus und Repression – eine neue Gestalt an: Die antike Ökonomie beruhte auf einem militärisch-expansionistischen „Münzgeld-Sklaverei-Komplex“.18 Betrachten wir die Geschichte des Münzgeldwesens etwas näher: In der Epoche der kriegerischen Auseinandersetzungen nach dem Zusam- menbruch der mesopotamischen Großreiche wurden die Häuser der Rei- chen, die im Besitz von Gold, Silber und Bronze waren, und die Schatz- kammern der Tempel geplündert. Das geraubte Edelmetall wurde in kleine Stücke zerschlagen und gelangte so in die Hände breiterer Bevölkerungs- schichten. Der wichtigste Grund dafür war, dass sich in dieser Epoche ein neuer Typ von Armee verbreitete: Söldnerheere verdrängten die bisher vorherrschenden Aristokratenheere mit ihrem Gefolge. Die Söldner wur- den mit einem Teil der Beute entlohnt und brachten das Edelmetall im Tausch gegen Lebensmittel unter die Bevölkerung, aus deren Mitte sie 18 Vgl. Graeber, 2012. Griechische Antike und Römisches Reich 29 kamen. Am Anfang des Geldwesens standen also geraubte Edelmetall- stücke, die eine Zahlungsfunktion erfüllten. Vorher – in der Zeit zwischen 3500 und 800 v. Chr. – war in Mesopotamien bereits Kreditgeld üblich. Dieses „Geld“ diente aber nur als virtuelle Verrechnungseinheit und wechselte nicht von einer Hand in die andere. Kreditvereinbarungen wurden auf Tontafeln festgehalten und diese Schuldscheine zirkulierten in den Kaufmannsgilden und unter den Wohlhabenden. Der Großteil der Bevölkerung betrieb Nachbarschaftshilfe. Vielleicht hatte der eine oder andere auch einen Kredit beim Schankwirt, der irgendwann mit einer Ziege oder Getreide beglichen wurde. Kreditgeld beruht auf Vertrauen. Aber Zeiten des Krieges und der Gewalt sind Hochphasen des Misstrau- ens. In einem solchen gesellschaftlichen Klima erleichtert Münzgeld ökonomische Transaktionen – insbesondere auch solche mit schwer be- waffneten, umherziehenden Soldaten, die gefährlich waren und ein Kredit- risiko darstellten. Wenn ein Bauer oder Händler Edelmetallstücke von ihnen nahm, konnte er sich wenigstens sicher sein, dass seine Leistung entgolten wurde – und zwar sofort. Was zählte, war nicht das Vertrauen, sondern die Genauigkeit der Waage. Der Ursprung des Münzgeldwesens liegt also in einem Klima der Gewalt, der Angst und des mangelnden Vertrauens. Münzgeld erleichterte den Handel mit Menschen, denen man nicht vertraute, und mit Fremden, die sogar Feinde sein konnten. Die erste bekannte Münze ließ König Alyattes von Lydien im Jahr 640 vor unserer Zeitrechnung prägen. Einer These zufolge entsprach ihr Gegen- wert nicht zufällig dem Wert von zwölf Schafen – es war der übliche Jahreslohn eines Söldners.19 Die ersten Münzen gingen also vermutlich durch die Hände von Söldnern. Münzgeld wurde – entgegen der weitver- breiteten harmonistischen Vorstellung – nicht erfunden, um den Handel auf geschäftigen Märkten zu erleichtern, sondern um den Krieg zu per- fektionieren. Grenzüberschreitenden Handel gab es schon einige Jahr- hunderte bevor Münzgeld erfunden wurde. Und es dauerte noch einige Jahrhunderte nach der Erfindung von Münzgeld, bis es die Händler eben- falls verwendeten. Ungeachtet der historischen Fakten haben sich Wirt- schaftswissenschaftler aber eine ganz andere Geschichte ausgedacht, wie sich das Geldwesen entwickelt haben soll: Dieser Erzählung nach ist das Geld in grauer Vorzeit erfunden worden, weil auf Märkten mit vielen An- bietern von unterschiedlichen Gütern der Austausch zu komplex wurde. 19 Roberts, 2011, S. 66. 30 Die Verwandlung der Welt Lizenziert für 7GG14707U77030318. © Metropolis-Verlag. Weitergabe oder Vervielfältigung ist nicht statthaft. Das Bild vom Bauern, der Äpfel anzubieten hat und einen Stuhl braucht, und dem Tischler, der aber keine Äpfel, sondern Brot möchte, das er vom Bäcker bekommen könnte, vorausgesetzt, dass dieser wiederum Bedarf an einem Stuhl hätte …, konnte sich als harmonische und unverdächtige Erklärung des Geldwesens tief in das kollektive Bewusstsein einprägen. Diese Theorie einer harmonischen, evolutionären Entwicklung des Geldes formulierte erstmals der Begründer der österreichischen Schule der Natio- nalökonomie, Carl Menger (1840-1921). Aber diese Geschichte vom Geld als Erfindung von Marktteilnehmern ist historisch falsch und zudem auch logisch fragwürdig: Wie sollte sich Geld auf Tauschmärkten evolutionär entwickeln, wenn solche Märkte ohne Geld gar nicht funktionieren kön- nen? Münzgeld und militärische Gewalt Ein Beleg für die ursprüngliche Verknüpfung des Münzgeldwesens mit Krieg und militärischem Expansionismus ist die Verbreitung des Münz- geldwesens entlang der Spur der Söldnertruppen von Lydien aus ostwärts nach Persien und westwärts nach Griechenland. Handelsnationen im Mit- telmeerraum wie die Phönizier – die über keine große Söldnerarmee ver- fügten – zeigten hingegen kaum Interesse am Münzgeldwesen. Sie wickel- ten den Handel nach wie vor mit Edelmetall-Rohbarren ab. Ein weiterer Beleg für diese These sind auch die Karthager, die mit Münzen ausschließ- lich Söldner bezahlten, den Handel aber weiterhin auf traditionelle Weise – ohne Münzgeld – abwickelten.20 Die These der Geburt des Münzgeld- wesens aus dem Krieg ist noch aus einem weiteren Grund plausibel: Die antiken Machthaber erkannten recht schnell das Potenzial des Münzgel- des für die Lösung eines zentralen logistischen Problems: die Versorgung eines marschierenden Heeres oder eines Heeres in feindlichem Territo- rium mit Lebensmitteln.21 Münzgeld war ein nützliches Hilfsmittel, um Großreiche zu gründen. Die Reichweite der Armeen, die ihren Proviant mitschleppen mussten, war lange auf drei Tagesmärsche beschränkt, denn länger konnten sie nicht verpflegt werden. Die Einführung der Entlohnung der Söldner in Geld ermöglichte die Ausdehnung der Kriegszüge. Aller- 20 Graeber, 2012, S. 239. 21 Vgl. Mann, 1994, S. 315. Griechische Antike und Römisches Reich 31 dings nur, wenn die Soldaten mit Geld auch Nahrung kaufen konnten. Die Bauern wurden gezwungen, für einen anonymen Markt zu produzie- ren, indem ihnen Steuern auferlegt wurden, die nur in Geld beglichen wer- den konnten. Um zu Geld zu kommen, mussten die Bauern ihre Erzeug- nisse an die Besitzer von Münzgeld verkaufen. Das waren vor allem Sol- daten, von denen sie ironischerweise auch mit Gewalt gezwungen wur- den, ihre Steuern zu bezahlen. Münzgeld hatte einen wesentlichen Vorteil für expansionsorientierte Eliten: Es konnte – anders als Getreide oder sonstige verderbliche Agrarprodukte – leichter durch die Machtzentren abgesaugt und über Söldnerlöhne in entlegenen Gebieten machterweiternd eingesetzt werden. Die Münzen hatten zunächst also eine militärisch- machtpolitische Funktion. Die Einführung von Geldsteuern durchbrach die traditionellen Beschränkungen der Kriegsführung und das Münzgeld- system erleichterte damit sowohl die militärische Expansion wie auch die Ausweitung der Repression nach innen – denn die Revolten der Bauern konnten durch Söldner niedergeschlagen werden. Die Münzgeldwirtschaft wurde deshalb überall von den Macht-Eliten vorangetrieben. Bei der Be- trachtung späterer Epochen wird uns die zwangsweise Etablierung und Expansion der Münzgeldwirtschaft immer wieder begegnen. In Griechenland spielte das Münzgeld zudem eine wichtige innenpoli- tische Rolle: Im Falle von Athen war es die Polis – die Bürgergemeinde – die Goldmünzen als politische Strategie einzusetzen begann. Die Gold- münzen der Polis waren ein frühes PR-Instrument und symbolisierten einen politischen Machtanspruch.22 Die Münzen Athens sollten die Idee der Polis verbreiten: Der von einer kleinen Schicht von Bürgern gelenkte Stadtstaat war das Gegenmodell zum System der eingesessenen Land- aristokratie. Die Stadt Athen bezahlte bereits ab dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ihre Bürger für Gerichtsdienste, Verwaltungstätig- keiten und den Militärdienst mit Edelmetallgeld.23 Das mag mit ein Grund dafür gewesen sein, dass in Griechenland Münzen von hohem, aber erstmals auch von niedrigem Wert geprägt wurden. Vor allem diese kleinen Münzen waren für den Alltagsgebrauch tauglich und veränderten allmählich die Gesellschaft. Die Zahl der in Umlauf gebrachten Münzen stieg und es bildeten sich in der Umgebung der Versammlungsplätze erste Märkte heraus, auf denen mit diesem Geld bezahlt werden konnte. 22 Schoenberger, 2008, S. 668, 23 Schoenberger, 2008, S. 670 und Graeber, 2012, S. 195. 32 Die Verwandlung der Welt Ab 550 v. Chr. endete die zweihundert Jahre vorher einsetzende Koloni- sationsperiode, die zur Gründung von griechischen Tochterstädten im ganzen Mittelmeerraum führte. Das Ende der Kolonisationsperiode war der Beginn einer inneren ökonomischen Expansion. Die griechische Landwirtschaft begann sich zu kommerzialisieren und der profitable Handel gewann gegenüber dem griechischen Ideal der hauswirtschaft- lichen Selbstversorgung und Unabhängigkeit (oikonomia) an Bedeutung. Das hatte weitreichende Auswirkungen auf das gesellschaftliche Gefüge, denn mit der Verbreitung der Geldwirtschaft und kommerziellen Märkten verschärfte sich die gesellschaftliche Ungleichheit. Die vormals gültige traditionelle Patronage-Beziehung und gegenseitige Beistandspflicht zwi- schen adeligem Krieger und seinen bäuerlichen Schützlingen verwandelte sich mit dem Aufkommen der kommerziellen Ökonomie allmählich in eine Schuldbeziehung. Der Vorschuss an Saatkorn wurde nun vermehrt als Darlehen – mitunter sogar als verzinstes Darlehen – behandelt.24 In schwierigen Jahren verschuldeten sich die Bauern und wurden zu abhängi- gen Pächtern auf dem Land, das ihnen einmal gehört hatte. Die aufkom- mende kommerzielle Ökonomie führte – wie schon in Mesopotamien – zu zunehmender Verschuldung des ärmeren Teils der Bevölkerung. In Mesopotamien wurden die daraus resultierenden sozialen Spannungen durch Amnestien und Schuldenerlässe periodisch gelöst. Im antiken Griechenland wurde eine andere „Lösung“ gefunden: Nachdem es hier keine Tradition der Schuldenerlässe gab und der athenische Staatsmann und Reformer Solon um 600 vor unserer Zeitrechnung die Schuldknecht- schaft ebenso verbot wie den Verkauf freier Athener und den Selbstver- kauf, wurde ein Teil der Nachkommen des ärmeren Teils der Bevölkerung einfach ins Ausland geschickt – zunächst um griechische Kolonien an der Küste zwischen der Krim und Marseille zu errichten, später als Men- schenmaterial für die expansive Militärmaschinerie. Die zunehmende Kommerzialisierung der griechischen Gesellschaft ab 550 v. Chr. verän- derte auch die militärischen Ziele: Der Schutz des Seehandels gegen Phönizier und Perser gewann an Bedeutung. Zugleich förderte der ver- mehrte Handel die weitere Militarisierung, da nun mehr Ressourcen dafür bereitgestellt werden konnten. Diese unheilvolle Allianz von maßloser Ökonomie und Militär zieht sich als tödliche Spur durch alle Epochen. Wir begegnen ihr wieder in den Kreuzzügen des Mittelalters, in der blu- 24 Graeber, 2012, S. 201. Griechische Antike und Römisches Reich 33 tigen Eroberung Amerikas durch die goldgierigen portugiesischen und spanischen Konquistadoren, im europäischen Imperialismus des 19. Jahr- hunderts oder in den Ressourcenkriegen zu Beginn des dritten Jahrtau- sends wie dem Irak-Krieg und den Konflikten in Zentralafrika. Aber kehren wir zurück in das antike Griechenland. Im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gingen die Griechen mit systematischem Eifer daran, die reichen Silber- und Bleivorkommen südlich von Athen auszu- beuten. Den Höhepunkt erreichte der Silberabbau im 5. und 4. Jahrhun- dert v. Chr. Die Stadt Athen verpachtete die Minen an Privatpersonen und diese ließen Sklaven unter unvorstellbaren Bedingungen schuften.25 Aus einer Tonne Erzgestein, das mit den Händen aus dem harten Fels gebrochen wurde, konnten in mühsamen weiteren Arbeitsschritten etwa 400 Gramm Silber gewonnen werden. Doch obwohl Athen über die größte Silbermine Griechenlands verfügte, mussten ständig neue Edelmetallvor- kommen angezapft werden, um den enormen Bedarf an Edelmetallmünzen zu decken, die erforderlich waren, um die eigenen Bürger und die Solda- ten mit Geld entlohnen zu können. Die Sicherung der Edelmetallzufuhr war nur militärisch möglich. Das kleine Athen baute deshalb eine Kriegs- flotte von 200 Schiffen mit 40 000 Mann Besatzung auf. Die Militär- maschinerie kostete nicht nur viel Geld, sie sollte es auch wieder herein- bringen. Der militärische Expansionismus richtete sein Augenmerk des- halb auf zwei Ziele: auf neue Edelmetallvorkommen und auf Sklaven für die Bergwerke. Das Militär war der eigentliche Motor der erstmalig in der Menschheitsgeschichte angeworfenen Geldmaschine und die Griechen waren die Pioniere einer aggressiven Geld-Militär-Maschinerie. Als die phönizische Stadt Tyros 330 v. Chr. von Alexander dem Großen zerstört wurde, kostete dies 10 000 Menschen das Leben, die 30 000 Überlebenden wurden als Bergwerkssklaven verkauft. Der Hunger nach Edelmetall war beträchtlich, denn Alexander brauchte für seine 120 000 Soldaten täglich eine halbe Tonne Silber.26 Deshalb war er an Persien interessiert, denn hier gab es Minen und Münzstätten, die nun – mit kriegsgefangenen Sklaven- arbeitern – den Geldbedarf der Invasionsarmee decken sollten. Alexander verwandelte durch die Eroberungen den Einflussbereich der Phönizier und das alte Mesopotamien in Münzgeld-Wirtschaften. Er raubte die Gold- und Silberreserven der Tempel und befahl, dass sämtliche Steuern 25 Vgl. Graeber, 2012, Schumacher, 2001. 26 Graeber, 2012, S. 242. 34 Die Verwandlung der Welt an seine neue Regierung in seinem eigenen Geld entrichtet werden muss- ten. Der Anthropologe David Graeber verweist auf das ungeheure Aus- maß dieses Münzgeld-Tsunamis: „Das angehäufte Hartgeld eines Jahr- hunderts kam in wenigen Monaten auf den Markt. Ungefähr 180.000 Talente oder nach heutigem Wert etwa 285 Milliarden Dollar.“27 Die militärische Expansion der Griechen entschärfte vorübergehend die soziale Sprengkraft der Ungleichheit, und das Gespenst der Schuld- knechtschaft im eigenen Land trat für eine Weile in den Hintergrund. Die Kinder der Bauern wurden bezahlte Söldner statt Schuldknechte und sorgten laufend für Nachschub an Sklaven. Aber immer dann, wenn die Geld-Militär-Expansionsmaschine ins Stocken geriet, erlebte die Schuld- knechtschaft in Griechenland wieder einen Aufschwung. Neben der Geld-Militär-Maschinerie dürfte auch eine tiefe soziale Verunsicherung der Bevölkerung zum weiteren Aufstieg des Münzgeld- wesens beigetragen haben: Die militärische Expansion führte zu einem gewaltigen Zustrom an Sklaven. Das Auftauchen tausender erniedrigter Menschen in den griechischen Städten ermöglichte es den Bürgern, Ar- beit an Sklaven zu delegieren. Aber es war auch für jeden augenschein- lich: Wer arm war, musste sich verkaufen. Geld wurde daher zunehmend als Mittel betrachtet, um die Angst, von anderen abhängig zu sein, zu be- sänftigen. Die Reichen wiederum erkannten die Bedeutung der Geldwirt- schaft für den Ausbau und Erhalt ihrer privilegierten Position. Münzen veränderten nicht nur die Art und Weise, wie Güter getauscht wurden, son- dern auch die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinan- der. Wer wo in der gesellschaftlichen Hierarchie stand, wurde zunehmend eine Frage der Geldmenge, die jemand besaß und einsetzen konnte. Auch die Macht des Römischen Reichs beruhte auf der Verknüpfung von Militär und Münzgeldwesen. Das römische Reich war eine Imperial- Ökonomie. Der Historiker Michael Mann spricht auch von einer „Legio- närswirtschaft“, denn die Legion war der ökonomische und militärische Motor des römischen Imperiums. Der Wille zum Immer-mehr der römi- schen Eliten schuf ganz spezifische Institutionen, soziale Verhältnisse und ideologische Denkgrundlagen. Sie sind bis heute wesentliche Fun- damente, auf denen die Ökonomie der Maßlosigkeit beruht. Ohne die in der imperialistischen Sklavenhaltergesellschaft Roms entstandene Kon- zeption von Eigentum und Recht können wir die heutige Ökonomie nicht 27 Graeber, 2012, S. 242. Griechische Antike und Römisches Reich 35 angemessen verstehen. Das Römische Reich zerbrach letztlich an seinem „Erfolg“, denn mit der militärischen Expansion und der Kommerzialisie- rung der Gesellschaft stieg auch die soziale Ungleichheit. Aber ein radi- kales Eigentumsverständnis und das römische Eigentumsrecht wirken als zentrale Elemente bis heute fort. Der Aufstieg Roms und damit seine Vormachtstellung im westlichen Mittelmeer begann mit den Siegen über Karthago in den Punischen Krie- gen im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Die Reparations- zahlungen der unterlegenen Gegner und die Silberminen in Hispanien führten Rom enorme Mengen an Edelmetall für den weiteren Ausbau seiner expansiven Militärmaschine zu. Ähnlich wie im antiken Griechen- land kam es auch in Rom zu einem folgenreichen Wandel der Organisa- tion des Militärs: Das römische Heer war ursprünglich ein Bürgerheer, zu dem die unterschiedlichen Klassen einen festgelegten Beitrag an Solda- ten und Waffen leisten mussten. Im Laufe der Zeit entwickelte sich da- raus eine imperiale, professionelle Militärmaschinerie, die im späten zwei- ten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung den ganzen Mittelmeerraum mit Krieg überzog. Aus Bürgersoldaten wurden bezahlte Berufssoldaten, die permanent eingesetzt werden konnten. Die Ausmaße dieser Militär- maschinerie waren gewaltig und die römischen Eliten konnten sie über Jahrhunderte hinweg in Gang halten. Dabei war ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung involviert: Über einen Zeitraum von etwa 200 Jahren hin- weg kämpften etwa 13 Prozent der römischen Bürger irgendwann einmal in der Legion. Und etwa die Hälfte von ihnen war für mindestens sieben Jahre zum Kriegsdienst verpflichtet.28 Der Stellenwert des Militarismus für den römischen Staat zeigt sich an den Aufzeichnungen der Reichs- finanzen in der Zeit des ersten römischen Kaisers Augustus (31 v. Chr. – 14 n. Chr.): Die Ausgaben der Staatskasse beliefen sich auf 400 Millionen Sesterzen im Jahr, wobei 70 Prozent davon für die Armee verausgabt wur- den, 15 Prozent für die Verteilung von Korn als Almosen an das gemeine Volk und 13 Prozent für die Beschäftigten in der staatlichen Verwaltung. Der Rest wurde für öffentliche Gebäude, Straßenbau und die Veranstal- tung von Spielen aufgewendet. Die persönlichen Ausgaben von Kaiser Augustus beliefen sich auf etwas mehr als 100 Millionen Sesterzen im Jahr und hatten die fast gleiche Ausgabenstruktur, mit dem Unterschied, 28 Hopkins, 1979, S. 30-33, zitiert nach: Mann, 1994, S. 15. 36 Die Verwandlung der Welt dass er 13 Prozent für den privaten Erwerb von Land ausgab.29 Der römi- sche Militarismus war derart stabil, dass das Heer drei Jahrhunderte lang zumindest 300 000 Mann umfasste. Unter Diocletian wuchs am Anfang des 4. Jahrhunderts n. Chr. die Armee sogar auf 650 000 Mann an. Rom befand sich immer im Krieg. Der Staat – das war das Militär – und das Militär waren ein Instrument in den Händen einer kleinen Elite. Wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte gelang es dieser, damit ihren Willen zum Immer-mehr durchzusetzen. Der römische Expansionsmilitarismus eroberte nicht nur neue Territorien, er ließ auch eine territorial weitver- zweigte Münzgeldwirtschaft entstehen, die wiederum den römischen Expansionismus über Jahrhunderte hinweg in Gang hielt. Die Militär- maschinerie und die Geldmaschinerie trieben sich wechselseitig an.30 Die Menge des Geldes, das im Römischen Reich im Umlauf war, stand immer in direktem Verhältnis zur Höhe der Militärausgaben,31 und wer Münz- geld hatte, hatte es zunächst vom Staat. Der Staat verteilte aber nicht nur Geld, er sammelte es auch wieder ein. Rom setzte mit seinem Steuerwesen viel mehr Geld in Umlauf als jeder andere Staat zuvor. Nach dem Zusam- menbruch Roms sollte es noch Jahrhunderte dauern, bis wieder ein ähn- liches Niveau an Münzgeldumlauf erreicht wurde. Die Legionen sicherten einen ständigen Ressourcenfluss durch die Eroberung neuer Territorien. Gleichzeitig wären dieses Ausmaß an militärischer Gewalt und die Ver- sorgung von hunderttausenden Soldaten ohne die Einführung einer Münz- geldwirtschaft nicht möglich gewesen. Durch Geldsteuern und die Be- zahlung von Soldaten mit Münzgeld konnte Rom das logistische Problem territorialer Kontrolle – wie schon die Griechen vor ihnen – besser in den Griff bekommen als andere Völker. Die Geldsteuern hielten die Militär- maschinerie am Laufen und die Militärmaschinerie förderte die Geld- wirtschaft. Die Expansion des Münzwesens ging Hand in Hand mit der militärischen Expansion. Rom war ein „militärischer Münzgeld- und Skla- verei-Komplex“.32 Ohne die Geldwirtschaft hätte sich der antike Imperia- lismus nicht entfalten können. Und dieser verbreitete das Geldwesen, indem stetig neue Gebiete in die Logik der Geld-Ökonomie hineinge- 29 Mann, 1994, S. 46 (mit Verweis auf: Frank, T.: An Economic Survey of Ancient Rome, Bd. V. Rome and Italy of the Empire. 1940). 30 Hopkins, 1980; Hopkins, 2002. 31 Schoenberger, 2008, S. 674. 32 Graeber, 2012, S. 242. Griechische Antike und Römisches Reich 37 zwungen wurden. Die Zunahme von Gewalt im Mittelmeerraum seit dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung stand in engem Zusammenhang mit der Ausbreitung der Münzgeldwirtschaft. Sie verwandelte die gesamte antike Volkswirtschaft in eine Maschinerie zur Versorgung des Militär- apparates: Der Herrscher ließ Geld prägen, gab den Soldaten eine Münze und verfügte, dass jeder Steuerpflichtige dem Herrscher eine solche Münze als Steuerleistung schulde. Damit musste jeder einen Beitrag zur Versor- gung der Soldaten leisten, da jeder gezwungen war, in den Besitz einer solchen Münze zu kommen. Die Steuerpflicht betraf im Römischen Reich – wie im antiken Griechenland – die Mehrheit der Bevölkerung. Pacht oder Steuerforderungen, die in Münzgeld entrichtet werden müs- sen, regen einen Handel an, bei dem Güter gegen Geld getauscht werden. Um die staatlichen Abgaben bezahlen zu können, mussten die Steuer- pflichtigen Überschüsse produzieren und diese in Münzgeld verwandeln. Das Geld, bzw. einen Teil des Geldes, mussten sie wieder an den Staat zurückgeben bzw. an die Eliten, die ihn beherrschten.33 Um 238 v. Chr. kam Rom in den Besitz Sardiniens und seiner reichen Minen. Ähnlich wie in Griechenland wurde die Ausbeutung der Minen privaten Unterneh- mern aus der römischen Elite gegen Pachtgebühren überlassen. Und diese griffen massenhaft auf Sklavenarbeit zurück, die billig von der Militär- maschinerie bereitgestellt wurde. Diese Strategie wurde auch an anderen Orten durchgesetzt: Vom Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. bis zum 6. Jahr- hundert nach unserer Zeitrechnung war für die Römer Spanien das wich- tigste Silberförderland. Allein in den Bergwerken von Carthago Nova (heute Cartagena) arbeiteten laut dem antiken griechischen Geschichts- schreiber Polybios 40 000 Menschen. Die Gewinne für eine kleine Elite waren enorm. Für die Sklaven bedeutete dies, dass sie Tag und Nacht in den Stollen arbeiteten und dabei zugrunde gingen. Der Kaufpreis eines Sklaven war so gering, dass ein früher Tod durch Überarbeitung keinen nennenswerten ökonomischen Verlust für den Sklavenhalter darstellte. Die kommerzielle Logik des Münzgeldes erreichte allmählich jeden Winkel des Reichs. Die Entwicklung war rasant: Zwischen 157 und 80 v. Chr. verzehnfachte sich das Münzvolumen. Das römische Reich wurde zu einer in sich zusammenhängenden Geldwirtschaft.34 Ob es uns gefällt oder nicht: Die Entwicklung des Münzgeldwesens ist nicht von Sklaverei und 33 Hopkins, 2002. 34 Mann, 1994, S. 42; Hopkins, 1980. 38 Die Verwandlung der Welt organisiertem Massenmord zu trennen. Die Geschichte, dass sich die Münzgeldwirtschaft aus den Bedürfnissen friedlich tauschender und Han- del treibender Wirtschaftsakteure natürlich entwickelt hätte, ist nichts als ein Ammenmärchen. Gesellschaftliche Schichtung Wie schon in Mesopotamien und Griechenland veränderte sich mit der zunehmenden Kommerzialisierung auch die Gesellschaft. Im Römischen Reich nahm die gesellschaftliche Ungleichheit gewaltige Ausmaße an. Auch hierfür spielte das Militärwesen eine zentrale Rolle: Das Bürger- heer, zu dem alle gesellschaftlichen Klassen ihren Beitrag leisten muss- ten, verband Roms Klassengefüge zunächst zu einem effizienten militäri- schen Kampfinstrument. Aber die Verpflichtung zum Kriegsdienst stürzte viele bäuerliche Höfe in Schulden. Ihr Land wurde in der Folge von Großgrundbesitzern erworben und die landlos gewordenen Bauern wan- derten nach Rom ab. Aus Bauern wurden Proletarier. Während zu Beginn der Republik die Klasse des Proletariats keinen Kriegsdienst leisten musste, führte nun der massive Wegfall von bäuerlichen Grundbesitzern dazu, dass auch das Proletariat Soldaten stellen musste. Die soziale Schichtung innerhalb des Militärs nahm zu und die vormals vorhandene Solidarität der Klassen innerhalb des Militärs schwand. 200 Jahre unab- lässiger Kriegsführung ließen allmählich ein Berufsheer entstehen. Die Führungselite des Militärs stammte aber immer aus den beiden obersten Klassen der Senatsangehörigen und des Ritterstandes. Hohes Militäramt und Oberschicht waren eine Einheit. Diese gesellschaftliche Machtelite bestimmte, an wen Kriegsbeute und Sklaven verteilt wurden. Und sie verfügte über die enormen liquiden Mittel, welche die Verwaltung der er- oberten Provinzen abwarfen. Auch die Statthalter und andere hohe Beamte kamen aus dem Senatorenstand, die Steuerpächter und Heereslieferanten kamen aus dem Ritterstand. Die Staatsmacht war damit deckungsgleich mit diesem zahlenmäßig kleinen Personenkreis. Sie waren die Profiteure der expansiven Militärmaschinerie. Der römische Imperialismus und die immer weiter auseinanderklaffende Lohnskala des Militärs ließen die Ungleichheit beständig anwachsen. Ein anschauliches Bild der gesell- schaftlichen Ungleichheit zeichnet der Historiker Michael Mann: Crassus (115-53 v. Chr.) ließ nicht nur 6 000 revoltierende Sklaven entlang der Griechische Antike und Römisches Reich 39 Via Appia ans Kreuz schlagen, er war auch unvorstellbar reich. Er besaß „ein Vermögen von 192 Millionen Sesterzen – genug um 400.000 Fami- lien ein Jahr lang zu ernähren. Ein anderer angesehener Mann jener Tage war der Meinung, dass man 100.000 Sesterzen im Jahr brauche, um pas- sabel, und 600.000 Sesterzen, um gut leben zu können. Diese Einkünfte übertrafen das Existenzminimum einer Familie um das fast 200- bzw. 1200fache. In der Armee wurden die Unterschiede im Laufe der Zeit eben- falls immer größer. So erhielten die Zenturionen um 200. v. Chr. doppelt so viel Beute wie einfache Soldaten; im 1. Jahrhundert unter Pompeius war aus dem Doppelten das Zwanzigfache und für die höheren Offiziere das Fünfhundertfache geworden. Auch die regulären Besoldungsunter- schiede vergrößerten sich. Wobei die Zenturionen gegen Ende der Repu- blik das Fünffache und unter Augustus das Sechzehn- bis Sechzigfache des an die einfachen Soldaten gezahlten Soldes einstrichen.“35 Die römische Elite vermehrte nicht nur ihren Reichtum, sie verweigerte auch der Mehrheit der Bevölkerung die Teilhabe an politischen Entschei- dungen. Rom wurde zunehmend von einer ausbeuterischen Klasse re- giert.36 Ökonomische, politische und militärische Macht waren im antiken Rom längst verschmolzen. Die Steuerbefreiung für römische Bürger zwi- schen 167 v. Chr. bis zum Ende des 3. Jahrhunderts n. Chr. nützte den Reichen, die Kleinbauern und Handwerker hingegen gerieten verstärkt unter Druck. Sie konnten mit der enormen Zahl an Sklaven, die in das Reich gebracht wurden, nicht konkurrieren und die Großgrundbesitzer dehnten ihren Landbesitz durch gewaltsame Vertreibung oder Aufkauf verarmter Höfe stetig aus. Ab Mitte des 2. Jahrhunderts führte die starke Konzentration von Grundbesitz zu innenpolitischen Krisen und zu Auf- ständen. Landreformen scheiterten aber am Widerstand der Optimaten – der konservativen Adelspartei. Diese Entwicklungen führten zur Ver- armung der Bevölkerungsmehrheit. Deshalb – und das, obwohl die Skla- venwirtschaft auf ihrem Gipfelpunkt war – breiteten sich innerhalb der römischen Gesellschaft neue Ausbeutungsverhältnisse aus: gelegentliche Lohnarbeit und die abhängige Pacht. Und auch diese wurden rechtlich verankert. Mit der Erfindung des Lohnarbeiters und des abhängigen Päch- ters konnten von der Oberschicht nun nicht nur Sklaven, sondern auch Teile der römischen Bevölkerung intensiv ausgebeutet werden. Der Anteil 35 Mann, 1994, S. 18. 36 Mann, 1994, S. 21. 40 Die Verwandlung der Welt der römischen Bevölkerung, der zu Leibeigenen oder Abhängigen wurde, stieg. Im 3. Jahrhundert n. Chr. waren die meisten Landbewohner, die nicht zu Sklaven geworden waren, Schuldknechte eines reichen Grund- besitzers.37 Dieses Herrschaftsverhältnis sollte später rechtlich und zeit- lich verfestigt werden, indem der Bauer an die Scholle gebunden wurde. Ein Edikt von Kaiser Constantin (324-337) bestimmte, dass Pachtbauern, wenn sie an einem anderen Ort aufgefunden wurden oder möglicherweise über Flucht nachdachten, in Ketten gelegt und versklavt werden konn- ten.38 Der Eliten-Staat übereignete damit gegen Ende des Römischen Imperiums dem reichen Grundherren die Arbeitskraft der Bauern und ihrer Familien. Sie wurden zu Leibeigenen. Ein dunkles Geheimnis – Eigentum und Recht Im Gefolge des Strebens der römischen Elite nach der Vermehrung ihres Privateigentums bildete sich ein radikales Eigentumsverständnis heraus. Es entstand ein Eigentumsrecht, das von aristokratischen Rechtsgelehrten und -anwälten verteidigt und verwaltet und vom Staat garantiert und mit Gewalt durchgesetzt wurde. Dieses römische Eigentumsrecht hat die wichtigsten Institutionen der Gegenwart geformt. Es prägt bis heute die Beziehungen zwischen Menschen und es prägt unser Verständnis von Ver- trägen, Eigentum, Schuldverhältnissen, Rechten und sogar von Freiheit. Im Hochmittelalter wurde das römische Recht zum Lehrfach an italieni- schen Universitäten. Und weil es den wirtschaftlichen Interessen der mit- telalterlichen Besitz-Eliten entsprach, verbreitete es sich ab dem 14. Jahr- hundert auch im Rest Europas. Bis heute lernen Jurastudenten die Grund- lagen des römischen Rechts, seine zentralen Begriffe und seine Weltsicht. Was macht die Besonderheit des römischen Rechts aus? In seinem Zentrum steht ein radikales Verständnis von Privateigentum. Das römi- sche Eigentumsrecht spricht einer Person die absolute Verfügungsgewalt über eine Sache zu. Das beinhaltet auch, dass andere von dieser Ver- fügungsgewalt ausgeschlossen werden können. Im Kern geht es also nicht um eine Beziehung einer Person zu einer Sache, sondern um die Rege- lung der Beziehungen zwischen Menschen. Das „Recht an der Sache“ 37 Graeber, 2012, S. 244. 38 Mann, 1994, S. 73. Griechische Antike und Römisches Reich 41 besteht darin, jeden anderen daran hindern zu können, diese Sache zu benutzen. Der Eigentümer muss daher nicht auf das Wohl anderer Rück- sicht nehmen. Selbst seine Kinder konnte der römische Hausherr straffrei töten oder in die Sklaverei verkaufen. Warum entwickelte sich in Rom ein derart radikales Eigentumsrecht? Der Historiker Orlando Patterson weist auf einen bemerkenswerten Zusammenhang hin: Das unumschränkte Privateigentum – das „dominium“ – ist eine relativ junge Erscheinung. Es tauchte erst gegen Ende der Republik auf, als Rom zu einer Sklaven- haltergesellschaft wurde. Hunderttausende Kriegsgefangene kamen als völlig entrechtete Zwangsarbeiter nach Italien. Stellen wir uns die Wir- kung vor, welche diese gesellschaftliche Erschütterung auf die mensch- liche Psyche haben musste: Tagtäglich war die Bevölkerung Roms mit Menschen konfrontiert, die unmenschlich behandelt wurden. Und es war die eigene Gesellschaft, die derart mit anderen Menschen umging. Wenn diese Ungeheuerlichkeit möglich war, konnte man dann nicht vielleicht auch selbst zum Opfer einer solchen Gesellschaft werden? Gleichzeitig profitierten die Bürger der römischen Gesellschaft aber auch von dieser Form der Herrschaft über andere. Um 50 v. Chr. war es selbstverständ- lich, dass nahezu jeder römischer Bürger Eigentümer zumindest eines Sklaven war.39 Was lag näher, als die in der Alltagspraxis unmenschlich Behandelten auch juristisch zu entmenschlichen, indem sie einfach zu einer Sache erklärt wurden? So wurde das emotionale Unbehagen einfach besänftigt, indem eine Gruppe von Menschen als Sache definiert wurde, über die man nach Belieben verfügen konnte. Der Zusammenhang ist so offensichtlich wie erschreckend: Unsere heute gängige Rechtsvorstellung unumschränkter Verfügungsgewalt über eine Sache ist geprägt von der Institution der Sklaverei. Das dominium (privates Eigentum) ist abgeleitet von dominus – dem Herrn bzw. Sklavenhalter. Der Herr konnte den Skla- ven nach seinem Willen gebrauchen (usus) – z.B. ihn zur perversen Unter- haltung wilden Tieren vorwerfen oder ihn für sich arbeiten lassen. Er konnte die Ergebnisse dieser Arbeit als sein Eigentum betrachten ( fructus) und Schadenersatz verlangen, wenn sein Eigentum von jemand anderem verletzt oder getötet wurde (abusus). In den Fallsammlungen von römi- schen Juristen finden wir eine Fülle von Beispielen dafür, dass es ganz offensichtlich als selbstverständlich betrachtet wurde, dass ein Mensch der absoluten Verfügungsgewalt eines anderen unterworfen war und nichts 39 Graeber, 2012, S. 210. 42 Die Verwandlung der Welt als einen Geldwert darstellte. Die römischen Juristen definierten also zu- nächst eine Gruppe von Menschen als Sache, über die ein Eigentümer absolut verfügen konnte, und dehnten dann diese Logik des absoluten Eigentums auf alle anderen Sachen aus, die man besitzen konnte: Tiere, Wertgegenstände, Geld, Immobilien. Die Radikalität, mit der die Interes- sen der Eigentümer absolut gesetzt wurden, spiegelte sich auch in einem rigiden Schuldrecht: In der Frühzeit der römischen Republik konnte ein Gläubiger den zahlungsunfähigen Schuldner auch hinrichten lassen. Mit dieser radikalen Konzeption von Eigentum als Form absoluter Macht veränderte sich auch das gesellschaftliche Verständnis von Freiheit. Frei zu sein bedeutete zunächst, kein Sklave zu sein. Denn Sklaven konnten keine sozialen Bindungen eingehen: Sie konnten keine Familie gründen und keine Freunde haben. Sie konnten nicht in Gemeinschaft mit anderen gleichberechtigt leben. So galten sie als a-sozial, da sie keine sozialen Verpflichtungen eingehen oder Zusagen erfüllen konnten. Gewaltsam aus ihrem ursprünglichen sozialen Umfeld gerissen und als Privatbesitz eines Herrn angesehen, wurden sie entmenschlicht und galten als sozial tot.40 Der Verlust ihrer sozialen Beziehungen machte sie für die Juristen zur Sache. Im 2. Jahrhundert n. Chr. definierten römische Juristen die Frei- heit (libertas) neu. Die Bedeutung des Freiheitsbegriffs vollzog eine be- merkenswerte Wendung: Freiheit wurde nun mit der Verfügungsmacht des Eigentümers gleichgesetzt. Freiheit bedeutete auf einmal, Macht über andere zu haben. Sie wurde mit der absoluten Macht des Besitzenden gleichgesetzt, mit seinem Eigentum das zu tun, was er wollte. Freiheit wurde zum Recht des ökonomisch Mächtigen. Was hier vollzogen wurde, war eine drastische Wende: von Freiheit als Selbstbestimmtheit bzw. als Abwesenheit von Fremdbestimmung hin zur Freiheit als Macht über an- dere durch Eigentum. Diese Konzeption von Freiheit wirkt bis heute fort und bildet ein wesentliches Element des Wirtschaftsliberalismus, der unter Freiheit vor allem die Freiheit versteht, mit seinem Kapital uneinge- schränkt tun und lassen zu können, was man will. 40 Orlando Pattersons Buch trägt deshalb den Titel: „Sklaverei und Sozialer Tod“ (Patterson, 1982). Griechische Antike und Römisches Reich 43 Das Erbe der Antike Das Römische Reich ging unter, aber es hinterließ das Fundament für die maßlose Ökonomie heutiger Tage: Erstens hatte sich im alten Rom eine Schichtung der Gesellschaft entwickelt, wie es sie niemals zuvor gegeben hatte. Einer zahlenmäßig kleinen Elite war es nicht nur gelungen, sich die Mehrheit für ihren Willen zum Immer-mehr nutzbar zu machen, sondern die Gesellschaft war nun dauerhaft in Besitzende und Habenichtse, in Herrscher und Untertanen, in Herren und Abhängige gespalten. Zweitens hatten sich erstmals systematisch militärische Gewalt und kommerzielles Interesse verbunden. Und drittens hatte sich eine radikale Vorstellung von Eigentum und Besitzrecht durchgesetzt. Das erste Erbe der antiken Ökonomie der Maßlosigkeit – die stabile soziale Schichtung – begründete und vertiefte eine ökonomische Hierar- chisierung der Gesellschaft. Dieses gesellschaftliche Schichtungsprinzip erweist sich bis heute als erstaunlich beständig. Selbst nach dem Zusam- menbruch Roms blieben die Besitzverhältnisse formell verankert. Fortan wurde der Glaube gefördert, einige wenige „Adelige“ stünden über allen anderen, die von Natur aus Untertanen wären. Bis heute gelingt es den Besitz-Eliten, ihre privilegierte Position als natürliches und rechtmäßiges Ergebnis einer scheinbar objektiven Überlegenheit zu legitimieren. Zwar waren Eliten immer wieder in Machtkonflikte untereinander verwickelt, letztlich überwog aber meist das geteilte Interesse: Sie trachteten danach, ihre privilegierte gesellschaftliche Position zu verteidigen und sich die von der Mehrheit produzierten Überschüsse anzueignen. Mit Ausnahme Karthagos – an dessen Elite blinde Rache geübt wurde – stützte Rom deshalb immer die Macht der lokalen Oberschicht in den eroberten Ge- bieten mit römischen Garnisonstruppen. Die lokalen Eliten wurden der eigenen herrschenden Klasse einverleibt. Über nahezu die gesamte Ge- schichte des Römischen Reichs hinweg war diese Solidarität der Mächti- gen immer stärker als die Solidarität von Führungs-Eliten mit dem eigenen Volk. Selbst den Bewohnern Roms wurden allmählich alle substanziellen Mitspracherechte entzogen. Ein zweites Erbe der antiken Ökonomie der Maßlosigkeit ist die sys- tematische Verknüpfung von militärischer Gewalt mit monetären Interes- sen. Die politischen Eliten der Antike erkannten, dass sie ihre Macht über andere Menschen mithilfe des Münzgeldwesens ausweiten konnten. Die zwangsweise Einführung der Münzgeld-Wirtschaft leitete auch in späte- 44 Die Verwandlung der Welt ren Jahrtausenden nahezu überall die Durchsetzung der maßlosen Öko- nomie ein. Auf dieser Verknüpfung von militärischer Gewalt und Mone- tarisierung beruhte nicht nur der Imperialismus der Griechen und Römer in der Antike, sondern auch die Niederschlagung mittelalterlicher Bauern- aufstände gegen die Feudalherrschaft, die mörderische Kolonialisierung Amerikas in der Neuzeit, der europäische Imperialismus des 19. Jahrhun- derts und die neo-kolonialen „Modernisierungsstrategien“ in den Ländern des Südens im 20. Jahrhundert. Das dritte Erbe der antiken Ökonomie der Maßlosigkeit ist eine spezi- fische Vorstellung von Eigentum und Recht. Das römische Eigentums- recht ist das möglicherweise wirkmächtigste Denkkonstrukt der Mensch- heit. Im römischen Recht wird ein bemerkenswertes und tiefgreifendes Konzept von Privateigentum als absolute Macht über eine Sache verankert. Das radikale Verständnis von Eigentum und Besitz, das vor knapp zwei- tausend Jahren die Bühne betrat, prägt bis heute unser Verständnis von Freiheit und Recht und damit die Art und Weise, wie Menschen miteinan- der umgehen. In der Antike wurde das Recht auf absolutes Eigentum selbst zu einer Form von Eigentum erklärt, über das formal alle verfüg- ten, in der Realität aber nur wenige. Die darin enthaltene Vorstellung von Rechten als individuellem Besitz hat weitrechende Konsequenzen: Nur wenn wir davon ausgehen, dass ein Mensch Rechte und Freiheiten besitzt, können diese Rechte und Freiheiten auch verkauft werden. Als „Besit- zer“ von Rechten können wir diese – ebenso wie unsere Freiheit – durch eine ökonomische Transaktion an andere übertragen. Mit dieser Kon- struktion wurde sogar die Sklaverei bis ins 18. Jahrhundert legitimiert. Denn die Befürworter der Sklaverei argumentierten, dass die Sklaven ihre Freiheit zumeist freiwillig verkauft hätten. Es wäre deshalb ein Ein- griff in die Freiheitsrechte des Individuums, diesem zu verbieten, seine Freiheit zu verkaufen. Als England im Jahr 1833 die Sklaverei verbot, entschädigte die Regierung die Sklavenhalter in den karibischen Kolo- nien mit 20 Millionen Pfund – die Sklavenhalter, nicht die Sklaven! Das war nur deshalb denkmöglich, weil die Sklavenhalter als die rechtmäßi- gen früheren Besitzer betrachtet wurden. Den Eliten kommt die Vorstel- lung von Rechten als Form individuellen Eigentums bis heute gelegen. Die Vorstellung, dass ein Mensch Rechte besitzt, folgt einer ganz anderen Logik als das moralische Gebot der Nächstenliebe oder der Achtung der Menschenwürde. Die Vorstellung von Rechten als individuellem Besitz und von individuellem Besitz als Recht ermöglicht, dass nahezu alles Griechische Antike und Römisches Reich 45 käuflich wird und jede – auch die erzwungene – Markttransaktion da- durch legitimiert werden kann, dass es sich dabei letztlich um formal freie Vertragspartner handle. Mit dieser Logik wird bis heute die Lohnarbeit gerechtfertigt, obwohl im Arbeitsvertrag, in dem der Lohnempfänger sein Selbstbestimmungsrecht aufgibt, zumeist zwei ungleich mächtige Akteure aufeinandertreffen. In der Antike setzte sich zudem ein Konzept von Freiheit durch, welches Freiheit nicht als Freiheit von der Macht anderer, sondern als Macht über etwas oder jemanden definiert. Rechte werden ab nun nicht mehr als wechselseitige Verpflichtung von Menschen betrach- tet, sondern als individueller Besitz. Rechte werden zu etwas, das mit Machtmitteln gegen andere Menschen durchgesetzt werden kann. Dieses Konzept von Freiheit als Macht begegnet uns wieder in der ‚Freiheit der zwei Galgen‘, das dem mittelalterlichen Grundherren erlaubte, neben dem obrigkeitlichen Galgen einen eigenen Hinrichtungsplatz zu unterhalten, auf dem er seine Leibeigenen töten konnte. Das Konzept von Freiheit als Macht spiegelt sich wider in der Enteignung und Vernichtung indigener Bevölkerungen durch die europäischen Eroberer ab dem 15. Jahrhundert. Es zeigt sich in der heute dominanten wirtschaftsliberalen Vorstellung des Primats und der Unantastbarkeit des Privateigentums sowie in der alltäglichen Überzeugung, dass man in der Institution der Lohnarbeit legitimerweise seiner Freiheit entfremdet werden kann. Es ist erstaunlich, aber all das wurzelt in der zweitausend Jahre alten Vorstellung von Frei- heit als absoluter Macht über zur Sache erklärte Menschen. Es ist mehr als deutlich: Es sind die Interessen und Überzeugungen einer Sklavenhal- tergesellschaft, welche die Denk- und Rechtsgrundlagen der modernen Ökonomie der Maßlosigkeit prägen. Im Römischen Reich erreichte die antike Ökonomie der Maßlosigkeit ihren Höhepunkt. Die Kritik daran führte unter anderem zur Geburt einer neuen Religion: Jesus verurteilte die neue Zivilisation des Mammons und stellte diesem das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit gegenüber. Die neue Religion begann als Befrei- ungstheologie, als prophetische Forderung nach Gleichheit und Gerech- tigkeit. Der Mensch sollte von der Unterdrückung durch eine maßlose Ökonomie befreit werden. Einige Jahrhunderte später werden die Eliten der christlichen Kirche ihre Wurzeln aber bereits verdrängt haben und selbst Mammon, dem Gott des Schätzesammelns, huldigen. Das Mittelalter – Niedergang und Wiederbelebung der maßlosen Ökonomie Der Zusammenbruch des Weströmischen Reichs führte zum zwischen- zeitlichen Niedergang der Ökonomie der Maßlosigkeit. Sie verlor an Kraft und es sollte noch einige Jahrhunderte dauern, bis sie sich wieder aus den Trümmern der antiken Welt erheben konnte. Diese Wiedergeburt ereignete sich in einem ganz spezifischen sozio-geographischen Raum: dem Gebiet, in dem das Weströmische Reich und die Gebiete der germa- nischen Völker verschmolzen – das heutige Europa. Das europäische Mittelalter (600-1450) war eine enorm komplexe Epoche. Über Jahrhunderte hinweg kämpften unterschiedliche Akteure, Institutionen und Weltanschauungen um Macht und Einfluss. Das Mittel- alter war keineswegs jene Zeit der Stagnation, als die sie häufig darge- stellt wird. Der mittelalterliche Mensch war staunender Zeuge von ge- waltigen Bauwerken der Macht – Kathedralen und Festungsbauten – und erlebte den rasanten Aufstieg einer neuen gesellschaftlichen Gruppe – der Händler- und Bankiersdynastien. Diese kalkulierten erstmals das Verhält- nis von Investition und Profit und veränderten mit ihrem Kapital die Ge- sellschaft. Im Laufe des Mittelalters verwandelte sich die soziale Welt des Menschen: Traditionelle Moralvorstellungen wurden in den Hinter- grund gedrängt und ein