Geschichte der Psychologie WS 2024/25 PDF

Summary

Diese Vorlesung (Wintersemester 2024/25) zur Geschichte der Psychologie beleuchtet die lange und kurze Geschichte des Fachs. Sie beginnt mit den Überlegungen der Antike und geht auf die Institutionalisierung der Psychologie als akademische Disziplin ein. Besondere Aufmerksamkeit wird den Theorien von Ebbinghaus, Tomasello und Augustinus geschenkt.

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Geschichte der Psychologie WS 2024/25 1. Vorlesung: Die lange und die kurze Geschichte der Psychologie Die Geschichte der Psychologie kann man lang oder kurz fassen, gemäß Hermann Ebbinghaus‘ berühmter Eingangs-Formulierung: „Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Ge...

Geschichte der Psychologie WS 2024/25 1. Vorlesung: Die lange und die kurze Geschichte der Psychologie Die Geschichte der Psychologie kann man lang oder kurz fassen, gemäß Hermann Ebbinghaus‘ berühmter Eingangs-Formulierung: „Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte.“1 Eine lange Geschichte der Psychologie erfasst sämtliche, uns überlieferten Überlegungen des Menschen bezüglich jener rätselhaften Entität, die wir gemeinhin als Seele bezeichnen. In einem europäisch-westlichen Kontext beginnt die lange Geschichte der Psychologie üblicherweise bei den Griechen (der Begriff „Psychologie“ stammt vom griechischen „psyche“ ab), geht über die Zeit des römischen Imperiums und die sukzessive Ausbreitung der drei großen Monotheismen (Judentum, Christentum, Islam) zur allmählich stärker werdenden Wiederentdeckung der Antike in Italien, Zentraleuropa und auf den britischen Inseln (der sogenannten Renaissance), und mündet auf der stets breiter werdenden Straße der westlichen Moderne, im europäisch- amerikanischen Denken des 17., 18.,19., und 20. Jahrhunderts. Während all dieser Zeit, im Laufe dieser mehr als 2500 Jahre, haben die Menschen über die Seele nachgedacht, Theorien über das seelische Wesen und seelisches Funktionieren entwickelt und versucht, die Seele als Gegenstand zu fassen und ihre Wahrheit zu ergründen. Die Beständigkeit und Hartnäckigkeit dieses Jahrtausende-alten psychologischen Nachdenkens braucht uns nicht zu wundern, im Gegenteil: Schenken wir dem amerikanischen Evolutionspsychologen Michael Tomasello Glauben, dann verfügten schon unsere frühesten Vorfahren, d.h. die ersten sogenannten Menschen, die zweifellos auf demselben Planeten wohnten wie wir, ausgestattet mit einer im wesentlichen gleichen Anatomie, über ein psychologisches Denken oder, anders formuliert, über eine psychologische Theorie. Ich zitiere Michael Tomasello: Das menschliche Denken wurde noch vor dem Aufblühen der Vielfalt menschlicher Kulturen zu etwas Einzigartigem, nämlich insbesondere in der Evolution artumfassender Kompetenzen zur Zusammenarbeit, zur kooperativen Kommunikation und allgemeiner zur gemeinsamen Intentionalität […] Ebenjene Kompetenzen ermöglichten dann später die Evolution und Entwicklung der Kultur.2 (Kursivierung durch mich) Für Tomasello ist die menschliche Fähigkeit des Denkens insbesondere in der „Kompetenz zur gemeinsamen Intentionalität“ begründet. Was heißt „gemeinsame Intentionalität“? Vereinfacht ausgedrückt besteht gemeinsame Intentionalität für Tomasello darin, dass sich unsere Vorfahren einerseits der eigenen kognitiven Repräsentationen (d.h. Gedanken) bewusst wurden und andererseits und gleichzeitig korrekte Einschätzungen der kognitiven Repräsentationen der anderen treffen konnten. Tomasello nennt die gemeinsame Nahrungssuche (Jagd) als Beispiel3: Gehen zwei Frühmenschen jagen, ist es entscheidend, dass sie ihre Handlungen aufeinander abstimmen („Ich schleiche mich links an, Du schleichst Dich rechts an!“). Doch Handlungen können nur dann aufeinander abgestimmt werden, wenn wir korrekte Vermutungen darüber anstellen, was wir selbst gerade sehen, denken und wollen und simultan was unser Partner/unsere Partnerin sieht, denkt und will. Wir können nur dann gemeinsam jagen gehen, 1 Ebbinghaus, Hermann: Abriss der Psychologie. Leipzig: Veit und Comp. 1908, S. 1 2 Tomasello, Michael: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2020, S. 190 3 ebd. S. 56 1 wenn wir ein grundsätzliches Verständnis der je eigenen Perspektive und der Perspektive der anderen besitzen. (Ich muss bewusst begreifen, was ich sehe, und parallel dazu wissen, was Du siehst, damit die Jagd gelingt: Schleichst Du Dich von hinten an das Beutetier heran, dann muss mir zB. klar sein, dass Du den Gesichtsausdruck des Beutetiers nicht sehen kannst, etc.). Diese Fähigkeit sich „abzustimmen“, weil man das Wahrnehmen, Wollen und Denken auch des anderen für sich konzipieren kann, nennt Tomasello „Kompetenz zur gemeinsamen Intentionalität“. Übrigens: Nicht nur in evolutionspsychologischen, auch in entwicklungspsychologischen Theorien spielt diese Fähigkeit der „Perspektivierung des Wissens“ eine wesentliche Rolle. Sie ist bekanntlich keineswegs selbstverständlich, sie muss sich erst entwickeln und durchsetzen. Kinder unter vier Jahren haben oft noch Schwierigkeiten, sich vorzustellen, was ein anderer Mensch sich eben jetzt vorstellt und es ist ein entscheidender Schritt innerhalb unserer kindlichen Entwicklung, wenn wir beginnen, uns in die Gedanken der anderen hineinzuversetzen und sogenannte Theories of Mind zu bilden.4 Wie dem auch sei: Diese Fähigkeit, sich auf Basis der eigenen Erfahrung in die Erfahrung der anderen hineinzuversetzen und gemeinsame Intentionalitäten zu gründen, d.h. Theories of Mind zu bilden und die eigenen Gedanken mit den (vermuteten) Gedanken der anderen abzustimmen — all diese Beschreibungen eines theoretischen oder kognitiven Vermögens sind auch plausible Beschreibungen dessen, was wir generell als Psychologie bezeichnen. Nicht nur PsychologInnen, sondern alle in sozialen Verbänden lebenden Menschen betreiben Psychologie, weil menschliches Zusammenleben Psychologie nachgerade voraussetzt. Evolutionstheoretisch betrachtet können wir in der Kompetenz zu gemeinsamer Intentionalität eine Urform dessen erkennen, was wir Psychologie nennen, weil laut Tomasello psychologisches Denken nämlich überhaupt der Anfang menschlichen Denkens ist! Eine Theory of Mind zu haben ist für Tomasello nicht nur eine kognitive, menschliche Leistung neben anderen (wie etwa Auf-zwei-Beinen- Gehen-Können, Zahlenwerte differenzieren können, eine bedeutungsvolle Sprache haben, etc.), sondern der Ursprung des menschlichen Denkens überhaupt. Psychologie ist für Tomasello die conditio sine qua non für Kultur. In diesem sehr weiten Sinne hat Psychologie schließlich eine hunderttausend Jahre alte Geschichte und die Fähigkeit zur Psychologie (Dass wir Theories of Mind bilden können!) ist gleichursprünglich mit der Fähigkeit zur Kultur. (Zur Erinnerung: im „Kalender des Lebens“ werden die hominiden, d.h. jene Lebewesen, die uns und den Menschenaffen vorausgingen, vor 14-12 Millionen Jahren eingetragen, der berühmte homo sapiens, der, wie wir eben hörten, gerade dadurch in Erscheinung tritt, dass er denkt, d.h. Psychologie betreibt, betritt vor 300000 Jahren die Weltbühne.)5 Innerhalb dieser sehr langen Geschichte der Psychologie lässt sich aber nun (laut Ebbinghaus) eine kurze Geschichte der Psychologie erzählen und diese kurze Geschichte der Psychologie beginnt mit der Institutionalisierung der Psychologie als universitärer Disziplin, d.h. trivial formuliert, mit der Eröffnung eines Studienfachs namens „Psychologie“ an einer sogenannten Universität. Gemeinhin bringen wir den Namen Wilhelm Wundt mit diesem scheinbar schlicht 4 Hood, Bruce: The Science of Happiness. Even Lessons for Living Well. London: Simon & Schuster 2024, S. 26; ein wichtiger Text in diesem Zusammenhang ist natürlich: Heinz Wimmer (Salzburg) und Josef Perner (Sussex) Beliefs about beliefs: Representation and constraining function of wrong beliefs in young children’s understanding of deception. Cognition 13 (1983), S. 103-128 5 Damasio, Antonio: Wie wir denken, wie wir fühlen. Die Ursprünge unseres Bewusstseins. München: Hanser 2021, S. 39 2 bürokratischen Ereignis in Verbindung. Wilhelm Wundt hatte 1873/1874 bei Engelmann in Leipzig zwei Bände mit dem Titel „Grundzüge der Physiologischen Psychologie“ erscheinen lassen und der erste Satz des Vorworts der „Grundzüge der Physiologischen Psychologie“ von Wundt lautete: „Das Werk, das ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe, versucht ein neues Gebiet der Wissenschaft abzugrenzen.“6(Kursivierung durch mich) Im Text heißt es weiter: Wohl bin ich mir bewußt, daß dieses Unternehmen vor allem dem Zweifel begegnen kann, ob jetzt schon die Zeit für dasselbe gekommen sei. Stehen doch teilweise sogar die anatomisch-physiologischen Grundlagen der hier bearbeiteten Disziplin durchaus nicht sicher, und vollends die experimentelle Behandlung psychologischer Fragen ist noch ganz und gar in ihren Anfängen begriffen.7 (Kursivierung durch mich) Obwohl die Geschichte der Psychologie bis zu den Griechen oder (mit Michael Tomasello) sogar bis zu den Menschenaffen zurückreicht, schreibt und agiert Wilhelm Wundt ausdrücklich im Gefühl, mit der Psychologie etwas Neues zu begründen. Zwar stehen für Wundt weder die „anatomisch-physiologischen Grundlagen“ der „im Entstehen begriffenen Wissenschaft“ fest, wie es im Text weiter heißt, noch ist die Frage nach einer möglichen „experimentellen Behandlung psychologischer Fragen“ geklärt, wie Wundt freimütig zugibt. Doch demungeachtet sieht er 1873/1874 den Zeitpunkt bekommen, ein neues Gebiet der Wissenschaft namens „Psychologie“ auszurufen. Noch deutlicher wird diese Absicht in Wundts Einrichtung und Etablierung eines eigenen Raums für experimental-psychologische Untersuchungen innerhalb des Philosophischen Seminars der Leipziger Universität. Dieser „Raum“, diese „Kammer“ oder dieses „Laboratorium“ wird im Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1883/84 erstmals als „Institut für Experimentalpsychologie“ ausgewiesen8. Spätestens 1879 gibt es erste Studierende, die innerhalb dieses „Labors“ ihre Forschungen vorantreiben, weshalb das Jahr 1879 gerne als offizielles Gründungsdatum der nun tatsächlich universitären, akademischen Wissenschaft namens „Psychologie“ genannt wird.9D.h.: In Leipzig 1879 wird „Psychologie“ erstmals zum Namen einer eigenständigen, universitären und ausdrücklich „experimentellen Wissenschaft“ und die kurze Geschichte der Psychologie nimmt in vielen historischen Darstellungen mit diesem Datum ihren Anfang. Wie lässt sich diese enge Geschichte innerhalb der weiten Geschichte der Psychologie verstehen? Inwiefern unterscheidet sich Wundts akademisch-universitäre „physiologische Psychologie“ von jener eingangs skizzierten Psychologie, die (sehr weit gedacht) schon bei unseren menschenaffenähnlichen Vorfahren ihren Ausgang nimmt und die wir uns allesamt als Kinder aneignen, um unsere Mitmenschen besser zu verstehen? Inwiefern unterscheidet sich Wundts physiologische Psychologie zum Beispiel von jener hochberühmten Psychologie des Augustinus‘ von Hippo im elften Buch der Confessiones, verfasst circa 398 nach Christus? Ich zitiere Augustinus: Wenn zukünftige und vergangene Dinge sind, dann will ich wissen, wo sie sind. […] Das aber ist jetzt evident und klar: Zukünftiges und Vergangenes sind nicht; die Behauptung, es gebe drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, trifft nicht im strengen Sinne zu. Im strengen Sinne müsste man sagen: Es gibt drei Zeiten, die Gegenwart von Vergangenem, die Gegenwart von Gegenwärtigem und die Gegenwart von Zukünftigem. Denn diese drei sind in der Seele in einem gewissen Sinne, und anderswo finde ich sie nicht: […] Mein Geist brennt darauf, dieses verwirrende Rätsel zu lösen. Herr, mein Gott, ich 6 Wundt, Wilhelm: Grundzüge der Physiologischen Psychologie, Leipzig: Engelmann 1874, Vorwort 7 Wundt, Wilhlem: Grundzüge der Physiologischen Psychologie. Leipzig: Engelmann 1874 [1.Auflage], S. III 8 Benetka, Gerhard: Denkstile der Psychologie, Wien: Facultas 2002, S. 65 9 Fancher, Raymond E.: Pioneers of Psychology. A History, New York: Norton 2017, S. 183-184 3 beschwöre dich bei Christus, verschließ meinem Wissensdrang diese Dinge nicht […]10 (Kursivierung durch mich) Ganz offenbar ist Augustinus, zwischen 354 und 430 nach Christus, einer psychologischen Theorie des Gedächtnisses und der Zeitwahrnehmung auf der Spur. Und innerhalb der weiten Geschichte der Psychologie müssen wir seinem Wissensdrang übrigens einen gewichtigen Rang einräumen, denn bis ins 12. Jahrhundert nach Christus (d.h. knapp ein Jahrtausend lang) bestimmte Augustinus „nahezu konkurrenzlos“ das europäische Denken. 11Aber haben seine Überlegungen für uns heute noch Relevanz? Oder sind sie eher von, wie man sagt, historischem Interesse, d.h. interessante Relikte einer vergangenen Zeit, d.h. Wissensbestände, die uns irgendwie amüsieren, doch die wir auf einer fundamentalen Eben dennoch für falsch halten? Inwiefern unterscheidet sich das psychologische Nachdenken des Augustinus vom psychologischen Nachdenken Wilhelm Wundts? Auf der Hand liegt natürlich der folgende Unterschied: Zweifellos formuliert Augustinus psychologische Gedanken, die er aus, zugegeben, scharfsinnigen Selbstbeobachtungen gewonnen hat. Doch er tut dies im expliziten und permanenten Rückgriff auf Gott, d.h. im Rückgriff auf theologische Voraussetzungen. Diese theologischen Voraussetzungen sind für uns heute vielleicht nicht falsch, aber wissenschaftlich merkwürdig. Das Problem, das wir mit Augustinus‘ Überlegungen zur Zeitwahrnehmung und zur Erinnerungsfähigkeit haben, ist nicht unbedingt, dass wir sie für falsch halten. Eher erscheinen sie uns methodologisch unzureichend: Eine meditative Beschwörung Gottes kann für uns nicht die methodologische Basis dessen bilden, was wir Wissenschaft nennen. Ja, im Rückgriff auf Gott zu argumentieren, widerspricht nachgerade unserer Vorstellung von Wissenschaft. Unserer Vorstellung von Wissenschaft hier und heute in diesem Hörsaal an der Universität Wien entspricht viel eher Wundts Bemühen um eine „experimentelle Behandlung psychologischer Fragestellungen“ (wenngleich Wundt offen zugibt, diese experimentelle Behandlung noch nicht so recht gefunden zu haben). Augustinus‘ Überlegungen bereiten uns eventuell Freude oder Lesegenuss und wir achten sie. Doch mit dem Prädikat: Wissenschaft oder wissenschaftlich belegen wir sie nicht. Das heißt: Die enge Geschichte der Psychologie hebt sich von der weiten Geschichte der Psychologie insofern ab, als sie über ein engeres Wissenschaftsverständnis verfügt und zu diesem engeren Wissenschaftsverständnis gehört wesentlich ein ganz bestimmtes, spezifisches Methodenverständnis. Experimentelle Behandlungen wissenschaftlicher Fragestellungen auf anatomisch-physiologischen Grundlagen (wie bei Wundt) sind legitim, meditative Seelenbeschwörungen auf göttlicher Grundlage (wie bei Augustinus) sind nicht legitim. Die weite Geschichte der Psychologie umfasst also sämtliche Stellungnahmen zur Seele, Religion und Esoterik inklusive. Die kurze Geschichte der Psychologie befasst sich hingegen ausschließlich mit Psychologie als echter Wissenschaft. Ist damit der Unterschied zwischen langer und kurzer Geschichte der Psychologie zusammengefasst? Im Grund ja! Allerdings schickt sich Behutsamkeit beim Qualifizieren „echter Wissenschaftlichkeit“ auf Basis methodologischer Gründe! Warum? Stützen wir uns auf den amerikanischen Logiker und Erkenntnistheoretiker Willard Van Orman Quine (1908 – 2000), so zeigt sich in der Anwendung bestimmter Methoden (z.B. Experimentieren, Befragen, Kaffeesudlesen, Reliquien-Auflegen, etc.) zweifellos eine bestimmte wissenschaftliche Praxis, doch liefern Methoden für Quine kein entscheidendes Kriterium, um die bessere oder schlechtere, die echtere oder unechtere Wissenschaftlichkeit einer 10 Augustinus: Die Bekenntnisse. Ditzingen: Reclam 2020, S. 317-318 11 Heinzmann, Richard: Philosophie des Mittelalters. Stuttgart: Kohlhammer 1998, S. 94 4 Wissenschaft zu begründen. Mit Quine dürfen wir wohl nicht sagen: Weil Wundt sich experimenteller Methoden bedient hat (und Augustinus nicht), ist Wundts Psychologie wissenschaftlicher als die des heiligen Augustinus. Warum nicht? Für Quine ist das Kriterium echter Wissenschaftlichkeit nicht ihre Methodologie, sondern ihre Fähigkeit, zutreffende Prognosen zu erstellen. Ich zitiere Quine: Ob einem Satz überhaupt der Stellenwert eines wissenschaftlichen Satzes zusteht, muß von seinem Beitrag zu einer Theorie abhängen, deren Prüfstein in ihren Voraussagen besteht. […]12(Kurs. von mir) Auch Hellseherei und Telepathie (und wohl auch Meditation und Beschwörung) kämen für Quine also prinzipiell als wissenschaftliche Verfahrensweisen in Frage, wenn es ihnen denn gelänge, korrekte, d.h. intersubjektiv zutreffende Sinnes-Ereignisse vorauszusagen. Zweifellos ist also der Unterschied zwischen Wundts und Augustinus‘ Vorstellung von Wissenschaftlichkeit methodologisch begründet. Doch methodologische Unterschiede allein erlauben nicht, ein bestimmtes Nachdenken als wissenschaftlich zu qualifizieren und ein anderes nicht. Würden Augustinus‘ Gottesbeschwörungen zutreffende Prognosen nach sich ziehen, Wundts anatomisch-physiologische Experimente jedoch unzutreffende Prognosen, so müssten wir (nach Quine) Augustinus‘ Tun für wissenschaftlicher halten – obwohl uns das zweifellos merkwürdig oder widersinnig vorkommen würde. Der wichtige Punkt an dieser Stelle ist, uns klarzumachen, dass Methoden zweifellos verschiedene Herangehensweisen an wissenschaftliche Fragestellungen widerspiegeln (de facto ist Wundts Psychologie anders aufgesetzt als die des Augustinus), doch diese methodologischen Unterschiede liefern ein eher selbstgerechtes Bewertungs-Kriterium für Wissenschaftlichkeit und sie sind nicht dazu angetan, skeptische Einwände ein für alle Mal zu zerstreuen. Wir können innerhalb der Geschichte der Psychologie wohl nicht zwischen echter und unechter Wissenschaft unterscheiden, solange wir nur Methoden fokussieren. Eher bezeugen methodologische Differenzen einen simpleren und dennoch provozierenden Sachverhalt — die historische Relativität wissenschaftlichen Wissens. Vertiefen wir uns in die Geschichte einer Wissenschaft, bemerken wir, dass alles Wissen relativ zu seinen Zeitumständen zu sein scheint. Provozierend daran ist, dass sich diese Relativität mit unserer Vorstellung von Objektivität nur schwer verträgt. Wir möchten sagen: „Aber bitte! Selbst als die Leute vor siebenhundert Jahren glaubten, dass die Welt eine Scheibe ist, war sie in Wirklichkeit natürlich keine Scheibe, sondern eine Kugel. Die Fakten, sind immer die gleichen, egal, in welchem Jahrhundert man lebt, und egal, welche Methoden einem zur Verfügung stehen!“ So vernünftig diese Reaktion erscheint, so schwer ist sie philosophisch aufrechtzuerhalten, denn der Begriff des „Faktums“ oder der „Objektivität“ bietet keinen sicheren Ankerpunkt jenseits der historisch eben vorherrschenden Theorie.13Was ein „Faktum“ oder ein „Objekt“ ist, hängt sehr stark davon ab, in welche Hintergrundannahmen ich nolens-volens verwickelt bin, d.h. in welcher Welt- und Zeit-Situation ich mich gerade befinde und ein Blick in die Geschichte der Psychologie eignet sich vorzüglich, um diesen Umstand plausibel zu machen: Was ist denn 12 Quine, W.V.O.: Unterwegs zur Wahrheit. Konzise Einleitung in die theoretische Philosophie. Hamburg: Meiner 2020, S. 39 13 vgl. Quine, W.V.O.: Unterwegs zur Wahrheit, S. 42-43: „Hier ist der Punkt, an dem ich, ontologisch gesprochen, Körper sich konstituieren sehe: als ideelle Knoten in den Zentren einander überschneidender Beobachtungssätze. Hier, behaupte ich, steckt die Wurzel der Reifizierung. […] Unsere altehrwürdige Theorie von der Beharrlichkeit und Wiederkehr dauerhafter Körper ist das charakteristische Ergebnis des Gebrauchs, den wir zur Vereinheitlichung unseres Weltsystems von der Vergegenständlichung machen.“ 5 das „Faktum“ der Psychologie? Auf welche „Objektivitäten“ ist Psychologie, jede Psychologie, bezogen? Was ist der harte Kern der Psychologie? Nun, führen wir uns im historischen Schnelldurchlauf einige berühmte Stellungsnahmen diesbezüglich zu Gemüte. Beginnen wir bei einem wichtigen Ahnherren der modernen, europäischen, rationalen Wissenschaft, bei René Descartes: Laut René Descartes (1596 – 1650) ist die menschliche Seele eine „res cogitans“14, eine „kogitierende Sache“, „eine Substanz, deren Essenz das Denken ist“15; sie ist strikt unkörperlich, unsichtbar, rein geistig und sie fällt mit dem „ego“ (dem Ich) zusammen (und ist darüber hinaus auf intrikate Weise mit Gott verbunden). Etwa 100 Jahre nach Descartes zeichnet David Hume (1711 – 1776) im Treatise of Human Nature (dt. „Ein Traktat über die menschliche Natur) aus dem Jahr 1739 ein ganz anderes Bild vom Gegenstand der Psychologie, d.h. der Seele oder dem Ich oder dem Geist („the mind“). Hume schreibt: Wenn ich […] von einigen Metaphysikern, die sich eines solchen Ich zu erfreuen meinen, absehe, so kann ich wagen, von allen übrigen Menschen zu behaupten, daß sie nichts sind als ein Bündel […] verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind. Unsere Augen können sich nicht in ihren Höhlen bewegen, ohne daß unsere Perzeptionen sich ändern […] es gib keine Kraft der Seele, die sich, sei es auch nur für einen Augenblick, unverändert gleich bliebe. Der Geist ist eine Art Theater, auf dem verschiedene Perzeptionen nacheinander auftreten, kommen und gehen, […]16 Für Hume kann vom Ich abgesehen werden, denn das sogenannte Ich sei nichts weiter als eine metaphysische Idee. Das einzige, was wir objektiv festhalten können, sind unsere sich ständig verflüchtigenden Perzeptionen. Sie treten auf der Theaterbühne unseres Geistes auf und ab und bilden ein fast zu fluides Faktum für eine ernsthafte Psychologie. Weniger als hundert Jahre nach David Hume stimmt die englische Schriftstellerin Mary Shelley (1797-1851) in ihrem weltberühmten Roman ein Loblied auf die moderne Wissenschaft an, insbesondere auf Chemie und Physik. Der ambitionierte Protagonist ihrer Geschichte, ein junger Doktor, bündelt die neuesten Erkenntnisse aus Chemie, Physik und Physiologie, um der Fragen aller Fragen auf den Grund zu gehen: „Wo […] liegen Wesen und Ursprung des Lebens?“17 Es gelingt ihm, darauf eine Antwort zu finden und in einer trüben Novembernacht legt er sich die „lebenspendenden Instrumente zurecht, um der reglosen Masse zu [s]einen Füßen den Lebensfunken einzuhauchen.“ 18 Mary Shelleys berühmter Dr. Frankenstein kreiert in einer trüben Novembernacht bekanntlich ein Monster. Und wie konnte ihm diese außergewöhnliche Tat gelingen? Wie‘s scheint, indem er den Ursprung alles Lebendig- und Beseeltseins in überspringender Elektrizität erkannte. Und das entspricht ganz dem Zeitgeist. Um 1800 herum scheint vielen wissenschaftlich unterrichteten Menschen klar, dass Elektrizität irgendetwas mit dem Beseelt- oder zumindest mit dem Lebendig-Sein zu tun haben musste. Um 1770 hatte der italienische Mediziner Luigi Galvani den freigelegten Nerv eines (abgetrennten) Froschschenkels dazu gebracht, zu zucken, 14 Descartes, René: Meditationes de prima philosophia. Hamburg: Meiner 2008, S. 57 15 Chomsky, Noam: Sprache und Geist, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2019, S. 20 16 Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur. Buch 1. Hamburg: Meiner 2013, S. 309 17 Shelley, Mary: Frankenstein. Ditzingen: Reclam 2018, S. 70 18 Ebd. S. 78 6 indem er ihn mit Hilfe eines Skalpells elektrischer Ladung aussetzte.19Um das Jahr 1820 herum ist den fortschrittlichsten Geistern in Europa klar, dass Elektrizität, Magnetismus, Hitze und Gravitationskraft irgendetwas miteinander zu tun haben mussten. Die allerfortschrittlichsten unter ihnen vermuteten, so wie Mary Shelleys Doktor Frankenstein, dass auch die Seele irgendwie in dieses elektrisch-magnetische Gravitationsfeld des Lebens eingelassen war.20 So begeisterte sich zum Beispiel auch der der Wiener Arzt Anton Mesmer (1734-1815) um 1770 für Elektrizität und besonders für Magnetismus. Dabei ging Mesmer davon aus, dass die Seele über eine Magnetkraft eigener Art verfügen würde. Dank dieser Magnetkraft wäre es ihr möglich, andere Seelen zu beeinflussen, ja zu heilen.21 Mesmer wurde damit zu einem Pionier jener psychologischen Theorien, die die sogenannte „social influence“ erforschen: Was immer die Seele auch für ein seltsamer Gegenstand sein mochte, für Mesmer und seine NachfolgerInnen stand fest, dass sie wie ein Magnet von außen durch andere Seelen beeinflusst werden konnte. So verwundert nicht, dass 1850 der Amerikaner John Bovee Dods (1795-1872) den Gegenstandsbereich der Psychologie folgendermaßen definierte: […] by Psychology we are to understand the science of the soul. And as all impressions are made upon the soul through the medium of electricity, as the only agent by which it holds communication with the external world, so you readily percieve not only the propriety but the entire aptitude of the name ‚electrical psychology‘“22. Für Dods gehen demnach alle Wahrnehmungen (impressions) durchs Medium der Elektrizität, weshalb das Phänomen der Elektrizität zum maßgeblichen Untersuchungsgegenstand der Psychologie erhoben wird. Es erübrigt sich festzuhalten, dass diese nähere Kennzeichnung der Psychologie als „elektrischer Psychologie“ keineswegs so seltsam ist, wie wir zunächst vielleicht vermuten. (Längst stellen wir uns heute neurologisches Geschehen tatsächlich als elektro- chemisches Geschehen dar.) 24 Jahre nach John Bovee Dods veröffentlicht Wundt schließlich die eingangs erwähnten Grundzüge der Physiologischen Psychologie und eröffnet wenig später das erste universitäre psychologische Institut in Leipzig. Wie fasst Wundt den Gegenstand der Psychologie? In den Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele schreibt er, dass sich die Psychologie mit den Gegenständen der „inneren Erfahrung“ auseinander zu setzen hätte, die da wären: Empfinden, Fühlen, Denken und Wollen.23(Der Mensch, wie er unmittelbar sich selber gegeben ist24) Nicht mehr die sogenannte Seele, sondern „mentale Aktivitäten“ rücken ins Zentrum der physiologisch-experimentell aufgesetzten Psychologie. Diese begriffliche Verschiebung weg von der Seele hin zu den mentalen Aktivitäten ist dem Amerikaner John Broadus Watson (1878-1958) allerdings immer noch zu wenig. Watson erklärt 1913, die Interpretation von „Bewusstseinsbegriffen“ sei sicher nicht die Aufgabe einer echten 19 Boller, Francois: Luigi Galvani, body electricity, and the ‘galvanic skin response’. In: Neurology, 1989; 39; 868-870 20 vgl. Reed, Edward S.: From Soul to Mind. The emergence of Psychology from Erasmus Darwin to William James. New Haven: Yale University Press 1997, S. 83 21 Fancher, Raymond E. and Alexandra Rutherford: Pioneers of Psychology, A history. [5th edition], New York/London: Norton 2017, S. 364 22 Dods, John Bovee: The Philosophy of Electrical Psychology in a Course of Twelf Lectures. New York: Fowlers and Wells 1850, S. 18 23 Wundt, Wilhelm: Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. [3.Auflage] Hamburg und Leipzig: Voss 1897, S. 1 24 ebd. 7 Wissenschaft namens Psychologie. Theoretisches Ziel der Psychologie sei einzig und allein die Vorhersage und Kontrolle von „Verhalten“ 25. Watson eliminiert daraufhin selbst die „mentalen Aktivitäten“ oder Bewusstseinsbegriffe aus der Theorie der Psychologie. „Reiz-Reaktions- Muster“, gern auch von Tauben, Kaninchen oder Ratten, bleiben als einzig mögliche Gegenstände einer echten Psychologie übrig. Beinahe im selben Jahr, in dem Watson in Amerika mit seiner bahnbrechenden Streitschrift den Behaviorismus einleitete, publizierte in Wien Dr. Sigmund Freud (1856-1939) eine Schrift mit dem Titel „Zur Einführung des Narzissmus (1914)“, worin er daran erinnert, „dass all unsere psychologischen Vorläufigkeiten einmal auf den Boden organischer Träger gestellt werden sollen.“26Ein Leben lang träumt Dr. Freud von der biologischen Fundierung der psychologischen Vorläufigkeiten,27doch da diese biologische Fundierung auf sich warten lässt, geht er daran, in der Zwischenzeit eine Psychologie ganz eigener Art zu entwickeln: eine Psychologie, die einerseits darauf beharrt, auf einem strikt biologischen Fundament zu stehen, andererseits aber methodologisch in der Erforschung von Trieben und Triebschicksalen ganz neue Wege beschreitet. Für die kurze Geschichte der Psychologie (á la Wundt) wird Freuds Theorie mit ihren merkwürdigen Gegenständen (Triebe, Ödipus-Komplex, etc.) und ihrem Anspruch, überdies eine Heilpraxis zu sein, zu einer unbequemen Erscheinung. (Wir werden im nächsten Kapitel darauf zurückkommen). Beenden wir an dieser Stelle unseren Schnelldurchlauf durch die lange und kurze Geschichte der Psychologie und halten fest: ihr Gegenstand oder Gegenstandsbereich changiert über die Jahrhunderte von der (1) Seele, über das (2) Ich und (3) Gott, zum (4) Geist und seinen (5) Perzeptionen, von der (6) neurologischen Elektrizität und Magnetkraft zur (7) social influence, von der (8) inneren Erfahrung und den (9) mentalen Aktivitäten (Empfinden, Fühlen, Denken, Wollen) über das (10) Reiz-Reaktions-Schema im Verhalten zum (11) Aufspüren organischer Träger psychischer Triebe und schließlich zur Vorstellung einer bestimmten (12) Heilpraxis. — Nicht weniger als zwölf mögliche Bestimmungen einer Faktenlage, zwölf mögliche Objektivitäten! Was ist also der Gegenstand der Psychologie? Schon ein kurzer, historischer Überblick über die Geschichte der Psychologie lässt Quines wissenschaftstheoretische Überlegungen plausibel erscheinen: Es gibt keinen objektiv vorliegenden Gegenstand, der sich selbst über die Jahrhunderte immer gleich bliebe. Wir haben keinen außer-theoretischen Zugriff auf eine ahistorisch vorliegende Faktenlage, keinen fixen Stoff (harten Kern), von dem wir ohne Rückgriff auf eine Theorie sehr viel sagen könnten. Vielmehr scheint es so, dass das Faktum oder der Stoff oder der Gegenstand von den jeweilig (historisch) vorherrschenden Annahmen und Theorien bereits präformiert wird. Theorie und Gegenstand sind nicht zwei grundverschiedene Dinge, sie bilden vielmehr ein sich ständig wandelndes Wissensgebiet. In Anbetracht der Geschichte der Wissenschaft namens Psychologie wird dies besonders deutlich. Die Wissenschaft der Psychologie muss ihren merkwürdigen Gegenstand — nennen wir ihn der Einfachheit halber Seele — stets aufs Neue definieren, wodurch sich simultan stets aufs Neue methodische Anpassungen ergeben. Doch im Hinblick auf die eingangs von Michael 25 Watson, John B.: Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht. In: John B. Watson: Behaviorismus. Hrsg. v. Carl F. Graumann. Köln: Kiepenheur & Witsch, S. 13 26 Freud, Sigmund: Zur Einführung des Narzissmus. In: ders. Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Frankfurt/Main: Fischer, S. 56 27 ebd. S. 56 8 Tomasello gegebenen Überlegungen zur Gleichursprünglichkeit von psychologischem Denken und Denken überhaupt, erscheint uns diese Relativität der Psychologie vielleicht gar nicht so überraschend: Wenn wir, wie Michael Tomasello deutlich gemacht hat, als Menschen darauf angewiesen sind, eine Psychologie zu haben, weil psychologisches Denken der menschlich- sozialen Lebensform zugrunde liegt, dann leuchtet ein, dass Psychologie über die Jahrtausende stets aufs Neue formuliert wird, da sich die Lebensbedingungen des Menschen stets ein wenig ändern. Psychologie kann keine ewigen Wissens-Rücklagen produzieren, wenn wahr ist, dass die Lebensbedingungen des Menschen permanent im Fluss sind. Wenn Psychologie die ursprünglichste oder „natürlichste“ Form des menschlichen Denkens überhaupt ist, dann ist sie aufgefordert, stets auf der Höhe des jetzt wirksamen Wissens eben dieses Wissen zu reflektieren. 2. Sigmund Freud: Im Brennpunkt der langen und der kurzen Geschichte der Psychologie Sigmund Freud eignet sich gut, um eine Geschichte der Psychologie zu eröffnen, weil sein Forschen einerseits die maßgeblichen, wissenschaftlichen Strömungen des 19.Jahrhunderts (zu denen die moderne Psychologie gehört) in sich aufnimmt. Andererseits steht Freud aber, wie in der Einleitung bereits angeklungen, in einem keineswegs reibungslosen Verhältnis zur modernen Psychologie (á la Wundt), und daran hat sich bis heute gar nicht so viel geändert. An vielen psychologischen Instituten können Sie heute Psychologie studieren, ohne dass Sigmund Freud auch nur erwähnt wird. Gleichzeitig gibt es viele, sagen wir, psychologische Laien, die just Sigmund Freud für den berühmtesten Psychologen aller Zeiten halten. Die Reibung zwischen der Person und dem Werk Sigmund Freuds und dem modernen Projekt der Psychologie ist wissenschaftshistorisch und epistemologisch interessant und hat viel mit den in der Einleitung skizzierten Schwierigkeiten zu tun, den Gegenstand und die Methode einer Wissenschaft, zumal einer Wissenschaft der Seele, objektiv und ein für alle Mal gültig zu bestimmen. Freud bezeichnet sein eigenes, theoretisches Denken durchaus als Psychologie, einer seiner ersten, hoch-theoretischen Texte aus dem Jahre 1895 (noch vor der Traumdeutung) nennt sich „Entwurf einer Psychologie“28 und in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fließ schreibt Freud: Ich habe als junger Mensch keine andere Sehnsucht gekannt als die nach philosophischer Erkenntnis, und ich bin jetzt im Begriffe, sie zu erfüllen, indem ich von der Medizin zur Psychologie hinüberlenke.29 Doch im Rahmen dieses Projektes will es Freud nicht gelingen, der in Leipzig ausgelobten Labor- Psychologie eine sinnvolle Funktion zuzuerkennen. Die „Traumdeutung“, Freuds erste und berühmteste Veröffentlichung auf wissenschaftlichem Gebiete, verfasst er unter kritischem (und nachträglichem) Studium fach-psychologischer Arbeiten. Immer wieder kommt Freud in der „Traumdeutung“ zum Beispiel auf Wundt zu sprechen, aber meist mit kritischem Unterton. Letztlich kritisiert Freud am „übernüchternen“30 Wundt, dass dieser nicht erklären könne, wie sich ein physiologischer Mechanismus in einen konkreten Trauminhalt übersetzt.31Indem sich die experimentell-physiologische Psychologie auf die Untersuchung „somatischer Reizquellen“ des Traumes beschränkt, würde sie das genuin „Psychologische“ am Träumen geradezu verkennen. Just die Psychologie setzt paradoxerweise kein Vertrauen in „psychologische 28 At, Peter-André: Sigmund Freud. München: Beck 2016, S. 195 29 Freud an Fließ, zitiert aus: Hemecker, Wilhelm W.: Vor Freud. Philosophiegeschichtliche Voraussetzungen der Psychoanalyse. München: Philosophia 1991, S. 108 30 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Frankfurt/Main: Fischer 2022 [8. Auflage], S. 99 31 Hemecker: Vor Freud, S. 108 9 Leistungen“, so Freud.32Die physiologische Psychologie á la Wundt fühle sich gewissermaßen nur dann sicher und sattelfest, wenn sie ein psychologisches Phänomen in ein physiologisches Phänomen umdeutet, d.h. just die Psyche aus dem in Frage stehenden Phänomenbereich verschwinden lässt. Doch damit wird die Psychologie genau jenem Gegenstand, den sie im Namen führt, der Psyche, nicht gerecht. Anhand des Phänomens „Traum“ ist das für Freud überdeutlich: Obwohl die Menschen seit Jahrtausenden davon ausgehen, dass Träume „inhalts- und beziehungsreich“ sind, und obwohl alle Menschen de facto Nacht für Nacht träumen und Träume ein unleugbares Faktum menschlichen Seelenlebens bilden, hat die „gestrenge Wissenschaft“ nichts Wichtiges in Bezug auf Träume zu sagen, im Gegenteil, eher sei sie bemüht dem Objekt „Traum“ Inhalt und Bedeutsamkeit abzusprechen, so Freud.33Wenn die naturwissenschaftliche Psychologie überhaupt auf Träume zu sprechen kommt, so beschränkt sie sich oft auf die Erwägung der „somatischen Reize“34(der „Leibreize“), die dem Traum wohl als Ursachen zugrunde liegen: Wer neben einem Lavendelstock schläft, träumt von seinem Urlaub in der Provence. (Das Beispiel stammt von mir, nicht von Freud). Wer neben einem tickenden Wecker schläft, träumt von der Uhr. „Die Lungenkranken träumen vom Ersticken. […] Der Einfluß sexueller Erregung endlich auf den Inhalt der Träume ist für die Erfahrung eines jeden einzelnen greifbar genug und leiht der ganzen Lehre von der Traumerregung durch Organreiz ihre stärkste Stütze.“35Natürlich, alle Menschen wissen, dass anhaltende Enthaltsamkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erotischen Träumen führt, weshalb die Annahme organischer Ursachen für Träume hohe Plausibilität genießt. Nicht ohne Ironie heißt es im Ersten Kapitel der „Traumdeutung“: Vorläufig wollen wir uns über die Überschätzung der nicht aus dem Seelenleben [d.h. der somatischen Reize] stammenden Reize zur Traumbildung nicht verwundern. Nicht nur daß diese allein leicht aufzufinden und selbst durchs Experiment zu bestätigen sind; es entspricht auch die somatische Auffassung der Traumentstehung durchwegs der heute in der Psychiatrie herrschenden Denkrichtung. Die Herrschaft des Gehirns über den Organismus wird zwar nachdrücklichst betont, aber alles, was eine Unabhängigkeit des Seelenlebens von nachweisbaren organischen Veränderungen oder eine Spontaneität in dessen Äußerungen erweisen könnte, schreckt die Psychiater heute so, als ob dessen Anerkennung die Zeiten der Naturphilosophie und des metaphysischen Seelenwesens wiederbringen müßte. Das Mißtrauen des Psychiaters hat die Psyche gleichsam unter Kuratel gesetzt und fordert nun, daß keine ihrer Regungen ein ihr eigenes Vermögen verrate. Doch zeugt dies Benehmen von nichts anderem als von einem geringen Zutrauen in die Haltbarkeit der Kausalverkettung, die sich zwischen Leiblichem und Seelischem erstreckt.36 Für Freud ist offensichtlich: Der Traum wird deshalb so gern physiologisch gedeutet, weil physiologische Kausalitäten experimentell nachgewiesen werden können. Wer behauptet, dass z.B. Nacktträume (man träumt, dass man nackt ist) dadurch verursacht werden, dass sich die schlafende Person im Schlaf ihrer Bettdecke entledigt, der könnte diese Behauptung experimentell nachzuweisen versuchen (und z.B. einer schlafenden Person die Decke wegnehmen und sie nach dem Aufwachen befragen, was sie träumte). Allerdings, so Freuds Kritik, greifen diese Erklärungen womöglich zu kurz und eventuell haben Nacktträume nicht nur mit der Position der Bettdecke auf der Haut, sondern vielmehr mit den Erlebnissen, Ängsten, Lüsten und Wünschen der schlafenden Person zu tun? Vielleicht ist der Nackttraum weniger das 32 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, S. 79 33 ebd. S. 101 34 ebd. S. 58 35 ebd. S. 52 36 ebd. S. 58-59 10 Produkt von messbaren Temperatur- oder Druckzuständen auf der Epidermis des Schlafenden als vielmehr das eigentätige Produkt seiner träumenden Seele? Kommt es in psychologischen Überlegungen oder Theorien jedoch dazu, eine eigentätige Seele anzunehmen, verfällt die naturwissenschaftliche Psychologie automatisch in einen gut eintrainierten Abwehrreflex, so Freud: Sobald eine Spontaneität der Seele, d.h. ein unabhängig vom Körper rein seelisch initiierter, kognitiver Prozess angenommen wird, schrecken die strengen Naturforscher zurück, denn diese Eigentätigkeit der Seele bedeute gewissermaßen einen methodischen Kontrollverlust, einen Rückfall in die Torheiten der Vergangenheit. Eigentätige Seelen sind für eine naturwissenschaftliche Psychologie, die sich endlich streng an physiologisch gegebenes Material halten möchte, gleichbedeutend mit einem Regress in „metaphysische Zeiten“, in denen mysteriöse Seelen- oder Vitalkräfte über den Körper herrschten. Für Freud jedoch — und das ist psychologiehistorisch außergewöhnlich — zeigt sich in diesem naturwissenschaftlichen Misstrauen gegenüber einer Eigentätigkeit der Seele letztlich ein Misstrauen in die tatsächliche „Kausalverkettung zwischen Leiblichem und Seelischem“. Just die Naturforscher der Seele schrecken offenbar vor seelischen Ursachen zurück, so Freuds Vorwurf. Demgegenüber hält Freud (vor allem nach 1900) fest, dass auch in einem prinzipiell naturwissenschaftlichen Setting Seelisches nicht auf Physiologisches reduziert werden kann. Eine Kausalverkettung zwischen Leiblichem und Seelischem anzunehmen, bedeutet zuzugeben, dass hier jedenfalls zwei Entitäten bestehen, nämlich eine leibliche und eine seelische, und das (vorerst) nicht die eine auf das andere reduziert werden kann. Im Freud’schen Verständnis darf (trotz naturwissenschaftlicher Ausgangslage!) das seelische Reich nicht von vorneherein zugunsten der Physiologie ausgehebelt werden, denn offensichtlich kann die Seele im Körper Dinge verursachen und umgekehrt, der Körper kann in der Seele Dinge verursachen. Gerade weil Freud, durch und durch Naturwissenschaftler, ein Ursache-Wirkungs- Verhältnis zwischen Seelischem und Leiblichem für gegeben annimmt, geht es seiner Meinung nach nicht an, eine Seite dieses Verhältnisses unter den Tisch fallen zu lassen. Die Seele nur deshalb unter den Tisch fallen zu lassen, weil man ihr methodisch-experimentell nicht Herr wird, hieße, tatsächlich wirkende Ursachen unter den Tisch fallen zu lassen; es hieße, die Augen davor zu verschließen, dass in der wirklichen Welt Seelen tatsächlich Wirkungen produzieren, dass Seelen in unserem Alltag tatsächlich etwas leisten. (Ich hebe meinen Arm nicht bloß mechanisch, wie ein Automat, sondern weil ich mir seelisch vornehme, es zu tun, etc.) Insofern schickt sich Freud spätestens ab der „Traumdeutung“ an, eine genuin psychologische Theorie der Seele oder, wie er es nennt, des „seelischen Apparats“37 zu formulieren und er wird bekanntlich sein ganzes Leben lang an dieser psychologischen Seelen-Theorie herumbasteln. In der „Traumdeutung“ heißt es: Wir wollen […] der Versuchung sorgfältig aus dem Wege gehen, die psychische Lokalität etwa anatomisch zu bestimmen. Wir bleiben auf psychologischem Boden und gedenken nur der Aufforderung zu folgen, daß wir uns das Instrument, welches den Seelenleistungen dient, vorstellen wie etwa ein zusammengesetztes Mikroskop, einen photographischen Apparat u.dgl. […] Für die Unvollkommenheiten dieser und aller ähnlichen Bilder Entschuldigungen zu erbitten halte ich für überflüssig. Diese Gleichnisse sollen uns nur bei einem Versuch unterstützen, der es unternimmt, uns die Komplikation der psychischen Leistung verständlich zu machen, indem wir diese Leistung zerlegen und die Einzelleistung den einzelnen Bestandteilen des Apparats zuweisen.38(Kursivierung durch mich) 37 ebd. S. 24 38 ebd. S. 527 11 Der Versuchung, der Seele ein anatomisches Korrelat zuzuweisen (etwa das Gehirn), will Freud nicht länger nachgeben. Diese Versuchung ist ihm, wie bereits erwähnt, alles andere als fremd, und vor allem in jungen Jahren bemühte er sich redlich, eine streng anatomisch-physiologische Theorie der Psychologie zu formulieren; ein Vorhaben, das er aufgrund unüberwindlicher Schwierigkeiten schließlich sein lässt39. Stattdessen bemüht er sich spätestens ab der „Traumdeutung“ explizit und mit voller Absicht, auf psychologischem Boden zu bleiben. Was oder wo ist aber der psychologische Boden? Nun, der psychologische Boden ist ein abstrakter oder theoretischer Boden, denn ohne Rückbezug auf die Anatomie bleibt die Seele notgedrungen eine ungreifbare und unsichtbare Entität. Der „seelische Apparat“ wird von Freud in der „Traumdeutung“ ausdrücklich als „Gleichnis“ gefasst, zum Beispiel in Anlehnung an ein Mikroskop oder an einen Fotoapparat („die Seele funktioniert ungefähr so wie ein Mikroskop oder ein Fotoapparat“). Auf die genaueren, inhaltlichen Bestimmungen dieses Seelen-Gleichnisses und seine Folgerungen im Rahmen der „Traumdeutung“, aber auch im weiteren Verlauf seiner jahrzehntelangen Forschertätigkeit möchte ich an dieser Stelle nicht ausführlich eingehen. Ich werde nur das grundsätzliche Seelen-Modell der „Traumdeutung“ kurz skizzieren: Zunächst besteht der „psychische Apparat“ der Traumdeutung (den man sich übrigens nicht notwendigerweise räumlich denken muss) aus zwei Enden, einem sensiblen und einem motorischen Ende40. Sinnlich erfasste Wahrnehmungen drängen an den Seelen-Apparat heran und werden in „Innervationen“ („Motilität“) umgewandelt: Wahrnehmungen aus den Sinnesorganen werden im Seelenapparat über die Nervenbahnen zu den Organen weitergeleitet, d.h. die Wahrnehmung initiiert spezifische Bewegungen oder Handlungen. (Gestatten Sie, dass ich das Freud’sche Modell, das ausdrücklich ohne anatomische Lokalitäten auskommen möchte, dennoch mit Daten aus der zeitgenössischen Hirnforschung ausschmücke: Tatsächlich transportieren die Sinnesorgane „tens of millions of action potentials every second“41ans Gehirn und der sensorische Input, der pro Sekunde aus den Sinnesorganen ans Gehirn weitergeleitet wird, ist durchaus vergleichbar „to the brain’s total output — the constant signaling that passes down from the brain to the rest of the body, initiating movement and regulating muscle tone. […] From an outside observer’s perspective, the brain could be seen as a somewhat convoluted mechanism for converting tens of millions of input signals per second into a roughly equal number of output signals […]42) Doch zurück zu Freud: Das einfache Modell, bestehend aus einem sensiblen und einem motorischen Ende, ergänzt Freud in der Folge „am sensiblen Ende“, indem er ein System für „Erinnerungen“ zwischen dem Wahrnehmungs- und dem Motilitäts-Ende einschiebt, das sogenannte „Gedächtnis“43. Der Seelen-Apparat spaltet sich gewissermaßen in Sub-Systeme (heute spricht man in der kognitiven Psychologie gerne von Modulen44): Während das Wahrnehmungs-System damit beschäftigt ist, Wahrnehmungen einzusammeln, besorgt ein der 39 vgl. Kandel, Eric: Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute. München: Pantheon [4.Auflage] 2012, S. 79 40 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, S. 528 41 Jasanoff, Alan: The Biological Mind. How Brain, Body, and Environment collaborate to make us who we are. New York: Basic Books 2018, S. 123 42 Jasanoff, S. 123 43 ebd. S. 529 44 vgl. Eysenck, Michael W.: Cognitive Psychology. A student’s handbook. New York: Routledge 2020 [8th edition], s. 8 12 Wahrnehmung nachgelagertes System, dass die eintreffenden Wahrnehmungen „Spuren“ hinterlassen, dass sie also als „Erinnerungen“ „gespeichert“ werden. Das Erinnerungssystem speichert Wahrnehmungen nicht nur nach ihrem Inhalt, so Freud, sondern auch nach ihrer jeweiligen Verknüpfung mit anderen Wahrnehmungen, d.h. das Erinnerungssystem behält die „Assoziation“45 einer Wahrnehmung bei. (Erinnerungen fädeln sich nicht einfach chronologisch aneinander, sondern formen im Erinnerungssystem assoziative Konstellationen.) Während das Wahrnehmungssystem beim wachen Menschen dafür sorgt, dass unablässig neue Inhalte auf dem Bewusstseinsschirm auftreten, lagert das Erinnerungssystem parallel dazu unablässig Erinnerungsspuren ein. Den Ort, an dem die Erinnerungsspuren eingelagert werden, nennt Freud das Unbewusste.46(Freud ist übrigens keineswegs der erste, der sich dieses berühmten Worts bedient. „Unbewusst“ ist ein im 19.Jahrhundert weitverbreiteter Begriff, so trägt etwa ein berühmter Philosophie-Bestseller von Eduard von Hartmann aus dem Jahr 1869 den Titel „Philosophie des Unbewussten“).47 Die Notwendigkeit so einen „unbewussten Ort“ innerhalb des Seelen-Apparats anzunehmen, liegt für Freud auf der Hand: Niemand hat ununterbrochen die Gesamtheit seiner Erinnerungen „am Schirm“, dennoch müssen diese Erinnerungen innerhalb unseres Seelen-Apparats irgendwo gelagert sein (ansonsten könnte ich sie unmöglich erinnern). Das bewusste, Wahrnehmungs-gesteuerte Seelen-Leben flimmert demnach über einem immensen, doch unbewussten Erinnerungs-Reservoir, aus dem allerdings von Zeit zu Zeit sehr wohl Erinnerungen hochsteigen können, gerade dann, wenn wir uns eben einer vergessenen Sache erinnern. Das „Unbewusste“ setzt Freud als Ort oder Kammer oder Lokal zwischen das sensible und das motorische Ende des Seelen-Apparats. Dabei trifft er eine weitere Unterscheidung: Jene Seite des Unbewussten, die dem Bewusstsein (d.h. dem motorischen Ende des Seelen-Apparats) am nächsten liegt, nennt er das Vorbewusste48. Das Vorbewusste bildet gewissermaßen eine Schwellen- oder Übergangszone zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten. Soweit in groben Zügen Freuds Seelen-Modell in der „Traumdeutung“ und um (zum Beispiel) Träume zu verstehen, wird Freud nun genau dieses Seelen-Modell zur Anwendung zu bringen: Um die „Traumarbeit“ zu verstehen, muss man verstehen, wie Inhalte innerhalb dieses Seelen- Apparats zwischen Unbewusstem, Vorbewusstem und Bewusstem hin- und hergeschoben werden. Man muss verstehen, wie sich hinter den manifesten, d.h. bewusst zugänglichen Inhalten, latente, d.h. zunächst unbewusste Inhalte verbergen – un- oder vorbewusste Inhalte, die allerdings unser eigentliches Interesse verdienen, etc. Wir sehen: Freuds Seelen-Modell ist keineswegs nur abstrakte Theorie, sondern Grundlage für tatsächliche Analyse-Arbeit, zum Beispiel für eine einigermaßen nachvollziehbare Traum-Analyse. Im Laufe seines Forscherlebens wird Freud sein Seelen-Modell inständig verfeinern und modifizieren, bis es 1923 im berühmten Aufsatz „Das Ich und das Es“ seine vielleicht berühmteste Ausformulierung bekommt. Nun: Natürlich ist dieses Hantieren mit „Gleichnissen“ oder „Modellen“ für einen naturwissenschaftlich denkenden Menschen auf gewisse Weise unbefriedigend (wenngleich gerade in den Naturwissenschaften keineswegs ungewöhnlich: Viele naturwissenschaftliche Theorien werden zunächst und in Anbetracht noch ausstehender Fakten als Modelle formuliert: Denken wir an die Kopernikanischen Berechnungen, denen erst durch Galileo empirische Daten 45 ebd. S. 530 46 ebd. S. 530 47 Reed, Edward S.: From Soul to Mind. Yale University Press 1997, S. 141 48 ebd. S. 532 13 zuwachsen oder an die Maxwell’schen Gleichungen, die erst durch Heinrich Hertz‘ Experimente empirischen Gehalt bekommen, etc.). Zwar bietet ein zur Verfügung stehendes Seelen-Modell, wie das von Freud, zweifellos den praktischen Vorteil, dass man damit arbeiten kann, doch die empirische Haltlosigkeit von Konstruktionen wie dem „Unbewussten“, dem „Vorbewussten“, oder gar dem „Es“ bleibt für das naturwissenschaftliche Denken dennoch unbefriedigend. So hat die physiologisch-experimentelle Labor-Psychologie nicht gezögert, Freuds Vorgehen (nach anfänglichem Ignorieren) trefflich zu kritisieren und Wundt nennt Freuds Traumdeutung 1911 eine „Wiedergeburt alter Traummystik in moderner, mit Hysterie und Sexualpathologie reichlich ausgestatteter Form“, „abseits der Wege der experimentellen Psychologie.“ 49Die Labor- Psychologie, die sich vorgenommen hat, über Experimente zu Erkenntnissen zu gelangen, hat für Freuds „Psychologie auf eigene Faust“ 50 (wie er sie in der Traumdeutung nennt) kein Verständnis. Aus Sicht Wundts (aber auch aus Sicht Ebbinghaus‘ oder auch Sterns oder auch Bühlers) ist Freud ein kluger Mann, aber sein Vorgehen, d.h. die Art und Weise wie Freud zu seinen Aussagen kommt, erscheint ihnen letztlich nicht nachvollziehbar. Dadurch disqualifiziert sich aber für die experimentelle Labor-Psychologie seine gesamte Lehre. Freud wiederum sind diese Einwände sattsam bekannt und er ist sich dieser „empirischen Schwäche“ seiner abstrakten Psychologie, d.h. ihrer experimentellen Unzugänglichkeit, überaus bewusst. Doch Freud will nicht akzeptieren, dass daraus eine inhaltliche Beschränkung wird, und er wehrt sich gegen die Kritik der Labor-Psychologie, wie mir scheint, vor allem mittels zweier Kompensationen: Erstens, so vehement Freud auch darauf beharrt, dass physiologische Sachverhalte keine psychologischen Theorien ersetzen können, so vehement gibt er auch zu, dass dies keineswegs notwendigerweise ewig so bleiben muss, im Gegenteil. Immer wieder betont Freud, dass es irgendwann wohl möglich sein wird, die Psychologie mit der Physiologie zu kombinieren; allerdings wird dies erst dann wirklich möglich, so Freud, wenn beide, d.h. Physiologie und Psychologie in der Biologie vereinigt und versöhnt werden. Physiologie und Psychologie ergänzen sich dann, wenn sie am Feld der Biologie zusammenlaufen, d.h. wenn die Lehre von den normalen Funktionsabläufen in Zellen, Geweben und Organen eines Organismus (d.h. die Physiologie) und die Lehre von den seelischen Prozessen (d.h. die Psychologie) im Rahmen der Biologie aufeinander bezogen werden. Wie ließe sich dieser Rahmen der Biologie, innerhalb dessen Physiologie und Psychologie wirklich zu zwei Seiten einer Medaille werden, beschreiben? Nun, der biologische Rahmen versucht die Funktion von Entitäten innerhalb eines Systems oder Organismus‘ zu verstehen. Biologie fragt, vereinfacht ausgedrückt, nicht nur: Wie funktioniert eine Leber?, sondern immer auch: Welche Funktion erfüllt eine Leber und zwar innerhalb welchen Systems? Biologie fragt nicht nur: Wie funktioniert eine Nervenzelle?, sondern gleichzeitig: Welche Funktion erfüllt eine Nervenzelle und zwar innerhalb welchen Systems? Wie weit reicht dieses System? Warum haben wir überhaupt Nervenzellen? Wieso gibt es Nervenzellen? Zu welchem Zweck könnten sie entstanden sein? Im Aufsatz „Triebe und Triebschicksale“ aus dem Jahr 1915 gibt Freud eine bündige, biologische Antwort auf diese Frage: 49 Elliger, Tilman J.: Freud und die akademische Psychologie. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Psychoanalyse in der deutschen Psychologie (1895 – 1945). Weinheim: Beltz 1986, S. 65 50 ebd. S. 597 14 Das Nervensystem ist ein Apparat, dem die Funktion erteilt ist, die anlangenden Reize wieder zu beseitigen, auf möglichst niedriges Niveau herabzusetzen, oder der, wenn es nur möglich wäre, sich überhaupt reizlos erhalten wollte.51 Nervenzellen sind gewissermaßen eine Bewältigungsstrategie des Organismus. Mit ihrer Hilfe kann der Organismus auf Außenwelt-Reize reagieren, mit Hilfe der Nervenzellen kann ein Organismus mit seiner Außenwelt in Kontakt treten, sich in der Außenwelt verorten, etc. Und auf Basis dieser fundamentalen, biologischen Funktionalität von Nervenzellen wäre es dann natürlich interessant zu wissen, welche Funktion wiederum psychische Prozesse ausüben: Welche Funktion hat zum Beispiel ein Gedanke? Welche Funktion hat ein Gefühl? Wie verortet mich ein Gefühl in der Außenwelt? Welche Funktion erfüllt zum Beispiel das Gefühl der Angst? Ist Angst vielleicht die psychische Repräsentation einer durch meine Sinnesorgane irgendwie wahrgenommenen Außenwelt-Gefahr? Oder beruht Angst wesentlich auf einem Präsent- Werden von Erfahrungen aus der Vergangenheit, d.h. auf einem intakten Gedächtnis? Und welche Funktion erfüllen wiederum Triebe? Sind auch Triebe psychische Repräsentanten eines neurologisch-organischen Geschehens? Im Aufsatz „Triebe und Triebschicksale“ wird Freud genau dies behaupten: Wenden wir uns nun von der biologischen Seite her der Betrachtung des Seelenlebens zu, so erscheint uns der Trieb als ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer Repräsentant der aus dem Körperinneren stammenden, in die Seele gelangenden Reize, als ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt ist.52 Jene Erlebnisse in uns, die wir mit dem psychologischen Begriff des „Triebes“ beschreiben, repräsentieren ein somatisches, d.h. letztlich neurologisches Reizgeschehen in uns. Es ist unser biologischer, in einer Umwelt verankerter Körper mit seinen biologischen Notwendigkeiten, der uns Vorstellungen und Wünsche auf die Innenwand der Seele projiziert. Anhand der sogenannten „Sexualtriebe“ wird die Notwendigkeit einer biologischen Interpretation des Zusammenhangs von Seelischem und Körperlichem für Freud überdeutlich. Denn das Faszinierende am Sexuellen besteht für Freud ja genau darin, dass sich das Individuum im Zustand seiner sexuellen Triebhaftigkeit zwar individualpsychologisch einbilden kann, ureigenste Absichten zu verfolgen. („Te quiero!“ sagen die Spanier*innen in beispielhafter Ehrlichkeit, also „ich will dich!“, wenn sie zum Ausdruck bringen, dass sie jemanden lieben). Doch biologisch betrachtet erfüllt dieses verliebte, selbstherrliche Individuum natürlich nicht seine eigenen Absichten, sondern die Absichten seines Keimplasmas, wie Freud schreibt, d.h. modern gesprochen, seiner Gene. 53Jeder und jede von uns ist nur der „sterbliche Träger/ die sterbliche Trägerin“ seiner unsterblichen Gene; jedes Individuum ist nur der Fackelträger einer Flamme, die ihn überdauert. Wir denken hier natürlich sofort an Arthur Schopenhauers „Metaphysik der Geschlechtsliebe“, aus dem Jahre 1844, in welcher es heißt: Denn alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch gebärden mag, wurzelt allein im Geschlechtstriebe, ja ist durchaus nur ein näher bestimmter, spezialisierter, wohl gar im strengsten Sinn individualisierter Geschlechtstrieb. […] Es ist keine Kleinigkeit, worum es sich hier handelt: vielmehr ist die Wichtigkeit der Sache dem Ernst und Eifer des [verliebten] Treibens vollkommen angemessen. Der Endzweck aller Liebeshändel […] ist wirklich wichtiger als alle andern Zwecke im Menschenleben und daher des tiefen 51 Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale. In: ders. Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Frankfurt/Main: Fischer 2014 [4.Auflage], S. 83 52 Freud, Sigmund: ebd., S. 84-85 53 Freud, Sigmund: Zur Einführung des Narzißmus. In: ders. Das Ich und Das Es. Metapsychologische Schriften, S. 56 15 Ernstes, womit jeder ihn verfolgt, völlig wert. Das nämlich, was dadurch entschieden wird, ist nichts Geringeres als die Zusammensetzung der nächsten Generation.54 Schon Schopenhauer, mehr als ein halbes Jahrhundert vor Freud, entzaubert also das verliebte Individuum, indem er es einer biologischen Logik unterwirft, welche, ungeachtet allen individuellen Pathos‘, die Zusammensetzung der nächsten Generation im Auge hat. Übrigens: So sehr vom biologischen Standpunkte das Sexualziel klar beschrieben scheint, nämlich „die Vereinigung der Genitalien in dem als Begattung bezeichneten Akte“55(wie Freud schreibt) zum Zwecke der Zusammensetzung der nächsten Generation — so klar also eine biologische Deutung des Sexualzieles auf der Hand zu liegen scheint, so anarchisch und „polymorph-pervers“56 gestaltet sich die Erreichung dieses biologischen Ziels in der alltäglichen, menschlichen Praxis, wie Freud mit (für seine Zeit) unnachahmlicher Coolness feststellt. Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, so scheint es, als dass unter Menschen wirklich biologische Ziele verwirklicht werden, im Gegenteil. Sowohl Sexualziel als auch Sexualobjekt werden unter uns individuell handelnden Bürger*innen permanent verfehlt: Männer schlafen mit Männern, Frauen mit Frauen, der Fetischist verliebt sich in Strümpfe, der Pädophile in Kinder, der Voyeur kommt zum Höhepunkt, ohne berührt zu werden, die Masochisten finden im Geschlagen- Werden (und nicht in der Vereinigung der Genitalien) ihr höchstes Glück und masturbatorische Praktiken, in denen sowohl Sexualziel als auch Sexualobjekt verfehlt werden, finden sich von frühester Kindheit an bei allen Menschen auf dem ganzen Planeten, ja sogar bei Tieren. Sicher gehört auch das zu den großen Leistungen Freuds, dass er diese sexuellen Realitäten ungerührt und in voller, empirischer Breite zur Kenntnis nimmt und in der Folge den bestrickenden Schluss zieht, dass die sexuelle Abirrung oder Perversion keineswegs ein Sonderfall, sondern offenbar der menschliche Normalfall ist. Menschliches, sexuelles Handeln ist permanent auf Abwegen, so Freud, und dies, obwohl er keine Sekunde daran zweifelt, dass der Endzweck aller Liebeshändel, biologisch betrachtet, sehr wohl die Zusammensetzung der nächsten Generation ist. Es ist einfach so: Zwischen den biologischen Notwendigkeiten, die wir postulieren, und den individuellen Absichten, die wir (an)erkennen, klafft eine Lücke, die wir mit wissenschaftlichen Daten (noch) nicht füllen können. Biologie bildet sicherlich einen unhintergehbaren Bezugsrahmen menschlichen Handelns, doch sie kann die Kausalkette zwischen Seelischem und Leiblichem nicht vollständig schließen. Das Ich mit seinen individuellen Absichten und Lüsten kann von der Biologie nicht einfach ignoriert werden. Wie es uns gelingt, die Ansprüche der Sexualität mit unseren Ansprüchen, ein stabiles „Ich“ zu sein, psychologisch zu versöhnen – das bleibt für Freud ein großes Rätsel, zu dessen Lösung ihm (um 1900) auch physiologische Grundlagen fehlen. So formuliert Freud seine Theorien zur Sexualität zum Beispiel unter weitestgehender Unkenntnis oder Nichtbeachtung der Hormonforschung.57 (Heute denken wir sehr wohl, dass Testosteron, Östrogen, Oxytocin, etc. Anteil am Gefühl der „Liebe“ haben). Auch die Hirnanatomie hat zu Zeiten Freuds sicherlich Fortschritte gemacht: Theodor Meynert, der berühmte Gehirnanatom, unter dessen Leitung der junge Freud am Wiener AKH arbeitet, sieht in der Großhirnrinde den exekutiven, „ich bildenden Funktionsherd des Gehirns“58(so eine Beschreibung Eric Kandels). Doch von einem wirklich 54 Schopenhauer, Arthur: Metaphysik der Geschlechtsliebe. In: ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung II. Frankfurt/Main: Suhrkamp [11. Auflage] 2018, S. 681-682 55 Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Frankfurt/Main: Fischer 2009, S. 52 56 ebd. S. 93 57 Alt, Peter-André: Sigmund Freud, S. 335 58 Kandel, Eric: Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute. München: Pantheon [4.Auflage] 2012, S. 63 16 umfassenden Verständnis cerebraler Prozesse ist man zu Lebzeiten Freuds noch weit entfernt. (Und auch heute ist man von einem umfassenden, biologischen Verständnis des Gehirns noch weit entfernt). Das heißt: Der biologische Boden, auf dem Physiologie und Psychologie wirklich vereinigt werden, ist zu Freuds Lebzeiten einfach noch zu dünn. Es fehlen an allen Ecken und Enden Erkenntnisse. Und bis dieser Missstand einigermaßen behoben ist, so Freuds Schlussfolgerung, werden wir uns mit genuin psychologischen Theorien, d.h. mit abstrakten Modellen eines seelischen Apparats begnügen müssen. Zweitens kompensiert oder ersetzt Freud das Fehlen labor-experimenteller Ergebnisse sukzessive durch einen Erfahrungsschatz ganz anderer Art: Er ersetzt das Experiment durch die individuellen Krankengeschichten, die ihm im Rahmen seiner alltäglichen Berufspraxis als niedergelassener Arzt zugetragen werden. Dafür gab es auch biografische Gründe: Freud hatte zunächst durchaus eine naturwissenschaftliche Karriere am Gebiet der Zoologie/Physiologie/Biologie im Sinne. Im Herbst 1876 kam er ans Wiener Physiologische Institut, unter der Leitung von Ernst Brücke, und unterwarf sich stolz dem „Diktat der reinen Empirie“59(wie der Freud-Biograf Peter-André alt schreibt), d.h. der Arbeit am Mikroskop, an Präparaten und mikrologischen Zellstrukturen. Doch profane Gründe hinderten ihn, diese akademische Karriere wirklich durchzuziehen: Freud entstammte keiner reichen Familie, die ihn finanziell absichern konnte. Um sich über Wasser zu halten, benötigte er einen Verdienst, den die universitäre Labortätigkeit nicht bieten konnte. Sie war schlecht bezahlt und Freuds Karriere- Möglichkeiten innerhalb der Universität, d.h. seine Aussicht auf einen bezahlten, akademischen Posten in Forschung und Lehre, standen denkbar schlecht. (Die aussichtsreichsten Positionen waren schon besetzt und sein jüdischer Familienhintergrund erschwerte seine Karrierechancen innerhalb des antisemitischen, akademischen Jet-Sets der Universität Wien, wie er ganz genau wusste).60 Nach Abschluss seiner Dissertation Über das Rückenmark niederer Fischarten musste Freud sich (überdies in Martha Bernay verliebt, mit der er eine Familie gründen wollte), um einen Job außerhalb des Labors und der Universität umsehen. Nach Stationen an der Chirurgie des AKH (unter der Leitung Theodor Billroths) 61 und an der Inneren Abteilung (unter Hermann Nothnagel), wechselte Freud in die psychiatrische Klinik unter Theodor Meynert (Zwangsjacken und Elektroschocks inklusive, linderne Psychopharmaka stehen damals noch nicht zur Verfügung)62, wo sich Freud zum Privatdozenten für Nervenpathologie habilitierte. Nach einer kurzen Zeit als Assistenzarzt am privaten Nervensanatorium in Oberdöbling63 ging Freud mit Unterstützung Theodor Meynerts nach Paris zu Jean-Martin Charcot, um dessen hypnotische Behandlungsmethoden psychiatrischer Fälle aus der Nähe zu studieren. Fünf Monate später kehrte er nach Wien zurück; er schießt seine universitären Karriere-Pläne in den Wind und etabliert sich, jenseits von Universität und Spital, als niedergelassener Arzt in Wien. Am 14. September 1886 heiratet Freud seine Braut und Anfang Oktober siedelt das junge Ehepaar in die erste, gemeinsame Wohnung, in der ein Raum als Ordination dient.64(Diese erste Wohnung lag noch nicht in der Berggasse.). Nach anfänglichen Schwierigkeiten und mit tatkräftiger Unterstützung seines Freundes Josef Breuer gelang es ihm schließlich als freischaffender Arzt Fuß zu fassen, Geld zu verdienen und seine Familie zu erhalten. 59 Alt, Peter-André: Sigmund Freud, S. 77 60 Fancher, Raymond: Pioneers of Psychology, S. 407 61 Alt, Peter-André: Sigmund Freud, S. 103 62 ebd. S. 108 63 ebd. S. 135 64 ebd. S. 159 17 Vor diesem Hintergrund sehen wir, wie Freud gewissermaßen die Not zur Tugend machte. Abgeschnitten vom akademisch-universitären Labor-Leben, doch voller Forschergeist und Tatendrang, verwendete er von nun an vor allem die Erfahrungen seines alltäglichen Berufslebens, um seine psychologische Theorie voranzutreiben. In den berühmten „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ heißt es: Andererseits sollen Sie aber auch keinen Augenblick meinen, daß das, was ich Ihnen als psychoanalytische Auffassung vortrage, ein spekulatives System ist. Es ist vielmehr Erfahrung, entweder direkter Ausdruck der Beobachtung oder Ergebnis einer Verarbeitung derselben. […] Ich habe oft den Eindruck empfangen, als ob unsere Gegner diese Herkunft unserer Behauptungen gar nicht in Rücksicht ziehen wollten, als meinten sie, es handle sich um nur subjektiv bestimmte Einfälle, […] Vielleicht kommt es daher, daß man sich als Arzt sonst so wenig mit den Nervösen einläßt, so unaufmerksam zuhört, was sie zu sagen haben, daß man sich der Möglichkeit entfremdet hat, aus ihren Mitteilungen etwas Wertvolles zu entnehmen, also an ihnen eingehende Beobachtungen zu machen.65 Freuds Psychologie ist also eine Psychologie, die sich ab einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens aus der Erfahrung speist und deren methodologisches Zentrum nicht mehr das Labor oder das Experiment bildet, sondern die Tätigkeit des Zuhörens. Freud, der Psychologe auf eigene Faust, nimmt die „Mitteilungen“ seiner Patienten und verwandelt sie zum zentralen Material seiner Beobachtungen. Diese Beobachtungen bilden aber deshalb keineswegs bloß ein spekulatives System, im Gegenteil: Sie sind die direkte Reaktion auf aufmerksames Zuhören! Vielleicht mutet es seltsam an, extra darauf hinweisen zu müssen: Auch aus menschlichen Mitteilungen, nicht nur aus Experimenten, lässt sich psychologisches Wissen generieren, so Freuds Überzeugung. Fassen wir uns also am Ende die wichtigsten Elemente der Freud’schen „Psychologie auf eigene Faust“ zusammen: Freuds Psychologie basiert auf einem abstrakten Modell des psychischen Apparats, das er in Anbetracht des noch fehlenden, biologischen Grundlagenwissens notgedrungen ohne Rücksicht auf anatomische Lokalitäten formuliert. Im Rahmen dieses abstrakten Modells der Psyche spielt das Unbewusste eine entscheidende Rolle. Im Laufe seines Lebens, von der „Traumdeutung“ (1900) bis zu „Das Ich und das Es“ (1923) wird Freud den Begriff des Unbewussten immer wieder modifizieren. Eine wichtige Methode seiner Psychologie wird das Zuhören, denn Zuhören ist zentrales Element seiner ärztlichen Praxis. Indem Freud seinen Patient*innen, auf Basis seines Seelen-Modells, zuhört, gewinnt er Einsichten in ihre psychologischen Vorgänge, vor allem in die Dynamik zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein. Doch das ist nicht alles. Im Rückgriff auf sein ärztliches Berufs-Ethos beginnt Freud auf die Psyche seiner Patient*innen einzuwirken. Als Arzt geht Freud seiner ureigensten Funktion nach, nämlich zu heilen, und Psychologie wird in seiner Praxis tatsächlich zu einer Art Heilpraktik. Freud gibt dieser psychologischen Heilpraktik schließlich den Namen Psycho- Analyse. Psychologie-historisch interessant ist, dass dieser heilende Aspekt der Freud’schen Psychologie innerhalb der Grenzen der naturwissenschaftlichen Labor-Psychologie erneut für Unruhe sorgt: Die Medizinisierung des Psychischen, die das gesamte 19.Jahrhundert hindurch zu beobachten ist und mit Freud einen Höhepunkt erreicht, wird auf die junge Labor-Psychologie einen ambivalenten Reiz ausüben. Zwar begegnen viele Experimental-Psychologen dieser neuen Zumutung an die Psychologie, nämlich eine Heilpraktik zu sein, mit unverhohlener Feindschaft und die Vorstellung einer angewandten oder klinischen Psychologie wird von vielen Labor- Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt/Main: Fischer 2020 [5. 65 Auflage], S. 234 18 Psychologen empört zurückgewiesen. „The Freudian Dream Shit“66scheint den naturwissenschaftlichen Labor-Psychologen weder ein wissenschaftlicher Gegenstand noch methodisch bewältigbar und erst recht keine Basis für eine sogenannte „angewandte Psychologie“. Der französische Philosoph und Privatdozent für Psychologie Michel Foucault (1926-1984) nennt etwa das Unterfangen einer klinischen Psychologie noch 1966 einen Haufen „synkretistischer Banalitäten“67. Doch letztlich scheint der Reiz eines heilenden Tätig-Werdens für viele Psycholog*innen unwiderstehlich und spätestens nach 1945 erschließt sich die Wissenschaft der Psychologie im Fahrwasser Freuds, in den USA und in Europa, ein ganz neues Tätigkeitsfeld: Sie wirkt nicht länger nur als experimentelle Grundlagenwissenschaft der Seele, sondern wird zum schnöden „Beruf“ und „der Psychologe/die Psychologin“ wird tatsächlich zum/r „therapierenden“ Erwerbstätigen. Zwar beklagt noch 1978 der damalige Vorsitzende der DGfP, dass „Psychologie […] zu einer Berufskunde von Heilpraktikern“ geworden sei. 68Doch alle Klagen ändern nichts: Heute ist Psychologie ein anerkanntes Berufsfeld und die Idee, dass Psychologie irgendwie „heilend“ oder „intervenierend“ oder „wirksam“ tätig werden könne, hat sich etabliert. Psychologie-historisch ist jedenfalls wichtig, festzuhalten, dass auch darin ein wichtiges Erbe Freuds zu sehen ist, wenngleich die bis heute andauernde Spaltung oder sogar Feindschaft zwischen Psychologie und Psychoanalyse anderes suggeriert. Nun, dass Psychologie eine „Heilpraktik“ sei, das hätte Wilhelm Wundt wohl mit Befremden zur Kenntnis genommen. Für Wundt war „Psychologie“ sicher keine therapierende Heilpraktik, sondern eine experimentelle Grundlagenwissenschaft, d.h. eine empirisch-strenge Angelegenheit, ohne jeglichen Hokuspokus. Ich denke, auch dieser strenge Wundt’sche Psychologie-Begriff ist uns bis heute vertraut. Es ist jener Psychologie-Begriff, der bis heute vor allem an Universitäten gepflegt wird, z.B. hier an der Universität Wien. Bis heute verstehen wir Psychologie immer noch als eine in „Laboren“, mit experimentellen Methoden vorangetriebene Wissenschaft, die sich um grundlegende Kenntnisse bezüglich unserer kognitiven Prozesse, unserer Entwicklung oder unseres Sozialverhaltens kümmert. Dieser wissenschaftliche Psychologie-Begriff fokussiert menschliche und tierische Fähigkeiten, Dispositionen, Entwicklungsschritte, Urteile, Verhaltensmuster, etc. Allerdings: der Begriff der „Krankheit“ spielt im Rahmen dieser empirisch-deskriptiven Grundlagenwissenschaft keine Rolle. Widmen wir uns nun, nachdem wir Freud als spannungsreichen Ausgangspunkt unserer Geschichte der Psychologie gewählt haben, dieser sogenannten „Labor-Psychologie“, ihrem Gründer, Wilhelm Wundt, und Wundts Lehrer Hermann Helmholtz. Werfen wir zuvor einen Blick auf die folgende Grafik, in welcher die wichtigsten Einflüsse auf Freud zusammengefasst werden. Diese Einflüsse sind nicht nur für Freud bedeutsam, sie sind insgesamt der Nährboden für die Naturwissenschaft der Psychologie: 66 Fancher, Raymond E.: Pioneers of Psychology, S. 614 67 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 430 68 Hörmann, Georg und Frank Nestmann: Die Professionalisierung der Klinischen Psychologie und die Entwicklung neuer Berufsfelder in Beratung, Sozialarbeit und Therapie. In: Geschichte der Psychologie im 20.Jahrhundert. Ein Überblick. Opladen: Westdeutscher Verlag 1985, S. 273 19 PHILOSOPHIE Hermann Gustav Johann Friedrich Franz Aristoteles Helmholtz (1821 Theodor Herbart (1776 – Brentano (384 v. Chr. – PHYSIOLOGIE, – 1894) Fechner 1841) (1838 – 322 v. Chr.) PHYSIK, (1801 – 1917) CHEMIE 1887) Emil du Bois Platon Reymond (1818 – (428/427 v. 1896) Chr. – 348/347 v. Chr.) ANATOMIE, Ernst Brücke (1819 – 1892) Ludwig ZOOLOGIE Feuerbach (1804 – 1872) Ernst Haeckel Sigmund Freud Arthur (1834 – 1919) (1856 – 1939) Schopenhauer (1788 – 1860) BIOLOGIE PSYCHOLOGIE Charles Darwin Wilhelm (1809 – 1882) Wundt (1832 – 1920) Theodor Meynert Jean Josef Breuer (1833 – 1892) Martin (1842 – 1925) Charcot (1825 – 1893) MEDIZIN, PATHOLOGIE UND KLINIK 3. Hermann von Helmholtz: Von der Irreduzibilität des Psychologischen Der Neurowissenschaftler Eric Kandel, Nobelpreisträger für Medizin des Jahres 2000, schreibt in seinem lesenswerten Buch „Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute“, dass die Denkweise von Hermann von Helmholtz den „vielleicht unmittelbarsten Einfluss auf Freud hatte.“69Helmholtz hätte die Physiologie mit Physik und Chemie zusammengeführt und im Rahmen seiner Arbeiten zur visuellen Wahrnehmung gezeigt, dass die Psychologie für das Verständnis der Hirnphysiologie unabdingbar sei, so Kandel.70Helmholtz, einer der größten Physiologen und Physiker des 19.Jahrhunderts entdeckt nachgerade, dass visuelle Wahrnehmung ohne Psychologie nicht erklärt werden kann. Wir bedürfen der Psychologie, um wirklich zu verstehen, was beim Wahrnehmungsvorgang namens Sehen passiert. Widmen wir uns im Folgenden diesem außergewöhnlichen Forscher: 69 Kandel, Eric: Das Zeitalter der Erkenntnis, S. 85 70 ebd. S. 86 20 Helmholtz wird 1821 in Potsdam geboren und der 21-jährige Helmholtz dissertiert 1842 in Berlin „Über den Aufbau des Nervensystems von Wirbellosen“. Dieses Thema übergibt ihm sein Professor Johannes Müller, der zu dieser Zeit Lehrstuhlinhaber für Anatomie und Physiologie an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (der heutigen Humboldt-Universität) ist. Wir erinnern uns: Um das Jahr 1842 beginnt sich in der Physiologie die „Zell-Theorie“ des menschlichen Gewebes durchzusetzen, d.h. die Erkenntnis, dass Pflanzen, Tiere und Menschen gleichermaßen aus kleinsten Einheiten, sogenannten „Zellen“ aufgebaut sind. Einen maßgeblichen Beitrag zur Etablierung der Zell-Theorie leisten die immer besser werdenden Mikroskope. Helmholtz und seine Kollegen in Berlin sind die ersten, die das Mikroskop als essenzielles Forschungsgerät konsequent in die Biomedizin einführen.71 Jakob Henle und Matthias Schleiden hatten 1838/39 eine Zelltheorie formuliert, die besagte, „dass sich alle Gewebe aus Zellen aufbauen“. 72Christian Ehrenberg, ein Kollege von Johannes Müller, hatte 1833 einen Vortrag mit dem Titel gehalten: „Beobachtung einer bisher unbekannten Struktur des Seelenorgans von Menschen und Thieren“ und 1836 hatte Ehrenberg das erste Bild einer Nervenzelle veröffentlicht.73 Das metaphysische Seelen und physiologische Zell-Organe sich als Konzepte nun vermischen — diese neuartige, epistemologische Möglichkeit steht nun, auch dank der technischen Innovation der Mikroskope, in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts zur Verfügung: Psychologie und Physiologie beginnen sich immer mehr anzunähern und der 3000 Jahre alte Begriff der Seele vermischt sich mit dem modernen Begriff der Zelle. Johannes Müller, der Doktorvater von Helmholtz, ist in diesem Zusammenhang eine überaus interessante Figur, denn Müller erscheint wie eine Schwellenfigur zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert. Einerseits ist Müller Anatom und Physiologe, der unablässig neues, empirisches Wissen über die Umwelt und den Menschen zu Tage fördert. Schon Müller ist fasziniert von den kniffligen, wissenschaftlichen Problemen, die der Prozess des Sehens aufwirft. Müllers Fassung des sogenannten „Gesetzes der spezifischen Sinnesenergien des Menschen“ ist ein Meilenstein der physiologischen Forschung seiner Zeit. Er präsentiert dieses Gesetz 1826 in seinen Arbeiten „Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes der Menschen und der Thiere“ und in „Über die phantastischen Gesichtserscheinungen“. Was besagt dieses Gesetz? Es besagt, dass jeder Sinnesnerv seine ihm immanente Energie hat. Egal, welcher Reizung ein spezifischer Sinnesnerv, etwa der des Auges, ausgesetzt wird, ob Druck, Elektrizität oder auch innere Reizung — immer wird der spezifische Sinnesnerv des Auges Lichtempfindungen aussenden.74 Egal, ob die spezifischen Neven des Gehörs durch eine Violine oder durch einen Faustschlag aufs Trommelfell gereizt werden: Immer werden die spezifischen Nerven des Gehörs akustische Empfindungen, d.h. Töne, vermitteln. (Nach einem Schlag aufs Ohr dröhnt dieses bekanntlich, obwohl eigentlich gar keine akustischen Reize da sind.). Denn, so besagt es das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien, Sinnesnerven sind dazu prädestiniert, die ihnen spezifischen Signale weiterzuleiten und der Gegenstand der Reizung ist ihnen eigentlich gleichgültig: Mein Finger, der auf den geschlossenen Augapfel drückt, löst gleichermaßen gelbe Farbillusionen aus wie der Blick auf eine gelbe Blume. Doch die Sehnerven können nicht anders, unabhängig vom Gegenstand der Reizung, als visuelle Signale weiterzuleiten. 71 Heideklang, Julia (Hg.) u.a.: De fabrica systematis nervosi evertebratorum. Die kommentierte Dissertation von Hermann Helmholtz. Darmstadt: wbg 2021, S. 8 72 Heideklang, Julia (Hg.) u.a.: De fabrica systematis nervosi evertebratorum. Die kommentierte Dissertation von Hermann Helmholtz. Darmstadt: wbg 2021, S. 8 73 ebd. S. 8 74 Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz: Hölscher 1826, S. 6 21 Andererseits steht Müller, der Epoche-machende Sinnesphysiologe, aber ein Leben lang in einem skeptischen, aber auch benevolenten Naheverhältnis zur sogenannten Naturphilosophie.75 Was besagt die Naturphilosophie im Gegensatz zur Physiologie? Kurz gesagt geht die Naturphilosophie davon aus, dass lebendige Organismen nicht hinreichend durch physiologisch-physikalisch-chemische Beschreibungen erklärt werden können. Wie akribisch auch immer die einzelnen chemischen und physiologischen Bestandteile eines Lebewesens bis ins kleinste Detail aufgeschlüsselt werden — wodurch das Lebewesen seinen „Lebensfunken“ erhält, wird dadurch nicht entdeckt. Was immer Leben auch bedeutet, der Begriff erschöpft sich nicht in mechanisch sich abspulender Bewegung. Als Gegenbeispiel zum vitalistisch gefassten Lebewesen fungiert oft die bloß mechanische Uhr: Auch eine komplizierte Uhr besteht aus hunderten aufs feinste miteinander abgestimmten Teilen und Teilchen, doch niemand würde behaupten, dass eine Uhr lebt. Uhren sind mechanische Gegenstände, während Fliegen, Schnecken, Vögel, Fische und Menschen lebendige Gegenstände sind, so kurz zusammengefasst die Grundüberzeugung der sogenannten Naturphilosophie oder des Vitalismus. Lebendig-Sein bedeutet aus der Sicht der Naturphilosophie eine Prozessualität, die sich nicht im physikalisch-chemisch-mechanischen Ineinandergreifen von Organen, Zellen und Teilchen erschöpft. Es braucht etwas Zusätzliches, ein hinzu-kommendes Element, damit aus einem Mechanismus ein Organismus wird. Dieses hinzu-kommende Element ist für Naturphilosophen letztlich immer wieder ein Geist oder eine Kraft oder eine Seele oder ein mysteriöser Funken, d.h. etwas, dessen Herkunft und Gestalt jedenfalls meta-physisch ist, d.h. etwas, das über oder hinter der Physik steht. Berühmtester Vertreter naturphilosophischen Denkens im deutschsprachigen Raum ist vielleicht bis heute Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. (Erinnern Sie sich in diesem Zusammenhang auch an Mary Shelleys großartigen Roman „Frankenstein“, in dem der geniale Doktor Frankenstein in einer dunklen Novembernacht die funktionsfähigen Glieder und Teile toter Menschen zusammensammelt und physiologisch exakt verbindet, doch, aus dem schieren Zusammenstellen der menschlichen Glieder entsteht offensichtlich noch kein lebendiges Wesen. Lebendig wird der kunstvoll arrangierte „Körper“ auch bei Mary Shelley erst durch einen „Funken“.) Dieser Funken ist für Naturphilosophen aber immer etwas, das das Gebiet der Physiologie, d.h. Physik und Chemie, übersteigt. In dieser Auseinandersetzung zwischen physikalisch-chemisch-mechanisch argumentierenden Physiologen und metaphysisch-philosophisch argumentierenden Naturphilosophen steht Helmholtz eindeutig auf der Seite der Physiologen. Gemeinsam mit ihm positionieren sich auch seine Freunde und Physiologie-Kollegen Emil Du Bois-Reymond und Ernst Brücke, alle drei Studenten von Johannes Müller, vehement und mit all ihrer intellektuellen Verve gegen die Annahme vitalistischer Funken, Kräfte oder Geister. Emil du Bois-Reymond, Ernst Brücke und Hermann Helmholtz bilden im deutschsprachigen Raum des 19.Jahrhunderts nachgerade eine Phalanx, um dem Vitalismus und Naturphilosophie möglichst den Garaus zu machen. 76Ernst Brücke wechselt schließlich von Berlin (über Königsberg) nach Wien, wird als erster Protestant zum Rektor der Universität Wien ernannt und zum maßgeblichen Lehrer Sigmund Freuds. Freud wird von Brücke sagen, er sei „die größte Autorität [gewesen], die je auf mich gewirkt hat.“77 75 Vgl. Gregory, Frederick: Hat Müller die Naturphilosophie wirklich aufgegeben?, in: Johannes Müller und die Philosophie. Hrsg. v. Michael Hagner und Bettina Wahrig-Schmidt. Akademie-Verlag 1995, S. 143 76 Benetka, Gerhard: Denkstile der Psychologie, S. 51 77 Kandel, Eric: Das Zeitalter der Erkenntnis, S. 69 22 Doch zurück zum 21-jährigen Helmholtz und seiner Dissertation über den Bau des Nervensystems von wirbellosen Tieren. Helmholtz arbeitet daran zirka ein Jahr und sammelt zu diesem Zweck alle „wirbellosen Tiere“, die er in seiner Umgebung finden kann. Mistkäfer, Schmetterlingslarven, Grillen, Spinnen, Flusskrebse, Flussperlmuscheln und Weinbergschnecken werden von Helmholtz eingesammelt, um sie daraufhin zu sezieren und unter dem Mikroskop einer genauen Prüfung zu unterziehen. Wir sehen: Schon beim jungen Helmholtz paart sich auf geniale Weise intellektueller Scharfsinn mit handwerklichem Geschick. Denn trotz verbesserter Mikroskope bleibt die Praxis des Mikroskopierens, als handwerkliches Verfahren, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ständige, schwierige Herausforderung. Ich zitiere den Helmholtz-Biographen Michael Ruoff: „Die Feinheit der untersuchten Strukturen und die verhältnismäßige Grobheit der zur Verfügung stehenden Mittel bedingen, dass die Ergebnisse häufig ein Bild der Instrumente, nicht aber der untersuchten Objekte bieten.“ 78Doch Helmholtz meistert diese Schwierigkeiten bravourös, seine (auf Latein verfasste) Dissertation wird erfolgreich abgeschlossen. Im letzten Kapitel fasst Helmholtz seine Ergebnisse zusammen. Dabei definiert er „die Einheit von Nervenzelle und Nervenfortsatz“. Keine Kleinigkeit, denn „diese Erkenntnis bildet die Grundlage für die Definition des Neurons als Grundelement des Nervensystems, bestehend aus Zellkörper und Fortsatz.“ Erst knapp 50 Jahre später wird der Begriff des Neurons dann von Wilhelm Waldeyer, Anatomieprofessor an der Charité, definiert und etabliert (Waldeyer 1891).“ 79 Die Definition des Neurons als Grundelement des Nervensystems bildet die erste, herausragende Leistung von Helmholtz. Im Anschluss an sein Studium arbeitet Helmholtz als Arzt an der Berliner Charité und als Militärarzt im königlichen Regiment. Neben der praktischen Tätigkeit des Arztes widmet sich Helmholtz weiterhin so oft er kann der Physiologe und beschäftigt sich zunächst mit Gärungs- und Fäulnisprozessen. Verwesungsprozesse waren für Helmholtz insofern interessant, als eine naturphilosophische Theorie des Verwesens davon ausging, die Zersetzung des Körpers während des Verwesens käme dadurch zustande, dass die Lebenskraft aus dem Körper weiche. Durch dieses Entweichen der im Lebewesen wirkenden Lebenskraft würde sich in der Folge der Zusammenhalt zwischen den Körperelementen auflösen.80Helmholtz misstraut dieser Erklärung aber unter anderem deshalb, weil im Rahmen dieser Erklärung die Lebenskraft innerhalb des Körpers für metaphysische Verhältnisse sorgt. Doch nach der Überzeugung von Helmholtz (und seiner Kumpels) herrschen innerhalb des lebendigen Körpers dieselben Gesetze, die auch außerhalb des lebendigen Körpers herrschen, weil der lebendige Körper (trotz seiner Lebendigkeit) dennoch ein physikalischer Körper ist und bleibt. Um diese Überzeugung mit empirischen Überlegungen zu stützen, widmet sich Helmholtz lebendigem Muskelgewebe, konkret, den Oberschenkelmuskeln von Fröschen. (Helmholtz nennt den Frosch an einer Stelle, „den alten Märtyrer der Wissenschaft“81und wir werden auf diese Märtyrerrolle der Tiere innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie generell noch zurückkommen). Er trennt frisch getöteten Fröschen beide Oberschenkel ab und stimuliert den ersten Oberschenkel nicht weniger als 4500 mal82 mit elektrischen Impulsen, wodurch sich der Oberschenkelmuskel 4500 mal kontrahiert, anfangs stark und kräftig, bis er allmählich unter der 78 Ruoff, Michael: Hermann von Helmholtz, S. 41 79 Heideklang, Julia (Hg.): De fabrica systematis, S. 20 80 Meulders, Michel: Helmholtz. From Enlightenment to Neuroscience. Cambridge (Mass.): MIT Press 2010, S. 62 81 Meulders, Michel: Helmholtz, S. 64 82 Meulders, Michel: Helmholtz, S. 64 23 andauernden Beanspruchung erschlafft. Anschließend vergleicht Helmholtz das Gewebe des 4500-mal beanspruchten Oberschenkelmuskel mit dem unbeanspruchten Oberschenkelmuskel, um zu sehen, ob und inwiefern sie sich in ihrer chemischen Konsistenz unterscheiden. Trotz der armseligen Analyse-Methoden, die die Chemie der 1840-er Jahre zur Verfügung stellt, gelingt Helmholtz der Nachweis, dass die bloß motorische Beanspruchung des (vom Frosch) isolierten Muskelgewebes ausreicht, um innerhalb des Muskelgewebes chemische Veränderungen herbeizuführen.83Im Anschluss an die chemische Analyse führt Helmholtz eine Untersuchungsreihe über den Temperaturunterschied zwischen dem beanspruchten und dem unbeanspruchten Muskelgewebe durch und weist nach, dass die Temperatur im beanspruchten Muskel um 0,2 Grad höher liegt als im unbeanspruchten Muskel.84 Und was folgt aus diesen minutiösen Untersuchungen? Jedenfalls folgt daraus, dass sich die Funktionsweise des Muskelgewebes nicht von einer metaphysischen Lebenskraft herschreibt, die das Gewebe irgendwie durchflutet, sondern einfach von den chemisch-physikalischen Eigenschaften des Muskelgewebes. Die mechanische Kraft der Kontraktion des Muskels sowie der Temperaturanstieg (die kalorische Kraft) innerhalb des Muskels lassen sich anhand physikalisch-chemischer Eigenschaften des Muskel-Gewebes erklären und wir bedürfen keiner vitalistischen Kraft, um die schiere Funktionsweise des Muskels zu erklären: Kontraktion des Muskels, chemische Modifikation des Muskel-Gewebes und Temperaturanstieg finden im Froschschenkel statt, ohne dass der Froschschenkel an eine vitalistische Kraft angeschlossen wäre (denn der Frosch ist tot). Vielmehr scheint der Muskel unter einem physikalischen Regime zu stehen, welches sich vor allem dadurch auszeichnet, dass darin physikalische Kräfte ineinander übergehen: elektrische Arbeit setzt mechanische Arbeit frei, mechanische Arbeit übersetzt sich in chemische Arbeit und chemische Arbeit erzeugt wiederum kalorische Arbeit, d.h. Wärme, usw. Seine physiologischen Experimente an Froschschenkeln führen Helmholtz schließlich zur vollständigen Ausformulierung eines physikalischen Grundsatzes, nämlich zur Ausformulierung des Prinzips der „Erhaltung der Kraft“ oder, wie wir heute vielleicht sagen würden, zur Ausformulierung des „Energieerhaltungssatzes“. Was besagt dieses berühmte, von Helmholtz vollständig formulierte, physikalische Gesetz, von dem wir alle im Physikunterricht schon einmal gehört haben? Nun, es besagt (in aller Kürze und Einfachheit), dass sich Energieformen (in geschlossenen Systemen) immer nur umformen, dabei aber die Energie in ihrer Summe erhalten bleibt.85Physiologische Muskeln sind für dieses physikalische Grundprinzip, das natürlich nicht nur in Muskeln, sondern auf dem ganzen Planeten gilt, hervorragende Beispiele. Denn Muskelenergie ist nichts anderes als die Umwandlung von durch die Nahrung aufgenommener, chemischer „Energie“ in Bewegung, Wärme und, in geringerem Maße, elektrochemische Energie. Helmholtz schreibt an einer späteren Stelle („Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft“): In der That finden wir aber keine Spur davon, dass die lebenden Organismen irgend welches Quantum Arbeit ohne entsprechenden Verbrauch erzeugen könnten. […] Die Thiere, wie die Maschinen, können sich bewegen und arbeiten, nur wenn sie fortdauernd Brennmaterial, nämlich Nahrungsmittel, und sauerstoffhaltige Luft zugeführt erhalten; beide geben die aufgenommenen Stoffe in verbranntem Zustand wieder aus, und beide erzeugen Wärme und Arbeit.86 83 Meulders, Michel: Helmholtz, S. 64-65 84 Meulders, Michel: Helmholtz, S. 66 85 Heideklang, Julia: De fabrica systematis, S. 32 86 Ruoff, Michael: Hermann von Helmholtz, S. 43 24 Physiologie und Physik bilden demnach ein Kontinuum. Wo der menschliche Körper „Arbeit“ verrichtet, da verbraucht er Energie. Die Tiere, wie die Maschinen, sind generellen physikalischen Zusammenhängen unterworfen, d.h. physiologische Gesetzmäßigkeiten sind selbstverständlich in physikalische Gesetzmäßigkeiten integrierbar. Ohne Nahrung und Luft findet jedes Leben und wohl auch das seelische Leben, bald sein Ende. Der menschliche Körper (und irgendwie wohl auch die menschliche Seele) sind in die physikalisch-chemischen Gesetzmäßigkeiten verstrickt. Nach dieser wissenschaftlichen Meisterleistung, d.h. nach der Veröffentlichung des Traktats Über die Erhaltung der Kraft, mit dem sich Helmholtz in die Geschichte der Physik einschreibt, wird er als anerkannter Spitzenforscher aus dem Militärdienst in Berlin entlassen. Er heiratet seine Geliebte Olga von Velten und wird 1849 von Berlin nach Königsberg an den Lehrstuhl für Physiologie berufen. Er beerbt dort seinen Freund Ernst Brücke, der, wie bereits erwähnt, in der Zwischenzeit nach Wien berufen worden war (um in Wien Sigmund Freuds Lehrer zu werden). Königsberg, das heutige Kaliningrad, ist ein klingender Name innerhalb der preußischen Universitätslandschaft, denn Königsberg ist die Stadt des berühmtesten aller deutschen Philosophen, Immanuel Kant. Helmholtz ist eng vertraut mit der Philosophie Immanuel Kants und von ihr beeinflusst. Für die Geschichte der Naturwissenschaften und insbesondere für die Geschichte der Psychologie (vor allem im deutschsprachigen Raum) liefert die Philosophie Immanuel Kants einen schwierigen und komplexen Impuls. Ich möchte diese Komplexität Kants im Rahmen unserer Geschichte der Psychologie möglichst kurz skizzieren (man könnte hier recht ausführlich werden): Einerseits ist Kant für die (deutschsprachige) Geschichte der Psychologie bedeutsam, weil er (paradoxerweise) die Möglichkeit einer Naturwissenschaft der Psychologie ausschließt. Eine irgendwie „empirische Seelenlehre“, so Kant, „muß […] jederzeit von dem Range einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft entfernt bleiben“ 87. Psychologie kann für Kant niemals eine ernstzunehmende Naturwissenschaft werden und er liefert dafür drei Gründe: erstens weil die Mathematik auf die Phänomene der Seele nicht anwendbar ist (und eine mathematische Behandlung oder Beschreibung der Phänomene ist Grundvoraussetzung jeder Naturwissenschaft); zweitens weil wir das Mannigfaltige, das sich der inneren Beobachtung darbietet, nicht objektiv auseinanderklauben, festhalten und darstellen können (man kann z.B. nicht diesen Gedanken X oder dieses Gefühl Y dingfest machen, es isolieren und anderen zeigen); drittens kann Psychologie niemals eine Naturwissenschaft werden, weil sie im Akt der Beobachtung notgedrungen den Zustand des beobachteten Gegenstandes verzerrt (Psychologie kann sich der Methode namens „Beobachtung“ nicht bedienen, weil die Haltung des Von- Außen-Drauf-Schauens kann sie niemals ohne Verzerrung einnehmen; doch just das ist das Um- und-Auf einer „empirischen Wissenschaft“). Soweit in aller Kürze Kants kritische Einwände gegen die Möglichkeiten einer Naturwissenschaft der Psychologie. Andererseits wird Kant aber trotz seiner Ablehnung einer Naturwissenschaft namens Psychologie für das, was wir (grob gesprochen) die „Kognitive Psychologie“ nennen könnten, nachgerade zum Ahnherrn und Gründungsvater. Warum? Weil Kant im Rahmen seiner Kritik der reinen Vernunft mit rein philosophischen Mitteln nachweist, dass der menschliche Verstand nach spezifischen Anschauungsformen und Denkkategorien funktioniert und dass wir nicht 87 Kant, Immanuel: Schriften zur Naturphilosophie. Werkausgabe Band IX. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2017 [13. Auflage], S. 15 25 anders können, als die Welt innerhalb dieser spezifischen, kognitiven Grenzen zu rezipieren. Im menschlichen Verstand sind kognitive Rezeptionsformen der Welt angelegt, die wir nicht hintergehen können. Sie gehören gewissermaßen zu unserer kognitiven Ausstattung, oder in vollkommen unkantischer und etwas modischer Formulierung: Unser Verstand ist von Geburt an, noch vor jeder eingesammelten Lebenserfahrung, ge-biased. Und welche sind diese kantische biases innerhalb unseres Denkens in aller Kürze? Bekanntlich sind laut Kant in uns apriorische, d.h. vor jeder Erfahrung liegende, Anschauungsformen („Raum und Zeit“) und apriorische Verstandesbegriffe oder Kategorien („Quantität, Qualität, Relation und Modalität“) angelegt. Einerseits können wir nicht anders, als jedweden kognitiven Inhalt irgendwie räumlich und zeitlich zu fassen. Andererseits erfasst jeder Denk-Akt in uns seinen Inhalt entlang der abstrakten Grundkategorien des Wie-viel/Wie groß ist etwas? (Quantität), Was ist etwas? (Qualität), Mit was ist etwas verbunden? (Relation) und Ist es? Ist es nicht? Ist es möglich? (Modalität). Soweit in aller Kürze Kants komplexer Beitrag zur Geschichte der Psychologie. Zu den vielen Schwierigkeiten der Kantischen Philosophie gehören seine abstrakten Begriffe „Vernunft“ und „Verstand“. Was ist denn eigentlich der Verstand? Und was sollen wir uns unter der Vernunft vorstellen? Was ist konkret damit gemeint? Sowohl der Kantische Verstand als auch die Kantische Vernunft erscheinen als metaphysische Konzepte, deren ontologischer Status unklar bleibt. Meint Kant mit dem Verstand die Tätigkeit des Denkens oder gar das Gehirn? Aber was ist das Denken in Anbetracht eines leibhaftigen Menschen? Wie ist das Denken mit dem leibhaftigen Menschen verbunden? Genau an dieser Stelle tritt nun Helmholtz auf den Plan und sorgt

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