Einführung in die Psychologie: Geschichte, Grundlagen & Abgrenzung PDF

Summary

Dieser Studienbrief bietet eine Einführung in die Psychologie. Er behandelt die Entstehungsgeschichte, grundlegende Begriffe, theoretische Ansätze und Teildisziplinen der Psychologie, sowie Methoden. Der Studienbrief erörtert zudem die Bedeutung der Psychologie in Wirtschaft und Gesellschaft.

Full Transcript

ST U D I E N M AT E R I A L Einführung in die Psychologie Geschichte, Grundlagen und PSY211 Abgrenzung der Psychologie Dr. Carsten Wittling Flexibel, individuell und effizient zum Abschluss. ...

ST U D I E N M AT E R I A L Einführung in die Psychologie Geschichte, Grundlagen und PSY211 Abgrenzung der Psychologie Dr. Carsten Wittling Flexibel, individuell und effizient zum Abschluss. 1 Einführung in die Psychologie Geschichte, Grundlagen und Abgrenzung der Psychologie Einleitung und Lernziele 3 1 Entstehungsgeschichte der Psychologie 5 1.1 Epochale Meilensteine der Psychologie bis Ende des 18. Jahrhunderts 5 1.2 Strömungen, Richtungen und Schulen im 19. und 20. Jahrhundert 6 2 Psychologie als Wissenschaft 10 2.1 Relevante Begriffsbestimmungen in der Psychologie 10 2.2 Ziele und Gegenstandbereiche der Psychologie 11 2.3 Theoretische Ansätze der Psychologie 13 2.4 Teildisziplinen der Psychologie 20 2.4.1 Biologische Psychologie 22 2.4.2 Persönlichkeitspsychologie 24 2.4.3 Entwicklungspsychologie 25 2.4.4 Sozialpsychologie 27 2.4.5 Wirtschaftspsychologie 30 2.4.6 Klinische Psychologie 32 2.5 Abgrenzung der Psychologie zu artverwandten Disziplinen 34 2.6 Die ökonomische und gesellschaftliche Bedeutung der Psychologie heute 35 3 Methoden in der Psychologie 39 3.1 Qualitative Methoden 42 3.2 Quantitative Methoden 46 3.3 Mixed Methods 51 4 Studium der Psychologie 55 4.1 Studienangebote 55 4.2 Aufbau und Inhalte des Studiums 56 4.3 Berufsfelder und -perspektiven 57 5 Berufs- und Fachverbände der Psychologie 59 5.1 National 59 5.2 International 60 Zusammenfassung 63 Antworten zu den Kontrollfragen 66 Quellenverzeichnis 69 Inhaltsverzeichnis å PSY211 2 Copyright AKAD Bildungs- gesellschaft mbH Telefon: (07 11) 8 14 95 - 0 Internet: www.akad.de Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der AKAD unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Inhaltsverzeichnis å PSY211 3 Einleitung und Lernziele Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne … … heißt es in einem Gedicht von Hermann Hesse. Auch Sie, liebe Studierenden, stehen am Anfang der Auseinandersetzung mit der Psychologie und werden sich innerhalb relativ kurzer Zeit ein profundes Wissen zu einem bis dato unbekannten Fach erarbei- ten. Der Zauber besteht für mich darin, Sie einen Teil des Weges zu begleiten und Ihnen mit dem vorliegenden Studienbrief ein Grundgerüst zu Ihrem persönlichen Einstieg anzubieten. Doch wie kann man einer ‚Einführung’ in ein komplexes Fach wie das der Psychologie gerecht werden? Und wie lässt sich der Einstieg optimal vermitteln? Eine thematische Einführung bewegt sich stets zwischen dem Wunsch, allen relevanten Themen Raum zu geben und dem Anspruch einer tiefgründigen Auseinandersetzung. Beide Aspekte zu vereinen und jedes fachliche Detail in gleicher Tiefe darzustellen, ist nur schwerlich möglich und auch nicht sinnvoll. Üblicherweise werden Schwerpunkte gesetzt und somit inhaltliche Einbußen in Kauf genommen werden. In diesem Sinne stellt der vorliegende Studienbrief wie viele Einführungsschriften einen Kompromiss dar. Er ist der Versuch, sich den Gegenständen aus einer Vogelperspektive zu nähern, bei der die Distanz punktuell für einen tieferen Zugang verringert wird und Sie auf diese Weise Schritt für Schritte ein umfassendes Bild der Psychologie erhalten. Beispielsweise gebe ich Ihnen in Kapitel 3 einen Überblick über quantitative und quali- tative Erhebungs- und Auswertungsmethoden sowie Forschungsdesigns. Einen vertief- ten Einblick in diese drei Kategorien erhalten Sie jeweils auf Basis eines exemplarisch vorgestellten Verfahrens. Unterstützt wird Ihr Lernerfolg durch Kontrollfragen, die Sie jeweils am Ende der Hauptkapitel finden. Bei dem vorliegenden Studienbrief können Sie sich also auf ein breites Themenspekt- rum freuen, mit dessen Lektüre Sie die folgenden Kompetenzen erwerben: P Sie kennen die historische Entwicklung der Psychologie seit der Antike und können ihre gegenwärtige gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung einordnen. P Sie können darlegen, was die Psychologie als empirische Wissenschaft kennzeichnet und sind mit grundlegenden Fachtermini vertraut. P Sie können die klassischen Paradigmen der Psychologie erläutern. P Mit den Charakteristika und Besonderheiten psychologischer Teildisziplinen sind Sie vertraut und können diese gegen artverwandte Disziplinen abgrenzen. P Sie kennen die Grundlagen qualitativer und quantitativer Methoden und wissen, was sich hinter Mixed Methods verbirgt. P Aspekte einer Karriere im Bereich der Psychologie beginnend bei der Struktur des Studiums bis zu potenziellen Berufsfeldern sind Ihnen klar. P Sie kennen nationale und internationale psychologische Berufs- und Fachverbände. Einleitung/Lernziele å PSY211 4 Der Studienbrief gliedert sich in fünf Kapitel: 1) Entstehungsgeschichte der Psychologie: In diesem einleitenden Kapitel stellen die Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert einen Schwerpunkt dar. 2) Psychologie als Wissenschaft: Dieses Kapitel stellt das Herzstück des Studienbriefs dar und behandelt neben den Zielen und Grundbegriffen der Psychologie auch die theoretischen Ansätze sowie die psychologischen Teildisziplinen. Hier erfahren Sie zudem, welche ökonomische und gesellschaftliche Bedeutung der Psychologie zukommt und wie sie sich von anderen, artverwandten Disziplinen abgrenzen lässt. 3) Methoden in der Psychologie: Nach einer Einführung in methodische Begrifflichkei- ten erhalten Sie in diesem Kapitel einen Überblick über quantitative und qualitative Methoden und Forschungsdesigns sowie Mixed Methods. 4) Studium der Psychologie: Studienangebote, Struktur eines Studiums und berufliche Perspektiven und Tätigkeitsfelder sind Gegenstand dieses Kapitels. 5) Berufs- und Fachverbände der Psychologie: In diesem abschließenden Kapitel lernen Sie die wichtigsten nationalen und internationalen Verbände kennen. Ein letzter Hinweis betrifft die Verwendung gendergerechter Sprache: Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Studienbrief ausschließlich die männliche Form verwendet. Damit sind alle anderen Formen gleichermaßen mitgemeint. Hinweis Aus Gründen der Stilistik und der Lesefreundlichkeit stehen Personalpronomen und all- gemeine Ausdrücke für Frauen, Männer und andere. Das grammatische Geschlecht spiegelt nicht das biologische oder soziale wider. Über den Autor dieses Studienbriefs Dr. CARSTEN WITTLING hat Prävention und Gesundheitsmanagement mit Schwerpunkt Sportpsychologie studiert, in Public Health promoviert und diverse Coaching-Ausbil- dungen belegt. Seine Erfahrungen basieren auf verschiedenen Engagements an privaten Hochschulen sowie institutionellen Einrichtungen der Erwachsenenbildung ebenso wie Tätigkeiten als Führungskräftecoach. Seit mehr als 10 Jahren ist Dr. CARSTEN WITT- LING Inhaber von Prorsus Digital, einer nach DIN EN ISO 9001:2015 zertifizierten Agentur für die Erstellung von Lehr- und Lernmaterial für Hochschulen. Neben seiner Funktion als Geschäftsführer ist er selbst als wissenschaftlicher Autor tätig mit Schwer- punkt Gesundheits- und Sportmanagement, Psychologie und diversen anderen Fachbe- reichen mit Schwerpunkt Management. Dr. CARSTEN W ITTLING lebt in Frankfurt und ist verheiratet. Einleitung/Lernziele å PSY211 5 1 Entstehungsgeschichte der Psychologie In vielen psychologischen Lehrbüchern beginnen die Ausführungen zur Entstehungs- geschichte der Psychologie mit den Worten von Hermann Ebbinghaus (1850–1909): „Die Psychologie hat zwar eine lange Vergangenheit, aber eine kurze Geschichte.“ lange Vergangenheit , (Gerrig, 2018, S. 8) kurze Geschichte Was brachte Ebbinghaus mit dieser Aussage zum Ausdruck? Ebbinghaus beschreibt damit die Situation der Psychologie, die sich erst um die Jahrtau- sendwende zur eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin entwickelte, deren Wurzeln Wurzeln in Philoso- aber bis in die philosophischen Schulen der Antike zurückreichen. (vgl. Baumgartner, phie der Antike 2015, S.15). 1.1 Epochale Meilensteine der Psychologie bis Ende des 18. Jahrhunderts Die Philosophie beschäftigte sich bereits seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. mit Fragen zum menschlichen Denken und dessen Übereinstimmung mit der Realität (vgl. Baumgartner, 2015, S. 15). In den Arbeiten des Sokrates (469–399 v. Chr.) steht der dynamische Prozess der Erkenntnisgewinnung durch Fragen, Antworten, weitere Fragen und weitere Antworten Sokrates Weiterent- : im Zentrum. Diese auch als sokratischer Dialog bekannte Technik der Gesprächsfüh- rung ist ein kreativer Prozess zur Veränderung und Umstrukturierung des Denkens und wicklung durch sohvar Fühlens. Er fördert beim befragten Individuum eine geistig-seelische Weiterentwick- tischen Dialog lung, die mit der Vermehrung des individuellen Wissens einhergeht (vgl. Reuter, 2014, S. 32–33). Bei Sokrates’ Schüler Platon (427–347 v. Chr.) nimmt die Idee der Vermehrung des Wissens andere Züge an. Platon postulierte, dass die ideelle und materielle Welt in einem Platon ideelle & : Abbildungsverhältnis zueinanderstehen, und Erkenntnisgewinn bedeutet in diesem materielle Welt Zusammenhang, Zugang zur ideellen Welt zu gewinnen (vgl. Reuter, 2014, S. 34–35). Aristoteles (384–322 v. Chr.), ein Schüler Platons, beeinflusste mit seiner Schrift „Über die Seele“ die Psychologie bis in die Neuzeit. In dieser versteht er die Seele (= Psyche) Aristoteles Seele : als dreifach wirkendes Prinzip, das in eine Vitalseele (belebend, ernährend), Animal- als dreifach wirkendes seele (empfindend, fühlend, sinnlich begehrend) und Geistseele (denkend und wollend) Prinzip differenziert werden kann. Diese Einteilung hat die Psychologie lange Zeit geprägt und ist auch heute noch über die Klassifikation der psychologischen Prozesse in Motivation, Emotion und Kognition in der allgemeinen Psychologie anzutreffen (vgl. Baumgartner, 2015, S. 16). Aber nicht nur im Abendland existierten Lehren zur Psyche des Menschen, sondern auch in Asien, Indien und China innerhalb des Buddhismus, Taoismus und Konfuzia- nismus. Sie dienten der Lebensführung und fanden als Techniken der Entspannung und Meditation ihre Bedeutung (vgl. Baumgartner, 2015, S. 16). Im Zuge der Christianisierung des Abendlandes wurden die Lehren der altgriechischen Philosophen zur Seele des Menschen unter dem Einfluss des christlichen Glaubens Kapitel 1 å PSY211 6 gesehen. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Augustinus (354–430 n.Chr.). Er verstand Seele unter Einfluss die Seele als göttliche Eingebung, die nicht zum Körper gehört, aber von ihm und sei- christl Glaubens. nen Bedürfnissen beeinflusst wird. Thomas von Aquin (1225–1274) formte die Psycho- logie von Augustinus weiter aus. Ihn interessierten dabei vor allem die Fragen, wie und über welche Verknüpfungen Körper und Seele miteinander interagieren und ob jeder Teil des Körpers auch beseelt sei. Seiner Auffassung nach waren Körper und Seele nicht als getrennte, sondern als eine geistseelische Einheit aufzufassen. Dieses Ver- ständnis beeinflusste die Entwicklung des weiteren psychologischen Diskurses (vgl. Reuter, 2014, S. 53; Baumgartner, 2015, S. 17). Gegen Ende des Mittelalters entwickelte sich die Auffassung, dass der Mensch ein Mittelalter Selbstbestim : Individuum eigener Möglichkeiten sei, was Verantwortung und Willen betrifft. Selbstbestimmung avancierte zu einem wichtigen Merkmal, um den Menschen und sein mung Handeln zu beschreiben (vgl. Reuter, 2014, S. 58). Damit wurde der Übergang zur Renaissance : ganzheit Renaissance eingeleitet, in der nun der ganze und nicht mehr nur der dualistische liches Wesen Mensch (Differenzierung von Körper und Geist) im Mittelpunkt des psychologischen Interesses stand. Gelehrte Ärzte wie Paracelsus (1493–1541) und Philosophen verfass- ten Abhandlungen, die den Menschen als ganzheitliches Wesen betrachten und zu ver- stehen suchten. Gleichzeitig war die Renaissance eine Epoche, die von politischen, ökonomischen und intellektuelle Zeit wissenschaftlichen Umbrüchen gekennzeichnet war. Beispiele hierfür sind die Ein- führung der Geldwirtschaft und der Vormarsch der Naturwissenschaften, welche Europa in die bedeutende Phase der Aufklärung brachten. Ein neues Menschenbild mit Blick auf Erfahrung und Verstand entstand. Hierbei gewann insbesondere der Intellekt, der durch Erfahrung, Nachdenken und Lernen gebildet wird, an Interesse (vgl. Reuter, 2014, S. 81; Baumgartner, 2015, S. 19). Philosophen wie Locke (1632–1704), Kant (1724–1804) und Hume (1711–1776) in dieser Zeit waren die geistigen Wegbereiter wichtiger Denkströmungen, die im 19. und 20. Jahrhundert Psychologie und Philoso- phie beeinflussten (vgl. Gerrig, 2018, S. 8). 1.2 Strömungen, Richtungen und Schulen im 19. und 20. Jahrhundert Eine entscheidende Persönlichkeit für die Entwicklung der Psychologie, wie sie sich Darwin Mensch als : heute darstellt, war Darwin (1809–1882). Darwin verstand den Menschen als ein Natur- Naturwesen wesen, das sich aus verschiedenen Urformen heraus entwickelt hat und dessen Funktio- nen, Reaktionen und Erlebnisweisen mit naturwissenschaftlichen Methoden erfassbar seien. Damit wurden die Entwicklung des Menschen und seine seelische Existenz als göttlicher Schöpfungsakt zunehmend aufgebrochen (vgl. Baumgartner, 2015, S. 19; Maderthaner, 2017, S. 20). Wundt (1832–1920) gilt als Pionier der akademischen Psychologie und Schöpfer einer Wundt : Pionier der eigenständige psychologischen Wissenschaftsdiziplin. Er gründete 1879 als Professor akad. Psychologie für Philosophie an der Universität Leipzig das erste ausgewiesene Institut für experi- mentelle Psychologie (vgl. Lück, 2015, S. 38; Gerrig, 2018, S. 8). Nach diesem Vorbild wurden auch an anderen Universitäten wie zum Beispiel der Harvard University in Cambridge, Massachusetts und die Sorbonne in Paris Institute der experimentellen Psy- chologie eingerichtet. Wundt beschäftigte sich in seinen Arbeiten hauptsächlich mit der Erforschung der Wahrnehmungsphysiologie anhand empirisch-experimenteller Verfah- Kapitel 1 å PSY211 7 ren. Er interpretierte dabei die Psychologie als neue Disziplin der Naturforschung, Disziplin der Natur indem er Elemente der Experimentalphysik, experimentellen Physiologie und ange- wandten Mathematik unter Beibehaltung eines wissenschaftlichen Ansatzes zusammen- forschung fügte. Im weiteren Verlauf etablierten sich die Statistik sowie später die empirische Sozialforschung als methodische Disziplinen in der Psychologie (vgl. Reuter, 2014, S. 137–139; Baumgartner, 2015, S. 19). Erste Differenzierungen in den Theorien und Forschungsparadigmen gegenüber Wundts naturwissenschaftlich orientierter Psychologie kamen durch die Würzburger Erste Differenzierungen Schulen auf (vgl. Reuter, 2014, S. 154). Ihre Vertreter nahmen in ihren experimentellen psychische Elemente Forschungen auch die Untersuchung psychischer Elemente mit auf. Einer der herausra- in experimentellen genden Forscher diesbezüglich war Karl Bühler (1879–1963). Er ging dabei der Frage nach, was Menschen erleben, wenn sie denken, indem er seine „Versuchspersonen Forschungen anwies, in Selbstbeobachtung ihre Erlebnisse während der Lösung von Denkaufgaben Karl Bühler genau zu beschreiben“. (Baumgartner, 2015, S. 19) Neben der Schule von Wundt und der Würzburger Schule war die Gestaltpsychologie die dritte bedeutsame Schule Ende des 19. Jahrhundert. Ihr Ausgangspunkt waren wahrneh- Gestaltpsychologie mungspsychologische Untersuchungen und die Untersuchung sog. Denkgestalten, die als Ganzes = Summe seiner das Ganze oder die Gestalt bezeichnet wurden. Eine der Hauptannahmen ist, Teile dass das Ganze die Summe seiner Teile sei. Führende Vertreter der Gestaltpsychologie sind Namen wie von Ehrenfels (1859–1932), Wertheimer (1880–1943), Koffka Transponierbarkeit & (1886–1941) und Köhler (1887–1967). Charakterisiert wurde das Prinzip der Gestaltpsy- Übersummativität chologie von von Ehrenfels (1859–1932), einem österreichischen Philosophen, anhand der Merkmale Transponierbarkeit und Übersummativität. Zum besseren Verständnis ver- wies er dabei auf einzelne Töne, die in einer bestimmten Abfolge eine Melodie ergeben, was etwas Neues bedeutet (= Übersummativität). Wird die Melodie in einer höheren oder tieferen Tonart gespielt, bleibt die Melodie erhalten (= Transponierbarkeit). in In den Arbeiten von von Ehrenfels, Wertheimer, Koffka und Köhler zum Denken in Gestalten und Ganzheiten erhielt die Psychologie neue Impulse. Bedeutsam in diesem Denkgestalten Zusammenhang sind die Erkenntnisse, dass Denkgestalten in einem Feld (= eine Umge- Umwelt eingebettet bung) eingebettet sind, welches die Wahrnehmung beeinflusst. Daraus schlossen die Forscher, dass Problemlösen, Denken und Lernen Produkte einer Umstrukturierung der Umgebung sind. Diesbezüglich zeigte Köhler in Experimenten mit Affen, dass diese Gegenstände in ihrer Umgebung als Hilfsmittel benutzten, um an Futter zu gelangen. In anderen Worten ausgedrückt, strukturierten die Affen das Feld im Sinne einer Lösung um (vgl. Baumgartner, 2015, S. 19; Lück. 2015, S. 40). Neben der auf das Denken und Wahrnehmen ausgerichteten Gestaltpsychologie etab- lierte sich Ende des 19. Jahrhunderts und in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts mit Behaviorismus Konditioniereeniner dem Behaviorismus eine psychologische Richtung, deren Ziel die wissenschaftliche Paulow Klassisches : Untersuchung beobachtbarer Verhaltensmuster durch Reiz-Reaktionsverbindungen war. Pionierarbeit leistete Iwan Pawlow (1849–1936) mit dem Klassischen Konditionieren. Die Hauptthese dabei war, dass Menschen fast vollständig durch Stimuli aus der Umwelt gesteuert und Verhalten in diesem Zusammenhang erlernt, aber auch wieder verlernt werden kann. Die bekanntesten Behavioristen in dieser Zeit waren Watson (1878–1958) und Skinner (1904–1990) (vgl. Lück, 2015, S. 43). Watson untersuchte in einem umstrit- tenen Experiment anhand der Pawlowschen Konditionierungstechnik die Erzeugung einer Phobie bei einem 11 Monate alten Kleinkind Namens Albert. Der Junge wurde durch einen Schlag mit einem Hammer auf eine Eisenstange und dem damit einherge- henden lauten Geräusch in eine Angstreaktion versetzt. Als konditionierende Reiz wurde Kapitel 1 å PSY211 8 eine weiße Ratte gewählt, vor der Albert vor Beginn des Experimentes keine Angst hatte und die er sogar streichelte. Danach begannen die Konditionierungsphasen, in denen immer dann, wenn Albert die Ratte zu streicheln versuchte, Watson mit dem Hammer auf die Eisenstange schlug, um bei dem Jungen eine Angstreaktion auszulösen. Schon nach kurzer Zeit reagierte Albert auch ohne das laute Geräusch ängstlich auf weiße Rat- ten (vgl. Meyers, 2014, S. 292; Schönpflug, 2013, S. 298). In der Folgezeit entwickelten Anhänger des Behaviorismus das Reiz-Reaktionsschema Weiterentwicklung weiter und integrierten in das erfolgreiche Lernen von Verhaltensweisen positive Ver- Reiz-Reaktionsschema stärker (vgl. Lück, 2015, S. 43). In diesem Zusammenhang machte insbesondere B. F. Skinner (1904–1990) auf sich aufmerksam. Er entwickelte eine neue Lerntheorien, in positive/negative deren Mittelpunkt das operante Verhalten (Verhalten als Mittel zum Zweck) und das Verstärker operante Konditionieren (Lernen als Kopplung von Verhalten an Reize) standen (vgl. Schönpflug, 2013, S. 302). Reize, die im zeitlichen Kontext eines Verhaltens anschlie- ßen, nannte Skinner bekräftigend bzw. verstärkend. Er unterschied jedoch zwischen positiv und negativ verstärkend. „Positiv heißt eine Bekräftigung, wenn sie angenehme Reize verschafft (z. B. Nahrung bei Hunger), negativ heißt eine Bekräftigung, wenn sie unangenehme Reize beseitigt (z. B. Schmerz beendet).“ (Schönpflug, 2013, S. 302). Nahezu zur gleichen Zeit wie der Behaviorismus entstand mit der Psychoanalyse eine wei- Psychoanalyse tere psychologische Hauptströmung als Disziplin der Tiefenpsychologie. Gegenstand der Psychoanalyse war das Untersuchen der gegenwärtigen geistigen und emotionalen Ent- ↳ Freud wicklung eines Menschen und seines Verhaltens auf der unbewussten wie auch bewussten Individualpsychologie ↳ Adler Ebene unter den Einflüssen der Erlebnisse aus der Vergangenheit (vgl. Myers, 2014, S. 5). Freud (1856–1939) war geistiger Vater der Psychoanalyse und der Persönlichkeitstheorie des Es, Ich und Über-Ich. Da diese Theorie neben anderen Arbeiten Freuds auch viele spe- analytische Psycholo- kulative Elemente enthielt, distanzierten sich einige seiner Wegbegleiter von ihm. Unter gie-Jung anderem auch Adler (1870–1937) und Jung (1875–1961). Adler gründete in der Folge mit der Individualpsychologie und Jung mit der analytischen Psychologie jeweils eine weitere tiefenpsychologische Schule (vgl. Reuter, 2014, S. 176; Lück, 2015, S. 44). Nationalsozialismus Die Machergreifung der Nationalsozialisten bedeutete für die deutsche Psychologie verheerende Einschnitte. Etwa ein Drittel der Psychologieprofessoren mussten ihre =Stillstand für Lehrstühle räumen. Die meisten davon emigrierten in die USA, einige flohen nach Psychologie in DE Schweden, in die Türkei oder nach Südamerika. Infolgedessen kam die psychologische Forschung zum Erliegen, und dieser Stillstand setzte sich trotz Wiedereröffnung der > - Flucht Universitäten nach Kriegsende bis Anfang der fünfziger Jahre fort (vgl. Baumgartner, 2015, S. 21). Zu diesem Zeitpunkt schlossen sich in den USA einige Psychologen und in USA : humanis Psychotherapeuten zusammen, die sich als humanistische Psychologen bezeichneten. tische Psychologen „Aus der humanistischen Psychologie sind einige Richtungen der Psychotherapie her- vorgegangen, u.a. die Personzentrierte Psychotherapie von Carl R. Rogers und die Gestalttherapie von Frederic Perls“. (Lück, 2015, S. 44). 60er Neuorientierung In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts kam es zu einer Neuorientierung in der Psychologie, die als kognitive Wende bezeichnet wird. In den Fokus der Kognitions- Wende = hognitive psychologie rückten dabei die auf komplexe Art und Weise organisierten psychischen Mechanismen und Prozesse des menschlichen Denkens. Hierzu sagt Gerrig (2018, Kognitionspsychologie S. 15), dass Personen aus Sicht der Kognitionspsychologie handeln, „weil sie biologische Psychologie (nach)denken und weil sie als menschliche Wesen mit der herausragenden Fähigkeit des Denkens ausgestattet sind.“ Neben der Kognitionspsychologie etablierten sich im wei- Neuropsychologie teren Verlauf des alten Jahrtausends die biologische Psychologie und die Neuropsycho- logie als weitere Disziplinen der Psychologie. Kapitel 1 å PSY211 9 Die Psychologie kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Bereits in der Antike begannen die ersten Philosophen, sich mit Themen zur Seele und Wissens- vermehrung auseinanderzusetzen. Im Rahmen der Christianisierung erweiterte sich der Diskurs auf die Interaktion von Körper und Seele und mündete im Mittelalter in einem ganzheitlichen Menschenbild. Verschiedene Philosophen der Renaissance, die durch ihre Forschungsarbeiten zum Intellekt ein weiteres Menschenbild schufen, waren zugleich geistige Wegbereiter für psychologische Strömungen im 19. und 20. Jahrhundert. Den ersten entscheidenden Einfluss schuf Darwin mit seinen Ansichten zur Evolution des Menschen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts legte Wundt mit Gründung seines Institutes für experimentelle Psychologie und For- schungen zur Wahrnehmungsphysiologie anhand empirisch-experimenteller Verfah- ren den Grundstein für die Akademisierung der Psychologie. Neben der Wahrneh- mungspsychologie sorgte die Gestaltpsychologie mit ihrer Ausrichtung auf Denken und Wahrnehmen für eine weitere Differenzierung. Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte sich mit dem Behaviorismus eine psychologi- sche Richtung, deren Ziel die wissenschaftliche Untersuchung beobachtbarer Ver- haltensmuster war. Nahezu zur gleichen Zeit entstand mit der Psychoanalyse eine weitere psychologische Hauptströmung als Disziplin der Tiefenpsychologie. In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts kam es in der Psychologie mit der Kognitions- psychologie zu einer Neuorientierung. In den Fokus rückten dabei die auf komplexe Art und Weise organisierten psychischen Mechanismen und Prozesse des menschli- chen Denkens. Welche Philosophen der Antike interessierten sich erstmals nachweislich für psycho- K logischen Themen? Welches Menschenbild war kennzeichnend für die Renaissance? K Inwiefern gilt Wundt als Pionier der akademischen Psychologie? K Mit welchem Forschungsgegenstand setzte sich Bühler auseinander? K Was kennzeichnet die kognitive Wende? K Kapitel 1 å PSY211 10 2 Psychologie als Wissenschaft Psychologie ist Gegenstand unseres täglichen Lebens. Wir sind mit dem starken Bestre- ben ausgestattet, unser eigenes sowie das Verhalten unserer Mitmenschen besser zu ver- stehen. Dabei greifen wir als Laien u.a. auf unsere Erfahrungen und Intuition sowie Rat- schläge und Volksweisheiten zurück. Zudem erfreuen sich Expertenbeiträge in Medien wie Zeitschriften oder Talkshows großer Beliebtheit. Dass viele Menschen das Interesse am menschlichen Verhalten teilen, zeigt auch der gegenwärtige Hype um das „True Crime“-Genre der Podcast-Landschaft: Wir möchten ergründen, worin das ‚Mörderi- scheʻ im Menschen besteht und unter welchen Umständen es ans Tageslicht kommt. Wie Sie im vorangegangenen Kapitel gelernt haben, ist das Bedürfnis, die menschliche Psyche zu verstehen, kein modernes Phänomen, sondern steht seit der Antike im Inter- esse der Wissenschaft. Ziel dieses Kapitels ist es u.a., Ihnen die deutliche Trennlinie zwischen Alltagspsychologie und der Psychologie als Wissenschaft aufzuzeigen. Was sind die Ziele wissenschaftlich betriebener Psychologie? Welche Spezialisierungen bestehen? Mit welchen theoretischen Ansätzen lässt sich menschliches Verhalten erklä- ren? Auf diese und weitere Fragen werden Sie nach der Lektüre des zweiten Kapitels eine Antwort haben. Wie jede andere Wissenschaft unterliegt auch die Psychologie einer ständigen Weiter- entwicklung. Welchen Stellenwert sie gegenwärtig in unserer Gesellschaft hat, lernen Sie in Kapitel 2.6. Zunächst wollen wir uns ihrer Bedeutung als Wissenschaft über einige fundamentale Definitionen, ihre Ziele und Aufgaben nähern, bevor ich Ihnen in Kapitel 2.3 die sieben theoretischen Ansätze vorstelle. Diese Ansätze bzw. Paradigmen bestehen unabhängig von den zahlreichen Teildisziplinen, die Sie in Kapitel 2.4 ken- nenlernen werden. Wie sich die Psychologie von benachbarten Fachrichtungen wie bei- spielsweise der Soziologie abgrenzt, ist Gegenstand des Kapitel 2.5. 2.1 Relevante Begriffsbestimmungen in der Psychologie Psychologie, zusammengesetzt aus den griechischen Worten „psyche“ (Seele) und „lógos“ (Rede/Wort/Vernunft), ist die Wissenschaft von den Formen und Gesetzmäßigkeiten des Erlebens und Verhaltens von Individuen und Gruppen. Mittels wissenschaftlicher Methoden untersuchen Psychologen also Verhaltens- weisen sowie die geistigen und kognitiven Prozesse, die das Erleben möglich machen (Brockhausredaktion, o.J.–d, S. 2; Gerrig, 2018, S. 2). Unter Verhalten wird die Gesamtheit der Aktivitäten eines lebenden Organismus ver- standen. Aktivitäten wie beispielsweise sprechen, bewegen oder weinen haben die Verhalten Gemeinsamkeit, dass sie beobachtbar bzw. wahrnehmbar und messbar sind. Durch ein gezeigtes Verhalten ergibt sich für den Beobachter oftmals die einzige Möglichkeit, Hinweise auf das innere Erleben (Gedanken, Gefühle) eines Individuums zu bekom- men. Die zentrale Fragestellung lautet: Wie agiert ein Individuum in einer bestimmten Kapitel 2 å PSY211 11 Situation unter Berücksichtigung des sozialen und kulturellen Kontextes (Brockhaus- redaktion, o.J.; Gerrig, 2018, S. 3)? Kognition Kognition ist der „Sammelbegriff für alle Prozesse und Strukturen, die mit dem Wahr- nehmen und Erkennen zusammenhängen (Denken, Erinnerung, Vorstellen, Gedächtnis, Lernen, Planen u.a.).“ (Brockhausredaktion, o.J.) Diese kognitiven Prozesse und Struk- turen sind für den Beobachter zunächst verborgen. Erst durch die Anwendung psycho- logischer Techniken können die Ideen, Träume, Pläne etc. eines Individuums offenge- legt werden (vgl. Gerrig, 2018, S. 3). Um dem wissenschaftlichen Anspruch gerecht zu werden und sich dadurch von der All- tagspsychologie abzugrenzen, müssen in der Psychologie die Prinzipien der wissen- schaftlichen Methodik angewandt werden. Diese folgen einem bestimmten Regelwerk und Gütekriterien, die sicherstellen, dass die psychologischen Schlussfolgerungen auf möglichst objektiv erhobenen Informationen basieren (vgl. Gerrig, 2018, S. 2–3). Diese Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens werden uns in Kapitel 3 wieder begegnen. 2.2 Ziele und Gegenstandbereiche der Psychologie Psychologie als Wissenschaft zielt im Wesentlichen darauf ab, psychische Phänomene zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen und zu verändern. (vgl. Maderthaner, 2017, S. 30–34) Beschreiben Bei diesem Schritt geht es darum, Informationen bzw. Daten zu dem psychischen Phä- nomen zu erfassen, welches untersucht werden soll. Dabei gilt es, so genau wie mög- lich, systematisch und theoriegeleitet vorzugehen. Der Abbildung 1 können Sie Erhe- bungsverfahren entnehmen, die im Zuge der Beschreibung häufig Anwendung finden. Zu ihnen gehören u.a. Selbst- und Fremdbeobachtungen, Befragungen (Interviews), Experimente und Tests. Welches Verfahren gewählt wird, ist abhängig vom wissen- schaftlichen Fokus bzw. der Ausrichtung des Forschenden und dem Phänomen selbst. Im Fall quantitativer Daten müssen zudem statistische Anforderungen erfüllt sein. Eine grundlegende Herausforderung stellt das objektive Beschreiben dar – eines der Gütekri- terien der empirischen Datenerhebung, das uns spätestens in Kapitel 3 wieder begegnen wird (vgl. Gerrig, 2018, S. 4; Maderthaner, 2017, S. 31). Wenn Sie ein bestimmtes Kon- zept wie z. B. Schüchternheit untersuchen möchten, müssen Sie einen Weg finden, die- ses in Merkmale zu übersetzten, die beobachtbar und messbar sind. Dieses Vorgehen wird Operationalisierung genannt (vgl. Hussy et al., 2013, S. 12). Kapitel 2 å PSY211 12 Abbildung 1: Erhebungsverfahren. Selbst- und In Anlehnung an: Fremd- beobachtungen Maderthaner 2017, S. 30–31 Skalierungen (Semantisches Tests Differential bzw. Polaritätsprofil) Simulationen Nichtreaktive (z.B. Computer- Verfahren modelle (z.B. Archive) hirnelektrische Ableitungen Experimente (z.B. EEG) Messungen Befragungen (z.B. Reaktions- (Interviews) zeiten) Labordaten Inhalts- oder (z.B. blut- Textanalysen chemische Werte) (z.B. Tagebücher) Erklären Das Erklären von psychischen Phänomenen ist ein weiteres Ziel der Psychologie. Welche Faktoren beeinflussen menschliches Verhalten und Erleben? Psychologen berücksichti- gen bei der Beantwortung dieser Frage stets, dass mehrere Faktoren oder eine bestimmte Faktorenkombination unser Verhalten beeinflussen. Zu unterscheiden sind dabei äußere Faktoren wie Einflüsse unserer (sozialen) Umwelt und innere Faktoren (z. B. Intelligenz). Um diese Frage nach kausalen Zusammenhängen zu beantworten, können Hypothesen auf Basis bestehender Theorien oder Annahmen gebildet und im Laufe weiterer Untersu- chungen geprüft werden (vgl. Gerrig, 2018, S. 5; Maderthaner, 2017, S. 32). Vorhersagen „Vorhersagen sind in der Psychologie Aussagen über die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Verhalten auftreten wird oder ein bestimmter Zusammenhang nachge- wiesen werden kann.“ (Gerrig, 2018, S. 6) Wie ist das möglich? Mit dem Wissen über die Beschaffenheit psychischer Phänomene (z. B. Intelligenz- und Persönlichkeitsstruktur, Einstellungsprofil, etc.) und welchen Veränderungen und Abläufen sie unterliegen (z. B. geistige Entwicklung, Entstehung psychischer Störungen) können Vorhersagen getroffen werden. Dabei bestimmen die Güte der Theorien, die der Vorhersage zugrunde liegen, und die Qualität der genutzten mathematisch-statistischen Verfahren, wie erfolgreich die Prognose ist (vgl. Madertha- ner, 2017, S. 34). Kapitel 2 å PSY211 13 Verändern Dieses Ziel befasst sich damit, das Verhalten und Erleben durch Einflussnahme zu ver- ändern. Es handelt sich dabei um komplexe Vorgänge, die sich i.d.R. auf groß ange- legte Studien stützen, um sich so gegen Fehlinterpretationen und Misserfolge abzusi- chern. Die Möglichkeit der Einflussnahme reicht von der bloßen Beobachtung bis zu verschiedenen Therapieformen. Bei jeglicher Intervention durch einen Psychologen muss auch das soziale und physische Umfeld der betroffenen Person berücksichtigt werden (vgl. Maderthaner, 2017, S. 34–36). Gemäß Hussy et al. (2013, S. 19) können drei Arten der Veränderung unterschieden werden: P Korrektur: Aufhebung eines Zustandes, der als bedenklich oder abweichend bewertet wird P Förderung: Verbesserung bzw. Optimierung eines Zustands, der per se nicht proble- matisch ist P Prävention: Vorbeugen eines negativ bewerteten Zustands, der u.U. Risiken birgt Welches dieser vier Ziele (Beschreiben, Erklären, Vorhersagen, Verändern) kommt Ihrem ? persönlichen Ziel, das Sie mit dem Studium der Psychologie verfolgen, am nächsten? 2.3 Theoretische Ansätze der Psychologie Theoretische Konzepte der Psychologie, nach Thomas Kuhn auch Paradigmen genannt, sind Ihnen teilweise bereits im historischen Abriss in Kapitel 1.2 begegnet. In dem fol- genden Abschnitt lernen Sie diese im Detail kennen. Sieben verschiedene Ansätze oder Herangehensweisen können klassischerweise unterschieden werden. Auf ihre Basis ver- suchen Psychologen, Verhaltensweisen und psychische Phänomene zu erklären. Dabei grenzen sie sich u.a. durch ihre theoretische Ausrichtung und die angewandten Metho- den voneinander ab. Sie bestehen unabhängig von den zahlreichen Teildisziplinen der Psychologie, die ich Ihnen in Kapitel 2.4 vorstellen werde. (Siehe auch Tabelle 1.) Biologischer Ansatz Wann hatten Sie das letzte Mal den Eindruck, dass sich Ihre körperliche Verfassung auf ? ihr Verhalten auswirkt? Wie lange hat es gedauert, bis sich ihr Verhalten wieder ‚nor- malisiertʻ hat? Und unter welchen Umständen, denken Sie, könnten sich physische Aspekte dauerhaft auf das menschliche Erleben und Verhalten auswirken? Der biologische Ansatz erklärt „psychologische Phänomene hauptsächlich durch die Funktionsweise der Gene, des Gehirns, des Nervensystems oder anderer biologischer Psychologische Systeme“ (Maderthaner, 2017, S. 47). Eine zentrale Fragestellung ist beispielsweise, Phänomene erklär inwiefern unsere genetische Ausstattung im Zusammenspiel mit der Umwelt und der Psyche Unterschiede zwischen Individuen erklärt. Zur Erklärung wird hierfür das bar durch biologi Biopsychosoziale Modell (siehe Kapitel 2.4.3) herangezogen (vgl. Myers, 2014, sche Funktionen S. 8–10). Doch auch abseits des Fokus auf die genetische Veranlagung werden Erklä- rungsansätze gesucht. Neben genetischen Erklärungsmodellen stehen auch Mechanis- men des gesamten Zentralnervensystems im Fokus des biologischen Ansatzes. Hier ist besonders die artverwandte Disziplin der kognitive Neurowissenschaften hervorzuheben, welche sich seit den 1970er Jahren als eigenständiges Wissenschaftsfeld etabliert hat und Kapitel 2 å PSY211 14 sich seither wachsender Bedeutung erfreut und eng mit der Biopsychologie verbunden ist. In diesem interdisziplinären Ansatz untersucht man speziell die Funktion und Bedeu- tung spezifischer Gehirnstrukturen im Rahmen kognitiver Prozesse. Die wichtigste Untersuchungsmethodik bilden hier die bildgebenden Verfahren, allen voran die funktio- nelle Magnetresonanztomographie (vgl. Becker-Carus & Wendt, 2017, S. 13). Evolutionärer Ansatz Wie beeinflusst Die evolutionäre Psychologie ist eine Synthese aus moderner Psychologie und Evoluti- onstheorie Charles Darwins (1809–1882). Auf Darwin geht das Grundprinzip des evo- Evolution das lutionärselektiven Prozesses zurück, d. h. dass jene Lebewesen, die besser an ihre Verhalten ? Umweltbedingungen angepasst sind, eine höhere Chance auf Fortpflanzung haben und damit ihre genetischen Anlagen an die nächste Generation weitergeben. Weniger ange- passte Lebewesen sterben hingegen aus. In der Folge optimiert sich der Genpool einer Spezies von Generation zu Generation hinsichtlich ihrer Anpassungsmerkmale (vgl. Gerrig, 2018, S. 16). Fragen, die sich der evolutionstheoretische Ansatz stellt, sind bei- spielsweise: „Auf welche Weise beeinflusst die Evolution bestimmte Verhaltenstenden- zen? Wie fördert die natürliche Selektion von Merkmalen die Weitergabe der eigenen Gene?“ (Myers, 2014, S. 10) Unter welchen Unter welchen Umweltbedingungen sich das menschliche Gehirn entwickelte, stellt den ent Mittelpunkt der Forschung in der evolutionären Psychologie dar. Um zu erörtern, an Bedingungendas welche Bedingungen sich der frühe Mensch anpassen musste, bedient sich diese Diszip- wickelt sich lin an den Theorien der Evolutionsbiologie. Verhaltensweisen, die u.a. der Vermeidung von Gefahren, dem Nahrungsgewinn oder der Fortpflanzung dienten, werden als Aus- Gehirn ? gangsbasis für die Untersuchung möglicher Anpassungen im Bereich kognitiver Pro- zesse und Mechanismen genutzt. Die Frage, die in dem Zuge beantwortet werden soll, lautet: Wie schlagen sich die Anpassungsvorgänge konkret in der Psyche nieder? (vgl. Gerrig, 2018, S. 16). Die grundlegendste Unterscheidung der evolutionären Psychologie zu den anderen psy- Zeitl Dimension. chologischen Paradigmen begründet sich gemäß Gerrig (2018) in der zeitlichen Dimen- sion. Evolutionäre Vorgänge entwickeln sich über große Zeiträume hinweg und werden ↳ experimentelle als wesentliche Grundlage für das Verständnis heutiger Verhaltensweisen erachtet. So Bestätigung unmögl wird unter diesem Ansatz beispielsweise die Verteilung der Geschlechterrollen auf die Evolution zurückgeführt und nicht auf aktuelle gesellschaftliche Einflüsse und Mecha- nismen. Eine experimentelle Bestätigung der Annahmen der evolutionären Perspektive ist aus diesem Grund nicht möglich (vgl. Gerrig, 2018, S. 16). ? Was halten Sie von diesem Ansatz? Können Sie aus Ihren Erfahrungen einen persönli- chen Bezug dazu herstellen? Psychodynamischer Ansatz menschl Verhalten. Das menschliche Verhalten resultiert diesem Ansatz zufolge daraus, dass wir uns in aus Zustand der einem Zustand innerer ‚Zerrissenheitʻ befinden, der auf Instinkte sowie biologische Triebe zurückzuführen ist. Unser Innenleben ist geprägt von starken Emotionen, phy- Zerrissenheit siologischen Erregungszustände und Konflikten, die zu dem nötigen energetischen Antrieb führen. Das Individuum bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen seinen Bedürfnissen, Trieben bzw. Instinkten auf der einen Seite und den Anforderungen sozi- Spannungsfeld aler Normen auf der anderen Seite. In diesem Modell dienen unsere Handlungen dazu, die so entstehenden Spannungen zu reduzieren (vgl. Gerrig, 2018, S. 13). Kapitel 2 å PSY211 15 Diese psychodynamischen Mechanismen der Motivation werden insbesondere mit Siegmund Freud (1856–1939) in Verbindung gebracht, der als erstes die Möglichkeit unbewusstes Handeln eines irrationalen menschlichen Handelns sowie unbewusste Handlungsmotive in seiner ↳ Freud Arbeit berücksichtigte (vgl. Gerrig, 2018, S. 13). Eine zentrale Fragestellung der Psy- choanalyse ist seither: Auf welche Weise beeinflussen unbewusste Triebe und Konflikte das Verhalten? (Myers, 2014, S. 10). Freuds Annahmen resultierten aus Fallstudien an psychisch erkrankten Patienten seiner Wiener Privatpraxis, deren beobachtbare Prinzi- pien er auf normale, psychisch unauffällige Verhaltensweisen übertrug (vgl. Becker- Carus & Wendt, 2017, S. 9; Gerrig, 2018, S. 13). In Freuds Theorie spielt die frühe Kindheit – als Phase, in der sich die Persönlichkeit ausbildet – eine wichtige Rolle. Die Persönlichkeitsentwicklung beruht demnach auf Persönlichkeitsentwick Kindheit einem Konflikt zwischen unseren aggressiven Impulsen, dem Todestrieb (thanatos), lung unserem nach Freude suchenden Lebenstrieb (libido) sowie gesellschaftlich auferlegten ↳ Konflikt Einschränkungen. Traumatische Erfahrungen, wie sie beispielsweise durch elterliche Verbote hervorgerufen werden können, werden in die spätere Persönlichkeit einge- schlossen und legen die Emotionen und Zielsetzungen bzw. Antrieb fest. Das spätere Handeln einer Person wird nach Freud davon unbewusst mitbestimmt (vgl. Becker- Carus & Wendt, 2017, S. 10). Im Rahmen des psychodynamischen Ansatzes wurde diese Theorie insofern weiterentwickelt, dass soziale Einflüsse und Interaktionen sämt- licher Lebensphasen miteinbezogen werden (vgl. Gerrig, 2018, S. 13). Dennoch erach- ten auch die Vertreter neuere psychodynamischer Theorien den Großteil des mentalen Lebens als unbewusst, mit den Phasen der Kindheit als bedeutsamen Einflussfaktoren auf unsere Persönlichkeitsentwicklung. Unser Handeln wird primär von Konflikten zwi- schen unseren Wünschen, Ängsten und Wertvorstellungen bestimmt (vgl. Becker- Carus & Wendt, 2017, S. 10). Freuds Annahme, dass ein Großteil unseres menschlichen Verhaltens von unbewussten Prozessen bestimmt wird, lässt sich mit dem Bild eines schwimmenden Eisbergs ver- gleichen: Nur ein vergleichsweise kleiner Teil, die Spitze des Eisbergs, ist unserem Bewusstsein zugänglich, der Großteil der Psyche bleibt in der Tiefe verborgen. Unter- halb der Wasseroberfläche, im unbewussten Part, befinden sich Wünsche, Gedanken, Gefühle und Erinnerungen, die wir nicht wahrnehmen und die außerhalb unseres Bewusstseins liegen. Auch wenn sich ein Bruchteil davon zeitweise in einen vorbe- wussten Bereich bewegen kann, auf den unser Bewusstsein Zugriff hat, verbleibt der größte Teil jener Gedanken, Bedürfnisse und Leidenschaften verdrängt. Freud schreibt diesen Gefühlen und Gedanken einen starken Einfluss auf das Verhalten und die Lebensgestaltung zu. Seiner Annahme nach kommen sie in verdeckter Weise u.a. in Form von psychischen Störungen, in Einstellungen, die wir vertreten, in der Wahl unse- res Berufes, in Träumen oder in sogenannten Freud’schen Versprechern zum Vorschein (vgl. Becker-Carus & Wendt, 2017, S. 9–10). Dieser Ansatz ist weit über die Grenzen der Psychologie bekannt. Womit erklären Sie ? sich seine „Prominenz“? Behavioristischer Ansatz Im behavioristischen oder verhaltenstheoretischen Ansatz betrachtet man das beobacht- Beobachtbares bare und damit messbare Verhalten von Menschen und Tieren. Innere Vorgänge wie Verhalten biochemische, neuronale oder kognitive, motivationale Prozesse werden vollständig außer Acht gelassen (vgl. Becker-Carus & Wendt, 2017, S. 7–8). Zur Beantwortung der Kapitel 2 å PSY211 16 zentralen Fragestellung „Wie erlernen wir beobachtbare Reaktionen?“ (Myers, 2014, S. 10) steht die Aufklärung von Reiz-Reaktions-Beziehungen im Vordergrund (vgl. Maderthaner, 2017, S. 48). Watson & Skinner Maßgeblich entwickelt wurde der behavioristische Ansatz von John Watson (1878–1958), der forderte, dass nur beobachtbares offenes Verhalten Gegenstand der psychologischen Forschung sein sollte. Watson orientierte sich an dem Wissenschafts- verständnis der Physik, wonach er nur unmittelbar beobachtbare Verhaltensreaktionen als verwertbare Daten gelten ließ, da diese mess-, quantifizier- und bewertbar sind (Becker-Carus & Wendt, 2017, S. 7). Erweitert wurde dieser Ansatz durch B. F. Skinner (1904–1990), der seine Analysen um die Frage ergänzte, was die Folgen eines bestimmten Verhaltens sind. Präzision in der Beschreibung der Beobachtungen und die Anwendung hoher Standards für die Überprüfung von Prinzipien zeichnete die For- schung beider Wissenschaftler aus (vgl. Gerrig, 2018, S. 14). Um analysieren und verstehen zu können, wie bestimmte vorausgehende Reize (stimu- Tierexperimente lus, S) oder vorausgehende Umweltbedingungen (antecedent conditions, A) auf ganz bestimmte Verhaltensreakionen (R), in Abhängigkeit von den darauffolgenden Konse- z. B Skinnerbox. quenzen (consequences, C) bedingen, nahmen Experimente mit Tieren in der Grund- lagenforschung des Behaviorismus eine wichtige Stellung ein. Die Tierexperimente wurden i.d.R. denen mit Menschen vorgezogen, weil die Kontrolle der Umgebungsbe- dingungen leichter handhabbar ist. Die behavioristischen Experimente zielten darauf ab, dass Verhalten durch Manipulation oder Veränderungen von Umweltreizen in verschie- dene Richtungen gelenkt oder konditioniert werden könne (Becker-Carus & Wendt, 2017, S. 7). Beispielsweise führte Skinner in einem umfangreichen Programm zum ope- ranten Konditionieren Experimente mit Tauben und Ratten durch. Er entwarf eine eigene Untersuchungsanordnung, die Skinnerbox. Darin konnten sich die Tiere Futter oder Flüssigkeit verschaffen, indem sie auf Scheiben pickten oder Hebel drückten, wofür sie eine Belohnung erhielten. Mit diesem Versuchsablauf untersuchte Skinner u.a., wie schnell sich das Verhalten durch Belohnung (Konditionierung) steigerte oder wie schnell es verschwand, wenn die Belohnung ausblieb (Löschung/Extinktion) (vgl. Schönpflug, 2013, S. 303). Watson und Skinner nahmen an, dass die im Zusammenhang mit den untersuchten Tieren entdeckten Verhaltensweisen allgemeingültigen Prinzipien des Lernens entspre- chen. Damit stand der Weg offen, diese Prinzipen auf den Menschen zu übertragen. Tat- sächlich finden die Prinzipien des Behaviorismus in vielen Bereichen der Psychologie Beachtung und werden auf menschliche Probleme angewandt. Durch die bevorzugte Nutzung positiver Verstärkung anstelle von Bestrafung finden die behavioristischen Prinzipien heute beispielsweise Anklang in der Pädagogik (vgl. Gerrig, 2018, S. 14). Kognitiver Ansatz menschl Bewusstsein. Als Kognitivismus, abgleitet aus dem Lateinischen cognitio für „Erkenntnis“, wird die Lehre vom Bewusstsein sowie der rationalen Erkenntnis beschrieben (Becker-Carus & Wendt, 2017, S. 8; Schönpflug, 2013, S. 285). Im Zentrum steht das menschliche Den- ken mit seinen komplexen mentalen Prozessen des Erinnerns, Wahrnehmens und Ver- stehens (vgl. Gerrig, 2018, S. 13). Wie Informationen verschlüsselt, verarbeitet und gespeichert und wiederrum abgefragt werden können, stellt gemäß (vgl. Myers, 2014, S. 10) die zentrale Frage des Ansatzes dar. Kapitel 2 å PSY211 17 äußere Die kognitivistische Perspektive entwickelte aus dem Behaviorismus, wobei abgren- zend dazu das menschliche Verhalten im Kognitivismus nicht nur durch Umweltbedin- nicht nur gungen, sondern über mentale, kognitive Prozesse erklärt wird. Gegenstand der For- Reize sondern schung ist daher die Informationsverarbeitung, d. h. wie Menschen Informationen , aufnehmen, verarbeiten, verstehen und erinnern. Wie sich das menschliche Verhalten gestaltet, hängt mit der subjektiven Interpretation einer jeweiligen Situation zusammen auch subjektive und ist nicht nur auf äußerliche Reize zurückzuführen (vgl. Becker-Carus & Wendt, Interpretation 2017, S. 8). Gerrig (2018, S. 15) beschreibt, dass sich „die Reaktion eines Individuums auf die Realität nicht nur an der objektiven Welt aus[richtet], sondern auch an der sub- jektiven Realität seiner Innenwelt aus Gedanken und Vorstellungsbildern“. Spielen Sie in Gedanken durch, wie Sie gemäß des kognitiven Ansatzes Fahrradfahren ? gelernt haben. Kulturvergleichender Ansatz Wie das menschliche Verhalten und Denken je nach Kultur und Situation variiert, ist eine der zentralen Fragestellungen der kulturvergleichenden Psychologie (vgl. Myers, Wie beeinflusst 2014, S. 10). Was macht eine Kultur aus? Gemäß Maderthaner sind sie durch ihre Werte Kultur das und Normen, aber auch Aspekte wie Religiosität oder Medien charakterisiert und beein- Verhalten flussen das menschliche Verhalten in der Summe ihrer Ausprägungen. (vgl. Madertha- ner, 2017, S. 49). Die kulturvergleichende Psychologie will Erkenntnisse darüber gewinnen, inwiefern die aus der psychologischen Forschung hervorgegangen Theorien generalisierbar sind und Generalisierbarkeit sich entsprechend auf die Gesamtheit der Menschen oder nur auf begrenzte Population von Theorien anwenden lassen. Sie gilt als wichtige Antwort auf die kritischen Äußerungen, dass die Forschung der Psychologie oft nur auf einer westlichen Betrachtungsweise basiert. Um dem entgegenzuwirken, schlägt der Ansatz vor, Gruppen bezüglich eines bestimmten Phänomens über (inter-)nationale Grenzen hinweg zu vergleich, wie zum Beispiel Untersuchungen über das Vorherrschen von Essstörungen zwischen Frauen verschiede- ner ethnischer Gruppen (vgl. Gerrig, 2018, S. 17). Anwenden lässt sich der kulturvergleichende Ansatz auf nahezu jeden Bereich psycho- logischer Forschung: „Wird die menschliche Wahrnehmung der Welt durch die umge- bende Kultur beeinflusst? Beeinflusst die Sprache, die wir sprechen, die Art und Weise, wie wir die Welt erfahren? Beeinflusst Kultur die Art und Weise, wie Menschen ihre Gefühle ausdrücken?“ (Gerrig, 2018, S. 17) Die Sicht der kulturvergleichenden Psychologie macht deutlich, dass sich die aus ande- ren Perspektiven gezogenen Schlüsse oftmals nicht pauschalisieren lassen. Ein Beispiel dafür stellen die bereits 1927 von Bronislaw Malinowski (1884–1942) formulierten Bedenken dar, dass viele Aspekte der Freud’schen psychodynamischen Theorie nicht auf Kulturen anwendbar seien, die sich maßgeblich von der Lebenswelt Freuds, d. h. seinem gesellschaftlichen Kontext unterscheiden. Anhand des Familienlebens der Trob- riander, einem Stamm aus Papua-Neuguinea, dessen Familienautorität den Müttern statt den Vätern obliegt, untermauerte Malinowski seine Argumente. „Die kulturverglei- chende Perspektive leistet einen beständigen und wichtigen Beitrag, Generalisierungen über menschliche Erfahrungen zu relativieren, die der Unterschiedlichkeit und Reich- haltigkeit von Kulturen keine Rechnung tragen.“ (Gerrig, 2018, S. 17) Kapitel 2 å PSY211 18 ? Welche Verhaltensweisen einer westlichen Kultur sind ihrer Meinung nach nicht auf einen Stamm wie den der Trobriander übertragbar? Warum? Humanistischer Ansatz Aus Sicht des humanistischen bzw. subjektivistischen Ansatzes wird der Mensch als Mensch freid freies und aktives Individuum betrachtet, welches seine Entscheidungen bewusst trifft. determiniert Dabei liegt der Fokus auf der subjektiven Wahrnehmung des Individuums mit all seinen Erfahrungen, Bedürfnissen und Werten. Die Einzigartigkeit des Menschen wird hervor- gehoben (vgl. Becker-Carus & Wendt, 2017, S. 10–12). Der Ansatz entwickelte sich in den 1950er Jahren als Reaktion auf die zu diesem Zeit- Erleben subjektives punkt dominierenden psychodynamischen und behavioristischen Modelle (vgl. Becker- im Vordergrund, Carus & Wendt, 2017, S. 11; Gerrig, 2018, S. 14). Wer eine humanistische Perspektive Mensch als Ganzes einnimmt, grenzt sich gegen die Auffassungen ab, dass der Mensch durch starke, ins- tinktive Kräfte getrieben wird bzw. dass er durch Reize und Umweltbedingungen mani- puliert wird. Es werden dagegen das subjektive Erleben und die subjektive Erfahrung des Menschen in den Vordergrund gestellt (vgl. Becker-Carus & Wendt, 2017, S. 10). Der humanistische Ansatz bemüht sich darum „der gesunden und schöpferischen eigen- verantwortlichen Persönlichkeit gerecht zu werden und die Person auch vom methodi- schen Ansatz her als Ganzes zu erfassen.“ (Becker-Carus & Wendt, 2017, S. 11) Es wird eine holistische Herangehensweise praktiziert, in der für ein „wirkliches Verständnis das Wissen über Psyche, Körper und Verhalten eines Menschen vor dem Hintergrund sozialer und kultureller Faktoren einbezogen werden muss“ (Gerrig, 2018, S. 15). Anhänger des humanistischen Ansatzes gehen davon aus, dass der Mensch seine Ent- scheidungen frei trifft und seine Handlungen selbst bestimmt. Für einige Vertreter ist es die Hauptaufgabe des Menschen, sich so positiv wie möglich zu entwickeln. Carl Rogers (1902–1987) hob den natürlichen Drang des Individuums zu geistiger Weiter- entwicklung und gesundheitlicher Stabilität hervor. Ein positiv-werteschätzender Umgang mit anderen Menschen potenziert diesen Vorgang zusätzlich (Gerrig, 2018, S. 14). Tabelle 1: Sichtweise Zentrale Fragestellung Arbeitsfelder, die mit Aktuelle Ansätze in der dieser Sichtweise arbeiten Psychologie. In Anlehnung an: Myers 2014 Neurowissenschaftli- Auf welche Weise werden durch den Kör- Biologische, kognitive und cher Ansatz per und das Gehirn Emotionen, Erinne- klinische Psychologie rungen und sensorische Erfahrungen überhaupt erst möglich? Evolutionstheoreti- Wie fördert die natürliche Selektion von Biologische, Entwick- scher Ansatz Merkmalen die Weitergabe der eigenen lungs- und Sozialpsycholo- Gene? gie Psychodynamischer Wie entwickelt sich Verhalten aus unbe- Persönlichkeits- und klini- Ansatz wussten Trieben und Konflikten? sche Psychologie sowie psychologische Beratung Verhaltenstheoreti- Wie erlernen wir beobachtbare Reaktio- Klinische Psychologie, psy- scher Ansatz nen? chologische Beratung und Arbeits- und Organisati- onspsychologie Kapitel 2 å PSY211 19 Sichtweise Zentrale Fragestellung Arbeitsfelder, die mit dieser Sichtweise arbeiten Kognitiver Ansatz Wie kodieren, verarbeiten und speichern Kognitive und klinische wir Informationen, und wie rufen wir sie Psychologie, psychologi- wieder ab? sche Beratung sowie Arbeits- und Organisati- onspsychologie Soziokultureller Wie variiert Verhalten und Denken je Entwicklungs-, Sozial- und Ansatz nach Kultur und Situation? klinische Psychologie sowie psychologische Beratung Humanistischer Wie kann die Lebensqualität eines Indivi- Systemische Therapie Ansatz duums optimiert werden? Die Psychologie ist eine empirische Wissenschaft, die das menschliche Verhalten und Erleben untersucht. Mit Verhalten sind dabei alle beobachtbaren Aktivitäten eines Menschen gemeint. Die Prozesse, die im ‚Innernʻ eines Menschen ablaufen und daher nicht direkt beobachtbar sind, werden kognitive Prozesse genannt. Die grundlegenden Ziele der Psychologie sind das Beschreiben, Erklären, Vorhersa- gen und Verändern von psychischen Phänomenen. Das Beschreiben eines Sachver- haltes, der empirisch untersucht werden soll, muss präzise, systematisch und theorie- geleitet ablaufen. Erklärt werden die Phänomene unter Berücksichtigung mehrerer Einflussfaktoren, wie Umweltfaktoren oder innerer Prozesse. Das Bilden von Hypo- thesen geschieht ebenso im Zuge des Erklärens. Vorhersagen werden auf Basis des zu dem Sachverhalt generierten Wissens mit statistischen Verfahren getroffen. Das Ziel des Veränderns wird üblicherweise mit therapeutischen Interventionen in Ver- bindung gebracht. Es können korrektive, fördernde und präventive Arten der Verän- derung unterschieden werden. Gegenwärtige theoretische Erklärungsmodelle sind zu einem großen Teil auf sieben psychologische Paradigmen zurückzuführen, deren Kenntnis wichtiges Grundwissen in der Psychologie darstellt. Der biologische Ansatz führt physische Aspekte bei der Erklärung psychologischer Phänomene an. In besonderer Weise tritt der Teilbereich der Neurowissenschaften in dieser Debatte zum Vorschein. Der evolutionäre Ansatz erklärt menschliches Handeln und Erleben mit dem evoluti- onären Selektionsprozess, der auf Charles Darwins zurückgeht. Eine experimentelle Bestätigung der Annahme ist aufgrund der langwierigen Prozesse der Evolution aus- geschlossen. Beim Psychodynamischen Ansatz werden Verhalten und Erleben mit einer inneren Zerrissenheit erklärt, die sich überwiegend im Unbewussten abspielt. Der verhaltenstheoretische oder behavioristische Ansatz lehnt die Idee eines ‚macht- vollen Seelenlebensʻ ab und erklärt das menschliche Verhalten einzig mit Lernpro- zessen im Rahmen von Reiz-Reaktions-Beziehungen. Der Kognitive Ansatz ist aus dem Behaviorismus entstanden, grenzt sich aber durch einen stärkeren Fokus auf mentale, kognitive Prozesse von ihm ab. Kapitel 2 å PSY211 20 Der Kulturvergleichende Ansatz stellt eine Antwort auf die bereits in den 1920er Jahren formulierte Kritik dar, die psychologischen Konstrukte und Theorien westli- cher Kulturen seien außerhalb ihres Kontextes nicht anwendbar. Im Humanistischen Ansatz wird der Fokus auf die subjektive Wahrnehmung des einzelnen Menschen gelegt, dessen angenommene Grundmotivation darin besteht, sich im besten Sinne weiterzuentwickeln. K Nennen Sie die vier Ziele der wissenschaftlichen Psychologie. K Wählen Sie zwei Paradigmen aus und versuchen Sie, aus der jeweiligen Perspektive heraus das Phänomen ‚aggressives Verhaltenʻ zu erklären. 2.4 Teildisziplinen der Psychologie Die Psychologie gliedert sich in zahlreiche Teildisziplinen, in denen sich wiederum eigenständige Teilgebiete finden lassen. Um Ihnen einen Überblick zu vermitteln, stelle ich Ihnen in diesem Kapitel sieben Teildisziplinen der Psychologie vor. Dem Einfüh- rungscharakter des vorliegenden Studienbriefs entsprechend werden Besonderheiten der jeweiligen Historie und Methodik weitestgehend vernachlässigt und in verallgemei- nerter Form in Kapitel 1 bzw. Kapitel 3 vermittelt. An dieser Stelle geht es lediglich darum, Ihnen mittels fachspezifischer Grundlagen sowie exemplarischer Modelle und Konstrukte Einblicke zu ermöglichen. Im besten Fall regt Sie dieses Kapitel dazu an, im Anschluss der Lektüre eigene Nachforschungen zu jenen Teildisziplinen zu betreiben, die ihr Interesse geweckt haben. Bevor wir in das Systematisieren einsteigen, machen Sie sich bewusst, dass es sich trotz des Ziehens von Trennlinien zwischen den Disziplinen um fließende Übergänge han- delt. So greifen beispielsweise Themen der Klinischen Psychologie und der Biologi- schen Psychologie unvermeidlich ineinander. Weiterhin bestehen disziplinübergrei- fende Debatten (z. B. Anlage-Umwelt-Debatte) oder Fragestellungen, die von unterschiedlichen psychologischen Disziplinen aus beantwortet werden können. Die Teildisziplinen der Psychologie können grob dem Grundlagen- oder dem Anwendungsbereich zugeordnet werden. Grundlagenbereich Die sogenannten Grundlagenfächer zeichnen sich laut Langfeldt und Nothdurft (2015) dadurch aus, dass sie Themen zum Gegenstand haben, die unabhängig von der gesell- schaftlichen Situation untersucht werden können. So können beispielsweise bestimmte Grundprinzipien in experimentellen Versuchen mit Tieren nachgestellt werden. Auf diese Weise ist es möglich, Erkenntnisse ohne einen konkreten sozialen Rahmen zu gewinnen. Kapitel 2 å PSY211 21 Zu den Grundlagenfächern zählen – Allgemeine Psychologie – Biologische Psychologie bzw. Biopsychologie – Entwicklungspsychologie – Persönlichkeitspsychologie – Sozialpsychologie Anwendungsbereich Im Gegensatz zum Grundlagenbereich besteht in den Disziplinen der angewandten Psy- chologie ein Bezug zur sozialen Praxis, d. h. eine gewisse Abhängigkeit bei der Unter- suchung ihrer Gegenstände. So kann z. B. der Effekt von Mobbing im Arbeitskontext nur in Betrieben, Teams etc. untersucht werden und ist auch nur dort relevant (vgl. Langfeldt & Nothdurft, 2015, S. 26). Beispiele für angewandte Fächer der Psychologie sind – Klinische Psychologie – Wirtschaftspsychologie – Pädagogische Psychologie – Kulturpsychologie – Medienpsychologie – Rechtspsychologie Wie Sie dem Inhaltsverzeichnis des Studienbriefs entnehmen können, stelle ich Ihnen einzelne Disziplinen aus beiden Bereichen vor. Um den Grundlagenbereich zu komplet- tieren, möchten ich an dieser Stelle kurz auf die Allgemeine Psychologie eingehen. Allgemeine Psychologie „Die Allgemeine Psychologie ist die Wissenschaft, die sich mit den allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten des Erlebens und Verhaltens von Organismen, speziell des Menschen, sowie deren Ursachen und Wirkungen befasst.“ (Becker-Carus & Wendt, 2017, S. 2) In der Allgemeinen Psychologie wird also ein genereller Ansatz verfolgt, mit dem her- ausgefunden werden soll, worin die Gemeinsamkeiten zwischen allen Individuen beste- hen und welche Gesetzmäßigkeiten diesbezüglich gelten bzw. welche psychischen Pro- zesse dabei ablaufen. Insbesondere die Themen Wahrnehmung, Lernen, Gedächtnis, Denken, Motivation und Emotion werden in den Blick genommen und erforscht. Die Entwicklung von Forschungsmethoden ist eine weitere Aufgabe, die in den Bereich der Allgemeinen Psychologie fallen kann (vgl. Becker-Carus & Wendt, 2017, 2; Langfeldt & Nothdurft, 2015, 26). Ein Beispiel aus der Gedächtnisforschung B Können Sie Ihren Erinnerungen trauen? In einem Experiment von Wade et al. (2002) wurden zwanzig erwachsenen Probanden manipulierte Kindheitsfotos gezeigt, die sie selbst als Kinder in vermeintlichen Situationen ihrer Kindheit zeigen wie z. B. bei der Fahrt mit einem Heißluftballon. In Wahrheit hatte es diese Situation aber nie gegeben. Die Fotos waren lediglich täuschend echt bearbeitet worden, d. h. Kinderfotos der Pro- banden waren in die Szenerie der Heißluftballonfahrt eingearbeitet worden. In anschlie- ßenden Interviews haben jedoch – mit dem vorliegenden Foto als Beweis – einige der Kapitel 2 å PSY211 22 Probanden „Erinnerungen“ (false memory) der Situation so abrufen können, als hätten sie sie tatsächlich erlebt (vgl. Wade et al., 2002, S. 597–603). 2.4.1 Biologische Psychologie Die Biologische Psychologie ist eine Teildisziplin der Psychologie, die das Zusammen- Was ist relevant spiel von biologischen Vorgängen und Verhaltens- und Denkprozessen untersucht (vgl. für menschl Verhalten. Myers, 2014, S. 51). Zu den biologischen Vorgängen mit Relevanz für das menschliche Verhalten gehören gemäß Schröger (2022) neben dem Nervensystem und dem Bereich der Genetik auch das Vegetative Nervensystem, das Endokrine System, das Immunsys- tem und das Interaktive System (z. B. Darm-Hirn-Achse). Da das Erkenntnisinteresse insbesondere auf dem zentralen Nervensystem (ZNS) liegt, setze ich diesbezüglich einen Schwerpunkt in meinen Ausführungen und gehe im folgenden Abschnitt auf seine anatomischen Grundlagen und die Informationsverarbeitung im Nervensystem ein. Im Anschluss daran beschäftigen wir uns mit den Aufgaben und Zielen der Neuropsycholo- gie, einem Teilgebiet der Biologischen Psychologie. Anatomische Grundlagen des Nervensystems Das Nervensystem des Menschen besteht aus dem zentralen Nervensystem und dem peripheren Nervensystem (PNS). Während sich das ZNS aus Gehirn und Rückenmark zusammensetzt, sind mit dem PNS jene Nervenbahnen gemeint, die sich außerhalb des Schädels und der Wirbelsäule befinden. Eine weitere, funktionale Differenzierung ist anhand des somatischen Nervensystems (Willkürbewegungen und bewusste Wahrneh- mung) und dem vegetativen Nervensystem (Regulation der inneren Organe) möglich (vgl. Hallschmid & Born, 2015, S. 57). Hauptbestandteile des Nervensystems sind Nervenzellen (Neuronen) und Gliazellen. Neuronen bestehen aus einem Zellkörper (Soma), den Dendriten und dem Axon. Das Axon ist ein bis zu einem Meter langer Fortsatz des Zellkörper und leitet die Nervenim- pulse. Am Zellkörper befinden sich ebenso verzweigte Dendriten, an deren Ende die Axone anderer Nervenzellen anknüpfen. Diese Kontaktstellen werden Synapsen genannt, die im Nervensystem die Anzahl der Neurone deutlich übersteigen. Am synaptischen Spalt erfolgt mittels Neurotransmitter (z. B. Acetylcholin, Adrenalin, Serotonin) die elek- trochemische Signalübertragung zwischen den Neuronen. Aufgrund zahlreicher Ver- knüpfungen entsteht ein dichtes und komplexes Netzwerk von Leitungsbahnen, wobei Gliazellen zahlreiche Aufgaben übernehmen. Unter anderem versorgen sie Neuronen mit Nährstoffen oder isolieren das Axon der Nervenzellen mit einer für die Signalübertragung unabdingbaren Myelinschicht, können aber unter bestimmten Umständen auch direkt in die neuronale Kommunikation eingreifen. Für das Gehirn übernehmen sie zudem Schutz- funktion (u.a. Immunabwehr) (vgl. Hallschmid & Born, 2015, S. 56). Weitere biologische Faktoren Das endokrine System (Hormonsystem) hat wie auch das Nervensystem ‚Informations- charakterʻ. Hormone fungieren als chemische Botenstoffe, die von Drüsenzellen (z. B. Hypophyse) ausgeschüttet und über Blutkreislauf zu anderen Organen, Geweben oder Nervenzellen gelangen. Dass das Hormon- und Nervensystem interagiert, verdeutlicht Kapitel 2 å PSY211 23 das Phänomen stressbedingter Hormonausschüttung oder die Wirkung von Hormonen auf Emotionen (vgl. Hallschmid & Born, 2015, S. 60). Schröger (2022) schreibt ebenso der genetischen Ebene eine Bedeutung für psychische Phänomene zu. Abgesehen von langwierigen Selektionsprozessen von Generation zu Generation, können genetische Faktoren gemäß den Forschungen der Epigenetik auch kurzfristig durch Umwelteinflüsse verändert werden (vgl. Schröger, 2022, S. 137–138). Schröger differenziert Forschungsarbeiten, die sich vor diesem Hintergrund mit trauma- tischen Erlebnissen, sozialen Reizen oder Nahrungszufuhr als relevante Umweltreize befassen (vgl. Schröger, 2022, S. 146–149). Im Rahmen der Biologischen Psychologie kann auf ein breites Spektrum von Untersu- chungsmethoden zurückgegriffen werden. Neben den Methoden zur Messung von Gehirnaktivität (z. B. EEG, MRT) können im weiteren Sinne auch jene Verfahren gezählt werden, die die grundlegenden Funktionen von Organismen untersucht (z. B. Messung der Herzraten, Augenbewegungen sowie Methoden der Molekularbiologie etc.) (vgl. Schröger, 2022, S. 33–45). EEG Von zentraler Bedeutung ist die Elektroenzephalographie (EEG), mithilfe derer die elektrische Aktivität des Gehirns (Neocortex) an der Kopfoberfläche gemes- sen werden kann. Mentale Zustände wie Schlaf, Wachheit und Aufmerksamkeit sowie die motorischen und sensorischen Funktionen des Neocortex werden dabei graphisch mittels Elektroenzephalogramms dargestellt (vgl. Hallschmid & Born, 2015, S. 64). MRT Die Magnetresonanztomographie kann als bildgebendes Verfahren Gehirnstruk- turen in vergleichsweise hoher räumlicher Auflösung darstellen. Wie der Name bereits verrät, wird beim MRT ein starkes Magnetfeld erzeugt, das mit den Was- serstoffatomen bzw. deren Protonen interagiert. Die dabei entstehenden Schwin- gungen werden mit Hochfrequenzdetektoren gemessen (vgl. Hallschmid & Born, 2015, S. 66). Neuropsychologie Im Zentrum der Neuropsychologie steht die Arbeit mit Patienten, die an Hirnfunktions- störungen leiden. Diese entstehen bei zerebrovaskulären Störungen (Hirninfarkt, Hirn- blutung), Schädel-Hirn-Traumata, Demenzen und zahlreichen weiteren Störungsbildern des Zentralnervensystems bis hin zu psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie und Depression (vgl. Lautenbacher, 2015, S. 390). Die Störungen, die im Rahmen der Diagnostik untersucht werden, können in folgende Bereiche zusammengefasst werden: Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Antrieb und Affekt, visuell-räumliche Leistungen, Exekutivfunktionen (Summe der Fähigkeiten, ein Ziel zu erreichen), Sprache (Aphasie, Sprachstörung), Motorik (Apra- xie, motorische Fehlhandlung), Neglect (Vernachlässigungsphänomene), und sonstige Kapitel 2 å PSY211 24 Funktionsstörungen (z. B. Akalkulie, Störung der Zahlenverarbeitung und mathemati- scher Leistungen) (vgl. Lautenbacher, 2015, S. 381–386). Neuropsychologen planen darüber hinaus den Therapie- bzw. Rehabilitationsverlauf von Patienten mit Hirnfunktionsstörung und nehmen Begutachtungen vor. Zusammen mit jeweils unterschiedlichen sozialrechtlichen Auftraggebern werden u.a. festgestellt: – Grad der Schädigungsfolgen (GdS) – Grad der Behinderung (GdB) – Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit – Erwerbsminderung 2.4.2 Persönlichkeitspsychologie Die Persönlichkeitspsychologie ist ein Grundlagenfach der Psychologie, das sich mit der Beschreibung, Vorhersage und Erklärung der Persönlichkeit sowie ihrer Entwick- lung beschäftigt. Persönlichkeit ist „eine komplexe Menge einzigartiger psychischer Eigenschaften, welche die für ein Individuum charakteristischen Verhaltensmuster in vielen Situationen und über einen längeren Zeitraum hinweg beeinflussen.“ (Gerrig, 2018, S. 508) Innerhalb der Persönlichkeitspsychologie haben sich gemäß Laux und Renner (2015) zwei Strömungen entwickelt: Die Differentielle Psychologie (1) legt ihren Fokus auf Unterschiede zwischen Personen oder Personengruppen. Sie bestimmt Prinzipien, die sich auf diese Unterschiede bezie- hen, und untersucht die Ursachen der Unterschiede. Darüber hinaus erforscht die Diffe- rentielle Psychologie auch die intraindividuellen Unterschiede, also jene Differenzen, die innerhalb einer Person bestehen (z. B. situationsabhängiges Stimmungsbild). Die Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinn (2) beschäftigt sich mit dem ganzen Menschen bzw. mit der Organisation und dem funktionalen Zusammenspiel von Einzel- komponenten wie z. B. Eigenschaften, Motiven, Zielen und Kompetenzen. (vgl. Laux & Renner, 2015, S. 209–210). In psychologischen Lehrbüchern besteht keine ein- heitliche Handhabung für das Verhältnis zwischen der Persönlichkeitspsychologie im engeren Sinne und der Differentiellen Psychologie. Nicht immer wird ihre strikte Tren- nung gefordert. Daher folgt der vorliegende Studienbrief dem Vorschlag von Laux und Renner (2015, S. 210) und schließt unter Persönlichkeitspsychologie beide Richtungen mit ein. Wie lässt sich Persönlichkeit erklären? Um diese Frage zu beantworten, werden ver- schiedene Erklärungsansätze gebraucht, deren Grundlagen sich auf die Ansätze bzw. Paradigmen zurückführen lassen, die uns z.T. bereits in Kapitel 2.4 begegnet sind. Zu ihnen gehören: der psychodynamische Ansatz, der humanistische Ansatz, der verhal- tensbezogene Ansatz, der kognitiv-soziale Ansatz sowie der biologisch-eigenschafts- basierte Ansatz (vgl. Gerrig, 2018, 508;214–215; Laux & Renner, 2015, 508;214–215). Bezogen auf den letztgenannten eigenschaftsbasierten Ansatz möchte ich Ihnen exempla- risch das Fünf-Faktoren-Modell vorstellen. Zurückzuführen ist dieses Modell auf den Lexikalischen Ansatz, dessen Annahme besagt, dass die besonders bedeutsamen Merk- male einer Persönlichkeit in der Alltagssprache verankert sind. Dementsprechend wurden Kapitel 2 å PSY211 25 auf Basis eines Wörterbuchs Eigenschaftsadjektive analysiert und klassifiziert. Wie sie der Tabelle 2 entnehmen können, werden insgesamt fünf Persönlichkeitseigenschaften unter- schieden: Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus (emotionale Stabilität) und Offenheit für Erfahrungen. Ihnen zugeordnet sind Adjektive, die gegensätz- lich eine hohe oder niedrige Ausprägung der jeweiligen Eigenschaft ausdrücken. Faktor Bipolare Definition Tabelle 2: Das Fünf-Faktoren-Modell. Extraversion Gesprächig, energiegeladen und durchsetzungsfähig vs. Ruhig, In Anlehnung an: Gerrig zurückhaltend und schüchtern 2018 Verträglichkeit Mitfühlend, freundlich und herzlich vs. Kalt, streitsüchtig und unbarmherzig Gewissenhaftigkeit Organisiert, verantwortungsbewusst und vorsichtig vs. Sorglos, leichtsinnig und verantwortungslos Neurotizismus Stabil, ruhig und zufrieden vs. Ängstlich, instabil und launisch Offenheit für Kreativ, intellektuell und offen vs. Einfach, oberflächlich und nicht Erfahrung intelligent Das Modell ermöglicht es, Personen in einem einheitlichen Bezugsrahmen zu beschrei- ben, und findet sowohl in der Fremd- als auch in der Selbstbeurteilung Anwendung (Gerrig, 2018, 223–224; 511; Laux & Renner, 2015, 223–224; 511). Ein weiteres Konstrukt, mit dem Eigenschaften systematisiert werden, ist das der Traits. Es handelt sich dabei um beständige Persönlichkeitseigenschaften, die mit einer gewis- sen Konsistenz im Verhaltensrepertoire einer Person auftauchen. Es bestehen zwei Strö- mungen zu diesem Thema: Es gibt die Vertreter, die Traits als Anlage im menschlichen Verhalten begreifen und solche, die Traits lediglich beschreibend verwenden (vgl. Ger- rig, 2018, S. 509). 2.4.3 Entwicklungspsychologie Die Entwicklungspsychologie ist ein Grundlagenfach der Psychologie, das sich mit physischen, kognitiven, sprachlichen, emotionalen und sozialen Veränderungen über die gesamte Lebensspanne eines Menschen hinweg befasst. Dabei stehen die Verände- rungen bezogen auf das Individuum (intraindividuell) im Fokus. Darüber hinaus inter- essieren sich Entwicklungspsychologen aber auch für die interindividuellen Unter- schiede. Das Erkenntnisinteresse richtet sich beispielsweise auf die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten im Laufe eines Lebens. Gerrig (2018) unterteilt die Lebensspanne eines Menschen in neun Phasen beginnend mit der pränatalen Phase, gefolgt von den Phasen Säuglingsalter, frühe Kindheit, mittlere Kindheit, späte Kindheit, sowie Adoles- zenz, frühes Erwachsenenalter mittleres Erwachsenenalter und hohes Erwachsenenalter (Gerrig, 2018, S. 382). Die vor dem Hintergrund der Thematik naheliegende Praxis, den Lebenslauf entlang der Zeitachse in bestimmte Altersabschnitte zu untergliedern, wird von Weinert und Selg (2015, S. 203–204) kritisch gesehen. Der Entwicklung starre Phasen oder Stufen zuzuordnen, würde ihrer individuellen und kulturellen Variabilität sowie weiteren Besonderheiten nicht gerecht werden. Weinert und Selg appellieren daran, zeitliche Phasen- oder Stufenzuordnungen – sofern nötig – in dem Bewusstsein vorzunehmen, dass dabei eine willkürliche Ordnung geschaffen wird. In einem alterna- Kapitel 2 å PSY211 26 tiven Ansatz werden Entwicklungsveränderungen innerhalb von Funktionsbereichen (z. B. Sprache) beschrieben (vgl. Weinert & Selg, 2015, S. 203–204). ? Welcher der beiden Positionen stimmen Sie eher zu? Welche Argumente sprechen für eine Kategorisierung? Die Themen der Entwicklungspsychologie sind weitreichend. Gemäß Gerrig (2018, S. 381) beschäftigt sich die Disziplin mit folgenden Schwerpunkten: Neben der körper- lichen, kognitiven, moralischen und sozialen Entwicklung im Laufe des Lebens stehen der Spracherwerb, Unterschiede in Geschlecht und Geschlechterrollen und erfolgrei- ches Altern im Fokus des Erkenntnisinteresses. Die Anlage-Umwelt-Debatte Diese grundlegende Debatte beschäftigt sich mit dem Einfluss von Genen (vererbte Anlagen) und Erfahrung bzw. Lernprozessen (Umwelt) auf die menschliche Entwick- lung. Sind für das Talent eines Musikers seine genetischen Anlagen oder die gezielte musikalische Förderung verantwortlich? Das Erkenntnisinteresse sollte sich gemäß Weinert und Selg (2015, S. 194) nicht darauf richten, zu welchen prozentualen Anteilen sich ein bestimmtes Merkmal (z. B. Intelli- genz) auf die Faktoren Anlage oder Umwelt zurückführen lässt. Vielmehr sollte unter- sucht werden, „welche Umweltbedingungen in welchem Alters- und für welchen Ent- wicklungsbereich behindernd, förderlich oder gar notwendig sind, und in welcher Weise das Kind welche Umweltanregungen nutzt und nutzen muss, um spezifische Ent- wicklungsveränderungen hervorzubringen.“ (Weinert & Selg, 2015, S. 194) Eng mit der Anlage-Umwelt-Debatte ist die Zwillings- bzw. Adoptionsforschung ver- knüpft. Biopsychosozialer Ansatz nach Meyers (2014) Myers (2014, S. 174) schlägt im Rahmen der Entwicklungspsychologie das Biopsycho- soziale Modell vor und begegnet damit der Anlag-Umwelt-Debatte mit einem Kompro- miss (siehe Abbildu

Use Quizgecko on...
Browser
Browser