Einführung in die Psychologie PDF

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Dieses Studienskript ist eine Einführung in die Psychologie. Es enthält Lektionen zu verschiedenen Aspekten der Psychologie, wie z.B. Definition und Ziele der Psychologie, Geschichte der Psychologie und Grundkonzepte der Psychologie. Es ist ein Lehrbuch für die IU Internationale Hochschule.

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EINFÜHRUNG IN DIE PSYCHOLOGIE DLBPSEP01 EINFÜHRUNG IN DIE PSYCHOLOGIE IMPRESSUM Herausgeber: IU Internationale Hochschule GmbH IU International University of Applied Sciences Juri-Gagarin-Ring 152 D-99084 Erfurt Postanschrift: Albert-Proeller-Straße 15-19 D-8...

EINFÜHRUNG IN DIE PSYCHOLOGIE DLBPSEP01 EINFÜHRUNG IN DIE PSYCHOLOGIE IMPRESSUM Herausgeber: IU Internationale Hochschule GmbH IU International University of Applied Sciences Juri-Gagarin-Ring 152 D-99084 Erfurt Postanschrift: Albert-Proeller-Straße 15-19 D-86675 Buchdorf [email protected] www.iu.de DLBPSEP01 Versionsnr.: 001-2024-0708 Kirsten Oleimeulen Coverbild: Adobe Stock. © 2024 IU Internationale Hochschule GmbH Dieses Lernskript ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Lernskript darf in jeglicher Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung der IU Internationale Hochschule GmbH (im Folgenden „IU”) nicht reproduziert und/oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet wer- den. Die Autor:innen/Herausgeber:innen haben sich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, die Urheber:innen und Quellen der verwendeten Abbildungen zu bestimmen. Sollte es dennoch zu irrtümlichen Angaben gekommen sein, bitten wir um eine dement- sprechende Nachricht. 2 INHALTSVERZEICHNIS EINFÜHRUNG IN DIE PSYCHOLOGIE Einleitung Wegweiser durch das Studienskript................................................. 8 Literaturempfehlungen............................................................ 9 Pflichtliteratur................................................................... 12 Übergeordnete Lernziele......................................................... 14 Lektion 1 Psychologie als Wissenschaft 15 1.1 Basisziele der Wissenschaft................................................... 16 1.2 Wissenschaftliche Theorien................................................... 20 1.3 Alltags- versus wissenschaftliche Psychologie.................................. 22 1.4 Definition und Ziele der Psychologie........................................... 24 1.5 Fachsprache der Psychologie................................................. 26 Lektion 2 Die Geschichte der Psychologie 31 2.1 Methoden der Psychologie-Geschichte......................................... 33 2.2 Die Geschichte großer Männer................................................ 35 2.3 Die Geschichte großer Ideen.................................................. 38 2.4 Die Geschichte großer Probleme.............................................. 39 2.5 Die Geschichte sozialer Entwicklung........................................... 40 Lektion 3 Grundkonzepte der Psychologie 45 3.1 Seele und Seelenleben....................................................... 46 3.2 Bewusstsein................................................................. 48 3.3 Erleben und Verhalten........................................................ 49 3.4 Leib-und-Seele-Problem...................................................... 51 3.5 Anlage-Umwelt-Debatte...................................................... 52 Lektion 4 Forschungsparadigmen 57 4.1 Nomothetische Forschung.................................................... 61 4.2 Idiografische Forschung...................................................... 63 4.3 Nomothetische und idiografische Forschung................................... 65 3 Lektion 5 Wissenschaftstheorien der Psychologie 69 5.1 Positivismus................................................................. 70 5.2 (Kritischer) Rationalismus.................................................... 71 5.3 Wissenschaftlicher Realismus................................................. 73 5.4 Evolutionäre Erkenntnistheorie............................................... 73 5.5 Strukturalistische Wissenschaftskonzeption.................................... 74 5.6 Theoretischer Pluralismus.................................................... 75 Lektion 6 Theorien und Schulen der Psychologie 79 6.1 „Die Leipziger Schule“ (Strukturalismus)....................................... 80 6.2 „Die funktionalistische Schule“ (Funktionalismus).............................. 81 6.3 „Die Wiener Schule“ (Psychoanalyse).......................................... 82 6.4 „Die behavioristische Schule“ (Behaviorismus)................................. 84 6.5 „Die Berliner Schule“ (Gestaltpsychologie)..................................... 85 6.6 „Die geisteswissenschaftliche Schule“ (Subjektivismus)......................... 87 Lektion 7 Hauptströmungen der Psychologie 89 7.1 Biologische Psychologie...................................................... 91 7.2 Behaviorismus.............................................................. 92 7.3 Kognitive Psychologie........................................................ 93 7.4 Psychoanalyse............................................................... 95 7.5 Humanistische Psychologie................................................... 96 Lektion 8 Wissenschaftliche Psychologie und ihre Disziplinen 101 8.1 Die Grundlagenfächer der Psychologie........................................ 103 8.2 Die Anwendungsfächer der Psychologie....................................... 106 Lektion 9 Grenzen zwischen Psychologie, Psychotherapie und anderen Teildisziplinen 109 9.1 Definition und Kurzbeschreibung mit Tätigkeitsprofil........................... 112 9.2 Abgrenzungen.............................................................. 117 Lektion 10 Stellung der Psychologie unter den wissenschaftlichen Disziplinen 121 10.1 Definition, Kurzbeschreibung unter den wissenschaftlichen Disziplinen......... 122 10.2 Interdisziplinarität und Zusammenarbeit in der Psychologie................... 124 4 Anhang Literaturverzeichnis............................................................. 134 Abbildungsverzeichnis.......................................................... 156 5 EINLEITUNG HERZLICH WILLKOMMEN WEGWEISER DURCH DAS STUDIENSKRIPT Dieses Studienskript bildet die Grundlage Ihres Kurses. Ergänzend zum Studienskript ste- hen Ihnen weitere Medien aus unserer Online-Bibliothek sowie Videos zur Verfügung, mit deren Hilfe Sie sich Ihren individuellen Lern-Mix zusammenstellen können. Auf diese Weise können Sie sich den Stoff in Ihrem eigenen Tempo aneignen und dabei auf lerntyp- spezifische Anforderungen Rücksicht nehmen. Die Inhalte sind nach didaktischen Kriterien in Lektionen aufgeteilt, wobei jede Lektion aus mehreren Lernzyklen besteht. Jeder Lernzyklus enthält jeweils nur einen neuen inhaltlichen Schwerpunkt. So können Sie neuen Lernstoff schnell und effektiv zu Ihrem bereits vorhandenen Wissen hinzufügen. In der IU Learn App befinden sich am Ende eines jeden Lernzyklus die Interactive Quizzes. Mithilfe dieser Fragen können Sie eigenständig und ohne jeden Druck überprüfen, ob Sie die neuen Inhalte schon verinnerlicht haben. Sobald Sie eine Lektion komplett bearbeitet haben, können Sie Ihr Wissen auf der Lern- plattform unter Beweis stellen. Über automatisch auswertbare Fragen erhalten Sie ein direktes Feedback zu Ihren Lernfortschritten. Die Wissenskontrolle gilt als bestanden, wenn Sie mindestens 80 % der Fragen richtig beantwortet haben. Sollte das einmal nicht auf Anhieb klappen, können Sie die Tests beliebig oft wiederholen. Wenn Sie die Wissenskontrolle für sämtliche Lektionen gemeistert haben, führen Sie bitte die abschließende Evaluierung des Kurses durch. Die IU Internationale Hochschule ist bestrebt, in ihren Skripten eine gendersensible und inklusive Sprache zu verwenden. Wir möchten jedoch hervorheben, dass auch in den Skripten, in denen das generische Maskulinum verwendet wird, immer Frauen und Män- ner, Inter- und Trans-Personen gemeint sind sowie auch jene, die sich keinem Geschlecht zuordnen wollen oder können. 8 LITERATUREMPFEHLUNGEN ALLGEMEIN Lück, H. E./Guski-Leinwand, S. (2014): Geschichte der Psychologie. Strömungen, Schulen, Entwicklungen. 7. Auflage, Kohlhammer, Stuttgart. Schönpflug, W. (2006): Einführung in die Psychologie. Beltz, Basel. Schönpflug, W. (2013): Geschichte und Systematik der Psychologie. 3. Auflage, Beltz, Basel. LEKTION 1 Mäder, A. H. (2005): Empirische Indikatoren für Theorien- und Simulationsmodelle. In: Mäder, A. H.: Falsche Überzeugungen verstehen: begriffliche und methodische Überle- gungen zur Erforschung der alltagspsychologischen Praxis. Universität Bielefeld, Bie- lefeld, S. 125–137. Niedermair, K. (2010): Grundbegriffe. In: Niedermair, K.: Eine kleine Einführung in Wissen- schaftstheorie und Methodologie für Sozial- und Erziehungswissenschaftler/-innen. STUDIA Universitätsverlag, Innsbruck, S. 9–42. Thomale, C. (2017): Metaphern und Modelle – Zur Übersetzung von Wissen in Verstehen. In: Schweiker, M. et al. (Hrsg.): Messen und Verstehen in der Wissenschaft. Metzler, Wiesbaden, S. 69–80. Weidtmann, N. (2016). Philosophie als strenge Wissenschaft oder Wissenschaft auf dem Boden der Philosophie? Anmerkungen zu Husserls Krisis-Schrift. In M. Neuber (Hrsg.), Husserl, Cassirer, Schlick: ,Wissenschaftliche Philosophie’ im Spannungsfeld von Phä- nomenologie, Neukantianismus und logischem Empirismus (S. 69–82). Springer Inter- national Publishing. https://doi.org/10.1007/978-3-319-26745-6_5 LEKTION 2 Keupp, H. (1993): Identitäten in der Psychologie – Jenseits der Imitationsidentität. In: Journal für Psychologie, 1. Jg., Heft 2, S. 4–14. Mattes, P. (1989): Zur Kontinuität in der deutschen Psychologie über die Zeit des National- sozialismus hinaus. In: Psychologie und Geschichte, 1. Jg., Heft 3, S. 1–11. Seel, H.-J. (2002): Fragen nach den Antworten eines Jahrhunderts der Psychologie. In: Journal für Psychologie, 10. Jg., Heft 1, S. 3–17. 9 LEKTION 3 Fahrenberg, J. (2006): Was denken Studierende der Psychologie über das Gehirn-Bewusst- sein-Problem, über Willensfreiheit, Transzendenz, und den Einfluss philosophischer Vorentscheidungen auf die Berufspraxis? In: Journal für Psychologie, 14. Jg., Heft 3–4, S. 302–330. Lenz, M. (2012): Schlüsseldebatten im Anlage-Umwelt-Diskurs. In: Lenz, M.: Anlage- Umwelt-Diskurs. Historie, Systematik und erziehungswissenschaftliche Relevanz. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn, S. 195–296. LEKTION 4 Grundlach, H. (2017): Windelband und der Terminus „Kulturwissenschaften“. In: Grund- lach, H.: Wilhelm Windelband und die Psychologie: Das Fach Philosophie und die Wis- senschaft Psychologie im Deutschen Kaiserreich. University Publishing, Heidelberg, S. 245–251. Ricken, N./Reh, S. (2018): Leistung als Paradigma. Eine Einführung in die Konzeption des Bandes. In: Ricken, N./Reh, S. (Hrsg.): Leistung als Paradigma. Zur Entstehung und Transformation eines pädagogischen Konzeptes. Springer VS, Wiesbaden, S. 1–17. LEKTION 5 Petersen, A. (2019): Kritischer Rationalismus und Psychologie. In: Franco, G. (Hrsg.): Hand- buch Karl Popper. Springer VS, Wiesbaden, S. 609–637. Vollmer, G. (2018): Grundzüge der Evolutionären Erkenntnistheorie. In: Fink, S./Rollinger, R. (Hrsg.): Oswald Spenglers Kulturmorphologie: Eine multiperspektivische Annähe- rung. Springer Fachmedien, Wiesbaden, S. 65–75. LEKTION 6 Goerigk, C./Schmithüsen, F. (2019): Psychoanalyse: Wer hat’s erfunden? In: Der Psycho- Comic – Die Klassiker der Psychologie. Springer, Berlin/Heidelberg, S. 47–56. Lück, E. (2015): Wettstreit der Schulen. In: Schütz, A. et al. (Hrsg.): Psychologie: Eine Ein- führung in ihre Grundlagen und Anwendungsfelder. 5. Auflage, Kohlhammer, Stutt- gart, S. 39–46. LEKTION 7 Moser, K. S. (2001): Metaphernforschung in der Kognitiven Psychologie und in der Sozial- psychologie – eine Review. In: Journal für Psychologie; 9. Jg., Heft 4, S. 17–34. 10 Willekens, B. et al. (2018): Into the Moment: Does Mindfulness Affect Biological Pathways in Multiple Sclerosis? In: Frontiers in Behavioral Neuroscience, Heft 12, S. 193. LEKTION 8 Caspar, F. (2018): Klinische Psychologie. In: Klinische Psychologie. Springer Fachmedien, Wiesbaden, S. 1–13. Wolstein, J./Schütz, A./Lautenbacher, S. (2015): Das Studium der Psychologie und Berufs- perspektiven. In: Schütz, A. et al. (2015): Psychologie: Eine Einführung in ihre Grundla- gen und Anwendungsfelder. 5. Auflage, Kohlhammer, Stuttgart, S. 23–34. LEKTION 9 Schäfer, A. (2016): Psychiatrie. In: Bühler, B./Willer, S. (Hrsg.): Futurologien: Ordnungen des Zukunftswissens. Fink, Paderborn, S. 417–429. Višak, T. (2016): Lebensqualität als Selbstverwirklichung. In: Kovacs, L./Kipke, R./Lutz, R. (Hrsg.): Lebensqualität in der Medizin. Springer VS, Wiesbaden, S. 91–105. LEKTION 10 Born, A. (2018): Mit Psychologie und Praxiserfahrung ins Lernen starten: Die Projektwerk- statt als neues Lernformat im Studiengang Soziale Arbeit. In: Krämer, M./Preiser, S./ Brusdeylins, K. (Hrsg.): Psychologiedidaktik und Evaluation XII. Shaker, Aachen, S. 289–298. Deinzer, R./von dem Knesebeck, O. (2018): Grundlagen der Psychologie und Soziologie und ihre Bedeutung für die Medizin. In: Deinzer, R./von dem Knesebeck, O. (Hrsg.): Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie. GMS German Medical Science Publishing House, Düsseldorf. 11 PFLICHTLITERATUR LEKTION 1 Breuer, F. (1991): Der Erkenntnisweg von Wissenschaft: ein klassisches Beispiel und seine Implikationen als erste Orientierung. In: Breuer, F.: Wissenschaftstheorie für Psycholo- gen: eine Einführung. 3. Auflage, Aschendorff, Münster, S. 1–21. LEKTION 2 Beneke, Eduard (1853): Zur Kunstlehre des Denkens: Welche Stellung nimmt die Psycholo- gie als Naturwissenschaft der Geschichte und der allgemein-gewöhnlichen Sprache gegenüber ein? In: Archiv für die pragmatische Psychologie oder die Seelenlehre in der Anwendung auf das Leben. Heft 1, S. 1–19. (Im Internet verfügbar). Forschner, M. (2018): Einsicht und Leidenschaft. Thomas von Aquin über die Gefühle des Menschen. In: Benetka, G./Werbik, H. (Hrsg.): Die philosophischen und kulturellen Wurzeln der Psychologie: Traditionen in Europa, Indien und China (Diskurse der Psy- chologie). Psychosozial Verlag, Gießen, S. 61–74. LEKTION 3 Für diese Lektion ist keine Pflichtliteratur zu lesen. LEKTION 4 Gundlach, H. (2017): Eine Unterscheidung zweier Psychologien. In: ders.: Wilhelm Windel- band und die Psychologie. Das Fach Philosophie und die Wissenschaft Psychologie im Deutschen Kaiserreich. University Publishing, Heidelberg, S. 189–192. LEKTION 5 Fahrenberg, J. (2015): Verbindung oder Trennung von Psychologie und Philosophie. In: Fahrenberg, J.: Theoretische Psychologie. Eine Systematik der Kontroversen. Pabst Science Publishers, Lengerich, S. 716–725. (Im Internet verfügbar). LEKTION 6 Lück, H. E./Guski-Leinwand, S. (2014): Die Feldtheorie. In: Lück, H. E./Guski-Leinwand, S.: Geschichte der Psychologie: Strömungen, Schulen, Entwicklungen. 7. Auflage, Kohl- hammer, Stuttgart, S. 94–98. 12 LEKTION 7 Für diese Lektion ist keine Pflichtliteratur zu lesen. LEKTION 8 BDP (Hrsg.): „Berufsfeld Psychologie“. Psychologische Tätigkeitsfelder. (Im Internet verfüg- bar). LEKTION 9 Für diese Lektion ist keine Pflichtliteratur zu lesen. LEKTION 10 Für diese Lektion ist keine Pflichtliteratur zu lesen. 13 ÜBERGEORDNETE LERNZIELE Der Kurs Einführung in die Psychologie bietet die Grundlagen für ein wissenschaftliches und tieferes Verständnis der Psychologie. Um psychologische Forschung und die Rolle des Psychologen innerhalb seiner Tätigkeitsfelder verstehen zu können, vermittelt der Kurs Grundlagen über die Geschichte der Psychologie, beginnend mit einer kurzen Einführung in die Wissenschaftstheorie. Es schließen sich Grundkonzepte, Forschungsparadigmen und Theorien der Psychologie an. Der Kurs wird abgerundet durch eine Abgrenzung der Psychologie von anderen Wissenschaften und eine Darstellung ihrer eigenen Binnendiffe- renzierung, um die interdisziplinäre Stellung zu verdeutlichen. Die Studierenden sollen sich ihrer Position in der wissenschaftlichen Landschaft bewusst werden. 14 LEKTION 1 PSYCHOLOGIE ALS WISSENSCHAFT LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – welche Bedeutung die Wissenschaftstheorie für die Psychologie hat. – welche Basisziele die Wissenschaft verfolgt. – welche drei grundlegenden Arten von Theorien es gibt. – was der Unterschied zwischen Alltagspsychologie und der Psychologie als Wissen- schaft ist. – wie die wissenschaftliche Psychologie genau definiert ist und welche Ziele sie verfolgt. – wodurch die Fachsprache der wissenschaftlichen Psychologie gekennzeichnet ist. 1. PSYCHOLOGIE ALS WISSENSCHAFT Einführung „Der Mensch, der Diener und Interpret der Natur, wirkt und weiß nur so viel, wie er von der Ordnung der Natur durch Experimente oder durch Beobachtung erkannt hat; darüber hinaus weiß und vermag er nichts“ (Francis Bacon zitiert nach Weinrich 2008, S. 96). Die Psychologie gehört aktuell zu den sogenannten Modefächern, in denen Universitäten und Fachhochschulen überrannt werden. Eine Studie der Universität Zürich zeigt, dass neun von zehn Psychologieinteressierten glauben, dass die Psychoanalyse nach Freud im Studium eine wichtige Rolle spiele (SaWRedaktion 2013). Diese ungeprüfte Annahme ist falsch. Daraus folgt für viele Studienanfänger Frustration mit ggf. einem Studienabbruch als Folge. Studiengänge, die mit falschen Erwartungen begonnen werden, sind oftmals Fächer wie Publizistik, Psychologie oder Rechtswissenschaften, die an den Schulen nicht Self-Assessment gelehrt werden. Einige Universitäten versuchen dieser Entwicklung mit Self-Assessments Das Self-Assessment ist entgegenzuwirken. ein internetbasiertes Angebot zur persönlichen Orientierung und Eig- Gut aufgeklärte und informierte Studierende wissen schon vor Studienbeginn, dass es sich nungsbeurteilung für bei der Psychologie um eine Wissenschaft handelt. Aber was ist eine Wissenschaft? einen bestimmten Studi- engang. 1.1 Basisziele der Wissenschaft Der Kern der Wissenschaft ist eine Idee, die ihre Anfänge früh in der Menschheitsge- schichte hat. Sie beginnt mit Aristoteles (384 v. Chr.–322 v. Chr.), der schrieb: „Ich behaupte dagegen, dass jede Wissenschaft zwar auf Beweisen beruhen muss, aber dass das Wissen der unvermittelten Grundsätze nicht beweisbar ist. Sie sind dem Weisen evi- dent“ (Flashar 2013, S. 124). Der Ausgangspunkt der Wissenschaft sind „unvermittelte Grundsätze“, die als evident erscheinen können oder durch Schlussfolgerungen hergelei- tet werden. Ein Beispiel für solche „unvermittelten Grundsätze“ wäre z. B. die Aussage: „Es gibt keine fliederfarbenen Pferde.“ Dabei gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Ableitung. Bei der Deduktion (lat. deductio = Ableitung) schließt man von einer allgemei- nen Aussage auf den Einzelfall. Die Bestätigung einer Theorie wird von einem konkreten Beispiel abgeleitet. Nicht der Ursprung der Theorie, sondern die Frage, ob und wie sich Hypothese Hypothesen falsifizieren lassen, bestimmt den Wert der Theorie. Deduktive Schlüsse sind Eine Hypothese ist eine damit wahrheitsbewahrend. Sie führen niemals über den Gehalt der Prämissen hinaus. Aussage, die eine nicht belegte bzw. geprüfte Ver- Die Methode der Induktion (lat. inducere = hineinführen) führt ausgehend von einem Ein- mutung formuliert. zelfall zur Verallgemeinerung. Sie ermöglicht daher gehaltserweiternde Schlussfolgerun- gen. Ausgehend von vielen, endlichen Beobachtungen wird auf einen zukünftigen Einzel- fall geschlossen. Induktive Schlüsse erlauben es, neue Wahrheiten zu entdecken. Diese können dann wiederum mittels deduktiver Schlüsse überprüft werden. Seit Aristoteles geht die Wissenschaftstheorie davon aus, dass Induktion und Deduktion die Grundlage des Erkenntnisgewinnes sind. Der amerikanische Logiker und Philosoph Charles Sanders Peirce führt zusätzlich den Begriff der Abduktion (lat. abductio = Wegführung, Entführung) 16 ein. Abduktion bedeutet, dass eine klärende Hypothese gebildet wird. Dem zugrunde liegt wieder ein Schlussfolgerungsprozess, der aber im Gegensatz zur Induktion und Deduktion eine Erkenntniserweiterung bedeutet. Tabelle 1: Ein Beispiel für Schlussfolgerungen Deduktion Abduktion Induktion A Auf dem Studium der A Auf dem Studium der Psy- C Irmhild hat einen hohen Psychologie liegt ein chologie liegt ein hoher Numerus Clausus (NC). hoher Numerus Cla- Numerus Clausus (NC). usus (NC). B Irmhild ist Psycholo- C Irmhild hat einen hohen B Irmhild ist Psychologie- giestudentin. Numerus Clausus (NC). studentin. C Irmhild hat einen B Irmhild ist Psychologiestu- A Auf dem Studium der hohen Numerus Cla- dentin. Psychologie liegt ein usus (NC). hoher Numerus Clausus (NC). Quelle: Erstellt im Auftrag der IU 2019. Die Wissenschaft ist demnach ein hierarchisches System von Aussagen. Immanuel Kant verglich sie mit der Architektur (1998, S. 557) und der französische Mathematiker und Phy- siker Henri Poincaré arbeitete mit der Metapher eines Hauses (1904, S. 143). Heutzutage ist der Begriff des Netzwerkes diesbezüglich gebräuchlicher. Wissenschaftsgebiete können innerhalb dieses Bildes als Knoten dargestellt werden, die die jeweiligen Inhalte symboli- sieren. Die Verbindungen zwischen den Knoten stehen stellvertretend für ihre inhaltlichen Verknüpfungen. Das können z. B. logische Begründungen sein, aber auch Begründungen, die sich auf Autoritäten berufen, Analogien verwenden oder teleologische Gründe anfüh- Teleologie ren. Innerhalb so eines Netzwerkes muss es Aussagen geben, die durch keine Begründung Die Teleologie ist die Lehre von der Zielorien- legitimiert werden. Das sind die „unvermittelten Grundsätze“ von Aristoteles. Wenn sie die tierung und Zweckgebun- Funktion von Prämissen (Grundannahmen) übernehmen, die nicht weiter begründet wer- denheit aller Handlungen den müssen, von denen aber Begründungen ausgehen, spricht man von einem aristoteli- und Entwicklungen. schen Begründungsnetzwerk. MERKE Das Ziel aller Wissenschaften ist die Generierung von beständigem, zuverlässi- gem und gültigem Wissen. Beschreiben, erklären, vorhersagen, verändern Das Ziel ersten Grades aller Wissenschaften, Wissen durch Generierung von beständigem, zuverlässigem und gültigem Wissen zu erhalten, benötigt in der Realisierung konkretisie- rende, sogenannte Basisziele. Damit folgt die Wissenschaftstheorie der Idee von Imma- 17 Immanuel Kant nuel Kant, dass Wissenschaften immer ein hierarchisches System von Aussagen sind (s. (1724–1804) deutscher o.). Die Basisziele der Wissenschaft sind, Wissen zu beschreiben, zu erklären, vorherzusa- Philosoph; gilt als der Begründer des philoso- gen und zu verändern (vgl. Hussy/Schreier/Echterhoff 2010, S. 11–18): phischen Zeitalters der Aufklärung; berühmte Beschreiben Zitate: „Sapere aude“, „Was kann ich wissen? Was kann ich tun?“ Die Beschreibung von Gegenständen, Eigenschaften, Verhaltensweisen etc. ist eine ganz normale Alltagstätigkeit. Die Wissenschaft unterscheidet sich von diesem Alltagsphäno- men dadurch, dass sie das exakter, systematischer und zielgeleiteter tut. Sie bedient sich dabei vier verschiedener Tätigkeiten (vgl. Hussy/Schreier/Echterhoff 2010, S. 11): 1. Benennen bedeutet in diesem Zusammenhang, jemandem oder etwas einen Namen zu geben. Diese Vorgehensweise kennen wir z. B. aus Lernprozessen. 2. Ordnen und klassifizieren bedeutet, etwas oder jemanden in Klassen einzuteilen oder zu ordnen. So werden z. B. Studienbriefe der Kategorie „Lesen“ und Vodcasts sowie Podcasts dem „Sehen und Hören“ zugeordnet. 3. Definieren legt fest, was unter einem bestimmten Begriff zu verstehen ist. 4. Angaben zu Häufigkeiten bzw. Ausprägungsgrad ermöglichen Aussagen darüber, wie oft und wie lange der Studierende lernt. Gerade für die letzte beschreibende Tätigkeit der Häufigkeitsangaben, bei der der Bereich Deskriptive Statistik der quantitativen Methoden (deskriptive Statistik) beginnt, wird die Operationalisierbar- Die Statistik ist die Wis- keit von Merkmalen wichtig. Die Operationalisierbarkeit oder Messbarkeit gibt an, wie ein senschaft vom Umgang mit quantitativen Infor- theoretisches Konstrukt in ein messbares Merkmal umgewandelt werden kann (vgl. Krom- mationen. Die deskriptive rey/Roose/Strübing 2016, S. 177). Beispiele für theoretische Konstrukte sind (Kun- Statistik fokussiert inner- den-)Zufriedenheit, Intelligenz oder sozialer Status (vgl. Nolting/Paulus 2018, S. 228). halb der Statistik die übersichtliche Darstel- lung und Zuordnung die- Erklären ser Informationen. Die Voraussetzung für Erklärungen sind Beschreibungen. Erklärungen geben Antworten auf „Warum-Fragen“ und enthalten Angaben über Bedingungen zwischen Sachverhalten. Diese sehen so aus, dass ein Sachverhalt erklärt wird, indem er einem allgemeinen Gesetz untergeordnet wird (vgl. Hussy/Schreier/Echterhoff 2010, S. 13). Tabelle 2: Beispiel für eine Subsumptionserklärung Gesetz Frustration erzeugt Aggression. Explanans Antezedensbedingung Professorin frustriert Student (mit schlechter Note). Explanandum Student ist aggressiv gegenüber der Professorin. Quelle: Erstellt im Auftrag der IU 2019. Vorhersagen Die Vorhersage (Prognose) ist eine vorwärtsgerichtete Erklärung. Anhand von bekannten Zusammenhängen wird eine Vorhersage für die Zukunft gemacht. Ein Sachverhalt hat meist mehrere Ursachen und benötigt daher auch multidimensionale Prognosemodelle. 18 Die Gewichtung der Prädiktoren kann sehr unterschiedlich sein. Prognosemodelle wer- Prädiktoren den daher schrittweise verbessert. Die multidimensionalen Vorhersagemodelle unter- Bei Prädiktoren handelt es sich um diagnostische scheiden zwischen statistischen und individuellen Prognosemodellen. Statistische Daten, die zur Vorhersage Modelle erlauben Prognosen für Gruppen. Vorhersagen können in diesem Rahmen nur mit eines anderen Wertes einer gewissen Wahrscheinlichkeit gemacht werden. Das Ziel statistischer Modelle ist die erhoben bzw. benutzt werden. Stabilisierung der Vorhersagegenauigkeit auf möglichst hohem Niveau. Individuelle Modelle erlauben Prognosen für einzelne Personen. Der individuelle Prognosewert kann niemals bei 100 Prozent liegen. Je höher die statistische Prognosegenauigkeit, desto höher der individuelle Vorhersagewert (vgl. Nolting/Paulus 2018, S. 191). Beispielsweise kann über die traditionellen Variablen Abiturnote, Leistungsbereitschaft, Studienmotiva- tion und Fleiß ein Prognosemodell für den erfolgreichen Studienabschluss entwickelt wer- den. Das Modell erreicht eine Vorhersagegenauigkeit von 70 Prozent, d. h., von 100 Stu- dierenden wird bei 70 der Studienerfolg richtig vorhergesagt. Nach der Gewichtung der Gewichtung Prädiktoren erreicht das Modell eine Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent, d. h., nun werden Die Gewichtung gleicht Fehler der Repräsentativi- 75 von 100 Studienerfolgen korrekt prognostiziert (vgl. Hussy/Schreier/Echterhoff 2010, tät wieder aus, die zum S. 18). Beispiel durch selektive Ausfälle in der Stichprobe entstanden sind. Eine Prognose kann als eine vorwärtsgerichtete Erklärung betrachtet werden. Bei der Prognose wird von den Prädiktoren ausgegangen und das entsprechende Verhalten, das Ergebnis oder die Eigenschaft vorhergesagt. Das zukünftige Ereignis wird gleichsam erklärt. Eine Prognose kann daher als Sonderfall der Erklärung bezeichnet werden. Tabelle 3: Parallelität von Erklärung und Prognose Erklärung Prognose Gesetz gesucht gesucht Antezedensbedingung gesucht (Ursache) gegeben (Was folgt Explanans daraus?) Explanandum gegeben (Wirkung) gesucht Quelle: Breuer 1991, S. 163. Verändern Das vierte Basisziel der Wissenschaft liegt in der Veränderung. Veränderung hat mehrere kontextabhängige Definitionen. Viele empirische Untersuchungen dienen dem Ziel, Ent- Empirie scheidungen zu begründen, um Veränderungen einzuleiten. Drei verschiedene Arten von Die Empirie (von griech. empeiria) ist eine Veränderungen aufgrund empirischer Untersuchungen sind möglich (vgl. Nolting/Paulus Methode, die auf Erfah- 2018, S. 192): rung basiert, um wissen- schaftliche Erkenntnisse zu gewinnen. Man spricht 1. die Korrektur von Entwicklungen, von empirischer For- 2. die Förderung von Prozessen und schung, wenn Wissen nicht (nur) aus der Theo- 3. die Prävention zur Verhinderung schlechter Zustände. rie abgeleitet wird, son- dern auf beobachteten Bei der Korrektur wird davon ausgegangen, dass ein problematischer Zustand vorliegt, der Ergebnissen beruht. in eine positive Richtung verändert werden kann, wie z. B. eine defekte Maschine, die repariert werden muss. Die Förderung von Prozessen betrachtet etwas als verbesserungs- 19 bedürftig, unabhängig von seinem Ausgangszustand. Vor diesem Hintergrund ist jeder Schüler förderungswürdig. Die Prävention zielt darauf ab, schlechte Zustände oder die Verschlechterung von Zuständen zu vermeiden. Ein klassisches Beispiel hierfür wäre die Förderung von Mundhygiene zur Vermeidung von Karies (vgl. Hussy/Schreier/Echterhoff 2010, S. 19). 1.2 Wissenschaftliche Theorien Theorie Theorien sind immer Verallgemeinerungen verschiedener Reichweite. Theorien erklären Eine Theorie ist ein Sys- Beobachtungen und sie erlauben Vorhersagen. Sie setzen sich aus mehreren Hypothesen tem wissenschaftlich begründeter Aussagen, oder Gesetzen zusammen. Wir unterscheiden drei Typen von Theorien: visualisierte, ver- das einen Gegenstands- bale und formale Theorien. bereich und dazugehörige Gesetzmäßigkeiten zukunftswirksam Visualisierte Theorien beschreibt. Visualisierte Theorien stellen Zusammenhänge mittels geometrischer Figuren und Verbin- dungen her. Sie werden als Vorläufer von Theorien bezeichnet und kommen sehr oft in den Sozialwissenschaften vor. Durch ihre Form erhalten visualisierte Theorien einen Modell Modellcharakter. Modelle sind logische Verbindungen mehrerer interdependenter Hypo- Der Begriff Modell wird in thesen. In der Literatur wird der Begriff des Modells vielfach aus dem alltäglichen der Psychologie für eine Theorie benutzt, die in Gebrauch abgeleitet. Dörner knüpft an diesen Modellbegriff an, nach dem ein Modell „die einer exakten Sprache for- Replikation eines Realitätsausschnitts, sein Abbild“ ist (Dörner 1984, S. 337). Dazu gehören muliert ist. aber nicht nur Elemente des Realitätsausschnitts, sondern auch Relationen zwischen die- sen Elementen. Harbordt beschreibt vier wesentliche Merkmale von Modellen. Er sieht die grundlegende Funktion eines Modells in der Abbildung eines Objekts. Ein Modell kann als System betrachtet werden. Das Objekt wird vereinfacht abgebildet, indem von seinen „unwichtigen“ Merkmalen abstrahiert wird, wobei die Differenzierung zwischen wichtig und unwichtig vom Erkenntnisinteresse abhängt. Die Modellbildung geht daher immer mit der Reduktion von Komplexität einher (vgl. Harbordt 1974, S. 51). Wie bei einer Modelleisenbahn: Innerhalb eines Raumes entsteht ein Ausschnitt der Reali- tät in vereinfachter Form. Durch Lokomotive, Schienen, Bahnhof und Gleisanlage werden z. B. Relationen innerhalb des Systems abgebildet. Die Bahn fährt auf den Gleisen, hält an Bahnhöfen und richtet sich nach Gleisanlagen. Die Modelleisenbahn ist ein Abbild der Bundesbahn. 20 Abbildung 1: Modelleisenbahn Quelle: Gettyimages, n. d. Verbale Theorien Die durchschnittliche Theorie in der Wissenschaft ist eine verbale Theorie. Sie besteht aus einer unbestimmten Anzahl von Sätzen. Eine verbale Theorie benötigt gewisse Vorgaben zur Zielerreichung: Bestimmte Termini müssen klar definiert sein. Terminus Die Aussagen müssen widerspruchsfrei sein. Ein Terminus (Fachaus- druck, Fachbegriff, Fach- Es müssen beobachtbare Aussagen bzw. Hypothesen abgeleitet werden können. terminus) ist die defi- nierte Benennung eines Theorien streben nach allgemeinen Aussagen. Im Idealfall handelt es sich dabei um Begriffs innerhalb der Fachsprache eines Fach- Gesetze. In manchen Wissenschaften, wie z. B. den typischen Naturwissenschaften gebietes. (Mathematik, Chemie, Physik, Biologie), kann das erreicht werden. In den Sozialwissen- schaften dagegen sind absolute Angaben selten. Hier können Theorien bzw. Aussagen nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit gemacht werden (vgl. Ballstaedt 2014, S. 10). Formale Theorien In formalen Theorien kann man Zusammenhänge als System mathematischer Formeln darstellen. Sie werden bevorzugt in den naturwissenschaftlichen Fächern angewendet. Formalisierung, die teilweise als eine sehr erstrebenswerte Form der Theorie betrachtet wird, u. a., weil sie sich gut zur Simulierung von Wirklichkeit am Computer eignet, kann nicht in allen Wissenschaften bzw. bei allen Themen eingesetzt werden. Gerade die Wis- senschaften, die sich mit Menschen befassen, sehen sich oft mit sehr komplexen Realitä- ten konfrontiert, die sich nicht in Form von einfachen mathematischen Formeln abbilden 21 Formalisierung lassen (vgl. Manhardt 1995, S. 78). Dennoch gibt es sogar in der Psychologie eine Die Formalisierung bietet berühmte formale Theorie. Die Rescorla-Wagner-Formel erklärt das Phänomen der klassi- den Ansatz, logische Beziehungen zwischen schen Konditionierung, dass Lernen nur dann stattfindet, wenn der Betroffene überrascht Aussagen einer Theorie wird. Diese Formel soll hier lediglich als grundsätzliches Beispiel angeführt werden und exakt anzugeben und muss an dieser Stelle nicht im Detail verstanden werden (vgl. Rescorla/Wagner 1972, damit die Konsistenz der Aussagen zu überprüfen. S. 64ff.). Formalisierung alleine führt nicht zu einem Rescorla-Wagner-Formel Erkenntnisgewinn. ∆ VA(n) = αA × βUS(n) × (λUS(n) − Vall(n)) MERKE Eine Theorie ist ein System von Aussagen, das in sich widerspruchsfrei ist, kom- plexe Phänomene beschreibt oder vorhersagt und meistens mit bekanntem Wis- sen in Verbindung zu bringen ist oder auf dieses zurückgeführt werden kann. PFLICHTLITERATUR Lesen Sie zur Vertiefung: Breuer: Der Erkenntnisweg von Wissenschaft. 1.3 Alltags- versus wissenschaftliche Psychologie Unter Alltagspsychologie (engl. folk psychology) versteht man die Gesamtheit aller Begriffe der Umgangssprache, der Vorstellungen und der gewöhnlichen Erklärungsweisen, die traditionell und immer wieder verwendet werden. Alltagspsychologie ist etwas, das jeder Mensch bewusst oder unbewusst betreibt, um die Welt für sich begreifbar und sicher zu machen. Entsprechend der Alltagspsychologie passen Menschen ihr Verhalten an. Diese Form der naiven oder populärwissenschaftlichen Psychologie, wie sie umgangssprachlich bezeichnet wird, umfasst verbreitete Menschenkenntnisse, Alltagswissen, Vorstellungen und Vorurteile, die innere, psychische Vorgänge mithilfe von geistigen Erkenntnissen, Cha- raktereigenschaften oder Vererbung erklären. Bestimmte Motivationstheorien (vgl. Heck- hausen/Heckhausen 2010, S. 106) gehen daher davon aus, dass der Mensch ein naiver Wis- senschaftler ist, der sein Verhalten und das seiner Mitmenschen verstehen und vorhersagen möchte. Es handelt sich demnach hierbei um ein mentales, menschliches Bedürfnis, wie der Philosoph Epikur es schon in der griechischen Antike beschrieb (vgl. Geyer 2015). 22 Heider (1958) erklärt, dass wir es in der Psychologie mit einer besonderen Wissenschaft zu Epikur tun haben, da es naturgemäß zwei Arten von Psychologie gibt. Der „Common-Sense-Psy- (ca. 341 v. Chr.–271 v. Chr.) Griech. Philospoph; chologie“ (vgl. Kelley 1992, S. 3) oder naiven Psychologie und der wissenschaftlichen Psy- erster Pionier der Motiva- chologie ist gemeinsam, dass beide Arten von Psychologie sich mit Erklärungen für tionspsychologie; Men- menschliches Verhalten und Erleben beschäftigen. schen handeln nach Lust und Unlust (Prinzip des Hedonismus); menschli- Der Unterschied zur wissenschaftlichen Psychologie ist allerdings, dass sie, wie jede Wis- che Bedürfnisse können in auslösende, statische, senschaft, allgemeingültige Erkenntnisse hervorbringen muss. Die wissenschaftliche Psy- mentale und psychische chologie versucht, die Alltagspsychologie zu verstehen und darüber hinaus das menschli- Bedürfnisse aufgeteilt che Verhalten und Erleben mit seinen Prozessen und Mechanismen zu ergründen. werden. Abbildung 2: Fehler der Common-Sense-Psychologie Quelle: Erstellt im Auftrag der IU 2019. Die Common-Sense-Psychologie ist anfällig für vier verschiedene Fehler. Ihr alltagspsy- chologischer Sprachgebrauch ist ungenau und mehrdeutig. Sie arbeitet mit dem Men- schen als Individuum, und Menschen unterliegen menschlichen Wahrnehmungs-, Erinne- rungs- und Denkfehlern. Allgemeingültige, gesetzesähnliche Aussagen, wie in anderen Wissenschaften, sind in der Psychologie nicht möglich (s. o.) und Wahrscheinlichkeiten und ihre Effekte werden von Laien nicht adäquat behandelt. Alltagspsychologische Ver- mutungen können der Beginn einer Vermutung und einer Hypothese sein. In der Com- mon-Sense-Psychologie werden diese allerdings nicht weiter ausreichend geprüft. Um diese Fehler zu vermeiden oder zu reduzieren, muss die Psychologie die Vermutungen der Common-Sense-Psychologie systematisch überprüfen. Die Psychologie als Wissen- schaft unterscheidet sich durch den Einsatz von Methoden und die Art der Erkenntnisge- Methoden winnung. Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen. Er setzt sich zusammen aus „meta“ (hinterher) und „hodos“ (Weg) und bedeutet so viel wie „nachgehen“. Die Methode ist ein System von Regeln und Annah- men, die zu einer bestimmten Zielerrei- chung eingesetzt werden. 23 MERKE Ziel der Psychologie als Wissenschaft ist die Minimierung der Fehler, die in der Alltagspsychologie auftreten. Dazu wird aus einer Theorie eine Hypothese abge- leitet, die später dann empirisch, d. h. durch Sammlung von Informationen, überprüft wird. 2012 führten Kanning et al. (2013) eine wissenschaftliche Studie mit der Fragestellung durch, ob Laien oder Psychologen alltagspsychologische Darstellungen besser als solche erkennen. Das Ergebnis der Studie war, dass Laien mit höherer Schulbildung weniger pseudowissenschaftliche Aussagen für richtig halten. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Menschen mit mangelndem Wissen auf vorgefertigte Stereotypen zurückgreifen. Da Stere- otypen aus dem Alltagswissen gespeist werden und der Vereinfachung komplexer Sach- verhalte dienen, sind sie fehleranfälliger und lassen häufiger falsche Schlussfolgerungen zu. 1.4 Definition und Ziele der Psychologie Bezugnehmend auf die Basisziele der Wissenschaft (beschreiben, erklären, vorhersagen und verändern), die Differenzierung der Common-Sense-Psychologie (Einsatz von Metho- den zur wissenschaftlichen Prüfung von Hypothesen) und dem Menschen als Gegen- standsbereich der Psychologie, lässt sich die Definition der wissenschaftlichen Psycholo- gie zusammensetzen. MERKE „Gegenstand der Psychologie sind Verhalten, Erleben und Bewusstsein der Men- schen, deren Entwicklung über die Lebensspanne und deren innere (im Indivi- duum angesiedelte) und äußere (in der Umwelt lokalisierte) Bedingungen und Ursachen“ (Zimbardo/Gerrig 2018, S. 2f.). Die wissenschaftlichen Basisziele differenzieren sich innerhalb der Psychologie in Abhän- gigkeit von ihren Teilgebieten und der entsprechenden Fokussierung. Teilweise ist das Ziel Beschreibung, Erklärung und Vorhersage von menschlichem Verhalten wie z. B. in der All- gemeinen Psychologie. Aber auch Ziele wie Verhaltenskontrolle oder Verbesserung der Lebensqualität stehen im Mittelpunkt von Anwendungsfächern, wie z. B. der Klinischen Gerontopsychologie oder Gerontopsychologie und Gesundheitspsychologie. Die Gerontopsychologie ist die Schnittstelle zwi- schen Psychologie und Die Basisziele der Wissenschaften und der Psychologie haben mit Beschreibung, Erklärung Gerontologie. Sie erfasst und Vorhersage eine identische Schnittmenge. Diese wird in der Psychologie durch Verhal- das Erleben und Verhal- tenskontrolle und Verbesserung der Lebensqualität ergänzt. 24 Verhaltenskontrolle ten von Menschen, das auf das Alter und dessen Wirkfaktoren zurückzu- Besonders für die Psychologie ist die Kontrolle/Verhaltenskontrolle ein zentralwirksames führen ist. Ziel. Es ermöglicht auf der einen Seite experimentelle Forschung, innerhalb derer Experiment bestimmte Aspekte kontrolliert und damit konstant gehalten werden müssen, um deren (lat. experimentum: Ver- such, Probe, Beweis) eine Wirksamkeit zu unterbinden. Auf der anderen Seite ist es teilweise die Aufgabe der Psy- erfahrungswissenschaftli- chologie, das Verhalten des jeweiligen Klienten unter Kontrolle zu bringen bzw. den Klien- che Methode, die der ten kontrollieren zu lassen. Kontrolle bedeutet, Verhalten auftreten bzw. nicht auftreten zu empirischen Gewinnung von Informationen dient lassen, es zu initiieren, zu beenden sowie die Beeinflussung der Auftretenswahrscheinlich- keit, der Form und der Stärke des Verhaltens (vgl. Nolting/Paulus 2018, S. 191). Tabelle 4: Ziele der Psychologie anhand von Angst Beschreiben Was ist Angst? Wie äußert sich Angst? Welche Unterschiede gibt es zwischen Menschen bezüglich der Angst? Welche Persönlichkeitseigenschaften begünstigen die Entstehung von Angst? Erklären Wodurch wird Angst verursacht? Welche Gesetzmäßigkeiten gibt es bezüglich Angst? Wie können die Gesetzmäßigkeiten erklärt werden? Vorhersagen Was lässt sich bezüglich Angst vorhersagen? Was lässt sich in Bezug auf den Abbau von Angst vorhersagen? Kontrollieren Wie kann die Entstehung von Ängsten vermieden werden? Wie können vorhandene Ängste abgebaut werden? Quelle: Hobmair et al. 1996, S. 26. Verbesserung der Lebensqualität Die Erfassung von Lebensqualität ist schwierig, weil es sich um ein Konstrukt handelt, das Konstrukt gar nicht oder nur sehr schwer direkt beobachtet werden kann. Die Weltgesundheitsorga- Ein Konstrukt ist eine nicht direkt beobachtbare nisation (WHO) definiert Lebensqualität in ihrer ganzen Komplexität. Eigenschaft oder Dimen- sion. Auf sie wird durch indirekte Beobachtung oder z. B. Tests geschlos- sen. Typische Beispiele MERKE sind Intelligenz oder Ein- stellungen. „Lebensqualität ist die subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertesystemen, in denen sie lebt und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Maßstäbe und Anliegen. Es handelt sich um ein breites Konzept, das in komplexer Weise beeinflusst wird durch die körperli- che Gesundheit einer Person, den psychischen Zustand, die sozialen Beziehun- gen, die persönlichen Überzeugungen und ihre Stellung zu den hervorstechen- den Eigenschaften der Umwelt“ (WHOQOL 1997, S. 1). 25 1.5 Fachsprache der Psychologie Registertheorie Sprache lässt sich auf der Basis von Hallidays Registertheorie (vgl. Halliday 1978, S. 35) Das Register bezeichnet nach ihren Funktionen unterteilen. Dazu gehören die Alltags-, Bildungs- und Fachsprache. die Sprachvariation, die sich aus verschiedenen Register sind durch bestimmte Wortschätze und Strukturen gekennzeichnet. Die Alltags- Situationen ergibt. Dies sprache ist allen Mitgliedern einer Gesellschaft verfügbar und dient als Grundlage aller bedeutet, dass der Situa- anderen Sprachregister. Bildungssprache (vgl. Gogolin 2011) entspricht den Regeln des tionstyp die Auswahl der Sprache bestimmt. Schriftsprachgebrauchs. Es handelt sich um ein formelles, sprachliches Register, das auch außerhalb des Bildungskontextes in anspruchsvollen Settings gebräuchlich ist. Zur Bil- dungssprache gehören die symbolische Sprache, die Unterrichts- und die Fachsprache (vgl. Ahrenholz 2010, S. 13). Bildungssprache wird nicht gelehrt, weder in Schulen noch an Hochschulen. Die Berufssprache wurde 1999 von Braunert wahrgenommen. Er erkannte, dass ein Großteil der beruflichen Sprache nicht durch Fachsprache erklärt werden kann. Bis heute ist die Grenze zwischen Berufs- und Fachsprache nicht eindeutig geklärt. Sicher ist nur, dass sich zwischen Fach- und Alltagssprache als Pole das Kontinuum der Sprachre- gister aufspannt, mit je unterschiedlicher Nähe zu den beiden Enden und einem unter- schiedlichen Grad der Fachsprachlichkeit. Unter Fachsprache versteht man die gemeinsame Sprache der Mitglieder einer Disziplin, die einen effizienten Austausch zwischen den Experten ermöglicht und dadurch die Kom- Community of Science munikation in der Community of Science prägt (vgl. Schmiemann 2011). Die Fachsprache (dt. Wissenschaftsge- auf angemessenem Niveau zu beherrschen und selbst passgenau verwenden zu können, meinschaft) eine diszip- linspezifische Fachgesell- gehört zur Grundausbildung eines jeden Wissenschaftsbereiches und ist dementspre- schaft, innerhalb derer chend auch Teil der Erwartungen an die jeweiligen Absolventen. alle Mitglieder das Ziel haben, die entsprechende Wissenschaft weiterzuent- wickeln 26 Abbildung 3: Zusammenhang der Sprachregister Quelle: Erstellt im Auftrag der IU 2019, in Anlehnung an Efing 2014, S. 434. Die Fachsprache der Psychologie ist gekennzeichnet durch Eponyme, Akronyme, Anto- nyme, Synonyme und Anglizismen (vgl. Karenberg 201, S. 19ff.). Eponyme Das Wort Eponym ist aus den griechischen Bestandteilen „epi“ (an, bei, nach) und „onoma“ (Name) gebildet. Es handelt sich bei einem Eponym um einen Fachausdruck, der eine auf einen Eigennamen zurückzuführende Bezeichnung erfasst. Die Idee der Eponyme kommt aus der Medizin und wurde ursprünglich zur Ehrung eines Arztes eingesetzt. Beispiele für Eponyme aus der Psychologie sind: gaußsche Normalverteilung nach Carl Friedrich Gauß (dt. Mathematiker), Alzheimer-Krankheit nach Alois Alzheimer (dt. Psychiater), Werther-Syndrom nach „Die Leiden des jungen Werthers“ (Roman von J. W. von Goethe), Münchhausen-Syndrom nach Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen (dt. Adliger), 27 Rorschach-Test nach Hermann Rorschach (Schweizer Psychiater & Psychoanalytiker), McGurk-Effekt nach Harry McGurk (brit. kognitiver Psychologe). Akronyme Das Wort Akronym kommt von dem altgriechischen „akros“ und bedeutet so viel wie „Spitze“ oder „Rand“ und heißt daher wörtlich übersetzt etwa „Spitzen oder Höhe ande- rer Wörter“. Ein Akronym ist ein Sonderfall der Abkürzung. Es entsteht ein Kunstwort, das aus Anfangsbuchstaben bzw. Abkürzungen mehrerer Wörter gebildet wird. Reine Akro- nyme werden auch als Initialwörter bezeichnet (Brockhaus 2000, S. 22). Beispiele für Akronyme aus der Psychologie sind: B. A. = Bachelor of Arts, PsychThG = Psychotherapeutengesetz, VT = Verhaltenstherapie, LOL = laughing out loud, PERMA = „Positive Emotions“, „Engagement“, „Relationships“, „Meaning“, „Achieve- ment“ und HAWIK = Hamburg-Wechseler-Intelligenztest für Kinder. Mnemotechnik Gleichzeitig sind Akronyme auch eine Mnemotechnik, bei der die Anfangsbuchstaben Kunstwort aus dem 19. eines Wortes als Hilfsmittel genutzt werden, um sich die Reihenfolge neuer Informationen Jahrhundert. Es wird für ars memoriae und ars zu merken und diese zu erinnern. reminiscentiae benutzt und bedeutet so viel wie Synonyme Merkhilfen. Dies können z. B. Reime, Merksätze, Bilder oder Schemata Der Ausdruck „Synonym“ stammt vom griechischen „synonymos“ und bedeutet so viel sein. wie Gleichnamigkeit. Synonyme sind sinnverwandte Worte. Ein Wort hat in einem bestimmten Kontext die gleiche Bedeutung wie sein Synonym. Die Verwendung von Syno- nymen führt auf der einfachen sprachlichen Ebene zur Vermeidung von Wortwiederholun- gen sowie auf der höheren Ebene der Texterstellung zur inhaltlichen Nuancierung und sprachlichen Stilisierung von Texten. Beispiele für Synonyme aus der Psychologie sind: Psychologie = Seelenheilkunde, Extraversion = Geselligkeit, Heiterkeit, Gesprächsbereitschaft, Herzlichkeit, Common-Sense-Psychologie = Alltagspsychologie, Psychologe = Menschenkenner und Universität = Alma Mater. 28 TIPP Im Internet finden sich kostenlose Angebote, die bei der Suche nach Synonymen helfen. Anglizismen Anglizismen sind Wörter, die ursprünglich aus dem Englischen stammen und auch im Deutschen benutzt werden. Häufig findet man auch den Begriff des Amerikanismus für die Übernahme amerikanischer Wörter in die deutsche Sprache. 2019 wurde das Wort „Gendersternchen“ zum Anglizismus des Jahres gewählt. Beispiele für die Verwendung des Gendersternchens sind „Freund*innen“ oder „Zuschauer*innen“. Das kleine Stern- chen in diesen Wörtern ist das sogenannte Gendersternchen. Auch in den Nachrichten fal- len immer wieder Begriffe wie „Influencer“, „Fake News“ oder „Shitstorm“. Fake News von Fake = Täuschung, Fälschung, Attrappe; Beispiele für Anglizismen aus der Psychologie sind: News = Neuigkeit, Nach- richten; Fake News = Social Loafing = soziales Faulenzen, bewusst gefälschte Nach- richten Trial and Error = Versuch und Irrtum, Mental Model = mentales Modell, Map = Karte und Hypothesis testing = Hypothesentestung. Nachdem bis in die 1970er-Jahre vorwiegend Eponyme für medizinisch-psychologische Bezeichnungen gebraucht wurden, geht heute der Trend eher zu beschreibenden Akrony- men und Anglizismen. Dieser Wandel lässt sich vor allem mit der zunehmenden Komplexi- tät und Internationalisierung der Psychologie begründen. Internationalisierung Globalisierung und Inter- nationalisierung sind Der Fachjargon der Psychologie ist durch uneinheitliche Begriffsdefinitionen und Bezeich- zwei wichtige Begriffe der nungen gekennzeichnet sowie durch viele Wortneuschöpfungen, die im Rahmen von For- aktuellen Weltordnung. schung entstehen (vgl. Dernbach 2010, S. 208). Die genannten Arten der Begrifflichkeiten Hier geht es um grenz- überschreitendes Denken sollen einen Beitrag dazu leisten, dem interessierten Leser den Einstieg in die Fachsprache und darum, Wissenschaft der Psychologie zu erleichtern und den Bezug zu historischen Hintergründen herzustellen. und Forschung als offe- nes System zu betrach- ten. ZUSAMMENFASSUNG Die Psychologie gehört zu den Wissenschaften. Ihre Grundlagen sind daher in der Wissenschaftstheorie verortet. Die Aufgabe einer Wissen- schaft ist es, beständiges und zuverlässiges sowie allgemeingültiges (Fach-)Wissen zu generieren. Dazu tragen die Basisziele der Wissen- schaftstheorie (beschreiben, erklären, vorhersagen und verändern) grundlegend bei. Die Ergebnisse der Basisziele werden in einer Theorie zusammengefasst. Es können drei Typen von Theorien unterschieden 29 werden: die visualisierte, die verbale und die formale Theorie. Der Vor- teil von Theorien ist, dass sie eine empirische Überprüfung ermöglichen. Auf der anderen Seite können aber auch Theorien aus empirischen Ergebnissen abgeleitet werden. Dazu bedienen sich die Wissenschaften der Prinzipien der logischen Schlussfolgerung aus der Philosophie (Deduktion, Induktion, Abduktion). Zur Psychologie als Wissenschaft gehört eine eigene Fachsprache, die durch Eponyme, Akronyme, Synonyme und Anglizismen gekennzeichnet ist. Das grundlegende Verständnis dieser häufig vorkommenden Fachbe- griffe erleichtert den Einstieg in diese Wissenschaft und leistet einen Bei- trag zum besseren, basalen Verständnis von Online-Vorlesungen, Lehr- buchtexten, Aufgabeninstruktionen oder Prüfungsfragen. In Bezug auf den aktuell fast inflationären Gebrauch von Wissen, auf der Basis individueller Lerntheorien, ist für die Psychologie von qualitativ hoher Bedeutung, ausschließlich das als Wissen zu akzeptieren, was Metakriterien entspricht und auf dieser Grundlage bezüglich seines Wahrheitsgehaltes geprüft werden kann (vgl. Schreyögg/Geiger 2003). Dieses Fachwissen sollte von jedem Psychologen adressatengerecht in Fach-, Bildungs- oder Alltagssprache verbalisiert werden. 30 LEKTION 2 DIE GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – wie die Wissenschaftsgeschichte in den Gesamtzusammenhang der Wissenschaftsfor- schung einzuordnen ist. – welche Methoden zur Erforschung der Geschichte der Psychologie eingesetzt werden. – wo die Vergangenheit und die Geschichte der Psychologie beginnt. – welche Persönlichkeiten, Ideen, Probleme und sozialen Entwicklungen die Geschichte der Psychologie geprägt haben. – welche dunklen Flecken in der Geschichte der Psychologie bis heute vermieden wer- den. – welche Bedeutung die Geschichte der Psychologie für Ihre individuelle Entwicklung der berufsbezogenen Persönlichkeit hat. 2. DIE GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Einführung Die Psychologie ist eine noch sehr junge Wissenschaft. Dennoch können ihre inhaltlichen Anfänge bereits in der griechischen Philosophie gefunden werden. Sokrates und sein Schüler Platon entwickelten erste Ideen, die wir heute den wissensorientierten Ansätzen zuordnen. Das berühmte Höhlengleichnis von Platon lässt sich aus aktueller Sicht als Beginn des begrifflich-deduktiven Erkenntnisgewinns betrachten. PLATONS HÖHLENGLEICHNIS Im Höhlengleichnis benutzt Platon die Metapher der Höhle für das irdische Leben. Die Menschen sitzen gefesselt mit eingeschränktem Gesichtsfeld und können nur auf eine Höhlenwand blicken. Sie sehen die Schatten von Modellen an der Wand, die andere durch Gegenstände vor einem Feuer erzeugen. Ein Gefangener flieht und überbringt den anderen die Botschaft, dass sie die wahre Welt sehen könnten, wenn sie sich von den Fesseln befreien würden. Um 400 n. Chr. beschreibt Augustinus seine persönliche Entwicklung in einem Buch und wird so zum ersten bekannten Autobiografen. Er betont die Bedeutung der eigenen Erfah- rung, über sich selbst nachzudenken, und wird zum Begründer der autobiografischen Beobachtungsmethode und der Selbstreflexion. Thomas von Aquin beschäftigt sich um 1250 mit der grundlegenden Organisation der Psy- che und ihrer körperlichen Interaktion. Hier liegen die frühen Anfänge des „Leib-Seele- Problems“. Renaissance Im Zeitalter der Renaissance werden Individualität und die charakterliche Bestimmung Die Renaissance wird als des Menschen von Bedeutung. Zum ersten Mal ist der Begriff der „Psychologia“ bei Rudolf die Wiedergeburt der Antike bezeichnet. Sie Goclenius (1547–1628) dokumentiert. René Descartes prägte das mechanistische Men- umfasst die europäische schenbild. Für ihn waren Leib und Seele getrennte Einheiten und der Kopf die höchste Kulturepoche im 15./16. Steuerungsinstanz. Es folgten die Jahre der ersten physiologisch-psychologischen Jahrhundert, die den Wandel vom Mittelalter Erkenntnisse mit der Lehre der spezifischen Sinnesenergien von J. Müller (1826), der zur Neuzeit vollzog. „Young-Helmholtz-Theorie“ (1802), der Drei-Farben-Farbsehtheorie, der erlernten Psycho- physik und dem „Weber-Fechnerschen Gesetz“ (1860). Charles Darwin entwickelte die „vergleichende Verhaltensforschung“ (1872). Der Evolutionstheoretiker erkannte schon früh, dass emotionale Gesichtsausdrücke überall auf der Welt gleichermaßen erkannt und interpretiert werden. Fünf Jahre später begann die offizielle Geschichte der Psychologie. „Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, aber nur eine kurze Geschichte“ (Ebbing- haus 1908, S. 1). 32 2.1 Methoden der Psychologie- Geschichte Sinn und Zweck davon, die Geschichte einer wissenschaftlichen (Teil-)Disziplin zu untersu- chen, ist es, … … zu ordnen, d. h., eine Einordnung in den historischen Kontext vorzunehmen, zu korrigieren, um aus der Vergangenheit zu lernen und eine positive Veränderung zu ermöglichen, vergangene erfolgreiche Perspektiven für heutige Themen zu überneh- men, sowie zu relativieren, d. h., das Rad nicht jede Woche neu zu erfinden, sondern z. B. innerhalb der Forschung zu schauen, was es schon gab und was neu ist, bzw. eine Fortsetzung ein- zuleiten (vgl. Schmithüsen/Krampen 2015, S. 5). Die allgemeine Wissenschaftstheorie geht davon aus, dass die Fachgeschichte einer Wis- senschaft aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann (vgl. Schmithüsen/ Krampen 2015, S. 3). Sie verfolgt einen problemgeschichtlichen, ideengeschichtlichen, sozialgeschichtlichen und/oder einen personalisierten Ansatz. Das Modell der Problemge- schichte ist inhaltlich orientiert und richtet den Fokus auf bestimmte Konzepte und deren Verlauf über die Zeit betrachtet. Dazu gehören die typisch psychologischen Grundgedan- ken der Leib-Seele-Thematik, die Anlage-Umwelt-Debatte sowie die Erlebens- und Ver- Leib-Seele-Thematik haltensdiskussion. Die Ideengeschichte dagegen verfolgt einen chronologischen Ansatz, aus dem Englischen über- setzt = „Geist-Körper- der die Entstehung von gedanklichen Veränderungen fokussiert und diese in den Problem“; thematisiert geschichtlichen Hintergrund integriert (vgl. Schönpflug 2000). Die Sozialgeschichte das dauerhaft philosophi- beschäftigt sich mit der Auswirkung vergangener sozialer Entwicklungen auf die Gegen- sche Problem zwischen Denken und Bewusstsein wart. Der personenzentrierte Ansatz geht von Persönlichkeiten des Wissenschaftsberei- als psychischer Aktivität ches aus, deren Ansichten psychologische Gegenstandsbereiche bedeutsam verändert und dem Gehirn als kör- perlicher Struktur haben. Abbildung 4: Wissenschaftsgeschichte als Teil der Wissenschaftsforschung Quelle: Schmithüsen/Anton 2015, S. 3. 33 Unter die Wissenschaftsforschung lassen sich verschiedene Bereiche subsumieren (Schmi- thüsen/Anton 2015, S. 2): Wissenschaftstheorie: Die Wissenschaftstheorie beschäftigt sich mit verschiedenen theoretischen Grundlagen des Erkenntnisgewinnes. Wissenschaftssoziologie: Die Wissenschaftssoziologie fokussiert die sozialen Rahmen- bedingungen und die Wissensorganisation. Wissenschaftspsychologie: Die Wissenschaftspsychologie hat die Aufgabe, die indivi- duellen Bedingungen der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu untersuchen. Hier werden Publikation vorrangig Publikationsverhalten und die Wirksamkeit von Arbeitsgruppen untersucht. lat. „publicatio“ = Veröf- Wissenschaftspolitik: Die Wissenschaftspolitik steuert politische Rahmenbedingungen fentlichung oder Bekanntmachung; Publi- für erfolgreiches Wissensmanagement an Hochschulen und anderen institutionellen kation bezeichnet Wissen, Einrichtungen. das der Allgemeinheit zur Wissenschaftsgeschichte: Die Wissenschaftsgeschichte betrachtet die historische Ent- Verfügung gestellt wird. Der Begriff wird auch für wicklung der Wissenschaft. den Prozess dieses Vor- gangs benutzt. Alle fünf Teildisziplinen der Wissenschaftsforschung können auf zwei Ebenen betrachtet und bearbeitet werden. Sie gelten zum einen für Wissenschaften im Allgemeinen. Und sie können spezifisch für jede einzelne Fachdisziplin innerhalb der Wissenschaften analysiert und beobachtet werden. Die Wissenschaftsgeschichte arbeitet diesen Sinn und Zweck eines Fachbereiches mit ver- schiedenen Methoden heraus. Zu Beginn steht eine Analyse von Literaturquellen primär- erer, sekundärer oder tertiärer Art. So kann man den historischen Kontext und die Quellen in einen wechselseitigen Bezug bringen. Dies findet in Form eines hermeneutischen Zir- Hermeneutischer Zirkel kels statt (Gadamer 1986; Heidegger 1993). Manche Archive und Museen, wie z. B. das Vom griech. „hermeneu- Deutsche Museum in München oder ein kleines Museum an der Universität Würzburg, stel- ein“ = „deuten“ und „kir- kos“ = „der Kreis“; erfasst len Exponate von Untersuchungsapparaten der frühen Experimentalpsychologen aus bzw. das Paradox, dass das bieten biografische Informationen zu bedeutenden Forschungspersönlichkeiten (z. B. das Ganze aus dem Einzelnen Sigmund-Freud-Museum in Wien) (vgl. Schmithüsen/Krampen 2015, S. 4f.). Da es sich bei und das Einzelne aus dem Ganzen verstanden wer- der Psychologie um eine noch recht junge Wissenschaft handelt, ist die Befragung von den muss. Zeitzeugen ebenfalls eine gute Möglichkeit, an historische Informationen zu gelangen. Emeritierung Krampen (2009) interviewt in seinem Buch dazu emeritierte Psychologen, die die Ent- Als Emeritierung bezeich- wicklung der Psychologie vom Anfang der 60er-Jahre bis Anfang des 21. Jahrhunderts und net man den Ruhestand für Hochschullehrer. ihren Wandel von einer randständigen und unbedeutenden Wissenschaft zu einem der meist gewählten Studienfächer mitbegleitet haben. Eine weitere Methode, die Geschichte Zeitreihenanalyse einer Wissenschaft aufzuarbeiten, ist die sogenannte Zeitreihenanalyse. Mit ihrer Hilfe Eine Zeitreihenanalyse werden längsschnittliche und damit zeitabhängige historische Entwicklungen, häufig auf- erhebt Daten zu verschie- denen, zeitlich nachei- grund von quantitativen Daten, verfolgt. Dazu gehören z. B. Depressionsraten in der Bevöl- nander gestaffelten Zeit- kerung, Inhaltsanalysen von Zeitschriften oder Veröffentlichungsraten (vgl. Krampen 2015, punkten, die zueinander S. 25ff.). in Beziehung gesetzt wer- den. 34 2.2 Die Geschichte großer Männer Die Geschichte der Psychologie aus der Sicht berühmter Menschen oder der sogenannte Great-men-Ansatz (vgl. Boring 1929), der diese Wissenschaft sehr geprägt hat, ist im Bereich des personalisierten Ansatzes der Wissenschaftsgeschichte einzuordnen. Die Abbildung oben verdeutlicht dies. An dieser Stelle kann nur eine Auswahl bedeutender Persönlichkeiten dargestellt werden. Wilhelm Maximilian Wundt Wilhelm Maximilian Wundt (1832–1920) gilt als der Gründervater der deutschen Psycholo- gie. Als Philosoph, Physiologe und Psychologe baute er 1879 in Leipzig das erste Labor für experimentelle Psychologie auf. Dies betrachten wir heute als den Beginn einer neuen Periode der Psychologie. Die Gründung markiert den Anfang der wissenschaftlichen Psy- chologie (vgl. Boring 1950). Wundt verfolgte den Ansatz, mit messbaren Variablen die Variable Struktur des Geistes zu erfassen. Er wollte Emotionen, Empfindungen, Ideen und Aufmerk- eine Leerstelle in einer logischen oder mathema- samkeit untersuchen. Ein Beispiel für eine messbare Variable wäre hier z. B. die Hautleit- tischen Gleichung; ihre fähigkeit, die sich in Abhängigkeit von Emotionen verändert. Neben diesen Grundlagen genaue Bedeutung ist interessierte er sich aber auch für Anwendungsfächer, wie z. B. Religions-, Sprach-, Neuro- kontextabhängig Hautleitfähigkeit und Kulturpsychologie. Wilhelm Wundt entwickelte die erste einheitliche Wissenschafts- galvanische Hautreaktion, theorie der Psychologie, die bis heute an Aktualität in der Diskussion über die theoretische die Aktivität der Schweiß- Psychologie nicht an Bedeutung verloren hat (vgl. Arnold 1980). drüsen an den Fingern; wird Mittels Sensor am Finger oder an der Hand William James gemessen William James (1842–1910) gilt als Gründer der amerikanischen Psychologie. Er erreichte internationalen Ruhm mit seinem Buch „Principles of Psychology“ (1890), in dem James seine Idee einer Emotionstheorie formuliert. Er hielt die physiologische Reaktion für eine Grundvoraussetzung von Emotionen (vgl. Heil 2011, S. 1). Dementsprechend postulierte Postulieren er empirische Korrelationen zwischen mentalen und physiologischen Zuständen in psy- Begriff aus der Bildungs- sprache. Bedeutet, etwas chologischen Variablen. William James entwickelte die ersten Ansätze des Funktionalis- als wahr und richtig hin- mus der modernen Psychologie, indem er die Funktionalität der Psyche im individuellen zustellen. Anpassungsprozess des Menschen an seine Umwelt postulierte (Herms 1991, S. 80). Damit Korrelation Begriff aus der Bildungs- ist James einer der ersten Psychologen, der Selbsterfahrung empirisch zu erfassen ver- und Fachsprache; sucht. Darüber hinaus sprach James von einem „stream of consciousness“, innerhalb des- beschreibt einen Zusam- sen er zwischen dem material, social und spiritual self unterschied. Neben diesem autono- menhang zwischen Ereig- nissen, Erscheinungen men Selbst ergaben sich daraus dann die ersten Ansätze des Unbewussten (vgl. Lears oder Variablen ganz allge- 1981). mein Iwan Pawlow Der russische experimentelle Physiologe Iwan Pawlow (*1849, †1936) wurde durch seine Experimente zur klassischen Konditionierung, bei denen er den Speichelreflex von Hun- den untersuchte, zu einem der berühmtesten Psychologen weltweit. Seine wissenschaftli- che Arbeit führte zum Gesetz der zeitlichen Kontiguität und dem bedingten Reflex. 35 Pawlow bekam 1904 den Nobelpreis für Medizin verliehen (vgl. Pawlow 1955). Damit ehrte die Kommission seine Arbeiten über die Verdauungsdrüsen. Er gilt dadurch als der Behaviorismus Begründer des Behaviorismus. Zusätzlich forschte er im Bereich der Nervenversorgung Der Behaviorismus ist des Herzens und der Gehirnfunktion. Dadurch gelang es Pawlow, nicht nur den Zusam- eine Schule der Psycholo- gie, die das menschliche menhang zwischen Reizen und Reaktionen zu beobachten, sondern auch die dazugehöri- Verhalten beobachtet. gen Gesetzmäßigkeiten von Hemmungs- und Erregungsprozessen im Nervensystem zu erforschen (vgl. Rüting 2002, S. 331). Heute bedienen sich die Verhaltenspsychologen und Tokensysteme Verhaltenstherapeuten Pawlows Methoden. Die Pädagogik hat sie um die Tokensysteme Ein Tokensystem ist ein erweitert. systematisches Anreizsys- tem auf der Basis klassi- scher Konditionierung, Sigmund Freud das Verhalten in eine gewünschte Richtung formt. Der österreichische Arzt und Neurologe Sigismund Schlomo Freud (1856–1939) gilt als der Begründer der Tiefenpsychologie. Zwischen 1899 und 1900 veröffentlichte Freud seine ersten Traumdeutungen. Das Unbewusste Mit der Traumdeutung betrat er das Gebiet des Unbewussten. Schon vor seiner ersten Was das Unbewusste ist, Traumdeutung versuchte er, das Unbewusste mittels Hypnose zu erreichen. Er entwickelte kann nicht abschließend geklärt werden. Seine die Idee, dass dieses Unbewusste unser Handeln beeinflusst. Er sah die menschliche Psy- Definition ist perspekti- che als dreigeteilt (Ich – Über-Ich – Es) und vertrat die Idee, dass der ständige Kampf dieser venabhängig. Nüchtern drei Instanzen das individuelle Handeln bestimme (vgl. Freud 1904, S. 6f.). Nach der betrachtet, sind es men- tale Prozesse, die ohne „Machtergreifung“ Hitlers wurden Ausgaben seiner Werke bei „Aktion gegen den undeut- Bewusstsein ablaufen. schen Geist“ verbrannt. Freud floh ins Exil nach London, wo er an Krebs starb (vgl. Freud 1905). Jean Piaget Der Schweizer Biologe Jean Piaget (1896–1980) unterscheidet sich von der klassischen Psychoanalyse. Für ihn ist menschliche Erkenntnis ein langer Entwicklungsprozess, in des- sen Mittelpunkt aktives Handeln und Interaktion mit der Umwelt, in Kombination mit Anpassungsprozessen, stehen (vgl. Piaget 1992, S. 9). Piaget wiederspricht auch dem Pio- nier des behavioristischen Ansatzes, Pawlow. Er versucht, menschliche Erkenntnisse durch Untersuchungen der Gene transparent zu machen. Daher wird im Zusammenhang Epistemologie mit Piagets Arbeiten oft der Begriff genetische Epistemologie verwendet oder von „gene- Die Epistemologie ist ein tischem Lernen“ gesprochen (vgl. Piaget 2004). anderes Wort für Erkennt- nisgewinn. Es stammt aus der Philosophie und Carl Rogers beschäftigt sich mit den Voraussetzungen für Erkenntnisgewinnung. Kongruenz, Empathie und bedingungslose, positive Zuwendung sind die entscheidenden Kongruenz therapeutenbezogenen Variablen der Personenzentrierten Gesprächstherapie, deren lat. congruentia = Über- Begründer Carl Rogers ist. Carl Rogers (1902–1987) hatte aber noch viel mehr die Vision einstimmung; im Bereich der Psychotherapie die eines neuen Menschen, die weit über seinen Therapieansatz hinausgeht (vgl. Roger/ Übereinstimmung zwi- Rosenberg 1980, S. 216). Seine Grundannahmen waren, dass jeder Mensch von Natur aus schen innerlicher Einstel- gut sei und Fähigkeiten besitze, um seine eigenen Probleme zu lösen. Aufgabe der Thera- lung und äußerlichem Verhalten pie ist es demnach, die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Mit dieser Einstellung gilt Rogers zusammen mit Maslow (s. u.) als Begründer der humanistischen Psychologie. Die humanistische Psychologie umfasst das Menschenbild, dass sich jeder 36 Organismus optimal entwickelt, wenn ihm die Möglichkeit dazu gegeben wird. Rogers bezeichnet das als Aktualisierungs- oder Selbstwirksamkeitstendenz (vgl. Rogers 1981, Aktualisierungstendenz S. 66). Die Aktualisierungsten- denz ist die Fähigkeit des Menschen, seine physi- Skinner schen, psychischen und kognitiven Fähigkeiten zu entfalten, zu erhalten und Durch die Arbeiten von Pawlow in der Sowjetunion und Watson in Amerika geprägt, entwi- zu entwickeln. ckelte Skinner (1904–1990) Experimente mit Ratten und Vögeln, bei denen er diesen einfa- che Dinge beibrachte, wie einen Hebel zu drücken oder an eine bestimmte Stelle zu picken. Die Methode, die er dabei benutzte, bezeichnete er als operante Konditionierung. Die Ergebnisse übertrug Skinner auf Menschen und stellte so seine Lerntheorie auf, dass „positive und negative Verstärker“ menschliche Verhaltensweisen entscheidend beein- flussen (vgl. Skinner 1938). Weiterführend erarbeitete er die Methode des programmier- ten Lernens, die durch drei wesentliche Merkmale gekennzeichnet ist (bekanntes Lern- Programmiertes Lernen ziel, logische Abfolge der Lernziele, 95 Prozent erfolgreich absolvierbare Lerneinheiten) vom griech. programma = schriftliche Bekanntma- (vgl. Skinner 1961, S. 382). Skinner entwickelte die Vision einer aggressionsfreien Gesell- chung; Darbietung des schaft mittels Massenkonditionierung (vgl. Skinner 1972). Lernstoffes in kleinen Tei- leinheiten mit dazugehö- riger Verstärkung Abraham Harold Maslow Der Name Abraham Harold Maslow (1908–1970) wird allgemein direkt mit seinem berühmt gewordenen Bedürfnismodell verbunden. Die seiner Meinung nach lebenswichti- gen Bedürfnisse sind hierarchisch geordnet und folgen dem Prinzip der Homöostase. Die Homöostase letzte Stufe seines Modells bezeichnete Maslow als „Selbstverwirklichung“. Dieses Motiv Unter Homöostase ver- steht man die Aufrechter- unterliegt nicht der Homöostase und ist ein fortwährendes Bedürfnis. Maslow näherte sich haltung innerkörperlicher diesem anspruchsvolleren Bedürfnis über qualitativ-biografische Analysen von z. B. Funktionen. berühmten Persönlichkeiten und identifizierte eine Liste von Qualitäten, die für diese Menschen, aber nicht für den Rest der Bevölkerung charakteristisch war (vgl. Maslow 1981). Später entwickelte er die vierte Kraft der Psychologie. Neben der Tiefenpsychologie (1. Kraft), dem Behaviorismus (2. Kraft) und dem Humanismus (3. Kraft) hielt er die trans- personale Psychologie für die 4. große, treibende Kraft in der Psychologie. Sie widmet sich der Meditation, höheren Bewusstseinsstufen und parapsychologischen Phänomenen. Albert Bandura Albert Bandura führte den Begriff des Modelllernens ein. Modelllernen funktioniert nur unter bestimmten Voraussetzungen. Dazu gehören u. a. eine gute Identifikation des Beobachters mit dem Modell sowie stellvertretende Verstärkung. Bandura beschäftigte sich speziell mit Lernen im Kontext von sozialem Verhalten und Sprache (vgl. Bandura 1995). Der soziale Lernprozess lässt sich in zwei Abschnitte gliedern, die Aneignungsphase (Aufmerksamkeitszuwendung, Behaltensphase) und die Ausführungsphase (motorische Reproduktionsphase, Verstärkungs- und Motivationsphase). Albert Bandura erhielt zahl- reiche Auszeichnungen, u. a. von der Internationalen Gesellschaft für Aggressionsfor- schung (vgl. Bandura 1973), 2004 die „Outstanding Lifetime Contribution to Psychologie“ der APA, 2008 den Grawemeyer Award in Psychologie. Grawemeyer Award Der Grawemeyer Award wird jährlich in den USA in fünf verschiedenen Kategorien verliehen. 37 Es handelt sich hier um eine kleine Auswahl berühmter Psychologen, die die Geschichte dieser Wissenschaft maßgeblich mitgeprägt haben. Das Auswahlkriterium ist auf die Anschlussfähigkeit weiterer Skriptinhalte ausgerichtet. Kurt Lewin, Erich Fromm oder Lew Wygotski hätten hier genauso ihren Platz verdient. In diesem Lehrbrief kann die Geschichte der Psychologie nur angerissen werden. PFLICHTLITERATUR Lesen Sie hierzu vertiefend: Archiv für die pragmatische Psychologie oder die Seelenlehre in der Anwendung auf das Leben (Hrsg.): Zur Kunstlehre des Den- kens. 2.3 Die Geschichte großer Ideen Neben der Perspektive, die Geschichte einer Wissenschaft aus der Sicht großer Persönlich- keiten zu beschreiben (vgl. Boring/Gardner 1967, S. 449–475), kann auch das Modell der Ideenschichte herangezogen werden (vgl. Lück et al. 1987). Die Ideengeschichte verfolgt den Schritt von einer geistigen Strömung hin zur entsprechenden Theoriebildung (vgl. Zeitgeist Lück et al. 1987). Boring prägte für dieses Phänomen den Begriff des „Zeitgeistes“ und Der Zeitgeist prägt eine leitete daraus den Entwicklungsursprung einer psychologischen Schule ab. Ihre Entste- über mehrere Generatio- nen ausgedehnte Epoche, hung wird auch als Entfaltungskonzept bezeichnet (vgl. Lück et al. 1987). in der eine bestimmte Lebensart und Lebensein- Hehlmann (1967)gliedert die Ideengeschichte der Psychologie in sieben Epochen. Er stellung vorherrscht. beginnt 2000 bis 500 v. Chr. In diesem Zeitalter dreht sich vieles um Ideen zur Entstehung Epoche Eine Epoche ist ein Zeit- der Götter, des Weltalls und der Menschen. Daher finden sich in den frühen Anfängen der abschnitt innerhalb der Religion und der Mythologie Ideen zum Konzept der Seele und anderen psychologischen Geschichte. Fragen (vgl.Fink 1998). In der Antike entsteht die Lehre von den Temperamenten und Kör- persäften nach Hippokrates, die Elementenlehre nach Empedokles sowie die Induktion als Erkenntnisweg bei Aristoteles und die Deduktion bei Platon (vgl. Bein 1992, S. 93). Die Vor- stellung von eher magischen Zusammenhängen wird von einem stärker wissenschaftlich geprägten Denken abgelöst. Die Zeit von 200 v. Chr. bis 1600 n. Chr. bedeutet erst einmal einen Rückschritt für die Psychologie zurück zur Mythologie. Nach dem christlichen Glau- ben dieser Zeit ist der Mensch ein von Gott bestimmtes Wesen. Alles Wissen kommt von Gott und kann nur bei und durch Gott erreicht werden. Im 11. Jahrhundert fand die Scho- Scholastik lastik ihre Anfänge und mit ihr der Versuch, die Antike und kirchliche Dogmen miteinan- (vom lateinischen scho- der in Verbindung zu bringen. Diese Zeit ist mit dem Namen Thomas von Aquin verbunden lastikus = schulisch) die Lehre vom wissenschaftli- (vgl. Kennedy 1913), der als größter Kirchengelehrter seiner Zeit gilt. Thomas von Aquin chen Denken mittels stützte sich auf die Lehre von Aristoteles und verband sie mit dem christlichen Glauben. Beweisführung als Im Kern seines Menschenbildes sah er den Menschen als ein soziales Wesen, das zum Aus- Methode tausch in einer Gemeinschaft lebt (vgl. Aquin 1980). 1600 bis ca. 1900 n. Chr., im Zeitalter der Aufklärung und Vernunft, schaffte es die Psychologie immer noch nicht, eine eigen- ständige Wissenschaft zu werden. Aber die Wissenschaften fingen an, sich langsam auszu- differenzieren. Philosophen wie René Descartes, Baruch de Spinoza oder Hansheinrich von Wolff postulierten den Erkenntnisgewinn durch den Menschen selbst. Hier steht aller- 38 dings das reine rationale Denken als Erkenntnisquelle im Mittelpunkt des Rationalismus (vgl. Schelling 2016, S. 28). Thomas Hobbes, John Locke und David Hume werden alle den Anfängen des Empirismus zugeordnet und leiteten die zweite große Vorstufe der Psycho- logie ein. Ende des 19. Jahrhunderts begann dann die Gründungsphase der Psychologie. Zuerst kamen die Psychophysiker mit der Skalierung physischer Empfindungen, wie Weber und Fechner. 1879 erhielt Wilhelm Wundt den ersten Lehrstuhl für Psychologie an der Universität zu Leipzig. Er leitete gleichzeitig das Zeitalter des Strukturalismus und Ele- mentarismus ein. Wilhelm Wundt gilt damit allgemein als Gründervater der Psychologie. Elementarismus Ein paar Jahre später begann Sigmund Freud mit seinen Arbeiten zur Psychoanalyse. 1900 (auch Elementenpsycho- logie) basiert auf der bis 1950 beginnt die Phase der Stabilisierung u

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