Einführung in die deutsche Philologie (SoSe 2024) - SW-Skript_Einheit I PDF

Document Details

ArtisticLightYear

Uploaded by ArtisticLightYear

Universität Wien

2024

null

Alexandra N. Lenz

Tags

german philology language studies german language linguistics

Summary

This is a lecture script for an introductory course in German philology. The script covers the basics of Germanistik and Sprachwissenschaft, encompassing lectures and relevant readings. The course is for the summer semester of 2024 at the University of Vienna.

Full Transcript

Univ.-Prof. Dr. Alexandra N. Lenz Ringvorlesung „Einführung in die deutsche Philologie“ (SoSe 2024) Themenblock I: GERMANISTISCHE SPRACHWISSENSCHAFT Vorlesungsbegleitende und klausurrelevante Pflichtlektüre, die für den Fachbereich Sprachwissenschaf...

Univ.-Prof. Dr. Alexandra N. Lenz Ringvorlesung „Einführung in die deutsche Philologie“ (SoSe 2024) Themenblock I: GERMANISTISCHE SPRACHWISSENSCHAFT Vorlesungsbegleitende und klausurrelevante Pflichtlektüre, die für den Fachbereich Sprachwissenschaft die folgende Literatur umfasst: Auer, Peter (Hg.) (2013): Sprachwissenschaft. Grammatik Interaktion Kognition. Stuttgart/Weimar: Darin: S. 1-25 (= Kap. 1.1 und 1.2). Ernst, Peter (2021): Deutsche Sprachgeschichte. Eine Einführung in die diachrone Sprachwissenschaft. 3. vollständig aktualisierte Auflage. Wien: Facultas. Darin: S. 9-38 und 75-98 (= Kap. 1 und 3). 1 EINLEITENDES Ich wage zu behaupten, dass die meisten von Ihnen sich für das Studium der Germanistik/Dt. Philologie hauptsächlich entschieden haben, weil Ihnen Ihr Schulfach Deutsch gut gefallen hat, Sie gerne lesen, Sie Literatur lieben und/oder Sie gerne darüber sprechen. Das Lesen und die Analyse von Literatur standen ja auch sicher maßgeblich im Zentrum des Unterrichts, den Sie im Schulfach Deutsch genossen haben. Neben den Ihnen vertrauten literaturwissenschaftlichen Ansätzen werden Sie im Rahmen dieser Vorlesung sicher auch mit ganz anderen und Ihnen weniger vertrauten Themen und wissenschaftlichen Herangehensweisen konfrontiert werden. Heute und in den nächsten beiden Einheiten werden wir uns der germanistischen Teildisziplin der Sprachwissenschaft zuwenden. Sprachwissenschaft ist eine Wissenschaft, die Ihnen Antworten geben kann auf eine Unmenge an Fragen, die ich heute mit Ihnen diskutieren möchte. Wir beantworten somit die Frage „Was ist Sprachwissenschaft?“ indirekt, indem wir uns anschauen, womit sich Sprachwissenschaft ganz allgemein beschäftigt. Damit gehen wir natürlich auch direkt auf die Frage ein, womit Sie sich denn konkret beschäftigen können/müssen/dürfen, wenn Sie Sprachwissenschaft im Rahmen Ihres Studiums betreiben. Ich möchte Sie zudem in unseren insgesamt drei Vorlesungseinheiten zur Sprachwissenschaft darüber informieren, wann Sie in Ihrem Studium auf welche Inhalte in Form welcher Lehrveranstaltung der Sprachwissenschaft treffen (einige dieser LVs sind obligatorisch und in einem bestimmten Zeitraum zu absolvieren, andere sind fakultativ und frei, sowohl was den Zeitpunkt als auch die inhaltliche Füllung betrifft). Terminologischer Einschub: Im Folgenden verwende ich die Termini Sprachwissenschaft und Linguistik, um auf dieselbe Wissenschaftsdisziplin zu referieren. Ebenso verwende ich die Termini Germanistik und Deutsche Philologie synonym. Es wird Inhalt der nächsten Sitzungen sein, den Terminus Germanistik ein wenig ausführlicher zu diskutieren. EINSTIEGSBEISPIEL: Röschenhof Zum Einstieg möchte ich Ihnen ein Tonbeispiel vorspielen; es handelt sich um einen Radiomitschnitt des MDR (Mitteldeutscher Rundfunk), gefunden auf youtube. Es handelt sich insofern um ein sehr ergiebiges Tonbeispiel, als es im Kontext vieler der im Folgenden zu diskutierenden sprachwissenschaftlichen Fragestellungen herangezogen werden kann. http://www.youtube.com/watch?v=M7R35mhPaaI Auf einer vorwissenschaftlichen Beschreibungsebene könnten wir den Radioausschnitt inhaltlich folgendermaßen und vereinfacht zusammenfassen: Während einer Grußsendung meldet sich ein Zuhörer per Telefon und tut seine Aufregung darüber kund, dass der Name seines Altersheims in dieser Grußsendung – wohl seitens der RadiomoderatorInnen – gehäuft falsch ausgesprochen wird. Nähern wir uns aber diesem Radiomitschnitt aus sprachwissenschaftlicher Perspektive und stellen sprachwissenschaftlich relevante Fragen: Was heißt denn eigentlich, dass da jemand „Grüße sendet“, dass sich jemand – und zwar ein „Zuhörer“ – per Telefon „meldet“ und seine Aufregung „kundtut“? Was heißt denn eigentlich, dass da etwas einen „Namen“ hat, der von einem „Moderierenden“ „ausgesprochen“ wird? Kurz zusammengefasst: Was heißt denn eigentlich, dass da jemand spricht und jemand das Gesprochene hört? Was ist eigentlich Sprache und was bedeutet Sprechen? Wie funktioniert sprachliche Kommunikation und was sind die Voraussetzungen erfolgreicher 2 Kommunikation? Ich werde mit Ihnen heute nur einige dieser Fragen und diese nur sehr verkürzt diskutieren können. Überhaupt werden wir heute sicher mehr Fragen stellen, als wir in der Kürze der Zeit diskutieren, geschweige denn beantworten können. Aber es geht heute auch vielmehr darum, Ihnen mittels einer Vielfalt von Fragestellungen die Inhalte und Untersuchungsgegenstände der Sprachwissenschaft anzudeuten. Antworten auf diese und viele andere Fragen werden Sie dann (hoffentlich) während Ihres Studiums finden bzw. selbst entwickeln. Aber zurück zu unserem Videoclip: SEMIOTIK Was ist eigentlich Sprache und was bedeutet Sprechen? Beginnen wir mit einer ersten und vereinfachten Definition, nach der wir „Sprache“ verstehen als ein System sprachlicher Zeichen. Diese Definition hilft nur dann wirklich weiter, wenn wir erklären, was denn ein „sprachliches Zeichen“ ist, eine Frage, mit der sich insbesondere die Disziplin der „Semiotik“ beschäftigt, wobei Semiotik sich nicht nur auf sprachliche Zeichen beschränkt, sondern die Lehre von Zeichen allgemein (also auch nonverbalen) umfasst. Sie werden in Ihrem Studium verschiedene Zeichenmodelle kennenlernen, insbesondere das von Ferdinand de Saussure (einem berühmten Sprachwissenschaftler, dessen Name heute fallen muss, auch wenn wir uns hier nicht weiter mit ihm beschäftigen werden). Ein weiteres recht berühmtes Zeichenmodell ist das sogenannte „semiotische Dreieck“ von Ogden/Richards, das Sie auf der Folie sehen. Ein sprachliches Zeichen beinhaltet demnach drei Relationen, die hier durch die Dreiecksseiten dargestellt werden: Wir können die formale Seite eines sprachliche Zeichens hören oder lesen, etwa das verschriftlichte Wort (man beachte die Pfeilklammern zur Notation von Schriftzeichen) bzw. das gesprochene Wort, hier in phonetischer Transkription wiedergegeben. Diese Form, diese „materielle Ausdrucksseite“ eines sprachlichen Zeichens ist – wenn wir das Wort kennen - in unseren Köpfen mit einer bestimmten Vorstellung, einer Bedeutung oder einem Konzept verknüpft. Das heißt, wenn jemand von „Rosen“ spricht, haben wir eine Vorstellung, wovon er spricht, wir „verstehen“, was er meint. Häufig referieren wir mit sprachlichen Ausdrucksformen auf konkrete Gegenstände der außersprachlichen Wirklichkeit. Wenn wir von der Rose erzählen, die wir gestern geschenkt bekommen haben, dann referieren wir ganz konkret auf eine bestimmte Rose, die jetzt in unserem Wohnzimmer in einer Vase steht. Vielleicht stehen wir gerade neben dieser Rose und zeigen sie unserem Besuch. Nicht immer liegt unserem sprachlichen Zeichen aber ein ganz konkretes Bezugsobjekt zugrunde, sondern möglicherweise referieren wir nur auf irgendeine abstrakte Einheit in unserer Vorstellungs- und Erfahrungswelt. Denken Sie etwa an Wörter wie Freundschaft, Liebe oder Verrat. Die Beziehung zwischen dem Zeichenträger (der geschriebenen oder gesprochenen Form oder anders: dem Schrift- oder Laut-„Bild“) und dem außersprachlichen Gegenstand ist folglich nicht unmittelbar oder direkt, sondern nur implizit, mittelbar, mittels des Konzepts („Begriff“, „Vorstellung“), das der Zeichenträger evoziert. Diese indirekte Beziehung kommt graphisch in der gestrichelten Dreiecksseite zum Ausdruck. Unser Radiohörer im Radiomitschnitt hat auch eine konkrete Vorstellung, was denn mit dem Wort Röschen gemeint sein könnte. Er verbindet damit die Vorstellung einer Blume, was für ihn die Aussprache Rös-chen motiviert. Das Problem besteht zunächst einmal darin, dass das verschriftlichte Wort verschiedene Aussprachevarianten ermöglicht. Unser Zuhörer regt sich über die vermeintlich falsche Aussprachevariante auf. Was heißt eigentlich „Aussprache“ und wie sprechen wir etwas aus? Was bedeutet „hören“? Was macht „Hörbares“ zu Sprache (etwa im Gegensatz zu Lärm, Geräuschen, die wir ja auch hören können)? Woran hören wir, dass unser Radiohörer ein Mann ist? 3 Was bringt uns zu der Annahme, dass es sich um einen älteren Mann handelt? (Zu dieser Annahme wären wir sicher auch gekommen, wenn es hier nicht explizit um ein Altersheim gehen würde. Denn der Radioausschnitt lässt uns ja auch stark vermuten, dass der Kommentator jüngeren Datums ist als der sich beschwerende Rentner.) Wie kommen wir zu solchen Annahmen? Woran hören wir, dass unser Rentner sich aufregt? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Sprache/Sprechen und Emotionen? PHONETIK Dies sind nur einige von vielen Fragen, mit denen sich die sogenannte „Phonetik“ beschäftigt, die die Wissenschaft von den Phonen, den Lauten darstellt. Ich zitiere Kohler (21995: 22): „Der Gegenstand der Phonetik ist das Schallereignis der sprachlichen Kommunikation in allen seinen Aspekten, d.h. die Produktion, die Transmission und die Rezeption von Sprachschall einschließlich der psychologischen und soziologischen Voraussetzungen in der Kommunikationssituation zwischen Sprecher und Hörer, wobei sowohl symbol- als auch messphonetische Betrachtungsweisen dieses Objekt prägen.“ Die „artikulatorische Phonetik“ ist die phonetische Teildisziplin, die nach der Artikulation von Sprachlauten fragt. Um einen Sprachlaut zu artikulieren, erzeugen wir zunächst einen Luftstrom in unseren Atmungsorganen, zu denen insbesondere die Lunge, der Kehlkopf sowie der Rachen-, Mund- und Nasenraum gehören. Die meisten Sprachlaute werden beim Ausströmen der Luft erzeugt, also bei der Ausatmung. Wenn die Stimmbänder im Kehlkopf bei der Artikulation eines Lautes mitschwingen, liegen sogenannte stimmhafte Laute vor, schwingen sie nicht, haben wir es mit stimmlosen Lauten zu tun. (Test: Sprechen Sie ein „p“ und dann ein „b“ und halten Sie dabei Ihre Finger an den Kehlkopf.) Von entscheidender Bedeutung für die Unterscheidung verschiedener Laute ist auch, was dann oberhalb des Kehlkopfes im sogenannten „Ansatzrohr“ passiert, also im Rachen-, Mund- und Nasenraum. Der entscheidende Unterschied etwa zwischen den beiden Lautklassen „Konsonanten“ und „Vokale“ liegt darin, dass Vokale ungehindert durch das Ansatzrohr „gleiten“, während bei der Artikulation von Konsonanten „Hindernisse“ im Rachen- oder Mundraum auftreten. (Test: Sprechen Sie ein „a“ versus ein „p“.) Schauen wir zur Illustration in den Kehlkopf hinein und sehen ihm bei der Artikulation von Vokalen zu. Die Unterschiede in der Artikulation von Lauten können sichtbar gemacht werden in einem sogenannten „Spektogramm“, das die Frequenzbereiche eines Schallereignisses und damit auch eines Sprachlautes in seinem zeitlichen Verlauf zeigt. Spektogramme sind wesentliche Tools, mit denen die „akustische Phonetik“ arbeitet. Sie sehen hier die Spektogramme zu den beiden Wörtern Rö-schenhof bzw. Rös-chenhof. Dabei sehen Sie insbesondere die „Formanten“ des Vokals in Hof jeweils sehr deutlich als übereinander geschichtete Balken. Formanten stellen die Frequenzbereiche eines Schallereignisses dar, die besondere Energieniveaus erreichen. Verschiedene Laute unterscheiden sich in der Lage ihrer Formanten. Aber auch unterschiedliche SprecherInnen weisen unterschiedliche Formanten auf. Dies spielt nicht zuletzt in der „forensischen Phonetik“ eine Rolle, die Sprechererkennung bei der Aufklärung von Verbrechen einsetzt. Über dem Spektogramm ist jeweils ein „Oszillogramm“ abgebildet, das uns etwas über die Lautstärke der Stimme und ihre Höhe erzählt. Der Unterschied zwischen Rös-chen und Rö-schen hat mit vokalischen und konsonantischen Unterschieden zu tun. Wir können die Aussprachedifferenzen in einer phonetischen „Transkription“ deutlich machen, indem wir die Schriftzeichen der „International Phonetic Association (IPA)“ 4 einsetzen. Wie ersichtlich, treffen zwei Reibelaut einerseits ([s], [ç]) auf nur einen Reibelaut andererseits ([ʃ]). Hinzu kommen Unterschiede in der Länge und Qualität des Stammvokals: ein langer ö-Laut einerseits ([øː] wie in Söhne) und ein kurzer ö-Laut ([ɶ] wie in Töchter) andererseits. Das aktuelle IPA-System sehen Sie hier auf der Folie bzw. online unter dem angegebenen Link. Es hat den Anspruch, alle belegten Laute der Sprachen der Welt transkribieren zu können. Die einzelnen Transkriptionszeichen sind in der Tabelle bzgl. ihrer artikulatorischen Merkmale geordnet. Also etwa die Konsonanten nach ihrem Artikulationsort und ihrer Artikulationsart (s. etwa die beiden bilabialen Plosive [b] und [p].)  TRANSKRIPTIONSÜBUNG Innerhalb der Phonetik sind wir heute kurz auf ihre drei zentralen Subdisziplinen eingegangen, nämlich die artikulatorische Phonetik (mit Fokus auf der Produktion von Sprachlauten), die akustische Phonetik (mit Fokus auf physikalisch-akustischen Aspekten von Sprachlauten) und der auditiven Ponetik (mit Fokus auf der Rezeption und Wahrnehmung von Sprachlauten). Auch unter größter Konzentration wird es keinem Sprecher möglich sein, dass Wort Rös-chen wiederholt auszusprechen und dabei die Artikulation des ö-Vokals konstant zu halten. Sowohl die Länge (Quantität) als auch die Lautqualität werden bei jedem Artikulationsversuch schwanken, wenn auch nur leicht. Hören wir uns verschiedene Realisierung ein und desselben Wortes bei unserem Radiohörer an: Trotz der leichten Ausspracheunterschiede, die in seinen verschiedenen Realisierungen von Rös-chen deutlich werden, hören wir, verstehen wir immer wieder ein und dasselbe Wort, nämlich Rös-chen. Wie kann das sein? Wieso hören wir Unterschiede und verstehen trotzdem immer dasselbe? PHONOLOGIE Antworten auf diese Frage gibt uns die „Phonologie“, die sich mit den kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten einer Sprache, mit den Phonemen, beschäftigt. „Sie umfasst den Lautbestand von Einzelsprachen, die Funktion, welche die einzelnen Laute im System der jeweiligen Sprache erfüllen (z. B. die bedeutungsunterscheidende Funktion), die Distribution der Laute in der jeweiligen Sprache (mögliche Stellungen und Kombinatorik der Laute) sowie die Veränderungen, die Laute etwa unter dem Einfluss ihrer Nachbarlaute erfahren können.“ (Ernst 22007: 61) Ein Phonem ist eine Lautklasse, in die wir alle Varianten ein und desselben Lauts „hineinstecken“. Ein Beispiel: Es gibt im Deutschen sehr verschiedene und auch regional differierende Möglichkeiten, den anlautenden Konsonanten im Wort Röschen auszusprechen: Es gibt etwa das sogenannte „Zungenspitzen-r“, bei dem die Zungenspitze (mit mehreren „Schlägen“) gegen den oberen Zahndamm schwingt. Alternativ kann das aber auch uvular als „Zäpfchen-r“ ausgesprochen werden. Seltener und regional stärker begrenzt tritt auch ein retroflexes „r“ auf, wie wir es aus dem Englischen kennen. Unabhängig davon, welche dieser Aussprachevarianten ein Sprecher des Deutschen wählt, um den ersten Konsonanten in Röschen zu artikulieren, klassifizieren wir diesen Laut als einen r-Laut. Wir ordnen ihn unbewusst einer gemeinsamen Lautklasse zu, die wir als „/r/-Phonem“ bezeichnen (Man beachte die Notationskonvention!). Das heißt aber auch, dass mit den verschiedenen Artikulationsvarianten keine Bedeutungsunterschiede verbunden sind. Ob etwa Rös-chen mit Zungenspitzen-r oder Rös-chen mit Zäpfchen-r, wir verstehen ‚Röschen‘. Die deutsche Sprache hat also lediglich ein /r/-Phonem, das durch verschiedene r-Laute repräsentiert werden kann. 5 Ziehen wir zum Vergleich eine andere Sprache heran, nämlich etwa das Spanische. Im Spanischen gibt es „Minimalpaare“, deren Bedeutungsunterschiede auf der Ausdrucksseite der Wörter lediglich mit der minimalen Aussprachevariation der r-Laute einhergehen. Als Beispiel dient das Minimalpaar pero ‚aber‘ und perro ‚Hund‘, einerseits mit einfachem Zungenspitzen-r und andererseits mit mehrschlägigem Zungenspitzen-r. Diese minimalen Artikulationsunterschiede sind mit unterschiedlichen Bedeutungen/Inhalten der sprachlichen Zeichen verknüpft. Im Spanischen ist diese Aussprachedifferenz folglich bedeutungsdifferenzierend. Das Spanische weist somit in seinem Phonemsystem zwei Phoneme im r-Bereich auf. Die skizzierten Beispiele illustrieren auch, warum die wichtige, weil bedeutungsdifferenzierende Unterscheidung zwischen [r] und [ɾ], die es im Spanischen gibt, für deutschsprachige MuttersprachlerInnen mitunter schwierig zu erlernen ist: Hier treffen zwei verschiedene Phonemsysteme aufeinander!  ÜBUNG MINIMALPAARE MORPHOLOGIE Bei näherem Hinsehen sind aber die Unterschiede zwischen den beiden Wörtern Rös-chen und Rö-schen in unserem Hörbeispiel primär keine lautlichen Unterschiede. Sie hängen vielmehr mit der Frage zusammen, aus welchen kleineren bedeutungstragenden Elementen denn eigentlich das in Rede stehende Wort „zerlegt“ werden kann. Welche kleineren „bedeutungstragenden“ Elemente „verstecken“ sich in einem Wort? Wie ist es zusammengesetzt? Wo ziehen wir die Grenzen zwischen Elementen innerhalb eines Wortes? Bei diesen Fragen kann die Teildisziplin der „Morphologie“ weiterhelfen, die sich mit „Morphemen“ beschäftigt, die die kleinsten bedeutungstragenden Bausteine einer Sprache darstellen. Ich zitiere Meibauer [u. a.] (22007: 29): „Unter einem Morphem versteht man im Allgemeinen ein einfaches sprachliches Zeichen, das nicht mehr in kleinere Einheiten mit bestimmter Lautung und Bedeutung zerlegt werden kann. In diesem Sinne sind Wörter wir Haus, rot, auf Morpheme.“ Kommen wir zu unserem Tonbeispiel zurück und ziehen zur Diskussion des Wortpaares Rös-chen/ Rö-schen ein ähnlich klingendes, aber vielleicht ergiebigeres Wortpaar heran, nämlich Lös-chen versus lö-schen. Lös-chen trägt die Bedeutung von ‚kleines Los‘. Wir können dieses Wort zerlegen in zwei kleinere Einheiten, die selbst jeweils eine Bedeutung tragen. {Lös-} (abgeleitet vom Wort Los) und {- chen}, welches uns anzeigt, das wir es hier wohl mit einem kleineren Los zu tun haben. (Vergleiche hierzu Kind-chen, Anekdöt-chen, Schwein-chen und Rös-chen). Das Problem, das sich in unserem Hörbeispiel auftut, ist also die Frage, ob es sich bei dem Wort um eine Zusammensetzung aus Rös- und dem Ableitungssuffix -chen handelt oder nicht. Zumindest unser Rentner präferiert diese Interpretation. Wenn wir die beiden Morpheme {Lös-} und {-chen} betrachten (Man beachte die Notationskonvention!), fällt auf, dass {Lös-} eine deutlich konkretere und gegenständlichere Bedeutung trägt als {-chen}. Das Morphem {Lös-} bildet – ebenso wie {Haus} und {rot} – die sogenannte „Wurzel“ des Wortes Löschen. „Wurzeln sind die unverzichtbaren lexikalischen Kerne von Wörtern. Wörter müssen mindestens ein Wurzelmorphem enthalten.“ (Meibauer [u. a.] 22007: 29) Dagegen ist {-chen} kein Wurzelmorphem. Es kann nie allein, sondern immer nur in Kombination mit einer anderen 6 Wurzel auftreten. Wir klassifizieren es als ein sogenanntes „gebundenes Wortbildungselement“, das die Funktion hat, ein neues Wort zu bilden. Da dieses Wortbildungselement, auch „Derivationselement“ genannt, hinter der Wurzel steht, klassifizieren wir es als Suffix, ebenso wie etwa -bar, -lein und -heit in den Wörtern heilbar, Kindlein und Schönheit. Dagegen stehen „Präfixe“ vor den Wurzeln, wie etwa un-, zer-, und be- in den Wörtern untypisch, zerbrechen und behelfen. Gemeinsames Merkmal dieser Derivationsaffixe ist die Tatsache, dass sie nie allein stehen können, sondern immer nur „gebunden“, das heißt in Kombination mit einer Wurzel“ auftreten. Im Gegensatz zum Namen Rö-schen können wir dem Wort lö-schen ebenfalls eine uns bekannte Bedeutung zuordnen. Lö-schen ist das Verb, das einen Löschvorgang beschreibt. Auch dieses Verb kann in kleinere bedeutungstragende Elemente zerlegt werden. Wir erkennen zum einen den Stamm {lösch-}, der etwa in den Wörtern Löschtaste (s. PC-Tastatur auf der Folie: Entf-Taste), Feuerlöscher oder Löschvorgang vorkommt. Und wir erkennen die Tatsache, dass es sich bei löschen um ein Verb handelt, daran, dass der Stamm mit der (nicht nur) für Infinitive typischen Endung -en kombiniert ist. Es könnte auch die Endung eines konjugierten Verbs darstellen und die 1. oder 3. Person Plural (Indikativ, Aktiv, Präsens) markieren (wir löschen, sie löschen). Dieses -en hat weniger etwas mit Wortbildung zu tun, sondern vielmehr mit Grammatik. Wir klassifizieren es als ein „Flexionselement“, wobei wir Flexion definieren als die ausdrucksseitige Veränderung von Wörtern anhand ihrer grammatischen Kategorien. Flexionsaffixe, die ebenfalls nur gebunden auftreten, sind im Deutschen etwa -en, -st und -s in löschen (Infinitiv, 1./3. Plural), hüpfst (2. Sg.) oder Mails (Pluralmarker). Fassen wir die drei Morphemtypen in einer Graphik nach Meibauer [u. a.] (22007: 30) zusammen: Der Wurzel als einem Morphem mit konkreter (lexikalischer) Bedeutung einerseits stehen unselbständige, gebundene Affixe andererseits gegenüber, die deutlich weniger konkrete Bedeutungen innehaben. In Abhängigkeit davon, ob diese Affixe zur Wortbildung oder aber zur Markierung grammatischer Funktionen herangezogen werden, stellen sie Derivations- bzw. Flexionsaffixe dar. Aus der Graphik sind auch zwei wesentliche Subdisziplinen der Morphologie abzuleiten, die da sind: die Wortbildung und die Flexionsmorphologie. Die Derivation, wie wir sie am Beispiel des Suffix -chen in Rös-chen kennengelernt haben, ist nur ein zentrales Mittel der Wortbildung. Ein anderes Mittel ist etwa die Komposition, bei der zwei oder mehrere Wurzeln miteinander kombiniert werden (z. B. Haus- tür). Die Flexionsmorphologie ist dagegen der Teil der Morphologie, der sich mit der Flexion von Wörtern und folglich mit der Grammatik von Wörtern beschäftigt. Die Frage, ob und in welcher Art ein Wort flektiert werden kann, spielt auch bei vielen Wortartenklassifikationen eine Rolle. Ein Beispiel einer solchen Klassifikation sehen Sie auf der Folie. In der vorgeschlagenen Klassifikation werden einerseits (links) flektierbare (z. B. Verben, Substantive) von (rechts) unflektierbaren Wortarten (z. B. Adverben, Präpositionen) unterschieden. Innerhalb der flektierbaren Wortarten werden weitere Gruppierungen hinsichtlich der Art der Flexionsmorphologie vorgenommen. Bei den unflektierbaren kommen hingegen syntaktische Aspekte bei der Wortartenklassifizierung zum Tragen, auf die im nächsten Kapitel kurz eingegangen wird.  ÜBUNG WORTARTEN 7

Use Quizgecko on...
Browser
Browser