Stoerungsbilder Riemer - Psychische Erkrankungen I - 2024 PDF
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2024
Thomas Riemer
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These are lecture notes on psychological disorders, focusing on organic disorders. Dr. Thomas Riemer gives an introduction to the structure of the ICD-10 and organic psychological disorders. The lecture covers disorders such as amnesia, delirium, and various types of dementia. The notes also describe different ways of categorizing the disorders.
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Psychische Erkrankungen I Einführung und organische psychische Störungen Dr. med. Dipl.-Psych. Thomas Riemer Berlin, Stand 2024 Ablauf 1. Organisatorisches 2. Struktur des ICD-10 und Inhalt der Vorlesung 3. Einführung in die organischen psychischen Stö...
Psychische Erkrankungen I Einführung und organische psychische Störungen Dr. med. Dipl.-Psych. Thomas Riemer Berlin, Stand 2024 Ablauf 1. Organisatorisches 2. Struktur des ICD-10 und Inhalt der Vorlesung 3. Einführung in die organischen psychischen Störungen 4. Systematik der organischen psychischen Störungen im ICD-10 5. Amnestisches Syndrom 6. Delir 7. Andere psychische Störungen 8. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 9. Therapie bei organischen psychischen Störungen 10.Fallbeispiele Riemer Psychische Erkrankungen I 2 1. Organisatorisches Riemer Psychische Erkrankungen I Ablauf der Vorlesung ▪ Blockveranstaltung: ▪ 26 UE in der Woche vom 07.10.2024 bis 11.10.2024 ▪ 30 UE an drei Samstagen: 26.10.2024, 09.11.2024, 23.11.2024 ▪ Inhalte: umfassendes Wissen über alle psychischen Störungen ▪ keine Überschneidungen zur Vorlesung Psychische Erkrankungen II ▪ Prüfung: Klausur über den gesamten Stoff der Vorlesung ▪ single-choice Format (1 aus 5) ▪ Klausurvorbereitung am letzten Kurstag Riemer Psychische Erkrankungen I 4 2. Struktur des ICD-10 und Inhalt der Vorlesung Riemer Psychische Erkrankungen I ICD-10 ▪ 10 Hauptkapitel, die (außer F99) jeweils Unterkapitel enthalten VL Psychische Störungen II F0 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen Demenzen F1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen Alkoholbezogene Störungen F2 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen F3 Affektive Störungen Therapieresistenz, Absetzphänomene F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen Zwangs- und Traumafolgestörungen F5 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren Schlaf-, Ess- und postpartale Störungen F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Borderline Persönlichkeitsstörung F7 Intelligenzminderung F8 Entwicklungsstörungen F9 Verhalten- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend ADHS, Bewegungs-/Ticstörungen F99 Psychische Störung ohne nähere Angabe Wir besprechen alle Themen, die nicht in Teil II vorkommen Riemer Psychische Erkrankungen I 6 3. Einführung in die organischen psychischen Störungen Riemer Psychische Erkrankungen I Begriffsbestimmung ▪ Begriff organische psychische Störungen (OPS) ist seit dem ICD-10 üblich; vorher wurden OPS mit einer Vielzahl unterschiedlicher Begriffe bezeichnet, z.B.: ▪ (hirn)organisches Psychosyndrome unabhängig vom Begriff sind ▪ körperlich begründbare psychische Störungen die Störungen psychopathologisch sehr ▪ organische Psychosen unterschiedlich, ▪ psychoorganische Störungen gemeinsamer Nenner ist die organische Ätiologie ▪ symptomatische Psychosen ▪ organische psychische Störungen kommen grundsätzlich als Differentialdiagnosen für psychische Störungen im engeren Sinn infrage ▪ die spezifische Darstellung in einer eigenen Vorlesung ergänzt die späteren Themen und vermittelt Ihnen Wissen zur korrekten diagnostischen Einordnung und Therapie Riemer Psychische Erkrankungen I 8 Organische psychische Störungen im ICD-10 ▪ im ICD-10 sind organische psychische Störungen in einem Kapitel (F0) zusammengefasst ▪ substanzindizierte Störungen sind in einem gesonderten Kapitel (F1) zusammengefasst ▪ die diagnostischen Kategorien von Erkrankungen der Kapitel F0, F1 und F2ff überschneiden sich teilweise, unterscheiden sich aber immer in mindestens einem Merkmal, z.B. ▪ F06.2 Organisch wahnhafte Störung ▪ F10.5 Psychotische Störung durch Alkohol ▪ F20.0 Paranoide Schizophrenie Riemer Psychische Erkrankungen I 9 Kapitel F0X im ICD-10 ▪ Kapitel F0X = Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen ▪ psychische Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie in einer zerebralen Krankheit, einer Hirnverletzung oder einer anderen Schädigung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt ▪ Hirnfunktionsstörung kann primär oder sekundär sein ▪ primär: auf das Gehirn beschränkte Störung ▪ sekundär: Gehirn wird durch Organstörung geschädigt oder im Rahmen einer alle Organe betreffende Erkrankung mitgeschädigt ▪ Gesetz der Unspezifität: Morphologie und Psychopathologie oft nicht korreliert ▪ neun Unterkapitel (F00–F09) Riemer Psychische Erkrankungen I 10 Unterkapitel von F0X ▪ F00–F03: Demenzen ▪ F04: Organisches amnestisches Syndrom, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt ▪ F05: Delir, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt ▪ F06: Andere psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit ▪ F07: Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns ▪ F09: Nicht näher bezeichnete organische oder symptomatische psychische Störung Riemer Psychische Erkrankungen I 11 Organische psychische Störungen im ICD-11 ▪ getrennte Kapitel für neurokognitive und andere organische psychische Störungen ▪ Kapitel Neurokognitive Störungen (6D7/6D8): ▪ Delir (6D70) ▪ leichte neurokognitive Störung (6D71) ▪ amnestisches Syndrom (6D72) ▪ Demenzen (6D80: Alzheimer, 6D81: vaskuläre Demenz, 6D82: Lewy-Körper Demenz, 6D83: frontotemporale Demenz, 6D84: Demenz durch psychoaktive Substanzen*, 6D85: Demenz durch andernorts klassifizierte Erkrankungen) ▪ psychische und Verhaltensstörungen bei Demenz (6D86) ▪ *im ICD-10 unter substanzbezogene Störungen (F1) eingeordnet Riemer Psychische Erkrankungen I 12 Organische psychische Störungen im ICD-11 ▪ getrennte Kapitel für neurokognitive und andere organische psychische Störungen ▪ Kapitel Sekundäre mentale oder behaviorale Syndrome durch andernorts klassifizierte Erkrankungen (6E6): ▪ Sekundäre psychotische Syndrome (6E61) ▪ Sekundäre Stimmungssyndrome (6E62) ▪ Sekundäre Angstsyndrome (6E63) ▪ Sekundäre Zwangssyndrome (6E64) ▪ Sekundäre dissoziative Syndrome (6E65) ▪ Sekundäre Impulskontrollsyndrome (6E66) ▪ Sekundäre neurokognitive Syndrome (6E67) ▪ Sekundäre Persönlichkeitsveränderungen (6E68) ▪ Sekundäre katatone Syndrome (6E69) Riemer Psychische Erkrankungen I 13 Häufigkeit von organischen psychischen Störungen ▪ Prävalenz kann nur geschätzt werden, da häufig nicht korrekt erfasst ▪ akute organische psychische Störungen: ca. 165.000/Jahr, z.B. ▪ bei ca. 30% der Hirninfarkte ► 48.000 Fälle ▪ bei ca. 10% der Schädel-Hirn-Traumen ► 16.000 Fälle ▪ 65.000 Fälle eines Delirs ▪ chronische organische psychische Störungen: ca. 1.000.000/Jahr, z.B. ▪ ca. 40.000 Fälle nach Hirninfarkt ▪ ca. 80.000 Fälle nach Schädel-Hirn-Trauma ▪ ca. 700.000 Fälle von Demenzerkrankungen Riemer Psychische Erkrankungen I 14 4. Systematik der organischen psychischen Störungen im ICD-10 Riemer Psychische Erkrankungen I Von der Psychopathologie zur Diagnose Bewusstseinstrübung ja nein Delir F05 Gedächtnisstörungen ja nein Weitere kognitive Störungen Andere, wie Depression ja nein Wahn Angst Persönlichkeits- Demenz F00–F03 Amnesie F04 veränderung Leichte kognitive F06–F07 Störung F06.7 Riemer Psychische Erkrankungen I 16 Exkurs: Demenzen im ICD-10 F00.X F01.X Demenz bei Alzheimer- Vaskuläre Demenz Krankheit F00-F03 Demenzsyndrome F03 F1X.73 F02.X Nicht näher bezeichnete Demenz Demenz durch psychotrope Demenz bei anderenorts Substanzen klassifizierten Krankheiten.0 bei Pick-Krankheit mehr dazu in Psychische.1 bei Creutzfeld-Jakob-Krankheit Erkrankungen II.2 bei Chorea Huntington.3 bei idiopathischem Parkinson-Syndrom.4 bei HIV-Krankheit.8 bei anderen Erkrankungen Riemer Psychische Erkrankungen I 17 5. Amnestisches Syndrom Riemer Psychische Erkrankungen I Einordnung und Kriterien des amnestischen Syndroms ▪ auch Korsakow-Syndrom; existiert im ICD-10 nahezu identisch zweimal ▪ F04 Organisch amnestisches Syndrom, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt ▪ F1X.6 Psychische und Verhaltensstörungen durch [Substanz], Amnestisches Syndrom ▪ Kriterien: ▪ Vorliegen einer Störung des Kurzzeit- und Langzeitgedächtnisses ▪ Fehlen einer Störung des Immediatgedächtnisses, einer Bewusstseinstrübung oder Auffassungsstörung sowie eines allgemeinen intellektuellen Abbaus ▪ Vorliegen einer objektivierten Hirnerkrankung [bei F04] bzw. Fehlen einer objektivierten Hirnerkrankung [bei F1X.6] ▪ Fehlen [bei F04] bzw. Vorliegen [bei F1X.6] eines erklärenden Substanzgebrauchs Riemer Psychische Erkrankungen I 19 Ursachen eines amnestischen Syndroms ▪ drei Hauptgruppen: 1. Hirnerkrankungen: Schädel-Hirn-Traumata, zerebrovaskuläre Erkrankungen, epileptische Anfälle / Epilepsiechirurgie, Hypoxie (z.B. nach Suizidversuch durch Erhängen oder nach Reanimation), Kohlenmonoxidvergiftungen, HSV-Enzephalitis, multiple Sklerose 2. systemische Störungen: Thiaminmangel, rezidivierende Hypoglykämien 3. pharmakologische Ursachen: Benzodiazepine und andere Sedativa, Alkohol und andere Neurotoxine Riemer Psychische Erkrankungen I 20 Gedächtnisstörungen bei psychischen Störungen im engeren Sinne ▪ dissoziative Amnesie: Personen mit dissoziativer Amnesie können zeitweilig wichtige persönliche Informationen vergessen, die nicht durch eine normale Vergesslichkeit erklärt werden können. Dies kann zu Verwirrung und Orientierungsproblemen führen ▪ Schizophrenie: Patient*innen mit Schizophrenie haben häufig kognitive Störungen, insbesondere auch Störungen des verbalen Gedächtnisses ▪ Affektive Störungen: bei schweren Depressionen können ausgeprägte kognitive Störungen, einschließlich Gedächtnisstörungen auftreten Riemer Psychische Erkrankungen I 21 6. Delir Riemer Psychische Erkrankungen I Kriterien eines Delirs ▪ Bewusstseinsstörung, d. h. verminderte Klarheit in der Umgebungswahrnehmung, mit einer reduzierten Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu fokussieren, aufrechtzuerhalten und umzustellen ▪ Störung der Kognition mit 1) Beeinträchtigung des Immediatgedächtnisses und des Kurzzeitgedächtnisses bei relativ intaktem Langzeitgedächtnis, 2) Desorientierung zu Zeit, Ort oder Person ▪ mindestens eine Störung der Psychomotorik: 1) rascher, nicht vorhersagbarer Wechsel zwischen Hypo- und Hyperaktivität, 2) verlängerte Reaktionszeit, 3) vermehrter oder verminderter Redefluss, 4) verstärkte Schreckreaktion ▪ mindestens eine Störung des Schlafs: 1) Schlafstörung bis hin zur Schlaflosigkeit, Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus, 2) nächtliche Verschlimmerung der Symptome, 3) Alpträume mit ggf. nachfolgenden Halluzinationen oder Illusionen ▪ plötzlicher Beginn und Änderung der Symptomausprägung im Tagesverlauf Riemer Psychische Erkrankungen I 23 Delir im ICD-10: Differenzierung ▪ Bewusstseinsstörung, d. h. verminderte Klarheit in der Umgebungswahrnehmung, mit einer reduzierten Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu fokussieren, aufrechtzuerhalten und umzustellen ▪ Störung derF05 Kognition mit 1) Beeinträchtigung des Immediatgedächtnisses und des F1X.4 F1X.03 zu Zeit, Kurzzeitgedächtnisses bei relativ intaktem Langzeitgedächtnis, 2) Desorientierung Ortobjektiver oder Person Nachweis Kriterien eines einer plausiblen Kriterien einer Substanz-Entzugs- ▪ mindestens eine Störung der Psychomotorik: 1) rascher, nicht vorhersagbarer Wechsel zerebralen oder akuten Intoxikation zwischen Hypo- und Hyperaktivität, 2) verlängerte Syndroms nachReaktionszeit, 3) vermehrter oder systemischen verminderter Redefluss, 4) verstärkte Schreckreaktion nach F1X.0 erfüllt F1X.3 erfüllt Krankheit ▪ mindestens eine Störung des Schlafs: 1) Schlafstörung bis hin zur Schlaflosigkeit, Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus, 2) nächtliche Verschlimmerung der Symptome, 3) Alpträume mit ggf. nachfolgenden Halluzinationen oder Illusionen ▪ plötzlicher Beginn und Änderung der Symptomausprägung im Tagesverlauf Riemer Psychische Erkrankungen I 24 Epidemiologie des Delirs ▪ Prävalenz 1–2% der Allgemeinbevölkerung ▪ 70% der Betroffenen sind älter als 65 Jahre ▪ ca. 30–40% stationärer Patienten > 65 Jahre entwickeln ein Delir ▪ bis 30% aller Patienten auf einer Intensivstation entwickeln ein Delir ▪ Delirien können postoperativ auftreten, bestimmte Operationen wie Ersatz des Hüftgelenks mit einer Prothese haben ein besonders hohes Delirrisiko Riemer Psychische Erkrankungen I 25 Risikofaktoren für ein Delir ▪ hohes Alter ▪ Demenz ▪ Konsum psychotroper Substanzen ▪ früheres Delir ▪ schwere somatische oder psychische Vorerkrankungen Riemer Psychische Erkrankungen I 26 Ätiologische Faktoren ▪ meist mehrere Stressoren ▪ körperliche Faktoren (Auswahl): Flüssigkeitsmangel, Mangelernährung, zentralnervöse Erkrankungen, Infektionen, Stoffwechsel- oder Elektrolytstörungen, Substanzen (Anticholinergika, Opioide, Benzodiazepine, Antibiotika, Antiarrhythmika, Schwermetalle, Polypharmazie; Entzug), Operationen ▪ psychische Faktoren (Auswahl): Schmerzen, Ortswechsel, Schlafstörungen, Isolation, Fixierungsbedarf, eingeschränkte Seh- und Hörfähigkeit Riemer Psychische Erkrankungen I 27 Therapiemaßnahmen Finden und Beseitigen der Ursache als kausale Therapie z.B. Behandlung von Infektionserkrankungen, Reduktion / Absetzen kritischer Medikamente, Flüssigkeitstherapie, Ernährungstherapie Sicherungsmaßnahmen bei Eigen- oder Fremdgefährdung (u.a. Sitzwache) nicht-medikamentöse Maßnahmen: ruhige und entspannte Umgebung, Behandlungskontinuität, Orientierungshilfen, Schlaf regulieren, fester Tag-Nacht- Rhythmus, frühe postoperative Mobilisierung, Korrektur von Sinnesstörungen, frühzeitige enterale Ernährung, kognitive Stimulation medikamentöse Therapie: kurzfristige Gabe von Antipsychotika; ggf. als ultima ratio auch Benzodiazepine v.a. bei Aggression Riemer Psychische Erkrankungen I 28 Überschneidungen mit psychischen Störungen im engeren Sinne ▪ Schizophrenie: Patient*innen mit Schizophrenie haben teils kognitive und psychomotorische Störungen, Halluzinationen und Beeinträchtigungen der Kommunikationsfähigkeit ▪ Akute Belastungsreaktion: Patient*innen können vorübergehend Symptome wie Desorientierung, Verwirrtheit und erhöhte Reizbarkeit aufweisen Riemer Psychische Erkrankungen I 29 7. Andere psychische Störungen Riemer Psychische Erkrankungen I Kriterien der anderen psychischen Störungen (F06) ▪ objektiver Nachweis einer zerebralen oder (plausiblen) systemischen Pathologie oder Substanzeinwirkung (außer psychotrope Substanzen) ▪ wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen der Pathologie und den psychischen Symptomen ▪ Rückbildung/Besserung der psychischen Störung nach Besserung der zugrunde liegenden Ursache ▪ kein ausreichender Beleg für andere Verursachung der psychischen Störung ▪ ein sicherer Nachweis der Kriterien ist oft nicht möglich Bild: https://radiopaedia.org/ ZNS-Läsionen bei Multipler Sklerose Riemer Psychische Erkrankungen I 31 Formen der anderen psychischen Störungen im ICD-10 F06.5 Organisch dissoziative F06.0 Organische Halluzinose Störung F06.1 Organisch katatone Störung F06.6 Organisch emotional labile Störung F06.2 Organisch wahnhafte F06 F06.7 Leichte kognitive Störung Störung F06.8 Sonstige näher bezeichnete F06.3 Organisch affektive Störung … (5. Stelle für Art) F06.9 Nicht näher bezeichnete … F06.4 Organische Angststörung Alle Störungen erfüllen die allgemeinen Kriterien der F06. Bei F06.0–F06.2 stehen einzelne Symptome einer Psychose wie Schizophrenie im Vordergrund; F06.3–F06.5 erfüllen Kriterien aus affektiven, Angst- oder dissoziativen Störungen. F06.6 beinhaltet Affektlabilität und körperliche Empfindungen (Schwindel, Schmerzen). F06.7 beinhaltet eine Störung kognitiver Leistungen, die nicht das Ausmaß einer Demenz Riemer erreicht. Psychische Erkrankungen I 32 8. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Riemer Psychische Erkrankungen I Kriterien und Typen der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Kriterien: objektiver Nachweis einer zerebralen Pathologie Fehlen von Bewusstseinstrübung oder ausgeprägten Gedächtnisstörungen Symptome nicht überzeugend in Kapitel F6 einzuordnen Typen: F07.0 Organische Persönlichkeitsstörung F07.1 Postenzephalitisches Syndrom konkrete Ätiologie F07.2 Organisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma erforderlich F07.8 / F07.9 Sonstige / Nicht näher bezeichnete organische … Riemer Psychische Erkrankungen I 34 Organische Persönlichkeitsstörung ▪ allgemeine Kriterien der F07 und mindestens drei von ▪ andauernd reduzierte Fähigkeit, zielgerichtete Aktivität durchzuhalten, besonders wenn es sich um längere Zeiträume handelt und darum, Bedürfnisse aufzuschieben ▪ eine oder mehrere affektive Veränderungen (emotionale Labilität; Euphorie und flache, inadäquate Scherzhaftigkeit; Reizbarkeit u/o Wutausbrüche/Aggression; Apathie) ▪ ungehemmte Äußerung von Bedürfnissen ohne Berücksichtigung der Konsequenzen oder Konventionen ▪ Denkstörungen mit Misstrauen, paranoiden Ideen oder exzessiver Beschäftigung mit einem Thema (Religion, Moral) ▪ auffällige Veränderung der Sprachproduktion mit Umständlichkeit, Begriffsunschärfe, zähflüssigem Denken und Schreibsucht ▪ verändertes Sexualverhalten Riemer Psychische Erkrankungen I 35 9. Therapie bei organischen psychischen Störungen Riemer Psychische Erkrankungen I Behandlungsformen ▪ Psychopharmakotherapie dem Syndrom entsprechend, z.B.: ▪ Antidepressiva bei depressiver Verstimmung, aber auch bei Impulskontrollstörungen ▪ Antipsychotika bei psychotischen Symptomen und Aggression ▪ Antidementiva bei Alzheimerdemenz ▪ Psychotherapie, z.B.: ▪ kognitive Stimulationstherapie bei Demenzen ▪ neuropsychologische Therapie bei verschiedenen Störungsbildern ▪ Verhaltenstherapie bei komorbiden Störungen F1ff ▪ weitere Verfahren (Ergotherapie, Logopädie etc.) Riemer Psychische Erkrankungen I 37 Indikationen für neuropsychologische Therapie (nach GBA) ▪ hirnorganische Störung mit einer der Diagnosen ▪ F04 Organisches amnestisches Syndrom, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt ▪ F06.6 Organische emotional labile (asthenische) Störung ▪ F06.7 Leichte kognitive Störung ▪ F06.8 Sonstige näher bezeichnete organische psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit ▪ F06.9 Nicht näher bezeichnete organische psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit ▪ F07 Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns Riemer Psychische Erkrankungen I 38 10. Fallbeispiele für organische psychische Störungen Riemer Psychische Erkrankungen I Fall 1: Hirninfarkt mit affektiven und sprachlichen Symptomen ▪ Herr P., 78 Jahre, Ehemann meiner Patientin (Frau P.), die wegen einer Alzheimerkrankheit bei mir behandelt wird ▪ nimmt bereitwillig als gesunder Proband an einer Studie mit neuropsychologischer Leistungsuntersuchung statt ► relativ schlechte sprachliche Leistungen (bei hohem Bildungsniveau) sowie deutliche depressive Symptomatik ▪ Empfehlung kranielle Bildgebung ► älterer Frontalhirninfarkt links ▪ keine motorischen oder sensiblen Symptome; Spontansprache wenig auffällig; keine erinnerlichen Beschwerden ▪ Diagnosen: Zustand nach Hirninfarkt mit ▪ Dysphasie ▪ Post-Stroke-Depression (organische depressive Störung F06.32) Riemer Psychische Erkrankungen I 40 Post-Stroke Depression ▪ prinzipiell können – abhängig von Größe und Lokalisation der Läsion – nahezu alle psychopathologischen Phänomene durch Hirninfarkte ausgelöst werden ▪ besonders häufig ► Post-Stroke Depression, betrifft ca. 1/3 der überlebenden Schlaganfallpatienten ▪ Abhängigkeit von der Lokalisation des Hirninfarkts? ▪ Daten recht widersprüchlich, am ehesten Zusammenhang zwischen Läsionen der rechten Hemisphäre und Depression im ersten Halbjahr nach dem Infarkt ▪ Behandlung der Post-Stroke-Depression: ▪ psychotherapeutisch (neuropsychologische Therapie) ▪ psychopharmakologisch (z.B. SSRI) Riemer Psychische Erkrankungen I 41 Fall 2: Fehldeutung eines Tremors ▪ Frau H., 68 Jahre, stationäre Behandlung im SHK bei erstmaliger ängstlich-depressiver Störung; unauffällige Paraklinik ▪ Einstellung auf Venlafaxin (ein Antidepressivum vom Typ der SSNRI) mit guter antidepressiv-anxiolytischer Wirkung, jedoch Manifestation eines Tremors (Zittern) der Hände rechts > links; auf Wunsch der Patientin Medikation belassen ▪ ambulante Weiterbehandlung ► Tremor persistent, leichte Zunahme im Verlauf von zwei Jahren; neurologische Vorstellung ► Diagnose essentieller Tremor ▪ ein Jahr später ► Delir bei Exsiccose (Austrocknung) ► stationäre Behandlung (anderes KH) mit Einsatz eines Antipsychotikums ► schwere Unbeweglichkeit ► Diagnose Lewy-Körper- Demenz ► Verlegung in das vorbehandelnde Krankenhaus ▪ Diagnose idiopathisches Parkinson-Syndrom und erfolgreiche Einstellung auf Parkinsonmedikation; vorher diagnostizierte Depression möglicherweise organisch bedingtes Frühsymptom der Parkinsonerkrankung Riemer Psychische Erkrankungen I 42 Depressive Symptome bei Morbus Parkinson ▪ bei Morbus Parkinson ► vom Hirnstamm und Riechkolben ausgehende Neurodegeneration mit charakteristischen Krankheitsstadien Raphekerne Bilder: Oertel, W. (2012); modifiziert Riemer Psychische Erkrankungen I 43 Häufigkeit psychiatrischer bei Morbus Parkinson Auftreten von Symptomen von Demenz, Depression und Psychosen Bilder: Riedel, O. (2006) n = 1326 Fälle Riemer Psychische Erkrankungen I 44 Exkurs: Pharmakotherapie bei Morbus Parkinson + Patient*innen NMDA-Antagonisten haben Dopaminmangel Veränderungen der Anticholinergika Neurotransmission L-Dopa Dopaminagonisten Glutamat- & MAO-Hemmer Acetylcholin- Überschuss - COMT-Hemmer Riemer Psychische Erkrankungen I 45 L-Dopa ▪ Dopaminvorstufe, die im Gegensatz zu Dopamin die Blut-Hirn-Schranke passieren kann ▪ zumindest in frühen Krankheitsstadien gute Wirkung auf die motorischen Symptome der Patient*innen ▪ Vorsicht: Auslösung psychischer Symptome möglich ▪ Ängstlichkeit ▪ Schlafstörungen ▪ Depressionen ▪ Spielsucht ▪ Desorientierung ▪ Unruhe ▪ Esszwang ▪ Verwirrtheit ▪ Halluzinationen ▪ Wahnvorstellungen ▪ Hypersexualität ▪ Zwanghaftes Geldausgeben Riemer Psychische Erkrankungen I 46 Psychische Erkrankungen I Arzneimittelinduzierte psychische Störungen Dr. med. Dipl.-Psych. Thomas Riemer Berlin, Stand 2024 Ablauf 1. Einführung 2. Ätiologie arzneimittelinduzierter psychischer Störungen 3. „Kritische“ Arzneimittel 4. Diagnose arzneimittelinduzierter psychischer Störungen 5. Management von arzneimittelinduzierten psychischen Störungen 6. Fallbeispiel Riemer Psychische Erkrankungen I 48 1. Einführung Riemer Psychische Erkrankungen I Arzneimittelindizierte Störungen im ICD-10 und ICD-11 ▪ keine spezifische Kategorie für arzneimittelinduzierte psychische Störungen im ICD ▪ Kodierung auf Syndromebene als F0X bzw. 6E6: ▪ z.B. F06.3 / 6E62, organisch affektive Störung ▪ zusätzlich Kodierung der Ätiologie: (mit jeweils eigenen Codes) ▪ Komplikationen durch Arzneimittel oder Drogen bei therapeutischer Anwendung ▪ Vergiftungen durch Arzneimittel, Drogen und biologisch aktive Substanzen (Codes T36–T50 verweisen auf verschiedene Substanzgruppen) ▪ Akzidentelle Vergiftung (beinhaltet Arzneimittel) ▪ Absichtliche Selbstbeschädigung Riemer Psychische Erkrankungen I 50 Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) ▪ Definition: Schädliche und unbeabsichtigte Reaktionen, die durch ein Arzneimittel trotz dessen bestimmungsgemäßen Gebrauchs im (ggf. für den Patienten angepassten) therapeutischen Dosisbereich auftreten. ▪ relevante Arzneimittelnebenwirkungen treten bei ca. 5% der medikamentös behandelten Patienten auf ▪ 3–6% aller stationären Patientenaufnahmen sind auf Nebenwirkungen zurückzuführen ▪ seit 1998 sind alle Ärzt*innen in Deutschland über ihre Berufsordnung verpflichtet, unerwünschte Arzneimittelwirkungen (auch Verdachtsfälle) zu melden Riemer Psychische Erkrankungen I 51 2. Ätiologie unerwünschter Arzneimittelwirkungen Riemer Psychische Erkrankungen I Klassifikation psychischer UAW ▪ zwei Gruppen: 1. psychische Nebenwirkungen, die sich unmittelbar aus der Hauptwirkung eines Wirkstoffs ergeben ▪ Antipsychotika → mesolimbischer D-Rezeptor-Antagonismus → Anhedonie ▪ Parkinsonmittel → mesolimbischer D-Rezeptor-Agonismus → Spielsucht 2. psychische Nebenwirkungen als Folge einer von der Hauptwirkung unabhängigen psychotropen Eigenwirkung eines Wirkstoffs ▪ psychoseauslösende Wirkung der Kortikosteroide ▪ depressiogene Wirkung von Interferonen Riemer Psychische Erkrankungen I 53 Voraussetzungen psychischer UAW ▪ ZNS-Gängigkeit des Wirkstoffs ist Voraussetzung für direkte psychotrope Effekte ▪ ZNS-Gängigkeit entsteht durch: ▪ hohe Lipophilie des Wirkstoffs ▪ Nutzung von Transportern ▪ Schrankendefekte (durch höheres Lebensalter, entzündliche Prozesse, Durchblutungsstörungen, …) Riemer Psychische Erkrankungen I 54 Risikofaktoren für das Auftreten psychischer UAW ▪ Eigenschaften des Patienten: ▪ Eigenschaften der Therapie: ▪ höheres Lebensalter ▪ psychotrope Wirkung der Medikation ▪ Multimorbidität ▪ hohe Dosis ▪ reduzierte Elimination (Leber, Niere, Gene) ▪ schnelle Aufdosierung ▪ komorbide psychische Störung ▪ Polypharmazie mit mehreren psychotropen Wirkstoffen (additiv oder synergistische Effekte) ▪ Vorgeschichte einer arzneimittel-induzierten psychischen Störung ▪ Polypharmazie mit pharmakokinetischen Interaktionen (reduzierte Elimination) ▪ Störung der Blut-Hirn-Schranke Riemer Psychische Erkrankungen I 55 3. „Kritische“ Arzneimittel Riemer Psychische Erkrankungen I Psychische UAW durch Psychopharmaka ▪ psychische Symptome durch Psychopharmaka können lassen sich in drei Kategorien einteilen: 1. Symptom ist Teil der erwünschten psychotropen Hauptwirkung, kann jedoch im Laufe einer Therapie zunehmend unerwünscht sein ▪ z.B. dämpfende Wirkung vieler Antipsychotika 2. Symptom gehört zum Nebenwirkungsprofil der Substanz ▪ z. B. Unruhe bei SSRI 3. Symptom tritt nach der Beendigung der Therapie auf ▪ z. B. Verstimmung nach Absetzen einer antidepressiven Pharmakotherapie ▪ in allen Kategorien können transiente und persistente Symptome auftreten Riemer Psychische Erkrankungen I 57 Beispiel Citalopram häufig sehr Unruhe, Apathie, Schlaflosigkeit, Schläfrigkeit häufig verringerte Libido, Orgasmusstörungen ( ), Verwirrtheit, anomale Träume, kognitive Störungen, Appetitveränderung, Müdigkeit gelegentlich Aggression, Halluzination, Depersonalisation, Euphorie, Manie, gesteigerte Häufigkeit der Symptome Libido gemäß Fachinformation selten psychomotorische Unruhe selten sehr bekannt nicht Serotonin-Syndrom, suizidale Gedanken, suizidales Verhalten Riemer Psychische Erkrankungen I 58 Psychische UAW durch Nicht-Psychopharmaka ▪ psychische Störungen werden bei einer Vielzahl von Wirkstoffen angegeben → hier nur beispielhaft dargestellt Paranoid- Substanzklasse Depressive Syndrome Manische Syndrome Angst-Syndrome halluzinatorische Delirante Syndrome Syndrome Nichtsteroidale Ibuprofen Ibuprofen Ibuprofen Analgetika Buprenorphin Buprenorphin, Opioid-Analgetika Codein, Tramadol Buprenorphin Tramadol Tramadol Antihypertensiva Metoprolol, Clonidin Clonidin Clonidin Propranolol, Timolol Clonidin Antibiotika Isoniazid Isoniazid, Penicillin Penicillin Amoxicillin, Isoniazid Ciprofloxacin Tumor-Therapeutika Vincristin Procarbazin Ifosfamid Cisplatin, Ifosfamid Cisplatin, Ifosfamid Kortikosteroide Prednisolon Prednisolon Prednisolon Prednisolon Riemer Psychische Erkrankungen I 59 Auslöser von Depression gemäß arznei-telegramm® ▪ Depression: 973 Einträge quer durch alle Wirkstoffgruppen, davon: Angabe Häufigkeit ▪ 31 × sehr häufig, 275 × häufig, 140 × gelegentlich (Σ 446) sehr häufig >10% häufig 1-10 von 100 ▪ betroffene Indikationsgruppen: (sehr häufig, häufig) gelegentlich 1-10 von 1.000 Stoffgruppe Treffer Beispiele Tumortherapeutika 44 Carmustin, Exemestan Geschlechtshormone 32 Ethinylestradiol, Etonorgestrel Virostatika 30 Aciclovir, Emtricitabin Immuntherapeutika 28 Interferon α, Natalizumab, Tacrolimus Antidepressiva: Mirtazapin, Antikonvulsiva: Topiramat, Neuro-/Psychopharmaka 69 Antipsychotika: Haloperidol, Parkinsonmittel: Bromocriptin, Psychostimulantien: Methylphenidat Riemer Psychische Erkrankungen I 60 4. Diagnose arzneimittelinduzierter psychischer Störungen Riemer Psychische Erkrankungen I Probleme bei der Diagnosestellung ▪ Prävalenz der arzneimittelindizierter psychischer Störungen nicht bekannt ▪ wenige systematische epidemiologische Untersuchungen ▪ unzureichende Kenntnis bzgl. möglicher Verursachung psychischer Störungen durch Arzneimittel bei den Beteiligten ▪ verordnende Mediziner ▪ Patient*innen ▪ klinische Psychologen, Psychiater*innen, Psychotherapeut*innen ▪ Klassifizierung der Art des Medikationseffektes schwierig ▪ ätiologisch beteiligt ja/nein? ▪ Vulnerabilität, Stress, aufrechterhaltender Faktor? Riemer Psychische Erkrankungen I 62 Plausibilitätsprüfung: Medikation und Symptom ▪ Naranjo Skala: Instrument zur Bewertung möglicher Nebenwirkungen ▪ Einordnung der Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs zwischen Symptom und Arzneimittel anhand von 10 Fragen ▪ zur Beantwortung der ersten Frage Literaturrecherche notwendig Riemer Psychische Erkrankungen I 63 Informationsquellen für Nebenwirkungen (Beispiele) ▪ Fachinformation: enthält Informationen aus Zulassungsstudien und Anwendungsbeobachtungen; unbegrenzter Zugang nur für Fachpersonal ▪ www.fachinfo.de; Anmeldung mit DocCheck Zugang ▪ Europäische und amerikanische Datenbanken gemeldeter Verdachtsfälle von Arzneimittelnebenwirkungen (EudraVigilance, FAERS): enthält von Fachpersonal und Patient*innen gemeldete Verdachtsfälle; Zugang frei ▪ http://www.adrreports.eu ▪ https://www.fda.gov/drugs/questions-and-answers-fdas-adverse-event-reporting-system-faers/fda- adverse-event-reporting-system-faers-public-dashboard ▪ freie Literaturrecherche: Pubmed, Embase, Scholar,... Riemer Psychische Erkrankungen I 64 5. Management von arzneimittelinduzierten psychischen Störungen Riemer Psychische Erkrankungen I Umgang mit arzneimittelinduzierten psychischen Störungen ▪ Primärprävention: Risikopatient*innen identifizieren; Wirkstoffe nach Verträglichkeit selektieren, vorsichtig eindosieren, Polypharmazie vermeiden ▪ Detektion: bei neu aufgetretenen psychischen Symptomen oder Exazerbation der bekannten Symptome, an Möglichkeit einer Substanzinduktion denken ▪ Medikationsreview unter besonderer Berücksichtigung von Wirkstoffen, die zeitlich kurz vor Onset des Symptoms/Syndroms eingesetzt wurden; bei Polypharmazie auch an Interaktionen denken ▪ Therapie: falls tragbar, verdächtiges Arzneimittel absetzen, Dosis reduzieren; ggf. Substitution durch verträglicheres Präparat (in Absprache mit Verordner*in) ▪ Beobachtungsperiode von mindestens vier Wochen zur Einschätzung des Zusammenhangs ▪ Psychotherapie und/oder Pharmakotherapie bei Persistenz der Symptomatik beginnen ▪ Sekundärprävention: Edukation des Patienten; falls Kausalität wahrscheinlich ist, Wirkstoff bzw. verwandte Substanzen in der Zukunft meiden; Patient*innen bei zukünftigen Arzneimitteltherapien als Risikogruppe betrachten Riemer Psychische Erkrankungen I 66 6. Fallbeispiel Riemer Psychische Erkrankungen I Energielosigkeit – Depression oder Medikation ▪ Herr M., 48 Jahre, Diagnosen: rezidivierende depressive Störung und arterieller Hypertonus ▪ unter Psychotherapie und Pharmakotherapie (Venlafaxin) weitgehende, aber nicht vollständige Remission der depressiven Symptome ▪ persistierend störende Antriebsschwäche, Erschöpfbarkeit und Müdigkeit trotz Motivation, nachhaltig durchgeführtem Aktivitätsaufbau und maximaler Dosis von Venlafaxin ▪ wegen Hypertonus zusätzlich Metoprolol und Hydrochlorothiazid ► Arzneimittelnebenwirkung möglich? ▪ Müdigkeit ist in der Fachinformation sowohl als Nebenwirkung von Metoprolol als auch von Hydrochlorothiazid gelistet ▪ Kontaktaufnahme mit Hausarzt ► Umstellung von Metoprolol auf Ramipril, darunter prompte Besserung Riemer Psychische Erkrankungen I 68 Achtung: Problem der Häufigkeitsangaben in Fachinformationen ▪ Angaben v.a. für ältere Arzneimittel oft nicht placeboadjustiert, Frequenzen bestimmter Nebenwirkungen durch Risiko der Population erklärbar ▪ Beispiel: Betablocker / Depression; Risiko wird in den Fachinformationen meist als gelegentlich oder häufig angegeben ▪ im Placebovergleich aber kein erhöhtes Risiko (Riemer et al., 2021) Riemer Psychische Erkrankungen I 69 Psychische Erkrankungen I Störungen durch psychotrope Substanzen Dr. med. Dipl.-Psych. Thomas Riemer Berlin, Stand 2024 Ablauf 1. Einführung 2. Opioide 3. Cannabis 4. Sedativa 5. Kokain und Stimulantien 6. Halluzinogene 7. Nikotin 8. Psychotherapie bei substanzbezogenen Störungen Riemer Psychische Erkrankungen I 71 1. Einführung Riemer Psychische Erkrankungen I Substanzbedingte Störungen im ICD-10 ▪ F1X Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen; ▪ dritte Stelle = ursächliche Substanz ▪ F10 Alkohol ▪ F11 Opioide ▪ F12 Cannabinoide ▪ F13 Sedativa oder Hypnotika ▪ F14 Kokain ▪ F15 andere Stimulanzien, einschließlich Koffein ▪ F16 Halluzinogene ▪ F17 Tabak ▪ F18 flüchtige Lösungsmittel ▪ F19 multipler Substanzgebrauch und andere Substanzen Riemer Psychische Erkrankungen I 73 Substanzbedingte Störungen im ICD-10 ▪ F1X Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen; ▪ vierte Stelle und teils auch fünfte Stelle = Syndrom ▪ F1X.0 Akute Intoxikation [z.B.:.00 ohne Komplikationen,.03 Delir] ▪ F1X.1 Schädlicher Gebrauch ▪ F1X.2 Abhängigkeitssyndrom (z.B.:.25 ständiger Substanzgebrauch) ▪ F1X.3 Entzugssyndrom (z.B.:.31 mit Krampfanfällen) ▪ F1X.4 Entzugssyndrom mit Delir (z.B.:.41 mit Krampfanfällen) ▪ F1X.5 Psychotische Störung (z.B.:.50 schizophrenieform) ▪ F1X.6 Amnestisches Syndrom ▪ F1X.7 Restzustand / verzögert auftretende psychotische Störung ▪ F1X.8 Sonstige psychische und Verhaltensstörungen durch … ▪ F1X.9 Nicht näher bezeichnete psychische und Verhaltensstörungen durch … Riemer Psychische Erkrankungen I 74 Verwandte Störungen im ICD-10 ▪ nicht stoffgebundene Süchte, z.B. Pathologisches Spielen F63 ▪ schädlicher Gebrauch von nicht abhängigkeitserzeugenden Substanzen F55 ▪ z.B. Anabolika, Diuretika Bilder: Wikimedia Commons Riemer Psychische Erkrankungen I 75 Substanzbedingte Störungen im ICD-11 ▪ gemeinsame Kategorie für Störungen durch Substanzgebrauch und Verhaltenssüchte ▪ Störungen durch Substanzgebrauch (6C4) erweitert, beinhaltet nun zusätzlich ▪ synthetische Cannabinoide ▪ Cathinone (zuvor unter Stimulantien) ▪ Koffein (zuvor unter Stimulantien) ▪ MDMA (zuvor unter Stimulantien) ▪ nicht psychoaktive Substanzen (z.B. Anabolika, Diuretika) Riemer Psychische Erkrankungen I 76 Wichtige Substanzübergreifende Syndrome: Schädlicher Gebrauch ▪ ICD-10 Kriterien für alle Substanzen identisch 1. Nachweis, dass Substanzgebrauch für körperliche oder psychische Schäden verantwortlich ist, einschließlich der eingeschränkten Urteilsfähigkeit oder des gestörten Verhaltens, das zu einer Behinderung oder zu negativen Konsequenzen in zwischenmenschlichen Beziehungen führt 2. Art der Schädigung sollte klar festgestellt und genau bezeichnet werden 3. Gebrauchsmuster seit mindestens 1 Monat oder wiederholt innerhalb der letzten 12 Monate 4. Kriterien einer anderen F1-Diagnose durch dieselbe Substanz (außer Intoxikation) treffen nicht zu Riemer Psychische Erkrankungen I 77 Wichtige Substanzübergreifende Syndrome: Abhängigkeit ▪ ICD-10-Kriterien für alle Substanzen identisch; drei oder mehr der Kriterien für mindestens 1 Monat oder wiederholt innerhalb der letzten 12 Monate: 1. starkes Verlangen die Substanz zu konsumieren Psyche 2. verminderte Kontrolle über den Gebrauch 3. körperliches Entzugssyndrom bei Reduktion Körper 4. Toleranzentwicklung 5. Einengung auf Gebrauch, Vernachlässigung anderer Interessen Perspektive 6. anhaltender Gebrauch trotz klar schädlicher Folgen ▪ im ICD-11 sind jeweils die zwei zu einem Bereich gehörenden Symptome gebündelt und es müssen nur zwei der drei Symptome zutreffen Riemer Psychische Erkrankungen I 78 Risikofaktoren für Abhängigkeit soziodemographische Faktoren: männlich, niedrige Bildung, jüngeres Alter Entwicklungsereignisse / Kindheit: Trauma, Tod / Trennung eines Elternteils psychische Störungen der Eltern: affektive Störungen, Sucht familiäre Faktoren / Erziehungsstil: Ablehnung, Überprotektion intrapersonelle Faktoren: Persönlichkeit, Einstellungen interpersonelle Faktoren: Peer Group (nehmen Freunde Drogen?), Bindung psychische Störungen: affektive Störungen, Angststörungen, antisoziale PS substanzbezogene Faktoren: Verfügbarkeit; Frequenz, Dauer des Konsums Riemer Psychische Erkrankungen I 79 Wichtige Substanzübergreifende Syndrome: Psychotische Störung ▪ ICD-10 Kriterien für alle Substanzen identisch 1. Beginn psychotischer Symptome während des Substanzgebrauchs oder innerhalb von zwei Wochen danach 2. Dauer länger als 48 Stunden, aber nicht länger als 6 Monate Riemer Psychische Erkrankungen I 80 Wichtige Substanzspezifische Syndrome: Intoxikation ▪ ICD-10 Kriterien für alle Intoxikationssyndrome 1. deutlicher Nachweis eines kürzlichen Konsums einer / mehrerer psychotroper Substanzen in für die Intoxikation ausreichender Dosis 2. Symptome einer Intoxikation, vereinbar mit der Substanz und von ausreichender Schwere, dass psychische Funktionen betroffen sind 3. Symptome nicht erklärbar durch körperliche oder psychische Störung ▪ zusätzlich substanzspezifische Kriterien, jedoch mit Überschneidungen zwischen Substanzen mit ähnlichen Effekten ▪ alle Intoxikationssyndrome haben psychische und körperliche Merkmale ▪ Intoxikationssyndrome sollten in der Notfallpsychiatrie differentialdiagnostisch bedacht werden, insbesondere bei psychotischen und maniformen Störungen Riemer Psychische Erkrankungen I 81 Psychische Merkmale der Intoxikationssyndrome F10 F11 F12 F13 F14/15 F16 F17 F18 Symptome ≥1 ≥1 ≥1 ≥1 ≥1 ≥1 ≥1 ≥1 Affektlabilität × × × × × × akustische, optische oder taktile Halluzinationen oder Illusionen × × × Angst (oder Agitiertheit) × × anterograde Amnesie × Apathie / Sedierung × × × Aufmerksamkeitsstörung / Gedächtnisstörung × × × × × × Beeinträchtigung der persönlichen Leistungsfähigkeit × × × × × × × × Beeinträchtigung der Reaktionszeit / Psychomotorik × × × × beleidigendes Verhalten / Aggressivität × × × × Beziehungsideen × bizarre Träume einige Symptome × Depersonalisation × × Derealisation wurden aus × × × Einschränkung der Urteilsfähigkeit didaktischen Gründen × × × × erhöhte Vigilanz zusammengefasst × (Euphorie und) Enthemmung × × × × × grandiose Überzeugungen × Impulshandlungen × Insomnie × Hyperaktivität × Misstrauen oder paranoide Vorstellungen × × × repetitives sterotypes Verhalten × Streitlust × × × verlangsamtes Zeiterleben × Riemer Psychische Erkrankungen I 82 Körperliche Merkmale der Intoxikationssyndrome F10 F11 F12 F13 F14/15 F16 F17 F18 Symptome ≥1 ≥1 ≥1 ≥1 ≥2 ≥2 ≥1 ≥1 Appetitsteigerung × Arrhythmie × × Bewusstseinsminderung × × × × Brustschmerzen × erythematöse Hautschädigung oder Blasen × Gangunsicherheit × × × Gesichtsröte × Gewichtsverlust × Hypertonie × konjunktivale Injektion × × Koordinationsstörungen × Krampfanfälle × Miosis × Mundtrockenheit × Mydriasis × × Muskelschwäche × × Nystagmus × × × Palpitationen × psychomotorische Unruhe × Schläfrigkeit × Schweißausbrüche × × × Standunsicherheit × × × Tachykardie × × × × Tremor × Übelkeit × × verschwommenes Sehen (oder Doppelbilder) × × verwaschene Sprache × × × × Riemer Psychische Erkrankungen I 83 Wichtige Substanzspezifische Syndrome: Entzugssyndrom ▪ ICD-10 Kriterien für alle Entzugssyndrome 1. nach Absetzen oder Reduktion, nachdem zuvor wiederholt, meist langanhaltend und in großer Menge konsumiert wurde 2. Symptome und Anzeichen, die den bekannten Merkmalen eines Entzugssyndroms entsprechen 3. Symptome nicht durch vom Substanzgebrauch unabhängige Erkrankung zu erklären ▪ zusätzlich substanzspezifische Kriterien, jedoch mit Überschneidungen zwischen Substanzen mit ähnlichen Entzugserscheinungen ▪ nicht alle Substanzen haben ein Entzugssyndrom ▪ Enzugssyndrome sollten in der Notfallpsychiatrie differentialdiagnostisch bedacht werden, insbesondere bei psychotischen Störungen ▪ einige Entzugssyndrome (z.B. Alkohol) können mit einem Delir einhergehen Riemer Psychische Erkrankungen I 84 Wichtige Substanzspezifische Syndrome: Entzugssymptome F10 F11 F12 F13 F14/15 F17 Symptome ≥3 ≥3 ? ≥3 ≥3 ≥2 Angst × × Appetitsteigerung × × Bauchkrämpfe × bizarre Träume × Craving × × × Durchfall × Dysphorie obligat × Gähnen × Grand-Mal Anfälle × × Halluzinationen × × Hypersomnie × Hypertonie × × Hypotonie beim Austehen × Insomnie / unruhiger Schlaf × × × × × Konzentrationsstörungen × Kopfschmerzen × × Krankheitsgefühl × × × Lethargie × Mundschleimhautgeschwüre × Muskelschmerzen × × Mydriasis × Nasenfluss × paranoide Vorstellungen × Piloarektion × psychomotorische Verlangsamung oder Unruhe × Reizbarkeit × × Schwitzen × × Tachykardie × × × Tränenfluss × Tremor × × × Übelkeit × × × Unruhe × × vermehrter Husten × Riemer Psychische Erkrankungen I 85 2. Opioide Riemer Psychische Erkrankungen I Terminologie ▪ Opium: alkaloidhaltiges Extrakt aus dem getrockneten Milchsaft des Schlafmohns (Papaver somniferum) ▪ Opiate: Oberbegriff für die natürlich vorkommenden Alkaloide des Opiums; v.a. Morphin, Codein ▪ Opioide: Oberbegriff für an Opioidrezeptoren bindende Substanzen ▪ Opioidpeptide: endogene Substanzen, die die natürlichen Liganden der Opioid-Rezeptoren sind Bild: Wikimedia Commons Riemer Psychische Erkrankungen I 87 Opioid-Rezeptoren ▪ Rezeptoren für Opioidpeptide, die auch durch Opioide beeinflusst werden können ▪ befinden sich zahlreich im Nervensystem (v.a. zentral, aber peripher), jedoch auch in anderen Organen ▪ drei Haupttypen von Rezeptoren mit individueller Gewebeverteilung: ▪ µ-Rezeptor (MOR) mit drei Subtypen (µ1/2/3) ▪ δ-Rezeptor (DOR) mit zwei Subtypen (δ1/2) ▪ κ-Rezeptor (KOR) mit drei Subtypen (κ1/2/3) ▪ Opiode können die Opioid-Rezeptoren aktivieren oder hemmen Riemer Psychische Erkrankungen I 88 κ δ µ α1 D2 ORL NET SERT 5HT2 Alfentanil Buprenorphin Codein Dihydrocodein Fentanyl Hydromorphon Levomethadon starke Aktivität Meptazinol Methadon Morphin Nalbuphin Oxycodon Pethidin Piritramid Remifentanil Sufentanil Tapentadol Tianeptin Tilidin Riemer Psychische Erkrankungen I Tramadol Loperamid Nalmefen Naloxon keine Aktivität Naltrexon Methylnaltrexon Naloxegol Ø Daten Naldemedin Rezeptorbindungsprofile von Opioiden und Opioidpeptiden Diacetylmorphin Endorphin Enkephalin 89 Dynorphin Wirkungen an Opioid-Rezeptoren (Auswahl) supraspinale Analgesie µ erwünschte Hauptwirkung der meisten als Analgetika eingesetzten Substanzen spinale Analgesie antitussive Wirkung erwünschte Wirkung der Antitussiva δ anxiolytische Wirkung psychische Abhängigkeit? Kontraktion glatter Muskeln Obstipation, Harnretention, Miosis Sedierung Sturzgefahr, reduzierte Fahrtauglichkeit κ Euphorie psychische Abhängigkeit Dysphorie Atemdepression bei Überdosierung Lebensgefahr Riemer Psychische Erkrankungen I 90 Zerebrale Distribution von Opioid-Rezeptoren Bild: Valentino, RJ & Volkow, ND (2018), Neuropsychopharmacology Riemer Psychische Erkrankungen I 91 Psychotrope Effekte von Opioiden Bild nach Valentino, RJ & Volkow, ND Blockade von Opioid- (2018), Neuropsychopharmacology Rezeptoren mindert Belohnungseffekte auch anderer Suchmittel ▼ MOR Einsatz von Nalmefen und euphoria, Naltrexon zur Entwöhnung stress-coping von Alkohol DOR KOR anxiolysis, dysphoria, stress, positive affect negative affect mood Riemer Psychische Erkrankungen I 92 Heroin (Diamorphin) i.d.R. illegales Opioid; nur in Ausnahmefällen auch ärztlich verordnet halbsynthetisch; Herstellung aus Morphin hohe Lipophilie; schnelles Anfluten im Gehirn aktiver Metabolit mit hoher Affinität am μ-Rezeptor Konsum: intravenös, intranasal, inhalativ therapeutische Anwendung in spezialisierten Praxen (2 in Berlin) bei mindestens fünfjähriger Dauer der Heroinabhängigkeit und massiven körperlichen und psychiatrischen Folgeschäden Bild: Wikimedia Commons Riemer Psychische Erkrankungen I 93 Weitere Opioid-Rezeptoragonisten (Auswahl) Buprenorphin: Partialagonist am µ-Rezeptor, dadurch geringere maximal erreichbare Effekte (inkl. Nebenwirkungen); daher auch Einsatz zur Substitution; jedoch sehr hohe Affinität und starke Bindung an Opioid-Rezeptoren, dadurch bei Vergiftungen kaum antagonisierbar Fentanyl: sehr hohe Lipophilie und starke Affinität zu Opioid-Rezeptoren, Wirkung in kleinsten Dosierungen; auch als Pflaster applizierbar Loperamid: sehr starke Affinität zu Opioidrezeptoren, jedoch normalerweise keine systemischen Effekte; daher nur Einsatz bei Durchfall (Ausnutzung der Nebenwirkung Verstopfung) Methadon: Opioid mit besonders langer intrinsischer Halbwertszeit; gut geeignet zur Substitution; wirksames Enantiomer Levomethadon ebenfalls zur Substitution erhältlich Riemer Psychische Erkrankungen I 94 Opioid-Krise eher medizinische Opioide als Heroin! ▪ USA 2018 ca. 50.000 Tote (bei 330 Millionen Einwohner), in Deutschland im gleichen Zeitraum 1300 Tote, meist durch Intoxikation mit Heroin Bilder: (1) Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, (2) Wikimedia Commons Riemer Psychische Erkrankungen I 95 Therapie der akuten Intoxikation Notfallmaßnahmen, intensivmedizinische Überwachung keine Magenspülung, keine Flüssigkeit; ggf. Aktivkohle und Natriumsulfat als Laxans bei oraler Aufnahme Freihalten der Atemwege (Überstrecken des Kopfes, assistierte Beatmung) Antagonisierung mit Naloxon (bei Abhängigkeit langsame Titration zur Buprenorphin Vermeidung eines akuten Entzugssyndroms), danach mehrstündige Überwachung aufgrund seiner kurzen Halbwertszeit Naloxon Naloxon wirkt kaum bei Buprenorphin-Intoxikation Naloxon kann intravenös und nasal verabreicht werden µ δ κ Riemer Psychische Erkrankungen I 96 Opioid-Abhängigkeit ▪ Querschnittsprävalenz: ca. 160.000 Personen in Deutschland ▪ opiatabhängige Patienten in Substitution: ca. 80.000 ▪ Komplikationen der Abhängigkeit: ▪ Intoxikation als Suizidversuch ▪ akzidentielle Überdosierung ▪ Spritzeninfektionen ▪ sittlicher Verfall / Beschaffungskriminalität Bild: Wikimedia Commons Heath Ledger verstarb an einer Mischintoxikation verschiedener Opioide Riemer Psychische Erkrankungen I 97 Opioid-Entzug ▪ Schwere des Entzugs abhängig von Substanz und Konzentration/Reinheit ▪ Dauer 14 d, Maximum nach 1–2 d ▪ Provokation von Entzugssymptomen durch Opioidantagonisten (Naloxon, Naltrexon) ▪ neonatales Absetzsyndrom bei Neugeborenen opioidabhängiger Mütter Riemer Psychische Erkrankungen I 98 Therapie des Opioid-Entzugssyndroms ▪ Durchführung: i.d.R. stationäre qualifizierte Entzugsbehandlung ▪ teils mit Substitution, z.B. Methadon initial 10–40 mg/d für 3 d, dann Reduktion ▪ Begleitmedikation zur Abmilderung von Entzugssymptomen; Zulassung für das Antidepressivum Doxepin (starke sedierende, anticholinerge und antiemetische Wirkung) ▪ Diagnostik und Therapie komorbider Erkrankungen ▪ Prognose günstig bei: ▪ jungem Patientenalter ▪ kurzdauernder Abhängigkeit ▪ geringen sozialen und gesundheitlichen Folgeschäden ▪ guter Compliance Riemer Psychische Erkrankungen I 99 Langfristige Therapie ▪ Entwöhnung: i.d.R. mehrmonatige stationäre Aufenthalte in spezialisierten Suchtkliniken ▪ weitere Therapieformen: ▪ Langzeitpsycho- und Soziotherapie ▪ Substitutionstherapie ▪ Dauertherapie mit Naltrexon ▪ Selbsthilfegruppen ▪ drogenfreies Wohnen ▪ Drogenkonsumräume (Hygiene) ▪ Entkriminalisierung Riemer Psychische Erkrankungen I 100 Substitution ▪ bei langer Abhängigkeit mit geringer Chance auf Abstinenz; bei Schwangerschaft ▪ Ziele: kontrollierter Konsum und Reduktion des illegalen und intravenösen Konsums, dadurch Reduktion der Beschaffungskriminalität und der körperlichen Komplikationen ▪ Prinzip: Einsatz von Substanzen mit langsamem Wirkeintritt, längerer Wirkdauer; Rezeptoren besetzt, dadurch kein Kick bei zusätzlicher Einnahme ▪ Zulassung für Buprenorphin, Levomethadon, Methadon und Morphin ▪ Ablauf: Verordnung des Substitutionsmittels durch Arzt mit suchtmedizinischer Qualifikation; i.d.R. Ausgabe direkt in der Praxis, ausnahmsweise auch Rezeptierung; Kontrolle des Therapieverlaufs mit Drogenscreening; Behandlung komorbider Erkrankungen; Substitution = unbefristete Dauertherapie ▪ 27% erfolgreich entzogen, 40% gebessert (DARP-Studie) nach 5–7J Behandlung Riemer Psychische Erkrankungen I 101 Diamorphingestützte Behandlung http://www.diamorphin-behandlung.de/ Riemer Psychische Erkrankungen I 102 Dauertherapie mit Naltrexon ▪ oral verabreichbarer Opioid-Rezeptoragonist ▪ führt nach erfolgreichem Entzug bei konsequenter Einnahme zu einem Ausbleiben der Opioid-Wirkung bei einem Konsumereignis, reduziert aber nicht das Verlangen nach Opioiden ▪ Anwendung als zusätzliche Behandlung innerhalb eines umfassenden Therapieprogramms einschließlich psychologischer Begleitung für entwöhnte Patient*innen ▪ Gefahren: ▪ bei noch konsumierenden / nicht entzogenen Patient*innen kann ein akutes Entzugssyndrom ausgelöst werden ▪ bei Anwendung werden erworbene Opioid-Toleranzeffekte beschleunigt abgebaut; bei Absetzen und erneutem Konsum hohe Gefahr einer Intoxikation Riemer Psychische Erkrankungen I 103 3. Cannabis Riemer Psychische Erkrankungen I Einführung ▪ wesentlich weniger gefährlich als Opioide; geringeres Suchtpotential ▪ keine scharfen Kriterien für Entzug ▪ Epidemiologie: ▪ Lebenszeitprävalenz des Cannabis-Konsums ca. 35% ▪ Prävalenz des regelmäßigen Konsums ca. 4% (Erwachsene) ▪ Prävalenz von Missbrauch/Abhängigkeit: ca. 1% (Erwachsene) Bild: Wikimedia Commons Riemer Psychische Erkrankungen I 105 Herstellungs- und Konsumformen ▪ Herstellungsformen: ▪ Marihuana: Gras; getrocknete Blätter und Blüten der Hanfpflanze ▪ Haschisch: Dope, Shit; Harz der Blütenstände der Hanfpflanze ▪ Konsumformen: ▪ inhalativ: Zigaretten / Joints, Wasserpfeifen / Bongs, Verdampfer / Vaporizer; hier Wirkeintritt innerhalb weniger Minuten, Maximum nach 30 Minuten ▪ oral: in Öl gelöstes THC in Kuchen, Plätzchen; Wirkeintritt nach 30 Minuten, Maximum nach 2–3 Stunden Riemer Psychische Erkrankungen I 106 Wirkstoffe und Wirkmechanismus ▪ Tetrahydrocannabinol (THC): Hauptwirkstoff; Gehalt in den letzten Jahren ansteigend; propsychotische Wirkung wird darauf zurückgeführt ▪ Cannabidiol (CBD): Wirkstoff, der die THC-Wirkung moduliert und damit für viele „angenehme“ Effekte verantwortlich ist ▪ Wirkmechanismus: Bindung an die spezifischen Cannabinoid-Rezeptoren (CB1, CB2) ▪ dadurch u.a. Hemmung eines GABAergen Interneurons ▪ dadurch Hemmung des inhibitorischen Effekts auf nachgeschaltete dopaminerge Neurone ▪ dadurch Erhöhung der Dopaminausschüttung im Nucleus accumbens des mesolimbischen Belohnungssystem Riemer Psychische Erkrankungen I 107 Folgen des chronischen Konsums ▪ Wesensveränderung mit adynamem Syndrom (Verflachung, Apathie) ▪ pulmonale Erkrankungen durch Inhalation ▪ Nachhallzustände (Flashbacks) mit vorübergehender Angst oder psychotischem Erleben ▪ bei frühem Konsum kognitive Störungen und möglicherweise erhöhtes Risiko einer Schizophrenie, insbesondere bei ▪ regelmäßigem (v.a. täglichem) Gebrauch ▪ hohem THC-Gehalt ▪ genetischer Vulnerabilität Riemer Psychische Erkrankungen I 108 Therapie Cannabis-assoziierter Störungen ▪ bei Intoxikation reicht i.d.R. Beruhigung und Reizabschirmung ▪ bei Entzug meist keine medikamentöse Therapie notwendig ▪ bei Nachhallzuständen kurzfristig atypische Antipsychotika oder Sedativa ▪ bei Adynamie Antidepressiva vom Typ der SSRI Riemer Psychische Erkrankungen I 109 4. Sedativa Riemer Psychische Erkrankungen I Was sind Sedativa? ▪ Sedativa (Beruhigungsmittel): bewirken allgemeine Dämpfung zentralnervöser Funktionen, wirken entspannend ▪ fließender Übergang zu Begriffen; Unterscheidung nach dem Ausmaß des Effekts auf das Bewusstsein (quantitativ), Wirkung jedoch meist dosisabhängig: ▪ Hypnotika (Schlafmittel): wirken in üblicher Dosierung schlafanstoßend und/oder schlaferhaltend ▪ Narkotika (Betäubungsmittel): führen eine kontrollierte Bewusst- und Empfindungslosigkeit herbei Riemer Psychische Erkrankungen I 111 GABAA-Rezeptor ▪ wichtigster inhibitorischer Rezeptor im Nervensystem ▪ transmembranäres Protein, welches aus fünf Untereinheiten besteht ▪ ligandengesteuerter Ionenkanal ▪ endogener Ligand: GABA ▪ Kanalaktivität: Chlorideinstrom ▪ außer GABA können viele andere Substanzen am Rezeptor anbinden, aber an allosterischen Bindungsstellen Bild: Wikimedia Commons Riemer Psychische Erkrankungen I 112 GABAA-Rezeptor ▪ fünf verschiedene Untereinheiten, meist zwei α-, β2 γ2 zwei β- und eine γ-Untereinheit ▪ GABA-Bindungsstelle (GB) zwischen α- und β- Untereinheit GB BZ ▪ Bindungsstelle für Benzodiazepine und Non- Chlorid- Kanal BR Benzodiazepine (BZ) zwischen α- und γ-Untereinheit α1 BR ▪ Bindungsstelle für Barbiturate und Clomethiazol (BR) α1 innerhalb der α- Untereinheit GB β2 Riemer Psychische Erkrankungen I 113 Benzodiazepin-Bindungsstelle ▪ früher: Benzodiazepin-Rezeptor, Omega-Rezeptor ▪ Bindungsstelle für Benzodiazepine und Non-Benzodiazepine; Anbinden dieser Substanzen fördert die Bindung von GABA an den GABAA-Rezeptor ▪ Effekt: erhöhte Öffnungswahrscheinlichkeit des Chloridkanals; Hyperpolarisation der Nervenzellen ▪ Komplex von Rezeptor und Substrat hat keine intrinsische Aktivität → kann den Chloridkanal ohne GABA nicht öffnen ▪ Folgen: Substanzen sind auch bei Überdosierung eher ungefährlich (hohe therapeutische Breite); Effizienz der Substanzen ist invers korreliert mit der GABAA-Aktivität Riemer Psychische Erkrankungen I 114 Benzodiazepin-Bindungsstelle ▪ GABAA-Rezeptoren in verschiedenen Regionen des Nervensystems bestehen aus unterschiedlichen Untereinheiten ▪ α1-α6, β1-β3, γ1-γ3, weitere (δ, ρ, θ, π) ▪ bedeutsam sind vor allem vier verschiedene α-Untereinheiten: UE Lokalisation Wirkung α1 ubiquitär im Gehirn v.a. sedierend, hypnotisch α2 Striatum, Amygdala, Hypothalamus anxiolytisch und muskelrelaxierend α3 Neocortex, Claustrum anxiolytisch (und muskelrelaxierend?) α5 Hippocampus amnestisch (anterograd) Riemer Psychische Erkrankungen I 115 Mesolimbische Wirkung von Benzodiazepinagonisten ▪ Bindung an Benzodiazepin-Bindungsstellen im ventralen Tegmentum mesencephali ▪ unmittelbare Folge: Aktivierung dopaminerger Neurone, vermutlich vermittelt durch eine Hemmung inhibitorischer Neurone (Disinhibition) ▪ langfristige Folge: bei fortwährendem Gebrauch → Bildung langlebiger (irreversibler?) synaptischer Verschaltungen im Belohnungssystem ▪ Gefahr der Entwicklung einer Benzodiazepinabhängigkeit ▪ unklar, welche Benzodiazepin-Bindungsstellen relevant sind; postuliert wurde, dass vornehmlich α1-haltige Bindungsstellen beteiligt sind, aber mesolimbische Wirkung ist nicht korreliert mit sedierendem Effekt Riemer Psychische Erkrankungen I 116 Benzodiazepine ▪ Agonismus an α1-, α2-, α3- und α5-haltigen GABAA-Rezeptoren; wirken daher (substanzabhängig) anxiolytisch, sedativ-hypnotisch, antikonvulsiv, muskelrelaxierend, amnestisch ▪ Einteilung nach der Wirkdauer in vier Gruppen: Wirkdauer ergibt sich aus der Halbwertszeit sowie eventuellen aktiven Metaboliten Gruppe (Cut-Off) Beispielsubstanzen ultrakurz wirkende Benzodiazepine (bis 6 Stunden) Triazolam, Midazolam kurz wirkende Benzodiazepine (bis ca. 20 Stunden) Temazepam, Lorazepam mittellang wirkende Benzodiazepine (bis ca. 40 Stunden) Alprazolam, Flunitrazepam lang wirkende Benzodiazepine (über 40 Stunden) Diazepam, Flurazepam Riemer Psychische Erkrankungen I 117 Non-Benzodiazepine ▪ keine chemisch einheitliche Substanzgruppe; enthält drei Untergruppen (s. Bild), die nicht mit den Benzodiazepinen verwandt sind ▪ auch bezeichnet als „Z-Substanzen“: ▪ Hauptvertreter: Zopiclon, Zolpidem, Eszopiclon ▪ wirken vor allem an GABAA-Rezeptoren mit α1-Untereinheiten, dadurch vor allem sedativ- hypnotische Wirkung ▪ weniger amnestisch, kaum anxiolytisch, antikonvulsiv oder muskelrelaxierend ▪ eventuell geringeres Abhängigkeitspotential Riemer Psychische Erkrankungen I 118 (Non)-Benzodiazepine – Einteilung nach der Potenz ▪ Potenz der (Non)-Benzodiazepine gibt Klasse Substanz Potenz Information über wirkungsäquivalente Dosen Alprazolam 20 Clonazepam 20 ▪ Äquivalenzdosen werden in unterschiedlichen hochpotente Flunitrazepam 10 Quellen teils verschieden angegeben, dies Benzodiazepine Lorazepam 10 beruht auf unterschiedlichen Zieleffekten Lormetazepam 6,7 ▪ z.B. hypnotische│anxiolytische Potenz Eszopiclon 3,3 mittelpotente Bromazepam 2 ▪ Darstellung nach http://www.benzo.org.uk (Non)- Diazepam 1 Benzodiazepine Medazepam 1 Zopiclon 0,7 Oxazepam 0,5 niedrigpotente Temazepam 0,5 (Non)- Zaleplon 0,5 Benzodiazepine Zolpidem 0,5 Chlordiazepoxid 0,4 Riemer Psychische Erkrankungen I 119 Nebenwirkungen von (Non)-Benzodiazepinen ▪ Schlaf: Beeinträchtigung der Schlafarchitektur, dadurch unter Umständen wenig erholsamer Schlaf trotz langer Schlafdauer ▪ Überhang: Hang-Over mit Tagesmüdigkeit und Schläfrigkeit, insbesondere bei Substanzen mit langer Wirkdauer; Sturzgefahr ▪ neuropsychologische Defizite: Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit und Reaktionsvermögen (Verlangsamung) und anterograde Amnesie ▪ Muskulatur: Muskelschwäche (Kraft und Ausdauer); Sturzgefahr ▪ Atmung: Atemdepression (vor allem relevant bei i.v.-Gabe) ▪ Abhängigkeit: physisch und psychisch; schweres Entzugssyndrom beim Absetzen Riemer Psychische Erkrankungen I 120 Flumazenil ▪ Antagonist an der Benzodiazepin-Bindungsstelle → Antidot bei Vergiftung mit Benzodiazepinen oder Non-Benzodiazepinen ▪ keine Wirkung bei einer Vergiftung mit Barbituraten ▪ Pharmakokinetik: geringe orale Bioverfügbarkeit, daher nur intravenöse Gabe; rasche (2 Minuten) aber kurze (2-3 Stunden) Wirkung ▪ bei länger wirkenden Benzodiazepinen ist eine Mehrfachgabe nötig, da sonst ein erneutes Auftreten der Symptomatik wahrscheinlich ist ▪ Nebenwirkungen: Übelkeit, Kopfschmerzen, typische Absetzsymptome der (Non)- Benzodiazepine Riemer Psychische Erkrankungen I 121 Abhängigkeit von Benzodiazepinen ▪ Prävalenz in Deutschland ca. 1.2 Millionen ▪ Auftreten wenige Wochen nach Einnahme ▪ Risikofaktoren: ▪ psychiatrische Vorerkrankungen, insbesondere Abhängigkeit ▪ Geschlecht ▪ höheres Alter Riemer Psychische Erkrankungen I 122 Entzugsbehandlung bei Benzodiazepinen ▪ Hochdosispatienten: ≥ 20 mg Diazepamäquivalent; stationäre Therapie; Beginn mit 2/3 der vorherigen Dosis (aber höchstens 60 mg); wenn keine Entzugssymptome, dann Reduktion um 10–25%; wenn Entzugssymptome, dann halten bis diese verschwunden und anschließend reduzieren ▪ Niedrigdosispatienten: < 20 mg Diazepamäquivalent; ambulanter Entzug meist möglich; Reduktion analog ▪ Umstellung der vorherigen Benzodiazepine i.d.R. auf Diazepam (Umrechnungstabellen) ▪ ggf. Krampfschutz, hier a.e. Carbamazepin ▪ ggf. niedrigpotente Antipsychotika, bei Unruhe ▪ weiterhin: supportive Psychotherapie ▪ nach Entzugsbehandlung: Langzeitentwöhnung, langfristige Anbindung an Institutsambulanzen, Behandlung komorbider Erkrankungen, Selbsthilfegruppen Riemer Psychische Erkrankungen I 123 Barbiturat-Bindungsstelle und Barbiturate ▪ befindet sich in der α-Untereinheit des GABAA-Rezeptors ▪ Bindungsstelle für Barbiturate und Clomethiazol, Anbinden erhöht den Chlorideinstrom durch drei Mechanismen: ▪ Erhöhung der Affinität des GABAA-Rezeptors für GABA ▪ Verlängerung der Öffnungszeit des aktivierten Kanals ▪ Öffnung unabhängig von GABA (erfordert höhere Konzentrationen) ▪ Folge: tödliche Überdosierung möglich, daher werden Barbiturate i.d.R. medizinisch nur unter kontrollierten Bedingungen eingesetzt ▪ Einsatz zur Narkoseeinleitung und bei Epilepsie, weiterhin genutzt zum Einschläfern von Tieren ▪ kaum relevant in der Suchtmedizin Riemer Psychische Erkrankungen I 124 5. Kokain und Stimulantien Riemer Psychische Erkrankungen I Chemische Klassifikation Stimulantien Amphetamin-Derivate Nichtamphetamine ▪ Dexamfetamin ▪ Methylphenidat ▪ Lisdexamfetamin ▪ Modafinil ▪ Methamphetamin ▪ Nikotin ▪ 3,4-Methylendioxy- ▪ Koffein methamphetamin (MDMA / ▪ Kokain Ecstasy) ▪ Khat ▪ (GHB) Riemer Psychische Erkrankungen I 126 Kokain: Einführung ▪ Gewinnung aus Blättern des Kokastrauches; in den Anden Kauen der Koka-Blätter gegen Ermüdung ▪ Formen: ▪ Crack: mit Bikarbonat versetzt; beim Rauchinhalieren sofortiger Kick ► extreme Suchtentwicklung ▪ Freebase: reine Form ohne organische Lösungsmittel ▪ Konsum: oral, intranasal (Schnupfen), intravenös (Crack), inhalativ (Rauchen) ▪ keine körperliche aber starke psychische Abhängigkeit ▪ bei regelmäßigem Konsum Zunahme der stimulierenden Wirkung Riemer Psychische Erkrankungen I 127 Kokain: Epidemiologie und Pharmakologie ▪ Prävalenz der Abhängigkeit: Gesamtbevölkerung 0,2%, Altersgruppe 18–29 Jahre 1% ▪ Lebenszeitprävalenz des Kokainkonsums: Gesamtbevölkerung 3,8%, junge Erwachsene in Großstädten: 5–10% ▪ Pharmakologie: ▪ Bioverfügbarkeit: intravenös 100%, alle anderen Formen ca. 25% ▪ Wirkdauer: inhalativ, intravenös 10 Minuten, intranasal 30 Minuten, oral 60 Minuten ▪ Wirkmechanismus: Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin > Dopamin > Noradrenalin, lokalanästhetische Wirkung Riemer Psychische Erkrankungen I 128 Kokain: Komplikationen und Langzeitfolgen ▪ akute Komplikationen: ▪ körperlich: Herzrhythmusstörungen, Myokardinfarkt, maligne Hyperthermie, Tachypnoe bis zum Atemstillstand, Tremor, Ataxie, epileptische Anfälle, Hirninfarkt ▪ psychisch: Angst, Agitation, Aggression, Delir, Kokainpsychose (Verfolgungswahn, taktile Halluzinationen (Würmer), i.d.R. Tage bis Wochen) ▪ Langzeitfolgen: ▪ körperlich: Gewichtsverlust, Leberschädigung, Nekrotisierung der Nasenschleimhaut, bei intravenöser Anwendung Endokarditis, Abszesse, etc. ▪ psychisch: kognitive Störungen, affektive und psychotische Zustände Riemer Psychische Erkrankungen I 129 Kokain: Therapie von Intoxikation und Abhängigkeit ▪ Intoxikation: ▪ Überwachung und Kontrolle der Vitalfunktionen, Rehydrierung, Ausgleich von Elektrolytstörungen, Behandlung vegetativer Symptome ▪ bei Agitation, Unruhe, epileptischen Anfällen ► Diazepam ▪ bei Psychosen ► Antipsychotika, insbesondere Haloperidol ▪ bei hypertensiver Entgleisung (wenn persistierend trotz Gabe von Benzodiazepinen) ► Nitrate sublingual, ggf. Urapidil ▪ Abhängigkeit: ▪ ambulante, teilstationäre oder stationäre Entzugs- und Entwöhnungstherapie ▪ symptomatische Therapie bei Entzugssyndromen, z.B. mit Benzodiazepinen, Doxepin, Haloperidol ▪ Selbsthilfegruppen Riemer Psychische Erkrankungen I 130 Stimulantien: Epidemiologie ▪ Lebenszeitprävalenz für Amphetamin- und MDMA-Konsum jeweils 3,3%; bei Metamphetamin 0,6% ▪ 12-Monatsprävalenz 1% bei Amphetamin, 0,6% bei MDMA ▪ bei Besuchern von elektronischen Musikveranstaltungen jedoch bei ca. 60% Riemer Psychische Erkrankungen I 131 Stimulantien: Anwendung und Wirkmechanismus (ohne GHB) ▪ Anwendung: ▪ Amphetamin: Einnahme intravenös, intranasal oder oral; Wirkdauer ca. 6–8 Stunden ▪ MDMA: Einnahme oral, Wirkdauer 3–6 Stunden ▪ Metamphetamin: Einnahme oral, intranasal, inhalativ, intravenös; Wirkdauer bis 20 Stunden ▪ Wirkmechanismus: ▪ vermehrte Ausschüttung und Hemmung der Wiederaufnahme von Noradrenalin und Dopamin, teils auch Serotonin ▪ sympathikomimetische und zentral stimulierende Wirkung ▪ MDMA auch entaktogen (Verstärkung eigener Gefühle) und empathogen (verbesserter Zugang zu Gefühlen anderer) ► aktuell laufende Studien zum Einsatz v.a. bei PTSD Riemer Psychische Erkrankungen I 132 Stimulantien: Komplikationen ▪ akute paranoid-halluzinatorische Psychosen: Angst, Verfolgungswahn, haptische Halluzinationen (Mikrohalluzinationen, ähnlich wie bei Kokainpsychosen) ▪ kognitive Beeinträchtigung bei längerem Gebrauch ▪ Schlafstörungen (REM-Deprivation): als Folge abends Hypnotika, morgens Stimulanzien ▪ weiterhin: Gastritis, Hyperthermie, Krampfanfälle, Flüssigkeitsverlust, Herzrhythmusstörungen, hypertensive Krisen; Gefahr eines Serotonin-Syndroms speziell bei MDMA ▪ bei Metamphetamin: extrem schnelle Suchtentwicklung, rasche Dosissteigerung, Verelendung, starker Rebound nach Konsum, langfristig Kachexie, Zahnschäden, Immunschwäche, Kardiotoxizität ▪ bei MDMA: Tod durch Exsikkose (Austrocknung) und Herzversagen Riemer Psychische Erkrankungen I 133 Verfall unter Methamphetamin https://www.dailymail.co.uk Riemer Psychische Erkrankungen I 134 Stimulantien: Therapie der Intoxikation ▪ Reizabschirmung, Beruhigung, Stabilisierung der Vitalparameter, der Temperatur und der Elektrolyte ▪ auf Mischintoxikationen achten ▪ bei Psychosen hochpotente Antipsychotika (Olanzapin = 1. Wahl bei Metamphetamin) ▪ bei Schlafstörungen niedrigpotente Antipsychotika ▪ ggf. bei starker Angst/Unruhe und bei Krampfanfällen Benzodiazepine (Vorsicht: Suchtgefahr) ▪ bei Metamphetamin oft intensivmedizinische Behandlung aufgrund der starken sympathomimetischen Wirkung nötig, zudem oft Gefährdung ► dann akutpsychiatrische Therapie vorrangig, sofern keine unmittelbar behandlungsbedürftige somatische Symptomatik vorliegt Riemer Psychische Erkrankungen I 135 Stimulantien: Therapie der Abhängigkeit ▪ Abhängigkeitspotential MDMA < Amphetamin < Metamphetamin ▪ Therapiegesuch meist bei Polytoxikomanie ▪ kaum wissenschaftliche Erkenntnisse bzgl. einer Arzneimitteltherapie zur A