Vorlesung Ausgewählte Themen aus den Bereichen Entwicklung, Lehren, Lernen - Sommersemester 2024 - PDF

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Universität Erfurt

2024

Prof. Dr. Inga Frey, Prof. Dr. Claudia Steinbrink

Tags

Bildungspsychologie Entwicklungspsychologie Lehren und Lernen Pädagogische Psychologie

Summary

Diese Vorlesung, Ausgewählte Themen aus den Bereichen Entwicklung, Lehren, und Lernen, im Sommersemester 2024 an der Universität Erfurt, bietet organisatorischen Informationen, inklusive Themenplan und Prüfungsinformationen der Entwicklungspsychologie und Lehr- und Lernpsychologie. Die Vorlesung wird von Prof. Dr. Inga Frey und Prof. Dr. Claudia Steinbrink geleitet.

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Ausgewählte Themen aus den Bereichen Entwicklung, Lehren und Lernen Organisatorisches zur Vorlesung im Sommersemester 2024 Prof. Dr. Inga Frey Bildungspsychologie Prof. Dr. Claudia Steinbrink Entwicklungspsychologie Einordn...

Ausgewählte Themen aus den Bereichen Entwicklung, Lehren und Lernen Organisatorisches zur Vorlesung im Sommersemester 2024 Prof. Dr. Inga Frey Bildungspsychologie Prof. Dr. Claudia Steinbrink Entwicklungspsychologie Einordnung der Veranstaltung in Ihr Studium 1. Master of Education - Regelschule PO 2013 / 2014 /2023: Modul „Lernen und Entwicklung“ (BW 04) Vorlesung „Ausgewählte Themen aus den Bereichen Entwicklung, Lehren, Lernen“ (BW 04#01) 2. Master of Education - Förderpädagogik PO 2015 / 2023: Modul „Psychologie des Lernens und der Entwicklung“ / „Lernen und Entwicklung“ (BW 04) Vorlesung „Ausgewählte Themen aus den Bereichen Entwicklung, Lehren, Lernen“ (BW 04#01) Einordnung der Veranstaltung in Ihr Studium 3. Berufsbildende Schulen Master of Education – PO 2017: Modul „Psychologische Grundlagen und Methoden der Analyse und Steuerung von Lehr- und Lernprozessen“ (BW 07) Master of Education – PO 2023: Modul BW 04 BS „Lehren und Lernen – Psychologische Grundlagen“ Vorlesung „Ausgewählte Themen aus den Bereichen Entwicklung, Lehren, Lernen“ (BW 07#03/BW 04 BS#01) 4. Master of Music Education, Hochschule für Musik Weimar Modul „Schule beurteilen und entwickeln“ Modulprüfung Master of Education Regelschule / Förderpädagogik Die Modulprüfung (Klausur) bezieht sich inhaltlich je zur Hälfte auf diese Vorlesung und das Seminar „Entwicklung, Lernen, Lehren“ (Dr. Christine Johannes, Dr. Helene Zeeb). Durchführung in Präsenz auf dem Campus unter Nutzung von WiseFlow Klausurtermin: Montag, 08. Juli 2024, 10 – 12 Uhr Nachschreib-, bzw. Wiederholungstermin: Mittwoch, 07. August 2024, 10 – 12 Uhr (siehe auch Vorlesungsverzeichnis) - im SS 2024 werden keine darüber hinausgehenden Klausurtermine angeboten - nächste Möglichkeit zum Absolvieren der Klausur: SS 2025 Studienleistung/qT im M.Ed. Berufsbildende Schulen Erwerb des qualifizierten Teilnahmescheins (qT), bzw. Erwerb einer Studienleistung durch Bestehen einer Klausur, die sich inhaltlich auf diese Vorlesung bezieht Durchführung in Präsenz auf dem Campus unter Nutzung von WiseFlow Klausurtermin: Montag, 08. Juli 2024, 10 – 11 Uhr Nachschreib-, bzw. Wiederholungstermin: Mittwoch, 07. August 2024, 10 – 11 Uhr (siehe auch Vorlesungsverzeichnis) - im SS 2024 werden keine darüber hinausgehenden Klausurtermine angeboten - nächste Möglichkeit zum Absolvieren der Klausur: SS 2025 Aufbau und Inhalte der Vorlesung Diese Vorlesung wird von zwei Lehrenden durchgeführt: Claudia Steinbrink: Entwicklungspsychologie (Entwicklung) Inga Frey: Lehr- und Lernpsychologie (Lehren und Lernen) 04.04.: Organisatorisches und Einführung (Inga Frey & Claudia Steinbrink) 11.04. – 23.05.: Vorlesungsteil Entwicklung (Claudia Steinbrink) 30.05. – 27.06.: Vorlesungsteil Lehren und Lernen (Inga Frey) 04.07.: Fragen zur Klausur (Inga Frey & Claudia Steinbrink) Inhalte Vorlesungsteil Entwicklungspsychologie (Steinbrink) Schwerpunkt: Entwicklungspsychologie des Jugendalters Themen und grober Zeitplan: 11.04.: Pubertät 18.04.: Kognitive Entwicklung im Jugendalter: Piaget 25.04.: Kognitive Entwicklung im Jugendalter: Informationsverarbeitungstheorien 02.05.: Moralentwicklung im Jugend- und Erwachsenenalter 09.05.: Vorlesung entfällt (Christi Himmelfahrt) 16.05.: Entwicklung des Selbstkonzepts im Jugendalter 23.05.: Entwicklung der Identität im Jugendalter Inhalte Vorlesungsteil Lehren und Lernen (Frey) Bereitstellung der Materialien ab 24. Mai 2023 Weitgehend „Flipped Classroom“: Erarbeiten der Inhalte zu Hause, Fragen und interaktive Übungen in Präsenzterminen d.h. Planen Sie feste Zeiten (2h) zur VORbereitung der Präsenztermine ein!!! Termin Thema 30.05. Lernen – Überzeugungen und Perspektiven 06.06. Lernmotivation (Bezug: Selbstkonzept) 13.06. Selbstreguliertes Lernen und Lernstrategien (Bezug: Infoverarbeitung) 20.06. Lehr-Lernmethoden I: kooperatives Lernen 27.06. Lehr-Lernmethoden II Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Einführung Entwicklungspsychologie Vorlesung Ausgewählte Themen aus den Bereichen Entwicklung, Lehren, Lernen Prof. Dr. Claudia Steinbrink SS 2024 Themen 1. Lehrbücher Entwicklungspsychologie 2. Einführung Entwicklungspsychologie Entwicklungspsychologie: Definitionen 2 Lehrbücher Entwicklungspsychologie mit Themen aus dem Bereich „Entwicklungspsychologie des Jugendalters“ (Schwerpunkt des entwicklungspsychologischen Teils dieser Vorlesung) Lehrbücher: Entwicklungspsychologie des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters Berk, L.E. (2019). Entwicklungspsychologie (7., aktualisierte Auflage). Halbergmoos: Pearson. im Campusnetz der Universität Erfurt als E-Book verfügbar Schneider, W. & Lindenberger, U. (Hrsg., 2018). Entwicklungspsychologie (8. Auflage). Weinheim: Beltz. 4 Lehrbücher: Entwicklungspsychologie des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters Wilkening, F., Freund, A.M. & Martin, M. (2013). Entwicklungspsychologie kompakt. Weinheim: Beltz. Ahnert, L. (Hrsg., 2014). Theorien in der Entwicklungspsychologie. Berlin: Springer VS. im Campusnetz der Universität Erfurt als E-Book verfügbar 5 Lehrbücher: Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter (Auswahl) Siegler, R., Saffran, J.R., Gershoff, E.T. & Eisenberg, N. (2021). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter (5. Auflage). Berlin: Springer. Auflage 2016 im Campusnetz der Universität Erfurt als E-Book verfügbar Pinquart, M., Schwarzer, G., Zimmermann, P. (2019). Entwicklungspsychologie : Kindes- und Jugendalter (2., überarbeitete Auflage). Göttingen: Hogrefe. im Campusnetz der Universität Erfurt als E-Book verfügbar Lohaus, A. & Vierhaus, M. (2019). Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor, 4. Auflage. Berlin: Springer. 6 frühere Auflagen im Campusnetz der Universität Erfurt als E- Book verfügbar Lehrbücher: Entwicklungspsychologie des Jugendalters Lohaus, A. (Hrsg., 2018). Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Berlin: Springer im Campusnetz der Universität Erfurt als E-Book verfügbar Flammer, A. & Alsaker, F.D. (2002). Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. Hans Huber: Bern. Grob, A. & Jaschinski, U. (2003). Erwachsen werden: Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Weinheim: Beltz. Einführung Entwicklungspsychologie: Definitionen Definition von Entwicklung (vgl. Pinquart, 2011) Unter psychischer Entwicklung des Individuums versteht man die geordnete (regelhafte), gerichtete und längerfristige Veränderung des Erlebens und Verhaltens über die gesamte Lebensspanne. 10 Definition von Entwicklung (vgl. Pinquart, 2011) Unter psychischer Entwicklung des Individuums versteht man die geordnete (regelhafte), gerichtete und längerfristige Veränderung des Erlebens und Verhaltens über die gesamte Lebensspanne. Entwicklung des Individuums Geordnetheit (Regelhaftigkeit) Gerichtetheit Längerfristigkeit Lebensspanne 11 Gegenstand der Entwicklungs- psychologie (vgl. Pinquart, 2011) Die Entwicklungspsychologie als Teilgebiet der Psychologie befasst sich mit der - Beschreibung - Erklärung - Vorhersage - Beeinflussung der menschlichen Entwicklung. 12 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Literatur Pinquart, M. (2011). Gegenstand und Aufgaben der Entwicklungspsychologie (Kapitel 1). In M. Pinquart, G. Schwarzer & P. Zimmermann, Entwicklungspsychologie – Kindes- und Jugendalter. Göttingen: Hogrefe. 14 Vorlesung Ausgewählte Themen… - Lehren, Lernen Einführung Prof. Dr. Inga Frey Bildungspsychologie Lehrbücher Gegenstandsbereich der Pädagogischen Psychologie + Forschungs- bereiche. Lehren und Lernen Unterrichts- Lehr-/ Lernforschung forschung von Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen Bildungs- monitoring z.B. PISA Mit was lernt ein "Anfänger„ besser: Links oder rechts? Warum? Winkel = 45° Winkel = 55° Winkel =? Winkel = 180° – Winkel – Winkel = 180° – 55° - 45° = 80° Winkel = Winkel = 80° 4 Effekt des integrierten Formats Winkel = 45° Winkel = 55° Winkel =? Winkel = 180° – Winkel – Winkel = 180° – 55° - 45° = 80° Winkel = Winkel = 80° 5 6 7 Für einen Anfänger: Welcher Aufgabentyp besser? Warum? Typ A Typ B Finde, was du kannst! Finde ! 280 280 17.2m 17.2m 8 Der Effekt des unspezifischen Ziels Typ A Typ B Finde, was du kannst! Finde ! 280 280 17.2m 17.2m 9 Was sollen Ihnen diese Beispiele sagen? Diese Beispielbefunde widersprechen der Intuition vieler, sowie der gängigen Praxis Vorlesung soll helfen: Ihre Überzeugungen, Bilder zu Lernen reflektieren Dinge durch die Brille von Theorie und/oder empirischer Befundlage anders zu sehen …und dabei Erkenntnisse empirischer Forschung nahebringen, die Sie fürs Unterrichten / Lehren / Lernen nutzen können Danke für Ihre Aufmerksamkeit und bis Mitte des Semesters! https://cdn.pixabay.com/photo/2018/08/02/14/21/thank-you-3579611_960_720.jpg Pubertät Vorlesung Ausgewählte Themen aus den Bereichen Entwicklung, Lehren, Lernen Prof. Dr. Claudia Steinbrink SS 2024 Themen Körperliche Entwicklung im Rahmen der Pubertät 1. Veränderung der Statur ~ 2. Wachstumsschub 3. Veränderungen im Herz-Kreislauf- sowie Atmungssystem 4. Geschlechtsreifung 5. Beginn und Tempo der Pubertätsentwicklung 2 Themen Auswirkungen der Pubertät 1. Körperzufriedenheit bei Mädchen und Jungen 2. Auswirkungen von Früh- und Spätentwicklung 3. Stimmungsschwankungen Auswirkungen neurobiologischer Veränderungen in der Pubertät 3 Zum Einstieg: Fragen und Aussagen von Schülerinnen zum Thema Pubertät aus Archibald, Graber & Brooks-Gunn (2007) 4 Definition von Pubertät Flammer & Alsaker (2002): Pubertät = Gesamtheit der körperlichen Entwicklung im Kontext der Erlangung der Geschlechtsreife 5 Körperliche Entwicklung im Rahmen der Pubertät Überblick: Bedeutsamste körperliche Veränderungen während der Pubertät (Grob & Jaschinski, 2003; vgl. Archibald et al., 2007, Silbereisen & Weichold, 2012) 1. Veränderung der Statur (insbesondere das Verhältnis von Körperfett und Muskelmasse) 2. Wachstumsschub mit Zunahme von Größe und Gewicht 3. Veränderungen im Herz-Kreislauf- sowie Atmungssystem, die einen Anstieg von Kraft und physischer Ausdauer ermöglichen 4. Entwicklung der primären Geschlechtsorgane (Hoden, Eierstöcke) 5. Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale (Veränderungen der Genitalien, Brust, Schambehaarung, 7 Gesichts- und Körperbehaarung, Geschlechtsorgane) Veränderung der Statur Geschlechtsunterschiede in Körperproportionen (vgl. Berk, 2011) - Geschlechtsunterschiede in Körperproportionen werden von der Wirkung von Geschlechtshormonen auf das Skelett verursacht Jungen: - Schultern verbreitern sich im Verhältnis zu den Hüften Mädchen: - Hüften verbreitern sich im Verhältnis zu Schultern und Taille 9 Anteil von Körperfett und Muskeln bei Mädchen und Jungen (vgl. Grob & Jaschinski, 2003; Flammer & Alsaker, 2002) Muskeln: - bis zum 11. Lebensjahr: bei Jungen und Mädchen verläuft die muskuläre Zunahme parallel zu derjenigen des Skeletts - 14. – 17. Lebensjahr: Muskelgewebe bei Jungen nimmt zu, Muskelzuwachs bei Mädchen verlangsamt sich Körperfett: - bis zum 8. Lebensjahr: Zunahme des Körperfettanteils bei Mädchen und Jungen relativ gering - bei Mädchen: Körperfettanteil steigt bis zum 12. Lebensjahr langsam an, nimmt von 12 – 18 Jahren deutlich zu Muskel-Fett-Verhältnis am Ende der Pubertät: - Jungen: 3:1 10 - Mädchen: 5:4 Wachstumsschub Wachstumsschub bei Mädchen und Jungen (vgl. Silbereisen & Weichold, 2012; Siegler et al., 2011; Berk, 2011) Wachstumsschub Abschluss des Wachstums Mädchen 10. – 14. Lebensjahr 16 – 17 Jahre Jungen 12. – 16. Lebensjahr 17 – 19 Jahre Heranwachsende legen insgesamt etwa 25 bis 28 cm an Körpergröße zu 12 Wachstumsschub bei Mädchen und Jungen (vgl. Siegler et al., 2011) aus Siegler et al. (2011); Daten aus Malina (1975) 13 Wachstumsschub: Asynchroner Wachstumsverlauf verschiedener Körperteile (vgl. Berk, 2011; Grob & Jaschinski, 2003) Zunächst: - Beschleunigung des Wachstums von Händen, Beinen und Füßen Erst später: - Wachstum des Rumpfes erklärt, warum Jugendliche in der frühen Adoleszenz oft ungelenk und unproportioniert erscheinen: lange Beine, riesige Füße und Hände 14 Gewichtszunahme in der Pubertät (vgl. Berk, 2011; Siegler et al., 2011) - Heranwachsende legen etwa 23 bis 34 kg an Körpergewicht zu 15 Veränderungen im Herz- Kreislauf- sowie Atmungssystem Veränderungen in Organsystemen (vgl. Silbereisen & Weichold, 2012) - Verdopplung der Größe des Herzens - Absinken der Herzfrequenz - Anstieg des systolischen Blutdrucks - Veränderung der Zusammensetzung des Blutes - Zunahme der Größe und Vitalkapazität der Lunge - Verlangsamung des Stoffwechsels Vergrößerung der Leistungsfähigkeit 17 Geschlechtsreifung Geschlechtsreifung bei Jungen (vgl. Grob & Jaschinski, 2003; Flammer & Alsaker, 2002; Silbereisen & Weichold, 2012) - Beginn der Geschlechtsreifung: Wachstum von Hoden, Hodensack und ersten Schamhaaren - danach: Beginn des Peniswachstums - später: Auftreten des ersten Samenergusses - schließlich: Wachstum der Achselhaare aus Archibald et al. 19 (2007) Geschlechtsreifung bei Mädchen (vgl. Grob & Jaschinski, 2003; Flammer & Alsaker, 2002; Silbereisen & Weichold, 2012) - Beginn der Geschlechtsreifung: Wachstum der Brüste und Schamhaare - später: Beginn der Veränderung der Genitalien (Vergrößerung von Uterus, Vagina, Schamlippen u. Klitoris) - schließlich: Menarche (erste Regelblutung) aus Archibald et al. 20 (2007) Beginn und Tempo der Pubertätsentwicklung Große Variabilität bezüglich Beginn und Tempo der Pubertätsentwicklung (vgl. Grob & Jaschinski, 2003) Beginn der Pubertät: - Mädchen: 8 bis 13 Jahre - Jungen: 9;6 bis 13;6 Jahre Tempo der Pubertätsentwicklung: = Zeitspanne zwischen ersten Anzeichen der Pubertät und vollständiger physischer Reife - Mädchen: 1,5 bis 6 Jahre - Jungen: 2 bis 5 Jahre Beginn und Tempo der Pubertät sind unabhängig voneinander => einige Jugendliche haben Pubertät bereits abgeschlossen, wenn gleichaltrige Freunde diese noch gar nicht begonnen haben 22 Erklärungen für Unterschiede in Beginn und Tempo der Pubertätsentwicklung: Individuelle Ebene (vgl. Grob & Jaschinski, 2003; Berk, 2011; Flammer & Alsaker, 2002) Haupteinflussfaktor auf den Altersabschnitt der pubertären Veränderungen: Genetische Ausstattung - Altersabschnitt der pubertären Veränderungen wird vor allem von den Erbanlagen bestimmt - Eltern und Kinder ähneln sich bzgl. Beginn der Pubertät - eineiige Zwillinge sind sich ähnlicher als zweieiige Zwillinge bzgl. des Erreichens von Pubertätsschritten 23 Erklärungen für Unterschiede in Beginn und Tempo der Pubertätsentwicklung: Individuelle Ebene (vgl. Grob & Jaschinski, 2003; Berk, 2011; Flammer & Alsaker, 2002) Früherer Beginn der Pubertätsentwicklung durch: 1. Reichhaltige Ernährung und höheres Körpergewicht - Jugendliche mit besserer Ernährung vor der Geburt sowie im Säuglings- und Kleinkindalter erreichen Pubertät früher - starke Zunahme von Körpergewicht und Fettanteil kann bei Mädchen die geschlechtliche Reifung auslösen - Fettzellen schütten Protein Leptin aus => signalisiert dem Gehirn, dass das Mädchen ausreichende Energiereserven für die Pubertät hat - Zusammenhang zwischen sexueller Reifung und Körpergewicht (Body Mass Index) bei Mädchen und Jungen24 Erklärungen für Unterschiede in Beginn und Tempo der Pubertätsentwicklung: Individuelle Ebene (vgl. Grob & Jaschinski, 2003; Berk, 2011; Flammer & Alsaker, 2002) Früherer Beginn der Pubertätsentwicklung durch: 2. Familiäre Stressoren vor allem bei Mädchen: - Tendenz zu früherem Einsetzen der Pubertät bei konfliktreichem Familienleben, strenger Erziehung oder Trennung der Eltern Kritik: - Zusammenhang könnte auch genetisch vermittelt sein: Mütter, die früh in die Pubertät gekommen sind, bekommen mit größerer Wahrscheinlichkeit früher Kinder => Anstieg des Risikos von Ehekonflikten und Trennung der Eltern 25 Erklärungen für Unterschiede in Beginn und Tempo der Pubertätsentwicklung: Individuelle Ebene (vgl. Grob & Jaschinski, 2003; Berk, 2011; Flammer & Alsaker, 2002) Späterer Beginn der Pubertätsentwicklung durch: 1. chronische Erkrankungen 2. massive sportliche Betätigung 26 Erklärungen für Unterschiede in Beginn und Tempo der Pubertätsentwicklung: Soziale Ebene (vgl. Grob & Jaschinski, 2003; Berk, 2011; Silbereisen & Weichold, 2012) Unterschiede im Pubertätsverlauf in Abhängigkeit von - Sozioökonomischem Status - Nationalität Indirekter Einfluss dieser sozialen Faktoren: Unterschiede sind zurückzuführen auf Unterschiede in - Ernährung - Hygiene - medizinischer Versorgung Säkulare Akzeleration = Vorverlegung des Zeitpunkts der körperlichen Reife in den letzten Jahrhunderten - durchschnittliches Menarchealter 1840: 17 Jahre 27 - durchschnittliches Menarchealter heute: 12 Jahre Säkulare Akzeleration: Veränderungen des Menarchealters in den letzten zwei Jahrhunderten (vgl. Konrad & König, 2018) aus Konrad & König (2018) 28 Auswirkungen der Pubertät Körperzufriedenheit bei Mädchen und Jungen Körperzufriedenheit in der Pubertät bei Mädchen (vgl. Grob & Jaschinski, 2003; Flammer & Alsaker, 2002) Mädchen - sind durch vergleichsweise raschen Fettzuwachs ab dem 10. Lebensjahr oft besorgt über ihre Körperentwicklung - sind oft mit Gewicht unzufrieden, obwohl Statur im Durchschnitt liegt - haben erhöhtes Risiko, im Jugendalter Essprobleme zu entwickeln - sind mit ihrem Aussehen generell unzufriedener als Jungen - wünschen sich oft eine schlankere Figur - zeigen einen kontinuierlichen Abfall der Zufriedenheit mit dem Körper im Altersbereich zwischen 13 und 18 Jahren - leiden aufgrund der Zunahme an Gewicht und Körperfett oft unter Einbruch des Selbstwertgefühls - werden durch das Wachstum der Brüste positiv in ihrem 31 Körperbild beeinflusst Körperzufriedenheit in der Pubertät bei Jungen (vgl. Grob & Jaschinski, 2003; Flammer & Alsaker, 2002) Jungen: - sind mit ihrem Aussehen generell zufriedener als Mädchen - wünschen sich typischerweise eine kräftigere Figur - zeigen einen kontinuierlichen Anstieg der Zufriedenheit mit dem Körper im Altersbereich zwischen 13 und 18 Jahren - nehmen die Zunahme von Körpergröße und Kraft positiv wahr 32 Auswirkungen von Früh- und Spätentwicklung Auswirkungen von Frühentwicklung bei Jungen (vgl. Grob & Jaschinski, 2003) Frühentwickelte Jungen (als Gruppe): - haben höheren Status bei Gleichaltrigen als Spätentwickler (aufgrund der positiven Bewertung von Größenwachstum und Muskelmasse) - werden als reifer wahrgenommen - sind populärer - haben häufiger Führungsrollen inne - machen früher sexuelle Erfahrungen als Gleichaltrige - haben ein positiveres Selbstbild als noch nicht pubertäre Gleichaltrige 34 Auswirkungen von Frühentwicklung bei Jungen (vgl. Grob & Jaschinski, 2003) Frühentwickelte Jungen (als Gruppe): - zeigen mit größerer Wahrscheinlichkeit normbrechende Verhaltensweisen Gründe: - Frühentwickler haben oft ältere Freunde als normgerecht oder spätentwickelte Jungen - diese Freundschaften können frühentwickelte Jungen in problematische Situationen führen 35 Auswirkungen von Frühentwicklung bei Jungen (vgl. Flammer & Alsaker, 2002) Frühentwickelte Jungen (als Gruppe): - haben mehr körperliche Beschwerden als andere Jugendliche 36 aus Flammer & Alsaker (2002) Auswirkungen von Spätentwicklung bei Jungen (vgl. Grob & Jaschinski, 2003) Spätentwickelte Jungen (als Gruppe): - haben ein höheres Bedürfnis nach Autonomie - haben ein negativeres Selbstbild - haben weniger Selbstkontrolle und Selbstvertrauen als normgerecht entwickelte Jungen 37 Exkurs: Körperliches Entwicklungstempo und Autonomie (Silbereisen et al., 1992; vgl. Grob & Jaschinski, 2003) - Untersuchung des Einflusses des körperlichen Entwicklungstempos auf Autonomie mittels Befragung - Teilnehmer: 970 Jugendliche im Alter von 13 bis 16 Jahren Eines der Ergebnisse: - frühentwickelte Jugendliche im Alter von 15 bis 16 Jahren haben mehr Einfluss auf ihre Heimkommenszeit als ihre Altersgenossen aus Grob & Jaschinski (2003) 38 Auswirkungen von Frühentwicklung bei Mädchen (vgl. Flammer & Alsaker, 2002) Frühentwickelte Mädchen (als Gruppe): - haben mehr körperliche Beschwerden als andere Jugendliche 39 aus Flammer & Alsaker (2002) Auswirkungen von Frühentwicklung bei Mädchen (vgl. Grob & Jaschinski, 2003) Frühentwickelte Mädchen (als Gruppe): - nehmen die Menarche häufig negativ wahr (Belastung kann nicht durch wechselseitige Unterstützung von Gleichaltrigen aufgefangen werden) sind (als Gruppe) im Hinblick auf den sozialen Status benachteiligt - sind weniger populär - sind weniger ausgeglichen - sind häufiger isoliert und unsicherer - haben einen geringeren Selbstwert - haben größere emotionale Probleme - neigen häufiger zu Depressionen 40 Auswirkungen von Frühentwicklung bei Mädchen (vgl. Flammer & Alsaker, 2002) Frühentwickelte Mädchen (als Gruppe): - machen sich mehr Gedanken über ihr Gewicht und ihr Essverhalten - versuchen öfter abzunehmen als spätentwickelte Mädchen 41 aus Flammer & Alsaker (2002) Auswirkungen von Frühentwicklung bei Mädchen (vgl. Grob & Jaschinski, 2003) Frühentwickelte Mädchen (als Gruppe): - haben früher freundschaftliche und sexuelle Kontakte zu älteren Jungen - zeigen aufgrund ihrer Kontakte zu älteren Jugendlichen früher und häufiger normbrechendes Verhalten 42 Zusammenfassung: Auswirkungen von Früh- und Spätentwicklung bei Mädchen und Jungen (vgl. Grob & Jaschinski, 2003) besonders früher oder später Beginn der Pubertät wirkt sich auf die weitere Entwicklung je nach Geschlecht unterschiedlich aus: - bei Jungen wirkt sich eine besonders späte pubertäre Entwicklung eher negativ aus - bei Mädchen wirkt sich eine besonders frühe pubertäre Entwicklung eher negativ aus 43 Schlussbemerkungen zu Auswirkungen von Früh- und Spätentwicklung (vgl. Flammer & Alsaker, 2002) - die meisten Unterschiede zwischen früh-, normativ- und spätreifen Jugendlichen sind eher klein Pubertät ist ein Problem für einige Jugendliche, nimmt im Allgemeinen jedoch einen relativ unproblematischen Verlauf - wenn Probleme auftreten, dann gelten sie nicht einheitlich - Beispiel: frühreife Mädchen neigen zu negativem Selbstbild, depressiven Gefühlen, Essproblemen nur einige Mädchen bekommen diese Probleme, nicht alle! ob und welche Probleme gezeigt werden, hängt mit vielen anderen Variablen zusammen keine generellen Erwartungen zu den Reaktionen von Jugendlichen auf ihre Pubertätsentwicklung möglich 44 Stimmungsschwankungen Hormonspiegel und Stimmungsschwankungen in der Pubertät (vgl. Berk, 2011; Grob & Jaschinski, 2003) - Stimmung von Jugendlichen schwankt stärker als die von Erwachsenen - in der Pubertät steht ein höherer Hormonspiegel mit ausgeprägterer Launenhaftigkeit in Zusammenhang (Korrelationen sind aber nur moderat) Veränderungen der Stimmung scheinen durch Hormonspiegel mitverursacht zu sein Stimmungsschwankungen sind teilweise biologisch verursacht 46 Zusammenhang zwischen negativer Stimmung und Anzahl negativer Ereignisse (vgl. Berk, 2011) - Erfassung von Stimmungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen über längere Zeiträume (z.B. 1 Woche) - in willkürlichen Intervallen: Signal an Teilnehmer zu dokumentieren, was sie gerade tun, mit wem sie zusammen sind und wie sie sich gerade fühlen - Jugendliche berichten weniger positive Stimmungen als Kinder im Schulalter oder Erwachsene - Korrelation zwischen negativer Stimmung und größerer Anzahl negativer Ereignisse (z.B. Schwierigkeiten mit Eltern, Trennung von Freund/Freundin) - stetige Zunahme von negativen Ereignissen von der Kindheit in die Adoleszenz - Reaktion auf negative Ereignisse ist bei Jugendlichen emotionaler als bei Kindern 47 Zusammenhang zwischen situativen Variablen und Stimmung bei Jugendlichen (vgl. Berk, 2011) - Korrelationen zwischen Stimmungsschwankungen und situativen Veränderungen - eher bessere Stimmung in mit Freunden oder selbstgewählten Freizeitaktivitäten verbrachter Zeit - eher schlechtere Stimmung in von Erwachsenen strukturierten Situationen (z.B. Unterricht) aus Berk 48 (2011) Auswirkungen neurobiologischer Veränderungen in der Pubertät Veränderungen der Gehirnstruktur in Kindheit und Jugendalter (vgl. Lohaus & Vierhaus, 2015; Silbereisen & Weichold, 2012; Siegler et al., 2011) Systematische Veränderung der Struktur des Gehirns im Alter von 4 bis 21 Jahren (vgl. Studie von Gogtay et al., 2004): Weiße Substanz (Nervenbahnen) nimmt zu - Nervenbahnen werden zunehmend myelinisiert - Leitungsgeschwindigkeit wird erhöht Beschleunigung der Informationsverarbeitung Graue Substanz (Zellkörper) nimmt ab - überschüssige Neuronen und neuronale Verbindungen, die wenig, bzw. nicht genutzt werden, werden abgebaut => zunehmend effizientere Informationsverarbeitung 50 „Umbau“ erfolgt nicht in allen Hirnregionen simultan, sondern sukzessiv (vgl. Lohaus & Vierhaus, 2015) - körperliche Veränderungen in der Pubertät (schnelle Zunahme der Körpergröße, Veränderung der Körperproportionen) erfordern Anpassung der entsprechenden Hirnregionen, um effektive Körperbeherrschung zu gewährleisten - Beherrschung von Motorik und Sensorik ist überlebenswichtig schnelle Anpassungen in entsprechenden Hirnregionen 51 „Umbau“ erfolgt nicht in allen Hirnregionen simultan, sondern sukzessiv (vgl. Lohaus & Vierhaus, 2015) Langsamere Anpassungen z.B. in folgenden Hirnregionen: Limbisches System - u.a. Verarbeitung von Emotionen und emotionalen Reizen Präfrontaler Cortex - u.a. zentrale Exekutive: Aufmerksamkeitssteuerung, Handlungsplanung, Handlungskontrolle durch „Umbau“ dieser Hirnregionen: vorübergehende Probleme in Emotionsverarbeitung und kognitiver Handlungssteuerung - Umstrukturierungsprozesse im präfrontalen Cortex dauern 52 bis ins frühe Erwachsenenalter Veränderungen des Neurotransmitter- haushalts (vgl. Lohaus & Vierhaus, 2015; Silbereisen & Weichold, 2012) Reorganisation des - dopaminergen Systems (Dopamin = stimulierender Neurotransmitter; wird bei positiven Gefühlen ausgeschüttet) - serotonergen Systems (Serotonin = stimulierender Neurotransmitter; steuert die Kontraktion der Blutgefäße) Abnahme der Dichte der Rezeptoren für Dopamin und Serotonin weniger stimulierende Reize erreichen den Kortex besonders Areale des präfrontalen Cortex und des limbischen Systems (u.a. zuständig für Verarbeitung emotionaler Reize, Bewertung von Reizen, Umsetzung von Aktivitäten) werden weniger stark aktiviert als in der Kindheit 53 Veränderungen des Neurotransmitter- haushalts (vgl. Lohaus & Vierhaus, 2015; Silbereisen & Weichold, 2012) - besonders Areale des präfrontalen Cortex und des limbischen Systems (u.a. zuständig für Verarbeitung emotionaler Reize, Bewertung von Reizen, Umsetzung von Aktivitäten) werden weniger stark aktiviert als in der Kindheit durch verringerte Reizzufuhr suchen Jugendliche aktiv nach neuartigen Erlebnissen mit ausgeprägten Reizen Erhöhung der Wahrscheinlichkeit negativer Gefühlszustände erhöhte Anstrengung erforderlich, um positive Gefühlszustände hervorzurufen - gleichzeitig: Reifungsvorgänge im präfrontalen Cortex (u.a. zuständig für Handlungskontrolle) nicht abgeschlossen Gefahr risikoreichen Verhaltens 54 Erhöhte Anfälligkeit für Probleme in der Regula- tion von Affekt und Verhalten im Jugendalter (vgl. Steinberg, 2005) aus Steinberg (2005) 55 Veränderung des Melatoninstoffwechsels in der Pubertät (vgl. Lohaus & Vierhaus, 2015; Berk, 2011) Melatonin = Hormon, das an der Steuerung zirkadianer Rhythmen (insbesondere Schlaf-Wach-Rhythmus) beteiligt ist im Verlauf der Pubertät: - Reduzierung der Melatoninmenge - spätere Ausschüttung des Melatonins späteres Einsetzen der Ermüdung in den Abendstunden Jugendlicher geht viel später schlafen als ein Kind (benötigt aber beinahe so viel Schlaf wie in der mittleren Kindheit, ca. 9 Stunden) Unausgeschlafenheit 56 Verschiebung des Schlaf-Wach-Rhythmus bei Jugendlichen (vgl. Konrad & König, 2018) 57 aus Konrad & König (2018) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Literatur Archibald, A.B., Graber, J.A. & Brooks-Gunn, J. (2007). Pubertal processes and physiological growth in adolescence. In G.R. Adams & M.D. Berzonsky (Eds.), Blackwell Handbook of Adolescence (pp. 24-47). Blackwell. Berk, L. (2011). Die körperliche und kognitive Entwicklung in der Adoleszenz (Kap. 11). In Entwicklungspsychologie (S. 487-543). Pearson. Flammer, A. & Alsaker, F.D. (2002). Pubertätsentwicklung (Kap. 4). In Entwicklungspsychologie der Adoleszenz (S. 71-91). Hans Huber. Grob, A. & Jaschinski, U. (2003). Körperliche und psychosexuelle Entwicklung (Kap. 4). In Erwachsen werden – Entwicklungspsychologie des Jugendalters (S. 33-40). Beltz. Konrad, K. & König, J. (2018). Biopsychologische Veränderungen. In A. Lohaus (Hrsg.), Entwicklungspsychologie des Jugendalters (S. 1 – 21). Springer. 59 Literatur Lohaus, A. & Vierhaus, M. (2015). Entwicklungsveränderungen im Jugendalter (Kap. 17). In Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor (S. 246-262). Springer. Schneider, W. & Lindenberger, U. (2012, Hrsg.). Entwicklungspsychologie. Beltz. Siegler, R., DeLoache, J. & Eisenberg, N. (2011). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Spektrum Akademischer Verlag. Silbereisen, R.K. & Weichold, K. (2012). Jugend (12-19 Jahre). In W. Schneider & U. Lindenberger (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (S. 235-258). Beltz. Steinberg, L. (2005). Cognitive and affective development in adolescence. Trends in Cognitive Sciences, 9, 69-74. 60 Kognitive Entwicklung im Jugendalter: Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung Vorlesung Ausgewählte Themen aus den Bereichen Entwicklung, Lehren, Lernen Prof. Dr. Claudia Steinbrink SS 2024 Themen Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung: Einführung und formal-operationales Stadium 1. Anlage und Umwelt 2. Entwicklungsprozesse 3. Piagets Stufentheorie der kognitiven Entwicklung: Zentrale Eigenschaften und allgemeiner Überblick 4. Das formal-operationale Stadium 5. Folgeuntersuchungen zum formal-operationalen Denken 2 Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung (Einführung und formal-operationales Stadium) Jean Piaget (1896 – 1980) mit Sohn Laurent im Jahr 1932 aus Hoppe-Graff (2014) Grundannahmen: Konstruktivismus und „Das Kind als Wissenschaftler“ (vgl. Siegler et al., 2011) - Aktivität des Kindes von Geburt an - Wissen wird als Reaktion auf Erfahrungen und in Auseinandersetzung mit der Umwelt aktiv konstruiert Metapher: Das Kind als Wissenschaftler: - intrinsische Motivation zum Lernen - Bildung von Hypothesen - Experimentieren - Schlussfolgern aus eigenen Beobachtungen Beispiel: 4 aus Siegler et al. (2005) Anlage und Umwelt vgl. Lohaus & Vierhaus (2013) Schwarzer (2011) Siegler et al. (2005, 2011) Zusammenspiel von Anlage und Umwelt bei der kognitiven Entwicklung (vgl. Siegler et al., 2011) Umwelt: - jede Erfahrung, die Menschen im Verlauf der kognitiven Entwicklung machen Anlage: - reifendes Gehirn und reifender Körper - Fähigkeit wahrzunehmen, zu handeln und aus der Erfahrung zu lernen - Motivation, zwei grundlegenden Funktionen gerecht zu werden: Organisation und Adaptation aus Imhof, 6 2010 Begriffsdefinition: Schema (vgl. Lohaus & Vierhaus, 2013; Schwarzer, 2011) Was sind Schemata? - hierarchisch organisierte und aus Erfahrung aufgebaute geistige Systeme, wie ein Muster von Gedanken und Handlungen - überdauernde Wissensbasis zur Interpretation der Umwelt Wozu dienen Schemata? 1. Einordnung eingehender Information 2. Verbindung von eingehender und ausgehender Information - Weiterentwicklung des Denkens erfolgt durch Aufbau immer adäquaterer Schemata 7 Wie werden Schemata weiterentwickelt? – Organisation und Adaptation (vgl. Schwarzer, 2011) - Organisation: - Zusammenfügung verschiedener, schon existierender Schemata zu größeren kognitiven Strukturen Adaptation: - Bedürfnis, sich so an die Umwelt anzupassen, dass man mit ihr in einem kognitiven Gleichgewicht (Äquilibrium) steht - Äquilibrium = Passung zwischen den eigenen Schemata und den Vorkommnissen der Umwelt 8 Entwicklungsprozesse vgl. Schwarzer (2011) Siegler et al. (2005, 2011) Drei Entwicklungsprozesse treiben die kognitive Entwicklung voran (vgl. Siegler et al., 2011) Assimilation: - Prozess, durch den Menschen eintreffende Information in eine Form überführen, die sie verstehen können Akkomodation: - Prozess, durch den Menschen vorhandene Wissensstrukturen als Reaktion auf neue Erfahrungen anpassen Äquilibration: - Prozess, durch den Menschen Assimilation und Akkomodation ausbalancieren, um stabiles Verstehen zu schaffen 10 Assimilation (vgl. Schwarzer, 2011; Siegler et al., 2011) Assimilation: - Einfügung eintreffender Information in Konzepte, die bereits verstanden werden - Anpassung der Außenwelt an ein vorhandenes Schema S Bsp: Greifschema Kind : G Kind versucht Wasserstrahl , zu greifen Kind kennt Hande , sieht Löwen Umwelt an die bekamten Schemata im Zoo einen 1) wird danken , es sei ein Hund > - Anpassung der 11 Akkomodation (vgl. Schwarzer, 2011; Siegler et al., 2011) Akkomodation: - Anpassung vorhandener Wissensstrukturen in Reaktion auf Erfahrungen - Anpassung von Schemata an die Umwelt ↳ Kind erkennt das der Löwe kein Hund ist - passt seine Schometa an , Beispiel: Erfahrungen aus da aus Shaffer, 2000 Umwelt an 12 Äquilibration – Ablauf in drei Phasen (vgl. Siegler et al., 2011) 1. Äquilibrium - Zufriedenheit mit dem Verständnis eines Phänomens - keine Diskrepanzen zwischen Erfahrungen und Verständnis eines Phänomens Bsp : Pflanzen sind keine Lebewesen ↳ können sich nicht bewegen 2. Disäquilibrium reagieren - durch neue Information: Erkenntnis, dass Verständnis unzureichend ist - Entwicklung einer besseren Alternative noch nicht möglich Bsp Erkenntnis , Pflanzen reagieren auf : Sommlicht richten sich aus 3. Stabileres Äquilibrium - Entwicklung eines differenzierteren Verständnisses, das die Unzulänglichkeiten der bisherigen Verstehensstrukturen überwindet 13 Bsp. differenziertes Verständnis- Pflanzen sind Gebewesen Piagets Stufentheorie der kognitiven Entwicklung Zentrale Eigenschaften und allgemeiner Überblick Zentrale Eigenschaften von Piagets -UStufen Stufentheorie (vgl. Siegler et al., 2011) -Erreichen der ↳ munche letzten Stufen nicht selbstverständlich erreichen diese wie 1. Qualitative Veränderung - Personen verschiedenen Alters denken auf qualitativ unterschiedliche Weise 2. Breite Anwendbarkeit - die für eine Stufe charakteristische Art des Denkens durchdringt das Denken über ganz verschiedene Themen und Kontexte hinweg 3. Kurze Übergangszeiten - kurze Übergangsphase vor Erreichen einer neuen Stufe, in der Personen zwischen der neuen und der alten Art des Denkens hin und her schwanken 4. Invarianz der Abfolge - Menschen an allen Orten und in allen historischen Epochen durchlaufen die Stufen in derselben Reihenfolge 15 - keine Stufe wird jemals übersprungen Vier Stadien der kognitiven Entwicklung nach Piaget aus Berk (2011) 1 2 3 4 16 In dieser Vorlesung: Darstellung des formal- operationalen (formal-operatorischen) Stadiums aus Berk (2011) 17 Das formal-operationale Stadium vgl. Berk (2005, 2011) Siegler et al. (2005, 2011) 18 Kennzeichen des formal-operationalen Stadiums (vgl. Berk, 2005,2011; Siegler et al., 2005, 2011) Kinder im konkret-operationalen Stadium: - können über konkrete Gegenstände und Ereignisse logisch nachdenken - haben Schwierigkeiten, in rein abstrakten Begriffen zu denken und Informationen systematisch zu kombinieren - können „mit der Wirklichkeit operieren“ Jugendliche im formal-operationalen Stadium: - können nicht nur über konkrete Situationen nachdenken, sondern auch über Abstraktionen und völlig hypothetische Situationen - können systematisch wissenschaftliche Experimente durchführen und daraus die angemessenen Schlüsse ziehen - können „mit Operationen operieren“ 19 Im Folgenden betrachtete Merkmale des formal-operationalen Stadiums (vgl. Berk, 2005, 2011) 1. Hypothetisch-deduktives Denken 2. Propositionales Denken (Aussagenlogik) Annahme Piagets: - formal-operationales Stadium ist nicht universell, d.h. nicht - alle Jugendlichen oder Erwachsenen erreichen es 20 1. Hypothetisch-deduktives Denken (vgl. Berk, 2005, 2011) Wer zu hypothetisch-deduktivem Denken fähig ist, löst ein gestelltes Problem indem er/sie - zunächst eine Theorie aller möglichen Faktoren, die das Ergebnis beeinflussen könnten, aufstellt, - daraus spezifische Hypothesen (Vorhersagen) über das ableitet, was geschehen könnte - und schließlich diese Hypothesen auf systematische Weise testet, um zu sehen, ob es Hypothesen stützende Befunde gibt. 21 Hypothetisch-deduktives Denken: Das Pendelproblem (Inhelder & Piaget, 1958) (vgl. Berk, 2011; Siegler, 2005, 2011) Frage: Welcher Faktor / welche Faktoren beeinflussen die Zeit, die das Pendel benötigt, um einmal hin- und herzuschwingen? Stadium -4. Jugendlicher im formal-operationalen Stadium: Vier Variablen könnten einen Einfluss haben: - die Länge der Schnur - die Schwere des Gewichts - die Höhe, aus der das Gewicht fallengelassen wird - die Kraft, mit der das Gewicht 22 angestoßen wird aus Siegler et al., 2005 ihrem Stadium d > - sind : Jugendlichen in in der lage , diese Faktoren zu erkennen Wie gehen Kinder im konkret-operationalen Stadium beim Pendelproblem vor? ↓. Stadium 3 (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) - Planung unsystematischer Experimente, aus denen keine eindeutigen Schlüsse gezogen werden können - z.B. Vergleich der Schwingungszeit eines schweren Gewichts an einer kurzen Schnur, das aus großer Höhe losgelassen wurde, mit der Schwingungszeit eines leichten Gewichts an einer langen Schnur aus niedrigerer Höhe ↳ Sie sind noch nicht in der Lage , die Unterschiede zu erkennen 23 Wie gehen Jugendliche im formal-operationalen Stadium beim Pendelproblem vor? ↓ (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) 4 Stadium. - systematische Überprüfung, wie jede der Variablen die Schwingungszeit beeinflusst - Wissen um die Einflussfaktoren zur Testung der Rolle des Gewichts: - Vergleich von schwerem und leichtem Gewicht bei Konstanthaltung der anderen Variablen zur Testung der Rolle der Schnurlänge: - Vergleich von langer und kurzer Schnur bei Konstanthaltung der anderen Variablen … 24 Lösung des Pendelproblems bei Jugendlichen im formal-operationalen Stadium Ergebnis: - nur die Schnurlänge beeinflusst die Pendelzeit - Gewicht, Fallhöhe und Anstoß spielen keine Rolle! aus Hoppe-Graff (2014) 25 2. Propositionales Denken (Aussagenlogik) (vgl. Berk, 2005, 2011) Jugendliche im formal-operationalen Stadium: > 4 Stadium -. - besitzen die Fähigkeit zum propositionalen Denken = Fähigkeit, die Logik von propositionalen (verbalen) Aussagen bewerten zu können, ohne sich auf Umstände der realen Welt beziehen zu müssen Kinder im konkret-operationalen Stadium: - können die Logik von Aussagen nur bewerten, wenn sie diese im Hinblick auf konkrete Belege in der wirklichen Welt betrachten können 26 Studie von Osherson & Markman (1975) zum propositionalen Denken: Ablauf (vgl. Berk, 2005, 2011) Allgemeiner Ablauf: - Teilnehmern wird ein Stapel Pokerchips gezeigt - Teilnehmer werden zur Wahrheit von Aussagen über die Chips (mögliche Antworten: wahr, falsch, ungewiss) befragt Bedingung 1: - Versuchsleiterin versteckt einen Chip in der Hand - Aussage 1: „Entweder ist der Chip in meiner Hand grün, oder er ist nicht grün“ - Aussage 2: „Der Chip in meiner Hand ist grün und nicht grün.“ Bedingung 2: - Versuchsleiterin hält grünen oder roten Chip in der Hand, so dass der Teilnehmer ihn sehen kann - Versuchsleiterin macht die gleichen Aussagen 27 Studie von Osherson & Markman (1975) zum propositionalen Denken: Ergebnisse (vgl. Berk, 2005, 2011) Stadium T 3 Kinder im konkret-operationalen Stadium: ↳ benötigen realen Bezug. - konzentrierten sich auf die konkreten Eigenschaften der Pokerchips Bedingung 1 (Chip in der Hand versteckt) - Kinder sagten, sie könnten die Aussagen nicht bewerten Bedingung 2 (Chip offen in der Hand gehalten) - Chip ist grün: beide Aussagen als wahr beurteilt - Chip ist rot: beide Aussagen als falsch beurteilt Jugendliche im formal-operationalen Stadium: - analysierten die Logik der Aussagen - verstanden, dass Entweder-oder-Aussage immer richtig ist und Und-Aussage immer falsch (unabhängig von der Farbe der Chips) - 28 Folgeuntersuchungen zum formal-operationalen Denken vgl. Berk (2005, 2011) 29 Sind Kinder zu hypothetisch-deduktivem Denken fähig? (vgl. Berk, 2005, 2011) - Kinder im Schulalter zeigen Ansätze hypothetisch- deduktiven Denkens, sind darin aber nicht so kompetent wie Jugendliche - in vereinfachten Situationen (z.B. solche, die nicht mehr als zwei mögliche kausale Variablen umfassen) verstehen schon 6jährige, dass Hypothesen durch angemessenen Beweis bestätigt werden müssen - Kinder im Schulalter können aber keinen Beweis erbringen für etwas, das drei oder mehr Variablen umfasst 30 Sind Kinder zu propositionalem Denken (Aussagenlogik) fähig? (vgl. Berk, 2005, 2011) - Aufgaben zum propositionalen Denken, in denen eine einfache Prämisse der Realität widerspricht („Alle Katzen bellen. Rex ist eine Katze. Bellt Rex?“) Aufgabenbearbeitung im Rahmen eines Fiktionsspiels: - Vier und Sechsjährige können logisch argumentieren Aufgabenbearbeitung in ausschließlich verbalem Modus: - Schwierigkeiten, auf der Grundlage von Prämissen zu schlussfolgern, die Realität oder eigenen Überzeugungen widersprechen ↳ Kinder können sich nur schwer von den Erkenntnissen ihrer Realität lösen ↳ mit Hilfereines Fiktionsspiels klappt es gut: Wir befinden uns in einem Raumschiff- wir reisen zu einem formen Planeten ,- 31 hier bellen alle Katzen Sind Kinder zu propositionalem Denken (Aussagenlogik) fähig? (vgl. Berk, 2005, 2011) - Kinder haben Schwierigkeiten, auf der Grundlage von Prämissen zu schlussfolgern, die der Realität oder eigenen Überzeugungen widersprechen - Kinder haben größere Schwierigkeiten als Heranwachsende, die Aktivierung bisherigen Wissens zu unterdrücken, das die Richtigkeit der Prämissen in Frage stellt - Kindern gelingt es nicht, die logische Notwendigkeit propositionalen Denkens zu begreifen: Richtigkeit einer Schlussfolgerung, die aus bestimmten Prämissen gezogen wird, beruht auf den Regeln der Logik, nicht auf einer Bestätigung der Prämissen durch die Wirklichkeit 32 Erreichen alle Menschen die formal- operationale Stufe? (vgl. Berk, 2005, 2011) - sogar viele gebildete Erwachsene versagen bei formal- operationalen Aufgaben Warum? - Menschen denken am ehesten abstrakt in den Situationen, mit denen sie die meiste Erfahrung haben Beleg: - Teilnahme an Universitätskursen führt zu Verbesserungen in den formal-operationalen Denkleistungen, die mit dem Inhalt des Kurses in Beziehung stehen 33 Erreichen alle Menschen die formal- 4 Stufe operationale Stufe? (vgl. Berk, 2005, 2011). - Menschen in Gesellschaften, die von Stammes- oder Dorfgemeinschaften geprägt sind, bewältigen formal- operationale Aufgaben nur selten Piaget: - keine Entwicklung formaler Operationen bei Menschen, die in ihrer Gesellschaft keine Gelegenheit haben, hypothetische Probleme zu lösen Wie entsteht formal-operationales Denken? - Entstehung aus dem eigenständigen Streben, sich den Sinn der Welt zu erschließen? (Annahme Piagets) - kulturell vermittelte Art des Denkens, die auf Kulturen beschränkt ist, die Schriftsprache verwenden und formal- operationales Denken in der Schule lehren? (Beleg: Studie in der die Dauer der Schulbildung die Fortschritte im 34 propositionalen Denken vollständig erklären konnte) Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens: Befunde der Münchner Längsschnittstudie LOGIK (vgl. Sodian et al., 2008) Annahme Piagets: - Fähigkeit zum wissenschaftlichen Denken erst ab dem Jugendalter =>keine Fähigkeit zum wissenschaftlichen Denken bei Grundschulkindern? Aufgabe: Wovon wird der Treibstoffverbrauch eines Flugzeugs beeinflusst? Drei mögliche Variablen: - Form der Nase (spitz oder rund) - Art der Flügel (einfach oder Doppeldecker) - Position des Höhenruders (oben oder unten) 35 Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens: Befunde der Münchner Längsschnittstudie LOGIK (vgl. Sodian et al., 2008) Variablenkontroll- strategie: - zur Prüfung einer bestimmten Hypothese dürfen sich die Flugzeuge nur in einer der drei Variablen unterscheiden, alle anderen Variablen müssen konstant gehalten werden 36 aus Sodian et al. (2008) Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens: Befunde der Münchner Längsschnittstudie LOGIK (vgl. Sodian et al., 2008) - wissenschaftliches Denken entsteht nicht erst in der Adoleszenz - Ende der Grundschulzeit: adäquates Verständnis der experimentellen Methode bei der Mehrheit der Kinder - Fehler entstehen - Ansätze sind bereits ab Klasse 3 vorhanden dann, wenn durch das Anpassen der Methoden kann wissenschaftl Denken Methodik selbst. , Schon eher angewandt werden eingesetzt werden muss und kein aus Sodian et al. (2008) unterstützender Kontext vorhanden 37 ist Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Literatur Berk, L.E. (2005, 2011). Entwicklungspsychologie. Kapitel 11: Die körperliche und kognitive Entwicklung in der Adoleszenz. Pearson Studium. Hoppe-Graff, S. (2014). Denkentwicklung aus dem Blickwinkel des strukturgenetischen Konstruktivismus (Kap. 6). In L. Ahnert (Hrsg.), Theorien in der Entwicklungspsychologie. Springer VS. Imhof, M. (2010). Psychologie für Lehramtsstudierende. Kapitel 2.4: Das Entwicklungsmodell von Piaget. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Lohaus & Vierhaus (2013). Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters. Kapitel 2: Theorien der Entwicklungspsychologie. Springer. Schwarzer, G. (2011). Entwicklung des Denkens (Kap. 4). In M. Pinquart, G. Schwarzer & P. Zimmermann, Entwicklungspsychologie – Kindes- und Jugendalter. Hogrefe. 39 Literatur Siegler, R.S., DeLoache, J.S., Eisenberg, N. (2005, 2011). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Kapitel 4: Theorien der kognitiven Entwicklung. Spektrum. Sodian, B., Bullock, M & Koerber, S. (2008). Wissenschaftliches Denken und Argumentieren. Was muss Hänschen lernen, damit aus Hans etwas wird? In Schneider W. (Hrsg.), Entwicklung von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter. Beltz. 40 Kognitive Entwicklung im Jugendalter aus Sicht der Informationsverarbeitung Vorlesung Ausgewählte Themen aus den Bereichen Entwicklung, Lehren, Lernen Prof. Dr. Claudia Steinbrink SS 2024 Themen dieser Vorlesung Kognitive Entwicklung im Jugendalter aus Sicht der Informationsverarbeitung 1. Kennzeichnende Merkmale von Informations- verarbeitungstheorien 2. Mechanismen der kognitiven Entwicklung im Jugendalter 3. Wissenschaftliches Denken im Jugendalter 4. Auswirkungen neurobiologischer Veränderungen im Jugendalter auf die Informationsverarbeitung 2 Kennzeichnende Merkmale von Informationsverarbeitungs- theorien vgl. Siegler et al. (2005, 2011) 3 Annahme: Kognitive Veränderungen sind kontinuierlich (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) - wichtige Veränderungen treten ständig auf, sind nicht auf bestimmte Übergangsphasen zwischen Stufen beschränkt - kognitives Wachstum findet in kleinen Schritten statt, nicht abrupt ⇒ Gegensatz zu Piaget (qualitativ unterscheidbare Stufen mit relativ kurzen Übergangsphasen) 4 Denken als Verarbeitung von Informationen (vgl. Schwarzer, 2011) Interessierende Fragen: - Wie werden Umweltinformationen aufgenommen? - Wie werden sie intern repräsentiert? - Wie erhalten Umweltinformationen Bedeutung? - Wie führen sie zu einer Entscheidung (z.B. Handlung)? An jeder Stelle des Informationsflusses durch das kognitive System: Analyse: - Wie und warum kommt es zu Veränderungen der Informationsverarbeitung im Laufe der Entwicklung? - Wie interagieren die Veränderungen miteinander? 5 Präzise Spezifizierung der am Denken beteiligten Prozesse (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) Beispiel: aus Siegler et al. (2005) Präzise Spezifizierung der am Denken beteiligten Prozesse: Im Beispiel: - Identifikation der Ziele - Hindernisse in der Umgebung - Schlüsse, die zur formulierten Strategie führen (Vater bitten, 6 den Keller aufzuschließen) Beispiel: Modell des Gedankenprozesses, der zur Äußerung der Tochter führte aus Siegler et 7 al., 2005 Betonung des Denkens als Aktivität mit zeitlicher Ausdehnung (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) - einer einzelnen Verhaltensweise liegen zahlreiche unterschiedliche geistige Handlungen zugrunde Im Beispiel: - Tochter generiert im Verfolgen des Hauptziels, mit bequem sitzenden Schuhen Fahrrad zu fahren, eine Abfolge von Teilzielen, Schlussfolgerungen und relevanten Tatsachen 8 Betonung von Struktur und Prozessen (vgl. Siegler et al., 2011) Struktur: - grundlegende Organisation des kognitiven Systems einschließlich der Hauptkomponenten des Systems und ihrer Merkmale - Informationsverarbeitungsansätze verbinden dabei auch kognitive Komponenten des kognitiven Systems mit bestimmten Hirnarealen Prozesse: - geistige Aktivitäten (z.B. Regeln und Strategien), derer Menschen sich bedienen, um sich zu erinnern und Probleme zu lösen - wichtige Frage: Wie verändern sich die Prozesse mit dem Alter und der Erfahrung? 9 Annahme: Kognitive Entwicklung entsteht durch Überwindung von Verarbeitungsbeschränkungen (vgl. Siegler et al., 2011) Metapher des Menschen als ein System in der Art eines Computers: Computer Mensch Hardwarebeschränkungen: Speicherkapazität Gedächtniskapazität Leistungsfähigkeit (Prozessorgeschwindigkeit) Effizienz der Denkprozesse Softwarebeschränkungen: Verfügbarkeit von Strategien und Verfügbarkeit relevanter Strategien und Informationen zur Lösung best. Aufgaben Wissensinhalte zur Lösung best. Aufgaben Kognitive Entwicklung entsteht durch Überwindung von Verarbeitungsbeschränkungen: - Ausweitung des Informationsumfangs, der gleichzeitig verarbeitet werden kann - Effektivitätssteigerung bei Ausführung grundl. Prozesse - Erwerb neuer Strategien und Wissensbestände 10 Mechanismen der kognitiven Entwicklung im Jugendalter 11 Mechanismen der kognitiven Entwicklung im Jugendalter: Überblick (vgl. Berk, 2005, 2011) Mechanismen der kognitiven Entwicklung im Jugendalter aus Sicht der Informationsverarbeitung: Veränderungen in folgenden Bereichen: - Aufmerksamkeit - Kognitive Hemmung - Strategien - Wissen - Metakognition - Kognitive Selbststeuerung - Verarbeitungsgeschwindigkeit - Verarbeitungskapazität 12 Mechanismen der kognitiven Entwicklung im Jugendalter: Aufmerksamkeit (vgl. Berk, 2005, 2011) Aufmerksamkeit - konzentriert sich stärker auf relevante Informationen - passt sich besser den wechselnden Anforderungen von Aufgaben an 13 Mechanismen der kognitiven Entwicklung im Jugendalter: Aufmerksamkeit (vgl. Fimm, 2007) Beispiel: Altersverlauf des Untertests „Geteilte Aufmerksamkeit“ der Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) erst ab ca. 16 Jahren: Niveau von Erwachsenen bezogen auf Reaktionsgeschwindigkeit und Reaktionsgenauigkeit Aufgabe: Systematischer Abball simultane Bear- der Fehlergubten beitung von iit visueller Such- ansteigendem Alter aufgabe und selektiver akustischer Aufgabe aus Fimm (2007) 14 Mechanismen der kognitiven Entwicklung im Jugendalter: Kognitive Hemmung (vgl. Berk, 2005, 2011) - kognitive Hemmung von irrelevanten Reizen und erlernten Reaktionen in Situationen, in denen sie unpassend sind, wird besser - dies führt zu Fortschritten bei Aufmerksamkeit und logischem Denken 15 Mechanismen der kognitiven Entwicklung im Jugendalter: Kognitive Hemmung (vgl. Paus, 2005) Beispiel: Altersverlauf in zwei Aufgaben zur inhibitorischen Kontrolle Stop-Signal-Aufgabe: Abfall der Reaktionszeit Dieser - bei auditivem Stop-Signal: bis ins Jugendalter Anstieg Unterbrechen der T Kaum vernachlässigt Bearbeitung einer Aufgabe werden mit visuellen Reizen 3 Anti-Sakkaden-Aufgabe: - Fixationspunkt ansehen - Aufgabe: bei Präsentation Systematischer Abfall von peripherem visuellem wegen Verbesserung der Kognitiven Reiz in die dem Reiz entge- Hemmung gengesetzte Richtung sehen - dargestellt: Prozentsatz der fälschlicherweise auf den Reiz gerichteten Blickbewegungen 16 aus Paus (2005) Mechanismen der kognitiven Entwicklung im Jugendalter: Strategien (vgl. Berk, 2005, 2011) - Strategien werden effektiver - dies führt zu Verbesserung der Speicherung, der Repräsentation und des Abrufs von Information 17 Beispiel 1: Entwicklung des strategischen Lernens und Erinnerns von kategorisierten Begriffen (vgl. Knopf et al., 2008) Knopf, Schneider, Sodian & Kolling (2008): - Aufgabe aus der Münchner LOGIK-Längsschnittstudie - Teilnehmer erhielten größere Anzahl von Bildern auf Kärtchen (z.B. Bus, Ente, Auto, Katze…) - Aufgabe: sich möglichst viele davon in kurzer Zeit einprägen und unmittelbar danach erinnern - Objekte auf den Karten aus verschiedenen Kategorien (z.B. Tiere, Fahrzeuge…) - Steigerung der Gedächtnisleistung möglich durch die Verwendung von Ordnungsstrategien beim - Einprägen und - Abrufen 18 Beispiel 1: Entwicklung des strategischen Lernens und Erinnerns von kategorisierten Begriffen (vgl. Knopf et al., 2008) 19 aus Knopf et al. (2008) Beispiel 2: Strategien zum Behalten von Texten (Brown & Campione, 1978, vgl. Flammer & Alsaker, 2002) Aufgabe: - Texte lesen und behalten - Texte jeweils auf 50 Karten geschrieben - Teilnehmer sollten beim Lesen 12 der 50 Karten als Merkkarten herausnehmen, um sich anhand dieser Karten besser an den gesamten Text zu erinnern Altersgruppen: - 5. Schuljahr - 7./8. Schuljahr - 11./12. Schuljahr - Studierende 20 Beispiel 2: Strategien zum Behalten von Texten (Brown & Campione, 1978, vgl. Flammer & Alsaker, 2002) Analyse: Welche Arten von Merkkarten ausgewählt? - unwichtige Information für die Geschichte (1) - wichtige Information für die Geschichte (4) - mittlere Wichtigkeit in zwei Abstufungen (2 und 3) Ergebnisse Durchgang 1: - je wichtiger die Infos, desto häufiger wurde Karte gewählt Verschiedene Ergebnisse Durchgang 2: Gruppen - nur Studierende haben gelernt: wichtigste Info behält man sowieso, besser Infos 21 aus Flammer & Alsaker (2002) mittlerer Wichtigkeit wählen Beispiel 2: Strategien zum Behalten von Texten (Brown & Campione, 1978, vgl. Flammer & Alsaker, 2002) Ergebnisse Durchgang 3: - Teilnehmer der zweitältesten Gruppe stellen Strategie um: - Wahl von Informationen mittlerer Wichtigkeit als Merkkarten bessere > - mit steigende Alter haben wir immer Strategien zur Verfügung und setzen , sie auch immer offizienten ein 22 aus Flammer & Alsaker (2002) Mechanismen der kognitiven Entwicklung im Jugendalter: Wissen (vgl. Berk, 2005, 2011) => - Wissen wächst und erleichtert so den Einsatz von Strategien 23 Mechanismen der kognitiven Entwicklung im Jugendalter: Metakognition (vgl. Berk, 2005, 2011) - Weiterentwicklung der Metakognition (Wissen über das Denken) dies führt zu neuen Erkenntnissen über - Strategien zum Erwerb von Informationen und - zum Lösen von Problemen - hoch entwickeltes metakognitives Verständnis entscheidend für wissenschaftliches Denken 24 Mechanismen der kognitiven Entwicklung im Jugendalter: Kognitive Selbststeuerung (vgl. Berk, 2005, 2011) Kognitive Selbststeuerung /Selbstregulation = Prozess, kontinuierlich die Fortschritte in Richtung auf ein Ziel zu kontrollieren, Ergebnisse zu überprüfen und erfolglose Bemühungen in andere Richtung zu lenken - kognitive Selbststeuerung wird im Jugendalter ausgeprägter - dies führt zu besserer kontinuierlicher Kontrolle, Beurteilung und Ausrichtung des Denkens 25 Mechanismen der kognitiven Entwicklung im Jugendalter: Verarbeitungsgeschwindigkeit (vgl. Siegler et al., 2011; Sodian, 2012) - starker Anstieg der Verarbeitungsgeschwindigkeit im Kindesalter - gemäßigte Erhöhung der Verarbeitungsgeschwindigkeit im Jugendalter Gründe für die Erhöhung der Verarbeitungsgeschwindigkeit im Kindes- und Jugendalter: - Zunahme der Erfahrung / des Wissens - Zunahme der Geschwindigkeit der Übertragung neuronaler Impulse (=> Myelinisierung) - verbesserte Hemmung störender Handlungsimpulse (=> Reifung des präfrontalen Cortex) 26 Beispiel: Anstieg der Verarbeitungs- geschwindigkeit: Visuelle Suche Bsp Objekte : Wimmelbild in einem ausfindig machen (vgl. Siegler et al., 2011) > - Erfahrung bei der Aufgabe nicht entscheidend , aber die Kognitive Verarbeitungsgeschw. ist gestiegen aus Siegler et 27 al., 2011 Beispiel: Anstieg der Verarbeitungs- geschwindigkeit: Fingertapping (vgl. Siegler et al., 2011) aus Siegler et 28 al., 2011 Mechanismen der kognitiven Entwicklung im viel können Jugendalter: Verarbeitungskapazität > - Gelächtnis wie wir im (vgl. Berk, 2005, 2011) behielten ? - Verarbeitungskapazität wächst in Folge der Hirnentwicklung und der Erhöhung der Geschwindigkeit des Denkens - dadurch können mehr Informationen gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis gehalten und zu immer komplexeren und effizienteren Repräsentationen verarbeitet werden Beispiel: Entwicklung der Verarbeitungs- spanne aus Schwarzer (2011) 29 Wissenschaftliches Denken im Jugendalter 30 Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens: Befunde der Münchner Längsschnittstudie LOGIK (vgl. Sodian et al., 2008) ↳ Flugzeug aufgaben vgl. Foliensatz 3 (Piaget) aus Sodian et al. (2008) => mit der richtigen Art der Aufgabenstellung kann die Aufgabe schon in der 4 Klasse. 31 gut gelöst werden Welche Faktoren unterstützen die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens im Jugendalter? (vgl. Berk, 2011; Sodian, 2012) (vgl. Folien zum Thema Mechanismen) Anstieg der Kapazität des Arbeitsgedächtnisses - ermöglicht, eine Theorie und die Auswirkungen mehrerer Variablen gleichzeitig zu erwägen Verbesserung von Strategien Verbesserung von metakognitivem Verständnis Fähigkeiten, die sich meist erst ab der Adoleszenz zeigen: - Nachdenken über Theorien - gezielte Isolierung von Variablen - aktive Suche nach Gegenbelegen 32 Welche Faktoren unterstützen die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens im Jugendalter? (vgl. Berk, 2011; Konrad, 2007; Sodian, 2012) (vgl. Folien zum Thema Mechanismen) Verbesserung exekutiver Funktionen - exekutive Funktionen = mentale Prozesse höherer Ordnung, die immer dann zur Anwendung kommen, wenn Handlungen geplant oder Ziele über mehrere Schritte hinweg verfolgt werden (z.B. kognitive Hemmung, kognitive Selbststeuerung) 33 Wissenschaftliches Denken: Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen (vgl. Berk, 2011; Sodian, 2012) - Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen bezüglich der Fertigkeiten des wissenschaftlichen Denkens Jugendliche neigen zu Voreingenommenheiten: - logische Grundsätze werden konsequenter auf Ideen angewendet, die in Zweifel gezogen werden, als auf solche, die bevorzugt werden - Schwierigkeiten, empirische Evidenz unabhängig von eigenen Voreingenommenheiten zu evaluieren ↳ Erwachsene können dieses Verhalten besser zurückstellen =>Weiterentwicklung der metakognitiven Fähigkeit, die eigene Objektivität zu beurteilen, bis ins Erwachsenenalter hinein 34 Auswirkungen neurobiologischer Veränderungen im Jugendalter auf die Informationsverarbeitung 35 Funktion und Reifung des Frontalkortex (vgl. Blakemore & Frith, 2005) „The difference between the child and adult resides in the unfolding of executive functions“ (Denckla, 1996, zitiert nach Konrad, 2007) Frontalkortex = zuständig für Exekutivfunktionen, z.B.: - unpassendes Verhalten unterdrücken - Dinge planen - sich zwischen Handlungen entscheiden - Informationen im Kopf behalten - zwei Dinge auf einmal tun - Frontalkortex ist diejenige Region des menschlichen Gehirns, die sich am spätesten entwickelt - wichtige Entwicklungsveränderungen im Frontalkortex 36 vollziehen sich im Jugendalter Wichtige Veränderungen im Frontalkortex im Jugendalter (vgl. Blakemore & Frith, 2005) 1. Myelinisierung der Nervenzellen im Frontalkortex - Myelin = weiße Substanz, die als isolierende Schicht die Axone der Nervenzellen umhüllt - Myelinisierung führt zu Erhöhung der Geschwindigkeit, mit der elektrische Impulse von Nervenzelle zu Nervenzelle übertragen werden 2. Abnahme der Synapsendichte im Frontalkortex - Frontalkortex: intensive Synapsenbildung während der gesamten Kindheit - Synaptisches Pruning = „Ausjäten“ von nicht genutzten Synapsen zwischen Nervenzellen, Festigung von genutzten Synapsen zwischen Nervenzellen - Synaptisches Pruning findet im Frontalkortex erst im 37 Jugendalter statt Wichtige Veränderungen im Frontalkortex im Jugendalter (vgl. Blakemore & Frith, 2005) 1. Myelinisierung der Nervenzellen im Frontalkortex - Myelin = weiße Substanz, die als isolierende Schicht die Axone der Nervenzellen umhüllt - Myelinisierung führt zu Erhöhung der Geschwindigkeit, mit der elektrische Impulse von Nervenzelle zu Nervenzelle übertragen werden 2. Abnahme der Synapsendichte im Frontalkortex - Frontalkortex: intensive Synapsenbildung während der gesamten Kindheit - Synaptisches Pruning = „Ausjäten“ von nicht genutzten Synapsen zwischen Nervenzellen, Festigung von genutzten Synapsen zwischen Nervenzellen - Synaptisches Pruning findet im Frontalkortex erst im 38 Jugendalter statt Exkurs Hirnentwicklung: Axone und Myelinscheiden (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) Axon: - Nervenfasern, die elektrische Signale vom Zellkörper weg zu den Verbindungsstellen mit anderen Neuronen leiten Myelinscheide: - fetthaltige Schicht, die sich um bestimmte Axone bildet - erhöht die Geschwindigkeit und Effizienz der Informationsverarbeitung im Nervensystem 39 aus Siegler et al., 2005 Exkurs Hirnentwicklung: Myelinisierung (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) Myelinisierung = Bildung von Myelin (fetthaltige Schicht) um die Axone von Neuronen herum zur Verbesserung und Beschleunigung der Informationsleitung - beginnt im Gehirn schon vor der Geburt - setzt sich bis ins Jugendalter oder noch später fort - verschiedene Kortexbereiche werden in unterschiedlichem Tempo myelinisiert - besonders dramatischer Myelinisierungsschub: während der Pubertät in den Frontallappen 40 Veränderung des Volumens von grauer und weißer Substanz im Jugendalter 41 aus Lenroot & Giedd (2006) Warum verbessert die Myelinisierung des Frontalkortex die Informationsverarbeitung? - Übertragungsgeschwindigkeit zwischen den Nervenzellen im Frontalkortex nimmt zu => Informationsverarbeitung wird effizienter 42 Wichtige Veränderungen im Frontalkortex im Jugendalter (vgl. Blakemore & Frith, 2005) 1. Myelinisierung der Nervenzellen im Frontalkortex - Myelin = weiße Substanz, die als isolierende Schicht die Axone der Nervenzellen umhüllt - Myelinisierung führt zu Erhöhung der Geschwindigkeit, mit der elektrische Impulse von Nervenzelle zu Nervenzelle übertragen werden 2. Abnahme der Synapsendichte im Frontalkortex - Frontalkortex: intensive Synapsenbildung während der gesamten Kindheit - Synaptisches Pruning = „Ausjäten“ von nicht genutzten Synapsen zwischen Nervenzellen, Festigung von genutzten Synapsen zwischen Nervenzellen - Synaptisches Pruning findet im Frontalkortex erst im 43 Jugendalter statt Exkurs Hirnentwicklung: Synapsen (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) Synapsen: - mikroskopisch kleine Verbindungsstellen zwischen dem Axonende des einen Neurons und den Dendriten-Verzweigungen oder dem Zellkörper eines anderen Neurons - an den Synapsen erfolgt die Kommunikation zwischen Neuronen - manche Neurone besitzen mehr als 15.000 synaptische Verbindungen mit anderen Neuronen 44 aus Siegler et al., 2005 Exkurs Hirnentwicklung: Eliminierung von Synapsen (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) - Erzeugung von Neuronen und Synapsen resultiert in großem Überschuss: weit mehr Nervenverbindungen, als das Gehirn gebrauchen kann - Überschuss an Synapsen schließt auch Überschuss an Verbindungen zwischen versch. Teilen des Gehirns ein (z.B. zu viele Neurone des auditiven Kortex sind mit Neuronen des visuellen Kortex verknüpft) Eliminierung von Synapsen = Synaptisches Pruning (to prune = ausjäten, beschneiden) - häufig benutzte Verbindungen werden gefestigt, selten benutzte Verbindungen werden gekappt 45 Produktion und Eliminierung von Synapsen im visuellen und präfrontalen Cortex (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) - visueller Cortex: Eliminierung beginnt gegen Ende des 1. Lebensjahres und dauert bis zum Alter von etwa 10 Jahren - Frontalcortex: Pruning beginnt später und verläuft langsamer; Synapsendichte nimmt während Adoleszenz immer weiter ab, hat erst mit 18 Jahren den Stand des erwachsenen Gehirns erreicht 46 Warum verbessert die Abnahme der Synapsendichte im Frontalkortex die Informationsverarbeitung? (vgl. Blakemore & Frith, 2005) - Synaptisches Pruning (d.h. die Eliminierung nicht genutzter Synapsen und die Festigung der genutzten Synapsen) ist eine wesentliche Voraussetzung für die Feinanpassung der funktionalen Netzwerke im Gehirn - Abnahme der Synapsendichte im Frontalkortex erst im Jugendalter => Feinanpassung der kognitiven Prozesse des Frontalkortex wird erst im Jugendalter vorgenommen 47 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Literatur Berk, L.E. (2005, 2011). Entwicklungspsychologie. Kapitel 11: Die körperliche und kognitive Entwicklung in der Adoleszenz. Pearson Studium. Blakemore, S.-J. & Frith, U. (2006). Wie wir lernen – Was die Hirnforschung darüber weiß. Kapitel 8: Das adoleszente Gehirn. Deutsche Verlags-Anstalt. Fimm, B. (2007). Aufmerksamkeit. In L. Kaufmann, H.-C. Nuerk, K. Konrad & K. Willmes (Hrsg.), Kognitive Entwicklungsneuropsychologie. Hogrefe. Flammer, A. & Alsaker, F.D. (2002). Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. Kapitel 6: Kognitive Entwicklung: Prozesse und Inhalte. Hans Huber. Knopf, M., Schneider, W., Sodian, B. & Kolling, T. (2008). Die Entwicklung des Gedächtnisses vom Kindergartenalter bis ins frühe Erwachsenenalter – Neue Erkenntnisse aus der LOGIK-Studie. In Schneider W. (Hrsg.), Entwicklung von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter. Beltz. 49 Literatur Konrad, K. (2007). Entwicklung von Exekutivfunktionen und Arbeitsgedächtnisleistungen. In L. Kaufmann, H.-C. Nuerk, K. Konrad & K. Willmes (Hrsg.), Kognitive Entwicklungsneuropsychologie. Hogrefe. Lenroot, R.K. & Giedd, J.N. (2006). Brain development in children and adolescents: Insights from anatomical magnetic resonance imaging. Neuroscience and Behavioral Reviews, 30, 718-729. Paus, T. (2005). Mapping brain maturation and cognitive development during adolescence. Trends in Cognitive Sciences, 9, 60-68. Schwarzer, G. (2011). Entwicklung des Denkens (Kap. 4). In M. Pinquart, G. Schwarzer & P. Zimmermann, Entwicklungspsychologie – Kindes- und Jugendalter. Hogrefe. Siegler, R.S., DeLoache, J.S., Eisenberg, N. (2005, 2011). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Kapitel 3: Biologie und Verhalten - Die Entwicklung des Gehirns und Kapitel 4: Theorien der kognitiven Entwicklung. Spektrum. 50 Literatur Sodian, B. (2012). Denken (Kap. 16). In W. Schneider & U. Lindenberger (Hrsg.), Entwicklungspsychologie. Beltz. Sodian, B., Bullock, M & Koerber, S. (2008). Wissenschaftliches Denken und Argumentieren. Was muss Hänschen lernen, damit aus Hans etwas wird? In Schneider W. (Hrsg.), Entwicklung von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter. Beltz. 51 Moralentwicklung im Jugend- und Erwachsenenalter Vorlesung Ausgewählte Themen aus den Bereichen Entwicklung, Lehren, Lernen Prof. Dr. Claudia Steinbrink SS 2024 Themen Moralisches Denken und Urteilen im Jugend- und Erwachsenenalter 1. Kohlbergs Theorie des moralischen Urteils 2. Entwicklung des moralischen Urteils nach Kohlberg 3. Bewertung von Kohlbergs Theorie des moralischen Urteils 4. Ausgewählte Einflüsse auf die moralische Entwicklung 2 Einführende Anmerkungen zu Theorien des moralischen Denkens und Urteilens (vgl. Sielger et al., 2005, 2011) - um moralisch urteilen zu können, müssen Menschen das Richtige vom Falschen unterscheiden können und verstehen, warum Handlungen moralisch oder unmoralisch sind - deshalb untersuchen Theorien des moralischen Urteils die Moralentwicklung aus der Perspektive der kognitiven Entwicklung Grundlegende Frage: - Wie denken Menschen über moralische Angelegenheiten und wie verändert sich dieses Denken mit dem Alter? 3 Erläuterung der Verbindung von kognitiver und moralischer Entwicklung (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) - durch oberflächliche Betrachtung ist nicht zu entscheiden, ob Handlung moralisch ist oder nicht Moral eines Verhaltens beruht zum Teil auf Kognitionen, die dem Verhalten zugrunde liegen für die Beurteilung eines Verhaltens als moralisch oder unmoralisch sind Überlegungen, die hinter der Handlung stehen, entscheidend Veränderungen im moralischen Denken stellen die Grundlage für die Moralentwicklung dar 4 Kohlbergs Theorie des moralischen Urteils vgl. Berk (2005, 2011) Lohaus et al. (2010) Pinquart (2011) Siegler et al. (2005, 2011) Einführende Anmerkungen zu Kohlbergs Theorie des moralischen Urteils (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) Lawrence Kohlberg (1927-1987) - starker Einfluss von Piagets Theorie des moralischen Urteils (Untersuchung des moralischen Denkens in der Kindheit) auf Kohlbergs Theorie Hauptinteresse Kohlbergs: - Stufenfolge, in der sich das moralische Denken und Urteilen von der Kindheit / Jugend bis ins Erwachsenenalter entwickelt => Blick auf das moralische Denken des Menschen in einer Lebensspannenperspektive 6 Kohlbergs Stufentheorie des moralischen Urteils: Annahmen (vgl. Siegler et al., 2005, 2011; Pinquart, 2011) - Moralentwicklung durchläuft eine spezifische Abfolge diskontinuierlicher und hierarchischer Stufen - jede Stufe bringt eine qualitativ andersartige, angemessenere Denkweise zum Ausdruck als die jeweils vorangegangene Stufe - Sozialisationseinflüsse können den Entwicklungsprozess beschleunigen oder hemmen, nicht aber die Reihenfolge der Stufen verändern - Personen unterscheiden sich darin, welche höchste Stufe des moralischen Urteils sie erreichen - Rückschritte (Regressionen) sind ausgeschlossen, weil die niedrigere Stufe jeweils vollständig von der höheren Stufe ersetzt wird 7 Wodurch ist nach Kohlberg die moralische Entwicklung gekennzeichnet? (vgl. Pinquart, 2011) 1. Erweiterung der Perspektive: - weg von einer egozentrischen Sichtweise hin zur Berücksichtigung der Ansprüche anderer Mitglieder der sozialen Gemeinschaft 2. Zunahme der moralischen Selbstbestimmung: - Regeln und Normen werden immer kompetenter hinterfragt 3. Verbesserung der Begründung der Regeln und Normen: - weg von drohenden Strafen bei Normverstößen hin zu abstrakten Begründungen 8 Methodisches Vorgehen Kohlbergs (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) - Erfassung des moralischen Urteils durch Präsentation hypothetischer moralischer Dilemmata (Geschichten, die einen Konflikt zwischen unterschiedlichen moralischen Werten darstellen) und Befragung - wichtig für die Analyse: Gedankengänge, die den Entscheidungen zugrundeliegen, denn diese reflektieren die Qualität des moralischen Denkens - nicht die Urteile selbst, sondern die Begründungen sind Grundlage für die Ermittlung des Entwicklungsstandes im moralischen Urteil aus Lohaus et al. (2010) 9 Kohlbergs Niveaus des moralischen Urteils (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) Präkonventionelles Niveau - moralisches Denken ist selbstbezogen - es konzentriert sich darauf, Belohnung zu bekommen und Strafe zu vermeiden Konventionelles Niveau - moralisches Denken ist an sozialen Beziehungen orientiert - es konzentriert sich auf die Übereinstimmung mit sozialen Pflichten und Gesetzen Postkonventionelles Niveau - moralisches Denken ist an Idealen ausgerichtet - es konzentriert sich auf moralische Prinzipien 10 Entwicklung der Perspektivenübernahme als Grundlage der moralischen Entwicklung (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) Kohlberg: Grundlage der Entwicklung des moralischen Urteils: - altersabhängige Fortschritte der kognitiven Fähigkeiten (insbesondere Perspektivenübernahme) Entwicklung der sozialen Perspektivenübernahme über die Niveaus hinweg: Präkonventionelles Niveau: - egozentrische Perspektive Konventionelles Niveau: - Berücksichtigung mehrerer Perspektiven Postkonventionelles Niveau: - gesamtgesellschaftliche Perspektive 11 Kohlbergs Stufen des moralischen Urteils (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) - jedes Niveau umfasst zwei Stufen des moralischen Urteils - nur sehr wenige Personen erreichen jedoch die Stufe 6 (universelle ethische Prinzipien) - unklar, ob Stufe 6 wirklich als eigene Stufe gelten kann 12 Moralisches Denken und Urteilen auf präkonventionellem Niveau (vgl. Lohaus et al., 2010) Stufe 1: Orientierung an Strafe und Gehorsam Stufe 2: Orientierung am Kosten-Nutzen-Prinzip und an der Bedürfnisbefriedigung Gemeinsamkeiten der beiden Stufen: - das moralische Dilemma wird aus einer selbstbezogenen und egozentrischen Perspektive betrachtet 13 (alle Beispiele aus Lohaus et al., 2010) Moralisches Denken und Urteilen auf konventionellem Niveau (vgl. Lohaus et al., 2010) Stufe 3: Orientierung an interpersonellen Beziehungen und Gegenseitigkeit Stufe 4: Orientierung am Erhalt der sozialen Ordnung Gemeinsamkeiten der beiden Stufen: - Erwartungen an ein Zusammenleben in Gruppen werden wahrgenommen und für die eigene Entscheidung berücksichtigt 14 (alle Beispiele aus Lohaus et al., 2010) Moralisches Denken und Urteilen auf postkonventionellem Niveau (vgl. Lohaus et al., 2010) Stufe 5: Orientierung an den Rechten aller als Prinzip Stufe 6: Orientierung an universellen ethischen Prinzipien Gemeinsamkeiten der beiden Stufen - rechtlich-soziale Verpflichtungen werden durchaus anerkannt, können aber gleichzeitig auch in Frage gestellt werden 15 (alle Beispiele aus Lohaus et al., 2010) Entwicklung des moralischen Urteils nach Kohlberg vgl. Lohaus et al. (2010) Pinquart (2011) Siegler et al. (2005, 2011) Moralisches Denken verändert sich systematisch mit dem Alter (vgl. Siegler et al., 2005, 2011) - Kohlberg und Mitarbeiter untersuchten die Entwicklung des moralischen Urteils bei männlichen Probanden längsschnittlich bis ins Erwachsenenalter (10 – 36 Jahre) aus Siegler et al., 2005 17 Entwicklung des moralischen Urteils von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter (vgl. Lohaus et al., 2010) aus Lohaus et al. (2010) - Denken auf präkonventionellem Niveau dominiert vor allem in der Gruppe der 10jährigen - Urteile auf präkonventionellem Niveau kommen ab 20 Jahren nicht mehr vor - konventionelles Niveau spätestens in der Gruppe der 16- bis 18-jährigen - Ur

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