Bildungspsychologie des Tertiärbereichs PDF
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Cornelia Gräsel & Michael Rochnia
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This document is a chapter titled "Bildungspsychologie des Tertiärbereichs" from a textbook by Cornelia Gräsel and Michael Rochnia. It discusses educational psychology in a tertiary education context. The chapter also provides a summary and index for the detailed sections within the chapter.
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Kapitel 6 Bildungspsychologie des Tertiärbereichs Cornelia Gräsel & M...
Kapitel 6 Bildungspsychologie des Tertiärbereichs Cornelia Gräsel & Michael Rochnia Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) Inhaltsübersicht 1 Einführung.......................................................... 156 2 Stand der Wissenschaft.............................................. 158 2.1 Berufliche Bildung.................................................... 158 2.2 Hochschulen......................................................... 163 3 Praktische Bedeutung................................................ 171 4 Zukunft des Themas.................................................. 172 Zusammenfassung........................................................ 173 Reflexionsfragen.......................................................... 174 Weiterführende Literatur................................................... 174 Literatur.................................................................. 174 © iStock.com/skynesher Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Spiel, Götz, Wagner, Lüftenegger und Schober (Hrsg.): Bildungspsychologie (9783840931086). © 2022 Hogrefe Verlag, Göttingen. 156 Cornelia Gräsel & Michael Rochnia 1 Einführung Höheres Erwachsenenalter Handlungs ebenen e Mittleres Erwachsenenalter rrier Dieses Kapitel befasst sich mit Tertiärbereich ka gs e un Sekundärbereich en Bildungsprozessen und -ergeb- B i ld Primärbereich ro eb ak nissen in der ersten Phase nach Vorschulalter M en e eb der schulischen Qualifikation, die Säuglings- und Kleinkindalter es o e M en in einer Institution des tertiären eb ro Monitoring & Intervention ik Prävention Evaluation Bereichs absolviert wird. Der Forschung Beratung M Tertiärbereich schließt an den se- kundären Bereich und damit an die Phase der schulischen Allge- Aufgabenbereiche meinbildung an. Menschen, die in den Tertiärbereich einmünden, sind also Jugendliche (Beginn einer Ausbildung) oder junge Erwachsene (Beginn eines Studiums). Dies deutet die Heterogenität des Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) Tertiärbereichs an. Da im Sekundärbereich unterschiedliche Bildungsabschlüsse erreicht werden können, treten Lernende mit heterogenen Lernvoraussetzungen in die differenzierten Angebote des tertiären Bereichs ein. Tertiärbereich Der tertiäre Bereich des Bildungswesens bezeichnet in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Belgien und Luxemburg die primäre berufsqualifizierende Stufe des Bil- dungssystems (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2020; BQ-Portal, n. d.; Bundesministerium für Bildung, und Forschung [BMBF], 2020; Luxembourg Centre for Educational Testing [LUCET], 2018; Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation [SBFI], 2020). Dabei stellt der Tertiärbereich ein heterogenes Feld dar, welches mindestens in berufsbildende Einrichtungen und Hochschulen dekompo- niert werden kann. In beiden Teilbereichen verfolgt tertiäre Bildung zwei zentrale Aufgaben: (1) Integration in die Gesellschaft und (2) Generierung von Arbeitsfähig- keit (Dobischat & Düsseldorff, 2018). Streng genommen ist die von uns verwendete Definition des Tertiärbereichs (siehe Kasten) vereinfacht, da die berufliche Bildung sich über mehrere Stufen des Bil- dungssystems erstreckt. Elemente der Berufsbildung werden unter anderem im Sekundärbereich II und im Tertiärbereich angeboten (Autorengruppe Bildungs- berichterstattung, 2020). Wir ziehen daher eine pragmatische Grenze und ord- nen die berufliche Bildung dem Tertiärbereich zu. In berufsbildenden Institutionen steht die Vermittlung praktischer Fähigkeiten für definierte Berufe im Vordergrund, wobei die duale Ausbildung den Kern bildet, also die Qualifizierung an den beiden Lernorten Ausbildungsplatz und Berufs- schule (Wittmann, 2020). Um ihre Aufgaben zu realisieren, bedient sich die Be- rufsschule besonderer didaktischer Prinzipien. Kennzeichnend für die Berufs- schule ist eine Ausrichtung der Lehre an Lernfeldern und Handlungen (Harney, Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Spiel, Götz, Wagner, Lüftenegger und Schober (Hrsg.): Bildungspsychologie (9783840931086). © 2022 Hogrefe Verlag, Göttingen. Bildungspsychologie des Tertiärbereichs 157 2008). Das didaktische Prinzip der Lernfeldorientierung ist eine Art, die zu leh- renden Inhalte zu organisieren (Bader & Müller, 2002). Damit korrespondiert die Handlungsorientierung. Der Begriff bezeichnet das Einüben zentraler beruflicher Handlungen mit dem Ziel, Auszubildende eines Tätigkeitsfeldes für die Praxis vor- zubereiten (Czycholl & Ebner, 2006). Der Bildungsauftrag von Hochschulen unterscheidet sich stark, je nach Art der Institution. Viele Universitäten in den deutschsprachigen Ländern nehmen für sich die Umsetzung des humboldtschen Bildungsideals in Anspruch. Dazu ge- hört die Einführung der Studierenden in die Wissenschaft in einer Gemeinschaft von Forschenden und Lernenden – und damit verbunden die Einheit von For- schung und Lehre. Eine wichtige Aufgabe der Universitäten besteht traditionell in der Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses, weswegen sie Pro- motions- und Habilitationsrecht haben. „Universitäre Bildung“ bedeutet in einem humboldtschen Sinne aber nicht nur wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) einem Fach, sondern auch Allgemeinbildung, insbesondere eine Selbstkonstruk- tion des Subjekts unter dem Primat des Gebrauchs der eigenen Vernunft (siehe Tenorth, 2010). Fachhochschulen bzw. Hochschulen für Angewandte Wissen- schaften wurden erst in den 1970er bis 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts eta- bliert. Sie haben auf Hochschulniveau einen stärkeren Berufs- und Praxisbezug als Universitäten und in aller Regel kein Promotions- und Habilitationsrecht. Schließlich existiert eine Fülle verschiedener Hochschultypen mit fachlichen Schwerpunkten, und zwar sowohl mit Promotions- und Habilitationsrecht (z. B. Musik- und Kunsthochschulen, Pädagogische Hochschulen in Deutschland) als auch ohne (z. B. Hochschulen für öffentliche Verwaltung, Polizeihochschulen, Duale Hochschulen, Pädagogische Hochschulen in der Schweiz und in Öster- reich). Für den tertiären Bildungsbereich liegen vergleichsweise wenige Forschungsar- beiten aus der Psychologie vor. Dem mittlerweile umfangreichen und differen- zierten Kenntnisstand über Unterrichtsqualität an allgemeinbildenden Schulen stehen beispielsweise wenige empirische Arbeiten aus Berufsschulen und Hoch- schulen gegenüber (Braun, 2011). Der nächste Abschnitt stellt für den Bereich der Berufs- und der Hochschulbildung die wichtigsten theoretischen und empi- rischen Ergebnisse der Bildungspsychologie vor. Dabei werden jeweils drei Leit- fragen beantwortet, die die Schwerpunkte der bildungspsychologischen For- schung abdecken: 1. Wie verläuft der Übergang vom sekundären zum tertiären Bildungsbereich und was beeinflusst die Entscheidungen, die an diesem Übergang stattfinden (z. B. Art der Ausbildung, Wahl des Hochschultyps)? 2. Wie untersucht die Bildungspsychologie den Bildungsverlauf sowie den Kom- petenzerwerb in den Institutionen der tertiären Bildung? 3. Welche bildungspsychologischen Erkenntnisse gibt es zur Gestaltung förderli- cher Lernumgebungen im tertiären Bereich? Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Spiel, Götz, Wagner, Lüftenegger und Schober (Hrsg.): Bildungspsychologie (9783840931086). © 2022 Hogrefe Verlag, Göttingen. 158 Cornelia Gräsel & Michael Rochnia 2 Stand der Wissenschaft 2.1 Berufliche Bildung Wie in der Einleitung bereits angerissen, ist berufliche Bildung von der Allgemein- bildung über seine Funktion abgrenzbar. Dobischat und Düsseldorff (2018) schrei- ben ihr folgende zentrale Funktionen zu: Berufliche Bildung ist ein hochrelevan- ter Faktor für Erhalt und Steigerung der Wirtschaftskraft einer Nation, indem sie das Arbeitsvermögen einer Gesellschaft reproduziert. In Hinblick auf die Quali- fikationsfunktion ist die Berufsbildung spezifischer als akademische Bildung und bereitet auf ein relativ klares Berufsziel vor. Viele Studiengänge hingegen qualifi- zieren für ein Tätigkeitsfeld, welches über ein klares Berufsziel hinausgeht (Rein- mann, 2015). So bereitet beispielsweise das Studium der Wirtschaftswissenschaf- ten für eine breite Palette beruflicher Tätigkeiten in verschiedenen Feldern vor Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) und ist weniger spezifisch als die Ausbildung zum/zur Bankkaufmann/-frau oder ein Meisterbrief im Maler*innen- und Lackierer*innenhandwerk. Berufsbildung erfüllt auch eine Integrationsfunktion: Sie integriert Menschen über den Erwerb von Beschäftigungsfähigkeit sozial und ökonomisch in die Gesellschaft. Vor allem die duale Ausbildung gilt in Deutschland als wirtschaftliches wie auch bildendes Glanzstück der Berufsbildung (Baethge, 2008, S. 545). Das duale Sys- tem ist auch in Österreich, Luxemburg, Dänemark, den Niederlanden und der Schweiz etabliert (Busse, Frommberger & Meijer, 2016; Institut für Bildungsfor- schung der Wirtschaft [IBW], 2019; LUCET, 2018; SBFI, 2020). Ein gemeinsames Kennzeichen der dualen Systeme dieser Länder ist die Kombination der Lernorte Betrieb und Schule (Krekel & Walden, 2016). Allerdings fällt die Gestaltung des dualen Systems in den Ländern unterschiedlich aus (siehe z. B. www.apprentice- ship-toolbox.eu). Die Besonderheit der dualen Ausbildung lag darin begründet, dass sie aufgrund der Vergütung der Auszubildenden sowie aufgrund der Kombination aus Theorie und Praxis als besonders attraktiv galt. Aktuell ist allerdings eine Verschiebung im Ter- tiärbereich weg von beruflicher hin zu akademischer Bildung zu konstatieren (Do- bischat & Düsseldorff, 2018). Im Jahr 2013 lag die Zahl der Studienanfänger*innen beispielsweise in Deutschland erstmalig über den Neuzugängen zur dualen Ausbil- dung (z. B. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2014, Tab. E1 – 2A). Im Fol- genden beantworten wir die oben aufgeführten Leitfragen für den Bereich der be- ruflichen Bildung. Übergang von der Schule zum berufsbildenden Tertiärbereich. Da der tertiäre Be- reich an den Sekundärbereich anschließt, werden im sekundären Bereich Entschei- dungen mit Tragweite für die Berufsbildung getroffen. Das Wählen eines Berufs, sei es durch Studium oder Ausbildung, liegt daher an der Schnittstelle zwischen Sekundar- und Tertiärbereich. Dabei gilt die Berufswahl als eine der wichtigsten Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Spiel, Götz, Wagner, Lüftenegger und Schober (Hrsg.): Bildungspsychologie (9783840931086). © 2022 Hogrefe Verlag, Göttingen. Bildungspsychologie des Tertiärbereichs 159 beruflichen Entscheidungen, die Menschen zu treffen haben (Kanning, 2020). Wir erläutern daher im Folgenden aus Perspektive der Bildungspsychologie, wie Men- schen sich für einen Beruf entscheiden. Eine klassische psychologische Perspektive auf berufliche Orientierung ist Hol- lands (1997) Theorie beruflicher Interessen- und Persönlichkeitstypen. Obgleich mehr als 20 Jahre alt, wird dieser Ansatz auch gegenwärtig noch in Forschung (Blossfeld, Roßbach & von Maurice, 2011) und Praxis (Berufsberatung) rezipiert und genutzt. Die im Kasten dargestellte Typologie von Holland (1997) geht im We- sentlichen davon aus, dass Menschen Berufe wählen, die zu ihrer Persönlichkeit und ihren Interessen passen. Metaanalysen zeigen, dass eine Kongruenz zwischen Interessen-/Persönlichkeitstyp und Arbeitsumwelt positiv mit Wohlbefinden, Ar- beitszufriedenheit und -leistung korreliert (Nye, Su, Rounds & Drasgow, 2012; Spokane, Meir & Catalano, 2000; Tsabari, Tziner & Meir, 2005). Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) Interessen- und Persönlichkeitstypen (RIASEC-Typologie; Holland, 1997) Praktisch-technische Orientierung: In diesen Typus fallen handwerklich und tech- nisch geprägte Berufe. Intellektuell-forschende Orientierung: Personen mit dieser Orientierung werden von Berufen mit naturwissenschaftlichen und mathematischen Problemen an- gezogen. Künstlerisch-sprachliche Orientierung: Diese Orientierung fokussiert auf künst- lerische und kulturelle Tätigkeiten. Soziale Orientierung: Menschen, die sich für pädagogische Berufe interessieren, fallen in diesen Typus. Unternehmerische Orientierung: Dazu zählen Tätigkeiten in der Wirtschaft und Öffentlichkeitsarbeit. Konventionelle Orientierung: Unter diesem Typus werden Berufe mit strukturie- renden Aufgaben im Service- und Dienstleistungsbereich subsumiert. Aktuellere Ansätze zur Berufswahl theoretisieren neben Interesse und Persönlich- keit die Relevanz weiterer Faktoren. Die Weiterentwicklung der sozial-kognitiven Theorie berücksichtigt die Funktion von Selbstwirksamkeitserwartungen und Er- gebniserwartungen für die Berufswahl (Lent, Brown & Hacket, 1994; Lent & Brown, 2013). Auf ein Beispiel übertragen besagt die Theorie, dass Menschen Be- rufe ergreifen, die sie sich zutrauen. Wer eine Ausbildung im Maler*innenhandwerk beginnt, tut dies in der Überzeugung, die Anforderungen des Bereichs gut bewäl- tigen zu können. Dabei berücksichtigt die Theorie ebenfalls, dass Umweltein- flüsse – aber auch persönliche Faktoren – als Hindernisse für die Wahl eines be- stimmten Berufs fungieren können (Hirschi, 2008). Ein weiterer unbestrittener Einflussfaktor auf die Berufswahl ist der Zufall (Hir- schi & Baumeler, 2020). Die Happenstance Learning Theory von Krumboltz (2009) Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Spiel, Götz, Wagner, Lüftenegger und Schober (Hrsg.): Bildungspsychologie (9783840931086). © 2022 Hogrefe Verlag, Göttingen. 160 Cornelia Gräsel & Michael Rochnia adressiert diesen Punkt. Da Berufswahlprozesse von zufällig auftretenden Chan- cen oder Hindernissen geprägt sind, sollten Menschen kontextsensitiv agieren können. Eine Theorie, welche die Berufswahl in einen größeren gesellschaftlichen Kontext einbettet, ist die Psychology of Working Theory (Duffy, Blustein, Diemer & Autin, 2016), die eine sozialkritische Ausrichtung aufweist: Aufgrund ihrer gesell- schaftlichen Position können Menschen aus weniger privilegierten Schichten ihre Berufswahl kaum steuern, da ihre Umweltbedingungen selbstgesteuerte Entschei- dungen erschweren. Zusammenfassend verdeutlichen die dargestellten Theorien, dass die Berufswahl ein komplexer Prozess ist, welcher nicht auf Interesse und Persönlichkeit verengt werden kann. Die Umwelt mit ihren vielschichtigen Einflüssen, Hindernissen und (zufälligen) Gelegenheiten bildet den Hintergrund für die Entscheidungen selbst sowie für die Konstruktion von subjektivem Sinn, der mit der Entscheidung ein- hergeht (siehe Hirschi & Baumeler, 2020). Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) Empirische Studien nehmen in den Blick, unter welchen Bedingungen berufliche Orientierungsprozesse gelingen (Rahn, Brüggemann, Hartkopf & Fuhrmann, 2020). Generell verdeutlichen Studien, dass Schüler*innen bereits in der Sekun- darstufe I die Berufswahl als wichtiges biografisches Ereignis erachten und das Berufswahlengagement in allen Schulformen im Laufe des Bildungsprozesses zu- nimmt (Rahn, Brüggemann & Hartkopf, 2014). Eine günstige Ausgangslage für die Berufswahl ist die sogenannte Origin-Haltung (Hartkopf, 2016). Damit ist die Überzeugung von Menschen gemeint, dass sie ihre Berufsorientierung selbst im Rahmen ihrer Möglichkeiten gestalten können. Generell scheint sich eine frühe Planung der Berufswahl auszuzahlen: Jugendliche mit einem konkreten Berufs- wunsch haben eine 1,7-fach höhere Chance, eine Ausbildung zu beginnen, als Ju- gendliche ohne Berufswunsch (Rahn et al., 2014). Es ist daher sinnvoll, junge Men- schen bei der beruflichen Orientierung zu unterstützen. Schüler*innen bewerten Berufsorientierungsmaßnahmen insgesamt positiv, allerdings ergeben sich Un- terschiede zwischen den Schulformen. In der 10. Klasse von Haupt- und Gesamt- schulen steigen Berufswahlreife und Berufswahlsicherheit stärker an als in ande- ren Schulformen (ebd.). Ungeachtet der Unterstützung zeigt sich jedoch, dass die Berufswahl in der Regel das Resultat eines Kompromisses ist (Granato & Eber- hard, 2016; Granato & Ulrich, 2020), bei dem vier wichtige Aspekte in Betracht gezogen werden: ein hohes Einkommen, gute Arbeitsmarktchancen, Aufstiegs- möglichkeiten sowie Zeit für Familie, Freunde und eigene Interessen. Diese Rang- folge verdeutlicht die Relevanz der Rahmenbedingungen eines Berufs neben den eigentlichen antizipierten beruflichen Tätigkeiten. Bildungsverlauf und Kompetenzerwerb im berufsbildenden Tertiärbereich. Im Zuge der 2000er Jahre hat der Kompetenzbegriff in der beruflichen Bildung Ein- zug erhalten und sich dort etabliert (Beck, 2018; Gonon, 2019); gegenwärtig wer- den Bildungsziele im Berufsbereich mit Kompetenzen formuliert. Dabei liegt der Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Spiel, Götz, Wagner, Lüftenegger und Schober (Hrsg.): Bildungspsychologie (9783840931086). © 2022 Hogrefe Verlag, Göttingen. Bildungspsychologie des Tertiärbereichs 161 Fokus auf der sogenannten beruflichen Handlungskompetenz, welche in Teilkom- petenzen dekomponiert wird (Nickolaus, 2011). Kaspar et al. (2016) beispielsweise zerlegen kompetentes Handeln in der Altenpflege in mehrere Kompetenzfacetten wie beispielsweise Klientenzentrierung, daneben wird Fachwissen berücksichtigt. Generell zeigte sich, dass Auszubildende in der Pflege- und Gesundheitsbranche sowie Medizinische Fachangestellte Routineanforderungen sicher bewältigen, aber Defizite bei der Bewältigung von nicht routinierten Anforderungen haben (Seeber, 2016; Seeber, Ketschau & Rüter, 2016). Auch für den kaufmännischen und gewerblich-technischen Berufsbereich wurden Kompetenzen modelliert und mittels Tests gemessen. Dabei zeigte sich, dass kaufmännische Kompetenz auf Fachwissen basiert (Winther & Klotz, 2014). Speziell für angehende Industrie- kaufleute fand sich eine breite Streuung im Vorwissen und der Fähigkeit berufli- che Probleme zu lösen (Seifried et al., 2016). Für Auszubildende der Kfz-Mecha- tronik existieren vergleichbare Befunde. Da Fachwissen eng mit beruflicher Leistung korreliert, sollte der Vermittlung fachlichen Wissens zukünftig eventu- Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) ell mehr Beachtung geschenkt werden (Behrendt, Abele & Nickolaus, 2017). Ana- log dazu zeigten sich Schwächen im Reparatur-Handlungswissen, was auf Defi- zite im Problemlösen hindeutet. Parallel zu berufsspezifischen Kompetenzen sind Basiskompetenzen wie Lesen und Mathematik relevant für den Erwerb von beruf- licher Handlungskompetenz (Behrendt, Nickolaus & Seeber, 2017). Zentral für Menschen, die in ihren Berufen gute Leistungen erbringen, bleibt jedoch die Pro- blemlösekompetenz gepaart mit Fachwissen (Achtenhagen & Baethge, 2007). Ge- rade hinsichtlich der Problemlösekompetenz zeigen Auszubildende der oben ge- nannten Bereiche Förderbedarf. Insgesamt verdeutlichen die empirischen Befunde, dass domänenspezifisches Vor- und Fachwissen die Problemlösekompetenz vorhersagt, Ausbildungsinteresse und berufliche Selbstwirksamkeit aber eher für das Selbstkonzept relevant sind (Ni- ckolaus, 2011). Zusammenfassend verdeutlicht der Stand der Wissenschaft zum Kompetenzerwerb in der Berufsbildung, dass eine qualitativ hochwertige Ausbil- dung zahlreiche berufsspezifische Kompetenzen unter der Berücksichtigung von kognitiven und motivationalen Dispositionen zum Problemlösen fördern muss (Köller, Nagy & Retelsdorf, 2017). Im Folgenden widmen wir uns dem Thema, wie dies durch wirksame Lernumgebungen realisiert werden kann. Gestaltung von Lernumgebungen im berufsbildenden Tertiärbereich. Die duale Berufsbildung, die für viele Berufe (z. B. im Handwerk oder im kaufmännischen Bereich) qualifiziert, zeichnet sich durch die Besonderheit aus, dass Lernende an zwei Lernorten ausgebildet werden. Berufsfachschüler*innen sind zwar nicht wie duale Auszubildende betrieblich organisiert, werden jedoch über Praktika an den Lernort Praxis angebunden. Hinter diesen Strukturen steht die Idee, dass beruf- liche Bildung praktische und theoretische Elemente beinhaltet, aber auch allge- meinbildende Inhalte aufgreift. Dabei werden praktische Elemente im Betrieb durch die Verbindung von Arbeit und Lernen vermittelt; in der Schule stehen die Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Spiel, Götz, Wagner, Lüftenegger und Schober (Hrsg.): Bildungspsychologie (9783840931086). © 2022 Hogrefe Verlag, Göttingen. 162 Cornelia Gräsel & Michael Rochnia theoretischen Inhalte im Vordergrund (Reetz & Seyd, 2006). Auszubildende be- wältigen Arbeitsaufgaben und lösen im Berufsfeld aufkommende Probleme (Reetz & Seyd, 2006). Hierbei wird prozedurales Wissen erworben und der/die Ausbil- dende fungiert mehr als Begleitung und weniger als Lehrende*r (Reetz, 2002). Generell kann gesagt werden, dass beide Lernorte so gestaltet werden sollten, dass sie auf kohärente Weise den Kompetenzerwerb unterstützen (Frieling, 2006). Dies wirft die Frage auf, durch welche Methoden möglichst lernwirksame Lern- umgebungen generiert werden können. Lange Zeit war Frontalunterricht das prä- gende Element des Berufsschulunterrichts (Pätzold, Klusmeyer, Wingels & Lang, 2003). Erst in den 2000er Jahren – parallel zur Kompetenzorientierung in der Be- rufsbildung – erodierte seine Vormachtstellung. Zunehmend fanden selbstgesteu- ertes Lernen und Handlungsorientierung Einzug in die Gestaltung von berufs- schulischen Lernumgebungen (Bonz, 2006; Nickolaus 2006). Dass sich die Förderung selbstregulierten Lernens in der Berufsbildung schwierig gestaltet, zeigt Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) die Studie von Tiaden (2006) – ein Training zu metakognitiven und kognitiven Strategien zog nur teilweise positive Effekte nach sich. Dieser Befund legt nahe, dass metakognitive und kognitive Strategien in kurzen Trainings kaum ausrei- chend vermittelt werden und ihre Förderung daher als langfristige Aufgabe ver- standen werden sollte. Insbesondere bedürfen Berufslernende zur Erprobung neuer Strategien ausreichend Zeit und komplexe Anforderungen, welche nicht durch Automatismen bewältigt werden können (Tiaden, 2006). Lernumgebun- gen im Tertiärbereich sollten aus diesen Gründen die Metakognition der Auszu- bildenden fördern. Cattaneo und Motta (2021) zeigen in einer Studie mit Koch- lehrlingen, dass die Förderung der Metakognition die Reflexion beruflichen Handelns fördert und bessere Arbeitsleistungen ermöglicht. Ein anderer Ansatz, lernwirksame berufliche Lernumgebungen zu entwickeln, fokussiert auf die Vermittlung anwendbaren Wissens durch problemorientierte Lernumgebungen. Empirische Studien im kaufmännischen und technischen Feld begründen die Relevanz, bereits in der Ausbildung die Bewältigung von berufs- spezifischen Problemen zu üben oder zumindest anzubahnen (siehe Abele, Wal- ker & Nickolaus, 2014; Seifried et al., 2016; Siegfried et al., 2019). Aktuell erfährt der Ansatz durch die Digitalisierung neuen Auftrieb. Digitale Lernumgebungen können das Lernen anhand eines Problems erleichtern, gleichzeitig schafft die digitale Transformation selbst neue Herausforderungen, auf die Schüler*innen vorbereitet werden müssen (Wittmann & Weyland, 2020). Kompetenzerwerb in der beruflichen Bildung sollte jedoch nicht auf den Lernort Schule verengt wer- den – Betriebe sind der Ort, an dem realistische Probleme quasi „natürlich“ auf- treten. Es ist daher anzuraten, die Lernorte Schule und Betrieb enger zu verbin- den, und auch dafür bilden digitale Technologien eine Ressource. Digitalisierung ermöglicht Erfahrräume, in denen Bilder, Videos, Audioaufnahmen und Texte ge- sammelt und mit Gleichaltrigen, Lehrkräften und Vorgesetzten thematisiert wer- den können (Cattaneo & Aprea, 2018). Lernwirksame Lernumgebungen des Ter- Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Spiel, Götz, Wagner, Lüftenegger und Schober (Hrsg.): Bildungspsychologie (9783840931086). © 2022 Hogrefe Verlag, Göttingen. Bildungspsychologie des Tertiärbereichs 163 tiärbereichs sollten daher die Bearbeitung von Problemen sowie das Nachdenken darüber ermöglichen und eine passende digitale Infrastruktur anbieten. Zu beachten ist allerdings, dass Klassen der berufsschulischen Bildungsgänge von unterschiedlichen kognitiven Voraussetzungen der Schüler*innen geprägt sind (Erlebach, Leske & Frank, 2020). Lehrkräfte sind daher aufgefordert, diese He- terogenität bei der Unterrichtsplanung systematisch zu berücksichtigen. Eine Mög- lichkeit dafür bietet beispielsweise das Analyseraster Technischer Wissensinhalte (ArTWin; Erlebach et al., 2020), mit dem ein Lerngegenstand auf verschiedene relevante Vorwissenselemente analysiert werden kann. Die Gestaltung von wirksamen Lernumgebungen kann nicht auf die Auswahl von Zugangsweisen und Methoden verkürzt werden – Lehrkräfte benötigen eine Viel- falt fachdidaktischer Kompetenzen, die hochspezifisch sind und seit einigen Jahren in großer Detailliertheit Gegenstand der Forschung werden (siehe Frank, Bernholt & Parchmann, 2016). Beispielsweise untersuchen Köpfer, Krille, Bushyla und Seif- Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) ried (2020), welche didaktischen Kompetenzen für den Unterricht im Rechnungs- wesen erforderlich sind und wie man Schüler*innen in einem produktiven Umgang mit Fehlern unterstützen kann. Insgesamt gibt es eine Tendenz, wie in der Allge- meinen Bildung auch in der Berufsbildung stärker die Qualität von Ausbildungsan- geboten zu untersuchen. Die (zukünftige) Steigerung der Erkenntnis bedeutet aber nicht die Umsetzung in der Praxis der beruflichen Bildung. Auch im Berufsbildungs- bereich verläuft der Transfer von Innovationen nicht unproblematisch und bedarf der fortwährenden Mitarbeit zahlreicher Akteure (Fischer & Arnold-Wirth, 2013). 2.2 Hochschulen Seit Ende der 90er Jahre befindet sich das Hochschulwesen in den deutschsprachi- gen Ländern in einem Wandel, der hier skizziert werden soll (siehe Teichler, 2018): (1) Im Zuge des Bologna-Prozesses, also der Etablierung europaweit einheitlicher Studiengänge, wurden in den deutschsprachigen Ländern neue Studiengänge ein- geführt. Der erste akademische Grad wird nun in der Regel im Rahmen eines Ba- chelorstudiums erworben; darauf aufbauend werden Masterprogramme angeboten. (2) Das Hochschulwesen erfuhr eine deutliche Expansion; in allen deutschsprachi- gen Ländern wuchs der Anteil der Personen eines Jahrganges, die eine Hochschule besuchen. Gleichzeitig bieten in vielen Ländern immer vielfältigere Institutionen Hochschulstudiengänge an. (3) Die Steuerung der Hochschulen hat sich weg von staatlicher Lenkung hin zu institutionellem Management verändert. Dazu gehört die Einführung von Leistungsvereinbarungen zwischen den verantwortlichen Re- gierungen mit den einzelnen Hochschulen und damit die Vergabe von Mitteln (bzw. eines Teils der Mittel) in Abhängigkeit vom Erreichen von Zielen – zum Teil in Kon- kurrenz unter den Hochschulen (siehe Müller-Böling, 2000). Angesichts des tief- greifenden Wandels des Hochschulwesens gewinnt die Hochschulforschung an Be- Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Spiel, Götz, Wagner, Lüftenegger und Schober (Hrsg.): Bildungspsychologie (9783840931086). © 2022 Hogrefe Verlag, Göttingen. 164 Cornelia Gräsel & Michael Rochnia deutung. Im Folgenden werden – orientiert an den einleitend genannten Fragen – die wichtigsten bildungspsychologischen Erkenntnisse dargestellt. Übergang von der Schule in die Hochschule. Wie sich Schüler*innen für welches Hochschulstudium entscheiden, ist deutlich weniger untersucht als Entscheidun- gen in anderen Bildungsübergängen. Ob und welches Hochschulstudium gewählt wird, ist dabei durch vorangegangene Bildungsentscheidungen – insbesondere Kurs- und Schwerpunktwahlen in der Sekundarstufe – beeinflusst (Watermann, Daniel & Maaz, 2014). Der Übergang bestätigt damit die soziale und geschlechts- spezifische Schwerpunktwahl in der Sekundarstufe und damit auch die bis zu die- sem Übergang entstandenen sozialen und geschlechtsspezifischen Disparitäten (Becker, 2017). Allerdings spielt der soziale Hintergrund der Studierenden bei der Wahl des Hochschultyps und der Fächer eine große Rolle (siehe Lörz, 2019): Die Studiengänge der Medizin und der Rechtswissenschaft werden z. B. überpropor- tional von Studierenden aus Familien mit höherem sozioökonomischen Status be- Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) sucht. In den Ingenieur-, den Natur- und den Sozialwissenschaften finden sich mehr Studierende aus Arbeiterfamilien, wobei deren Anteil aufgrund der Bildungs- expansion und dem damit verbundenen höheren Bildungsabschluss der Eltern seit den 90er Jahren insgesamt deutlich zurückgeht (Becker, 2017). Ein wichtiges Feld psychologischer Forschung beim Übergang an die Hochschu- len stellt die Auswahl von (geeigneten) Studierenden dar. In vielen Studiengän- gen – in medizinischen Fächern, Architektur, Psychologie usw. – ist die Anzahl der Bewerber*innen zumeist deutlich höher als die Zahl der Studienplätze. Während in der Schweiz alle Bürger*innen mit Matura (Abitur) einen Anspruch auf einen Platz in einem beliebigen Studiengang (außer in der Medizin) haben, liegt in Deutschland und Österreich die Auswahl der Studierenden in der Hand der ein- zelnen Hochschulen, die dafür verschiedene Verfahren verwenden können. Zur Bewertung dieser verschiedenen Verfahren lassen sich die Gütekriterien quanti- tativer Forschung heranziehen: Reliabilität, Objektivität und Validität. Bei Aus- wahlverfahren von Hochschulen kommt der prognostischen Validität, also der Vor- hersagegüte des Verfahrens, besondere Bedeutung zu. Zusätzlich muss die ökonomische Handhabung betrachtet werden. Prognostische Validität von Hochschulauswahlverfahren Die prognostische Validität eines Auswahlverfahrens bezieht sich auf den Zusam- menhang zwischen dem Ergebnis des Verfahrens (z. B. der Note, dem Testwert) und einem zeitlich später liegenden Erfolgskriterium. Hochschulauswahlverfahren zie- len in der Regel darauf ab, den Studienerfolg vorherzusagen; in empirischen Stu- dien werden zum Beispiel Noten im Verlauf oder am Ende des Studiums, die Studi- endauer oder der Studienabbruch als Kriterien verwendet. Zwei mögliche Fehler schränken die prognostische Validität ein: Fehler 1. Art, die dadurch entstehen, dass Bewerber*innen ausgewählt werden, die das Erfolgskriterium nicht erreichen (falsch Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Spiel, Götz, Wagner, Lüftenegger und Schober (Hrsg.): Bildungspsychologie (9783840931086). © 2022 Hogrefe Verlag, Göttingen. Bildungspsychologie des Tertiärbereichs 165 positiv Beurteilte) und Fehler 2. Art, die dadurch entstehen, weil Kandidat*innen nicht berücksichtigt werden, obwohl sie das Kriterium erreicht hätten (falsch nega- tiv Beurteilte). Das Faktum, dass von Studienbewerber*innen, die nicht aufgenom- men wurden, keine Informationen über die Erreichung vs. Nicht-Erreichung des Er- folgskriteriums vorliegen, beeinträchtigt die Abschätzung der beiden Fehler. Interviews mit Bewerber*innen werden zwar von den Hochschulen häufig als ge- eignet für die Auswahl betrachtet, aber zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass sie psychometrisch eher problematisch sind. In einer Metaanalyse mit internatio- nalen Studien war die prognostische Validität von Gesprächen deutlich geringer als jene von Noten oder Studieneingangstests; erhöht werden konnte sie durch einen hohen Strukturierungsgrad der Gespräche (Hell, Trapmann, Weigand & Schuler, 2007). Ein wesentlicher Kritikpunkt an Interviews ist zudem der hohe Zeit- und Personalaufwand. Auf der Basis der bestehenden Forschung ist dement- Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) sprechend nur eingeschränkt zu Interviews als Auswahlverfahren zu raten. Die Verwendung von Abiturnoten ist eine ökonomische Form der Auswahl von Stu- dierenden. Empirische Studien verweisen auch darauf, dass die Abiturnote in der prognostischen Validität für den Studienerfolg durch kein anderes einzelnes Ver- fahren übertroffen wird (Rindermann & Oubaid, 1999). Allerdings lassen sich auch Schulnoten kritisch betrachten, da diese wegen der überwiegenden Verwendung der sozialen Bezugsnorm zwischen einzelnen Klassen bzw. Schulen nur einge- schränkt vergleichbar sind (Köller, Baumert & Schnabel, 1999). Die Durchschnitts- note im Abitur ist günstiger für die Auswahl von Studierenden als spezifische Fach- noten, weil Beurteilungsfehler und -tendenzen einzelner Lehrpersonen weniger zum Tragen kommen. Studierfähigkeitstests sind hinsichtlich ihrer Objektivität und Reliabilität positiv zu bewerten, auch ihre prognostische Validität ist vergleichsweise hoch. Allerdings liegen nur für wenige Studienfächer, vor allem für medizinische Fächer, inhaltlich passende und geprüfte Verfahren vor. Die Entwicklung psychometrisch geeigne- ter Verfahren ist aufwendig; ihre Durchführung ist jedoch relativ ökonomisch zu gestalten. Viele Vertreter*innen der psychologischen Diagnostik empfehlen daher, Abiturnoten möglichst mit Testverfahren zu kombinieren. Eine etwas andere Möglichkeit sind Leistungsmessungen in der Studieneingangsphase (Spiel, Litzenberger & Haiden, 2007). Diese Tests, die in Österreich eingesetzt wurden, beziehen sich auf studienfachspezifische Kenntnisse, die zuvor in der Lehre vermittelt wurden, und erfassen in den Lehrveranstaltungen erworbenes Wissen sowie weitergehende Fähigkeiten wie Verständnis und Transfer des Ge- lernten. Hinsichtlich der Objektivität und der Reliabilität der Verfahren sind sie bei entsprechender Konstruktion und sorgfältiger Durchführung ähnlich wie Test- verfahren zu bewerten. Eingangsverfahren können nicht nur zur Auswahl einge- setzt werden, sondern auch als Anregung zur Selbstreflexion über die eigenen Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Spiel, Götz, Wagner, Lüftenegger und Schober (Hrsg.): Bildungspsychologie (9783840931086). © 2022 Hogrefe Verlag, Göttingen. 166 Cornelia Gräsel & Michael Rochnia Kompetenzen und Neigungen sowie als Instrument der Selbstselektion betrach- tet werden. Diese Verfahren können somit dazu beitragen, dass sich die Studie- renden gezielter mit den Anforderungen der jeweiligen Studiengänge befassen. Dieselbe Funktion erfüllen Studieneingangsprüfungen, die zunehmend mehr ein- gesetzt werden. Die Vorbereitung dafür erfolgt durch die Studierenden selbst auf Basis der zur Verfügung gestellten Unterlagen. Kompetenzerwerb und Bildungsverlauf in der Hochschule. In den letzten Jahren wurde stark diskutiert, was der Mehrwert akademischer Bildung ist und inwieweit es für moderne Gesellschaften wichtig ist, den Anteil der Hochschulabsolvent*innen zu steigern (siehe Zlatkin-Troitschanskaia, Pant & Hannover, 2016). In diesem Zu- sammenhang wurde die Frage aufgeworfen, welche Kompetenzen Studierende in den Hochschulen erwerben sollen. Unstrittig ist, dass Fachwissen und fachlich ak- zentuierte wissenschaftliche Fähigkeiten in akademischen Feldern den Kern der Kompetenz darstellen. Diskutiert wird, welche überfachlichen Kompetenzen im 21. Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) Jahrhundert für erfolgreiche berufliche Akademiker*innen nötig sind. Neben kom- munikativen und sozialen Fähigkeiten sind dies z. B. Medienkompetenz oder auch die Fähigkeit zur Selbstregulation (Steuer, Engelschalk, Eckerlein & Dresel, 2019). Insgesamt steht die Forschung zur theoretischen Konzeptualisierung von im Stu- dium zu erwerbenden Kompetenzen und die Messung von Kompetenzen im Ver- gleich zur Schule erst am Anfang (siehe Zlatkin-Troitschanskaia, Pant & Greiff, 2019). Die meisten jüngeren Arbeiten liegen zum Bereich der Lehrer*innenbildung vor, die im deutschsprachigen Bereich in der Forschungsförderung derzeit große Beachtung findet (z. B. Kunter et al., 2013). Es gibt auch nur wenige empirische Arbeiten, die Prüfungsergebnisse aus dem Studium mit standardisierten Kompetenztests verglei- chen, weil für den Hochschulbereich nur wenige standardisierte fachspezifische Tests vorliegen. Insgesamt finden sich mäßig positive Zusammenhänge zwischen Prü- fungsergebnissen und standardisierten Tests (siehe Schneider & Mustafić, 2015). Mit den Verfahren der Studieneingangsdiagnostik wurde implizit bereits auf eine wichtige Forschungsfrage der Bildungspsychologie verwiesen, nämlich die nach den Personen, die das Studium abbrechen. Da die leistungsorientierten Steue- rungssysteme für Hochschulen in der Regel die Anzahl der Studienabsolvent*innen berücksichtigen, ist es für diese Institutionen wichtig, zu wissen, wie viele Studie- rende aus welchen Gründen ihr Studium beenden. In der Forschung wird Studien abbruch enger definiert, nämlich als Verlassen des Hochschulsystems ohne ers- ten Abschluss. Fachwechsel, Standortwechsel, Wechsel des Hochschultyps usw. sind nach dieser Definition daher kein Studienabbruch (Heublein & Wolter, 2011, S. 216). Um Studienabbrecher*innen zu erfassen, sind also Längsschnittstudien erforderlich, die die Versuchspersonen auch nach dem Verlassen einer Hoch- schule begleiten. Wie die einschlägigen Statistiken zeigen, ist der Anteil der Studienabbrecher*innen relativ hoch; in Deutschland liegt er ca. bei 25 % (Auto- rengruppe Bildungsberichterstattung, 2020); in der Schweiz niedriger (ca. 15 %; Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, 2018) und in Öster- Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Spiel, Götz, Wagner, Lüftenegger und Schober (Hrsg.): Bildungspsychologie (9783840931086). © 2022 Hogrefe Verlag, Göttingen. Bildungspsychologie des Tertiärbereichs 167 reich ist er u. a. wegen der geringen Selektivität der Zulassung mit ca. 35 % höher (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, 2020)1. Die Fä- cherunterschiede sind dabei erheblich: In den MINT-Fächern (Mathematik, In- formatik, Naturwissenschaften, Technik) und den Geisteswissenschaften brechen relativ viele Studierende ab, in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaf- ten sind es etwas und in den Lehramtsstudiengängen deutlich weniger. Am nied- rigsten fallen die Abbruchquoten in der Medizin aus (Heublein & Schmelzer, 2018). Allerdings gibt es hier in allen drei deutschsprachigen Ländern eine Beschränkung der Studienplätze und entsprechende Aufnahmeverfahren. Für den Studienabbruch zeichnen sich in empirischen Studien drei Hauptursa- chen ab, die bei den Studierenden selbst liegen (Behr, Giese, Teguim & Theune, 2020): (1) Leistungsprobleme der Studierenden, also schlechte schulische Vorbil- dung, fehlende Kompetenzen, Strategien und mangelndes akademisches Selbst- konzept, (2) finanzielle Probleme im Studium und (3) mangelnde Studienmotiva- Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) tion bzw. geringe Studienzufriedenheit (z. B. falsche Erwartungen in Bezug auf das Studienfach, sinkendes Fachinteresse oder auch eine schlechte Einschätzung der Arbeitsmarktchancen, siehe z. B. Richardson, Abraham & Bond, 2012). Neben die- sen Gründen sind es Merkmale des Studiums, die die Abbruchwahrscheinlichkeit beeinflussen (siehe Isleib, Woisch & Heublein, 2019). Insbesondere die Studien- bedingungen und Studienanforderungen sind in empirischen Untersuchungen wichtige Faktoren. Als wichtige Variable hat sich in vielen Studien zudem die so- ziale und akademische Integration der Studierenden herausgestellt (Tinto, 1993). Integration – so die Theorie – führt zu einer starken Identifikation mit der Hoch- schule und dadurch zu weniger Studienabbrüchen. Es zeigen sich auch soziale und ethnische Unterschiede im Studienabbruch, die nicht auf Leistungseffekte zurück- zuführen sind und auf eine zu geringe soziale Integration bzw. Unterstützung „nicht traditioneller Studierender“ hinweisen (Klein & Müller, 2020). Die Ent- scheidung, das Studium abzubrechen, ist dabei ein längerer Abwägungsprozess, der sich über mehrere Semester hinziehen kann, und in dem verschiedene Ursa- chen kumulieren und die innere Distanz zum Studium wächst. Im Fokus: Welche Variablen hängen mit Prüfungsleistungen im Studium zusammen? Eine wichtige bildungspsychologische Frage lautet, welche Personenmerkmale mit guten Prüfungsleistungen im Studium zusammenhängen. Welche Rolle spielen In- telligenz oder Persönlichkeitsmerkmale? Welche die akademischen Vorleistungen aus der Sekundarstufe? Eine Metaanalyse von Richardson, Abraham und Bond (2012) fasst den Forschungsstand dazu zusammen. 1 Die Zahlen sind nicht direkt vergleichbar und zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben. Sie sollen nur einen Eindruck geben, dass sich Abbruchquoten je nach Eingangs- und Studien- bedingungen an Hochschulen zwischen Ländern deutlich unterscheiden. Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Spiel, Götz, Wagner, Lüftenegger und Schober (Hrsg.): Bildungspsychologie (9783840931086). © 2022 Hogrefe Verlag, Göttingen. 168 Cornelia Gräsel & Michael Rochnia In den Analysen wurden 241 Datensätze reanalysiert und insgesamt mehr als 50 Variablen berücksichtigt, die Studienleistungen vorhersagen. Als wichtige Korrelate erwiesen sich – neben den Noten in der Sekundarstufe – die Fähigkeit zur Anstren- gungsregulation, also Lernstrategien, mit denen begründet entschieden wird, in wel- che Lernhandlungen Aufwand investiert wird. Auch das positive akademische Selbst- konzept, also die Erwartung, durch eigenes Handeln gute Leistungen zu erzielen, hing vergleichsweise eng mit guten Noten zusammen. Insgesamt konnten jene Va- riablen die Prüfungsleistung gut vorhersagen, die mit dem Setzen und Erreichen akademischer Ziele zusammenhängen; die intrinsische Motivation war aus dem Set der motivationalen Variablen dagegen weniger relevant. Auch demografische Merk- male, Persönlichkeitseigenschaften (untersucht wurden die Big Five der Persönlich- keitspsychologie) sowie die Intelligenz wiesen nur geringe Zusammenhänge mit den Studienleistungen auf. Es ist allerdings zu beachten, dass dieses Review ausschließlich englischsprachige Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) Zeitschriften sowie europäische und nordamerikanische Studien einschließt. Zudem berücksichtigt die Metaanalyse viele korrelative Studien. Ob zwischen z. B. Selbst- wirksamkeitserwartung und guten Noten kausale Beziehungen bestehen, kann damit nicht beantwortet werden. Gestaltung von Lernumgebungen in der Hochschule. Wie Lernumgebungen so gestaltet werden können, dass sie den Kompetenzerwerb der Studierenden mög- lichst gut unterstützen, ist ein wichtiges Forschungsfeld für die Bildungspsycho- logie. In der klassischen Hochschuldidaktik hat man sich mit bestimmten Veran- staltungsformen und deren lernförderlicher Gestaltung befasst. Im Folgenden sollen zentrale hochschuldidaktische Veranstaltungsformen unter Rückgriff auf die Beiträge in Schneider und Mustafić (2015) zusammengefasst werden. Vorlesungen sind eine geeignete Lehrform für die Wissensvermittlung – auch wenn sie kritisch betrachtet werden. Für Lernziele, die komplexe Konzepte oder anwend- bare Fähigkeiten beinhalten, sind Vorlesungen dagegen weniger geeignet. Die Qua- lität von Vorlesungen ist für den Lernerfolg entscheidend; empirisch haben sich fol- gende Merkmale als bedeutsam erwiesen: eine nachvollziehbare Struktur, Klarheit und Verständlichkeit, die Verfolgung transparenter Lehrziele sowie eine nicht zu hohe Informationsdichte. Förderlich wirkt sich zudem aus, wenn Studierende die Lehrenden als freundlich und wertschätzend erleben. Die regelmäßige Teilnahme von Studierenden an Vorlesungen ist mit einem höheren Lernerfolg assoziiert. Eine Metaanalyse (Bernard et al., 2004) verglich digital angebotene mit Präsenzvorle- sungen. Insgesamt konnten für die Veränderungen von Einstellungen (z. B. gegen- über den unterrichteten Inhalten) und das kontinuierliche Studierverhalten (im Ge- gensatz zu Dropout) keine großen Unterschiede gefunden werden. In Bezug auf die Lernerfolge gab es einen differenzierteren Befund: Als synchrones Angebot waren Präsenzvorlesungen den digitalen leicht überlegen. Die asynchron nutzbaren Ver- anstaltungen erzielten aber größere Lernerfolge bei den Studierenden als die Prä- Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus Spiel, Götz, Wagner, Lüftenegger und Schober (Hrsg.): Bildungspsychologie (9783840931086). © 2022 Hogrefe Verlag, Göttingen. Bildungspsychologie des Tertiärbereichs 169 senzveranstaltungen. Die Unterschiede innerhalb der Gruppen fielen sehr hoch aus – die Art der Darbietung (präsent vs. digital) klärte dagegen insgesamt nur wenig Varianz auf. Bei Seminaren dagegen zeigt sich ein bedeutsamer Präsenzeffekt; hier sind medienvermittelte Formen deutlich unterlegen. Ein wichtiger Bestandteil des Arbeitens in Seminaren ist das Lesen von Texten, die in der gesamten Seminar- gruppe oder in kooperativen Kleingruppen diskutiert werden. Für das Lesen von Texten erweist es sich auch in der Hochschule als sinnvoll, Lesestrategien zu inte- grieren, z. B. durch klare Zielstellungen für die Lektüre. Ein wichtiges Thema der Hochschuldidaktik war und ist die Frage, inwieweit Kurse oder sogar ganze Curricula problemorientiert gestaltet werden sollten. Ausgangs- punkt für die Implementation problemorientierten Lernens waren Studien, die nach- wiesen, dass Studierende häufig „träges Wissen“ erwerben, das sie in realen Pro- blemsituationen nicht anwenden können (Gruber, Mandl & Renkl, 2000). In der Medizin werden seit den 1970er Jahren unter dem Stichwort Problem-Based Lear Universitätsbibliothek Wien / 131.130.169.5 (2022-10-31 13:09) ning (PBL) Kurse bzw. Curricula gestaltet, bei denen den Lernenden Darstellungen von Patient*innen präsentiert werden, die in Kleingruppen bearbeitet werden. Der Ablauf