Häufige Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen PDF

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Pädagogische Hochschule Salzburg Stefan Zweig

2021

Ulrike Kipman

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developmental disorders child psychology educational psychology learning disabilities

Summary

This book provides a comprehensive overview of common developmental disorders in children and adolescents, including diagnostic criteria and support measures. It details conditions like dyslexia, dyscalculia, and ADHD, offering insights into their characteristics and potential interventions. The text also discusses emotional disorders in children.

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Ulrike Kipman Häufige Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen Diagnostik und Fördermöglichkeiten Häufige Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen Ulrike Kipman Häufige Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen Diagnostik und Fördermöglichkeiten Ulrike Kipman Salzburg, Österreich ISBN...

Ulrike Kipman Häufige Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen Diagnostik und Fördermöglichkeiten Häufige Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen Ulrike Kipman Häufige Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen Diagnostik und Fördermöglichkeiten Ulrike Kipman Salzburg, Österreich ISBN 978-3-658-35050-5 ISBN 978-3-658-35051-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-35051-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung der Verlage. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Titelbild: Boy and his Shadow, Nr. 230143593 © Adobe Stock Planung/Lektorat: Eva Brechtel-Wahl Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Vorwort Eine fundierte und umfassende Diagnostik von Kindern und Jugendlichen ist die Grund- lage für Entscheidungen, die teilweise wegweisend sind, zum Beispiel was die weitere (schulische und oder berufliche) Laufbahn betrifft oder auch was private Entwicklungen angeht. Sie leistet nicht nur im psychosozialen Bereich wertvolle Dienste, um für das betref- fende Individuum die bestmögliche Entwicklung gewährleisten zu können, sondern ist auch unter volkswirtschaftlichen Aspekten ein nicht zu unterschätzender Faktor, weil das Erkennen von Störungen und eine frühe Behandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass Personen langfristig zufrieden sind und damit auch leistungsfähiger sind. Um sich das besser vorstellen zu können, sollen die Legasthenie und Dyskalkulie als bekannte Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten angeführt werden, die, wenn nicht durch eine fundierte Diagnostik früh genug erkannt, oftmals zu sekundären Pro- blemen wie Schulangst oder Depressionen und auch zu einem nicht begabungsgemäßen Schulabschluss führen; ähnliches gilt für AD(H)S. Auch die emotionalen Störungen im Kindesalter, wie zum Beispiel kindliche Angststörungen, können bei einer rechtzeitigen Diagnose gut abgefangen werden. Dieses Buch stellt häufige Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen zusammen. Nach einer kurzen Beschreibung der Charakteristika der Störungen samt möglichen Fol- gen werden übliche Diagnoseinstrumente umfassend vorgestellt, auch Ausschnitte aus Befundaufnahmen werden präsentiert. Bewährte Unterstützungsmaßnahmen runden die jeweiligen Kapitel zu den Störungsbildern ab. Dieses Buch kann einer wertvolle Hilfestellung für Studenten und Praktiker in der Psychologie und der Pädagogik und vor allem auch für Lehramtsstudenten sein. Lehrerinnen und Lehrer können mit diesem Wissen Kinder und Jugendliche mit den vorgestellten Störungen so besser erkennen und sie mit der Äußerung eines Verdachts rechtzeitig einer entsprechenden Diagnostik und ggf. Behandlung zuführen, denn gerade bei etwas unbekannteren Störungsbildern fehlt oft das Wissen,dass es sich bei bestimm- ten Defiziten um eine Störung handeln könnte - dies tritt bei der Dyspraxie oder der visuokonstruktiven Störung vermehrt auf. V VI Vorwort Studenten der Psychologie und der Pädagogik können durch den Einblick in Diagno- seinstrumente und auch durch den Überblick über gängige und bewährte Behandlungs- methoden ihr Wissen ausbauen. Psychologen und Pädagogen in der Praxis (zum Beispiel in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, in Krisenstellen und in Beratungsstellen) können schnell einen Überblick über Störungsbilder bekommen und entsprechend tätig werden. Salzburg, Österreich Ulrike Kipman Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung.......................................................... 1 Literatur............................................................ 2 Teil I Entwicklungsstörungen: Umschriebene Störungen schulischer Fertigkeiten 2 Legasthenie......................................................... 5 2.1 Einleitung..................................................... 5 2.2 Legasthenie – Informationen zum Störungsbild.................... 5 2.3 Diagnostische Kriterien......................................... 8 2.4 Ablauf der Diagnostik.......................................... 8 2.5 Musterbeispiel Diagnostik....................................... 11 2.6 Unterstützende Maßnahmen..................................... 12 Literatur............................................................ 15 3 Dyskalkulie......................................................... 17 3.1 Einleitung..................................................... 17 3.2 Dyskalkulie – Informationen zum Störungsbild.................... 17 3.3 Diagnostische Kriterien......................................... 19 3.4 Ablauf der Diagnostik.......................................... 20 3.5 Musterbeispiel Diagnostik....................................... 24 3.6 Unterstützende Maßnahmen..................................... 25 Literatur............................................................ 26 Teil II Entwicklungsstörungen: Umschriebene Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen 4 Dyspraxie.......................................................... 29 4.1 Einleitung..................................................... 29 4.2 Dyspraxie – Theoretische Grundlagen............................ 29 4.3 Diagnostische Kriterien......................................... 30 4.4 Ablauf der Diagnostik.......................................... 31 VII VIII Inhaltsverzeichnis 4.5 Musterbeispiel Diagnostik....................................... 33 4.6 Unterstützende Maßnahmen..................................... 33 Literatur............................................................ 35 Teil III Entwicklungsstörungen: Tiefgreifende Entwicklungsstörungen 5 Asperger........................................................... 39 5.1 Einleitung..................................................... 39 5.2 Asperger- Beschreibung des Störungsbilds........................ 39 5.3 Diagnostische Kriterien......................................... 42 5.4 Ablauf der Diagnostik.......................................... 43 5.5 Musterbeispiel Diagnostik....................................... 50 5.6 Unterstützende Maßnahmen..................................... 52 Literatur............................................................ 56 Teil IV Entwicklungsstörungen: Andere Entwicklungsstörungen 6 Visuokonstruktive Störung........................................... 61 6.1 Einleitung..................................................... 61 6.2 Visuokonstruktive Störungen – Informationen zum Störungsbild..... 61 6.3 Diagnostische Kriterien......................................... 63 6.4 Ablauf der Diagnostik.......................................... 63 6.5 Musterbeispiel Diagnostik....................................... 68 6.6 Unterstützende Maßnahmen..................................... 69 Literatur............................................................ 72 7 Störung des Problemlösens und der Konzeptbildung.................... 75 7.1 Einleitung..................................................... 75 7.2 Störung des Problemlösens und der Konzeptbildung – Informationen zum Störungsbild................................. 75 7.3 Diagnostische Kriterien......................................... 77 7.4 Ablauf der Diagnostik.......................................... 77 7.5 Musterbeispiel Diagnostik....................................... 81 7.6 Unterstützende Maßnahmen..................................... 82 Literatur............................................................ 86 Teil V Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend: Hyperkinetische Störungen 8 ADHS.............................................................. 91 8.1 Einleitung..................................................... 91 8.2 ADHS – Informationen zum Störungsbild......................... 91 8.3 Diagnostische Kriterien......................................... 93 Inhaltsverzeichnis IX 8.4 Ablauf der Diagnostik.......................................... 95 8.5 Musterbeispiel Diagnostik und Interpretation...................... 100 8.6 Unterstützende Maßnahmen..................................... 103 Literatur............................................................ 104 Teil VI Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend: Emotionale Störungen des Kindesalters 9 Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität.......................... 109 9.1 Einleitung..................................................... 109 9.2 Geschwisterrivalität- Informationen zum Störungsbild.............. 109 9.3 Diagnostische Kriterien......................................... 111 9.4 Ablauf der Diagnostik.......................................... 111 9.5 Musterbeispiel Diagnostik....................................... 114 9.6 Unterstützende Maßnahmen..................................... 116 Literatur............................................................ 117 10 Emotionale Störungen – generalisierte Angststörung des Kindesalters.... 119 10.1 Einleitung..................................................... 119 10.2 Generalisierte Angststörung des Kindesalters – Beschreibung des Störungsbilds.................................................. 119 10.3 Diagnostische Kriterien......................................... 121 10.4 Ablauf der Diagnostik.......................................... 122 10.5 Musterbeispiel Diagnostik....................................... 126 10.6 Unterstützende Maßnahmen..................................... 127 Literatur............................................................ 127 Teil VII Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend: Störung sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend 11 Bindungsstörungen.................................................. 133 11.1 Einleitung..................................................... 133 11.2 Bindungsstörungen – Informationen zum Störungsbild.............. 133 11.3 Diagnostische Kriterien......................................... 134 11.4 Ablauf der Diagnostik.......................................... 135 11.5 Musterbeispiel Diagnostik....................................... 143 11.6 Unterstützende Maßnahmen..................................... 144 11.7 Sonderfall: Eltern-Kind-Entfremdung............................. 144 Literatur............................................................ 148 Einleitung 1 Dieses Buch soll eine Auswahl der häufigsten Störungen, die in der klinisch- psychologischen Diagnostik mit Kindern und Jugendlichen vorkommen, behandeln. Im ICD-10 (Dilling et al., 2015) sind die meisten kindlichen Störungen unter den Codes F8 („Entwicklungsstörungen“) und F9 („Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“) zu finden. Die erste Ziffer nach der Codierung mit der „8“ oder der „9“ gibt die Spezifizierung an. Die Intelligenzminderung oder bestimmte Belastungsstörungen (Trauma) sind nicht unter diesen Codes zu finden, diese sind unter F7 und F43 zu finden und haben keine Sondercodierung für Kinder oder Jugendliche. Unter F80 sind die umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Spra- che gelistet, unter F81 die umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (wie zum Beispiel Legasthenie und Dyskalkulie), unter F82 die umschriebenen Entwick- lungsstörungen der motorischen Funktionen (die Dyspraxie in allen Ausprägungen), unter F83 die kombinierten umschriebenen Entwicklungsstörungen, unter F84 die tief grei- fenden Entwicklungsstörungen (wie zum Beispiel das Aspergersyndrom). F85 bis F87 existieren in diesem System nicht, mit F88 und F89 werden sogenannte Restkategorien codiert, die mit „sonstige Entwicklungsstörungen“ (F88) bzw. „nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung“ (F89) bezeichnet werden. Bei den Codes, beginnend mit der „9“ finden sich als Unterkategorien die hyperkine- tischen Störungen, die mit F90 codiert sind (zum Beispiel die hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens) aber auch Störungen des Sozialverhaltens und/oder der Emotionen. Die Störungen des Sozialverhaltens sind mit F91 codiert (zum Beispiel oppositionelles Trotzverhalten), kombinierte Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen mit F92. Unter F93 finden sich diverse emotionale Störungen, wie zum Beispiel die Geschwis- terrivalität und die generalisierte Angststörung bei Kindern und Jugendlichen, unter F94 © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien 1 Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Kipman, Häufige Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35051-2_1 2 1 Einleitung werden Störungen der sozialen Funktionen beschrieben (zum Beispiel Bindungsstörun- gen). F95 enthält die Ticstörungen. Wie auch bei Code „8“ fehlen auch hier die Codes F96 und F97, mit F98 sind wiederum Restkategorien möglich („andere Störungen aus dem Bereich Verhalten und Emotionen“). In diesem Buch werden alle umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fer- tigkeiten (F81) behandelt (Legasthenie, isolierte Rechtsschreibschwäche, Dyskalkulie und die Kombinationen) und auch alle Störungen des Codes F82 („Dyspraxie“), mit F83 wird eine Mischung von Störungen des Sprechens und der Sprache, der Motorik und der schu- lischen Fertigkeiten codiert, wenn keine der Störungen dominiert; hier ist kein eigenes Störungsbild definiert. Aus der Codegruppe F84 wird nur das Aspergersyndrom beschrie- ben, da dieses in der psychologischen Praxis immer wieder als Verdachtsdiagnose auftritt, die anderen tief greifenden Entwicklungsstörungen wie Autismus werden hier nicht näher beschrieben. Typische „andere Entwicklungsstörungen“ (F88), die häufig im Rahmen der Diagno- stik auftreten, werden in diesem Buch auch beschrieben (konkret: die visuokonstruktive Störung, die oft mit Dyskalkulie verwechselt wird und die Störung des Problemlösens, die sehr oft verkannt wird). Von den Störungen aus der Codierung F90 wird die Aufmerksamkeitsstörung beschrie- ben (mit und ohne Hyperaktivität), aus der Codierung F93 werden speziell häufige Frage- stellungen im Rahmen der klinisch-psychologischen Diagnostik beschrieben, nämlich die Geschwisterrivalität und die generalisierte Angststörung bei Kindern und Jugendlichen. Aus F94 wird die Bindungsstörung aufgegriffen. Die Codegruppe F95 (Ticstörungen) wird ausgespart, weil diese Störung diagnostisch keine Herausforderung darstellt, ebenso werden die Codegruppen F91 und F92 nicht gesondert behandelt. An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen, um mich bei Marie Weiss von der Universität Graz zu bedan- ken, die die Recherchen zu den einzelnen Störungsbildern zusammengestellt hat und bei meinen Studentinnen und Studenten, die mir Unklarheiten und Wünsche zu den einzelnen Kapiteln übermittelt haben, um das Buch noch leserfreundlicher gestalten zu können. Literatur Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M. H., Schulte-Markwort, E., & Remschmidt, H. (Hrsg.). (2015). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F) klinisch-diagnostische Leitlinien (10. Aufl., unter Berücksichtigung der Änderungen entsprechend ICD-10-GM 2015). Hogrefe Verlag. Teil I Entwicklungsstörungen: Umschriebene Störungen schulischer Fertigkeiten Die Entwicklungsstörungen werden im ICD-10 (Dilling et al., 2015) untergliedert in Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (F80), die Entwicklungsstörun- gen schulischer Fertigkeiten (F81), in Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen (F82), in kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen (F83), in tief greifende Entwicklungsstörungen (F84) und in Restkategorien (F88 und F89). Zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F81) zäh- len die Lese- und Rechtschreibstörung („Legasthenie“), die isolierte Rechtschreibstörung, die Rechenstörung („Dyskalkulie“), die kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten sowie die beiden Restkategorien der sonstigen Entwicklungsstörungen schulischer Fertig- keiten und der nicht näher bezeichneten Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Die drei explizit genannten Störungen (Legasthenie, Dyskalkulie, isolierte Recht- schreibschwäche) werden im Folgenden beschrieben; die kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten umfasst keine eigene Diagnostik, sondern ist vielmehr dann zu verge- ben, wenn eine Rechenschwäche kombiniert mit einer Lese-Rechtschreibschwäche oder kombiniert mit einer isolierten Rechtschreibschwäche vorliegen, wenn keine Intelligenz- minderung vorliegt. Diesbezüglich gelten die Ausführungen zu den einzelnen Störungen. Die umschriebenen Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen (F82) umfas- sen Probleme mit der Grobmotorik (F82.0), mit der Fein- und Graphomotorik (F82.1), mit der Mundmotorik (F82.2) und eine Restkategorie „Störung der motorischen Funktionen – nicht näher bezeichnet“ (F82.3). Die zuvor genannten Störungen werden üblicherweise zusammenfassend mit dem Begriff „Dyspraxie“ umschrieben, welche nachfolgend darge- stellt werden soll. Es können bei der Dyspraxie Entwicklungsfelder in Grob-, Fein- und Mundmotorik bestehen oder auch noch einzelne Bereiche beeinträchtigt sein. Die Pro- bleme mit der Koordination dürfen dabei nicht durch eine Intelligenzminderung bedingt sein und auch nicht Folge einer anderen Störung oder eines Haltungsschadens sein. Dieses Buch beschreibt die Dyspraxie in allen Ausprägungen. Nach den kombinierten umschriebenen Entwicklungsstörungen (F83), zu denen keine Extradiagnostik nötig ist – weil eine Kombination aus Sprachentwicklungsstörungen, schulischen Entwicklungsstörungen und motorischen Entwicklungsstörungen – werden die tief greifenden Entwicklungsstörungen (F84) beschrieben. Zu diesen zählt der frühkindliche Autismus (F84.0), der atypische Autismus (F84.1), das Rett-Syndrom (F84.2), andere desintegrative Störungen des Kindesalters (F84.3), 4 Teil I: Entwicklungsstörungen: Umschriebene Störungen schulischer … überaktive Störungen mit Bewegungsstereotypien (F84.4), das Asperger-Syndrom (F84.5) und Restkategorien (F84.8 und F84.9). Nachfolgend wird, neben allen umschriebenen Entwicklungsstörungen der schulischen Fertigkeiten und allen Formen der Dyspraxie, das Aspeger-Syndrom als Teil der tief- greifenden Entwicklungsstörungen herausgegriffen (Autismus wird meist in Ambulatorien diagnostiziert, genauso wie das Rett-Syndrom, bei dem ein Verlust der Sprache und der lokomotorischen Fähigkeiten sowie der Gebrauchsfertigkeiten der Hände, kombiniert mit einem verlangsamten Kopfwachstum zwischen dem 7. und 24. Monat, zu beobachten ist). Eine häufig vorkommende Diagnose unter F88 („andere Entwicklungsstörungen“) ist auch die visuokonstruktive Störung und die Störung des Problemlösens, die nachfolgend ebenfalls beschrieben werden. Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache werden in diesem Buch ausge- spart, weil hier eine Kooperation mit HNO, Logopädie etc. zwingend vonnöten ist, eine rein psychologische Abklärung und Testung ist in diesem Bereich unmöglich. Legasthenie 2 2.1 Einleitung Legasthenie fällt in den Bereich der umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F81) und bedeutet, dass das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wiederzuerkennen, vorzulesen und auch die Fähigkeit, orthografisch richtig zu schreiben beeinträchtigt ist (Dilling et al., 2015). Die Störung ist im ICD10 mit F 81.0 codiert. Die- ser Beitrag beschreibt die Störung im Vollbild („Legasthenie“) und auch die isolierte Rechtschreibstörung, die mit F81.1 einen eigenen Code im ICD10 hat, vor allem auch im Hinblick auf die Diagnostik, die einen wertvollen Beitrag leisten kann, um zu wissen, wo genau der Förderbedarf liegt (zum Beispiel phonetische Förderung, Förderung des syn- thetischen Lesens …) und um darauf basierend entsprechende Förderungen frühzeitig in Anspruch nehmen zu können. 2.2 Legasthenie – Informationen zum Störungsbild Die Legasthenie, die auch als Lese-Rechtschreibstörung bezeichnet wird, ist eine Ent- wicklungsstörung mit teils chronischem Verlauf (Schulte-Körne & Remschmidt, 2003), die rund 80 % aller Personen mit Lerndefiziten betrifft (Lerner, 1989). Dabei werden die isolierte Lese- sowie die isolierte Rechtschreibstörung von der Lese-Rechtschreibstörung abgegrenzt (American Psychiatric Association, 2013), wobei die kombinierte Form mit einer Lebenszeitprävalenz von vier bis fünf Prozent am häufigsten auftritt (Katusic et al., 2001; Shaywitz et al., 1990). Statistisch gesehen tritt die Schwäche bei einem Kind pro Klasse auf (4 %–8 %, bei Annahme der Kriterien der Leitlinien der Deutschen Gesell- schaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2015) ergibt sich eine © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien 5 Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Kipman, Häufige Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35051-2_2 6 2 Legasthenie Prävalenzrate von etwa 6 %). Sie bringt naturgemäß eine Vielzahl von Folgeproblemen mit sich. Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Legasthenie haben üblicherweise Pro- bleme im Fach Deutsch aber auch in allen anderen Fächern ((fast) kein Schulfach ist sprachfrei), zudem treten oft sekundäre Probleme, wie Ängste, Depressionen und expan- sive Verhaltensstörungen, wie Aggressivität o.ä. auf, weil Betroffene sich „dumm“ fühlen oder auch von Mitschülern oder Gleichaltrigen als „dumm“ bezeichnet werden. Jun- gen sind durchschnittlich zwei- bis dreimal häufiger von einer Lese-Rechtschreibstörung betroffen als Mädchen (Shaywitz et al., 1990). Es gibt zahlreiche Ursachen für das Auftreten von Legasthenie, wobei die genetische Disposition eine der größten Risikofak- toren darstellt (Pennington & Gilger, 1996). Eine Studie zeigt, dass 23–65 % der Kinder von Eltern mit Legasthenie selbst unter einer Lese-Rechtschreibstörung leiden (Scarbo- rough, 1998). Eine andere Ursache könnte die phonologische Bewusstheit sein. Darunter versteht man die Fähigkeit zur Lautanalyse und -synthese sowie zum Lautgedächtnis (Schulte-Körne & Remschmidt, 2003), dies kann genetische Ursachen haben aber auch hirnorganisch bedingt sein. Studien haben gezeigt, dass Personen mit Legasthenie vom Grundschulalter an bis hin zum Erwachsenenalter Defizite in den phonologischen Fähig- keiten aufweisen (Schulte-Körne & Remschmidt, 2003; Shaywitz et al., 1999). Probleme bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von visuellen und akustischen Informationen können ebenfalls eine Rolle in Bezug auf die Lese-Rechtschreibstörung spielen (Schulte- Körne & Remschmidt, 2003), diese können mit vorliegen oder auch Ursache dafür sein. Die Störung tritt meist in den ersten beiden Schuljahren auf und zeigt sich dadurch, dass Betroffene Probleme bei der Rechtschreibung, der Dekodierung und der genauen und flüssigen Worterkennung haben, was sich negativ auf die Wortschatzbildung und das Verständnis auswirkt (International Dyslexia Association 2002; Lyon & Shaywitz, 2003; Wadlington et al., 2008). Oft können Betroffene einfache Wörter weder lesen noch schreiben und es häufen sich eine Vielzahl von Rechtschreibfehlern an, wobei Personen mit Legasthenie ein und dieselben Wörter in einem Text mehrfach und in unterschiedli- cher Weise falsch schreiben (Schulte-Körne & Remschmidt, 2003). Ist die Legasthenie stark ausgeprägt, kann es auch zu Schwierigkeiten in anderen Schulfächern kommen, da Lesen bedeutend zum Wissenserwerb beiträgt. Beispielsweise ist das Lesen und Verstehen von Textaufgaben in Mathematik essenziell, um diese lösen zu können (Schulte-Körne & Remschmidt, 2003). Der Verdacht auf Legasthenie sollte also immer dann gehegt werden, wenn ein Kind große Probleme beim Erwerb des Lesens und/oder Rechtschreibens zeigt, typisch sind Buchstabenverwechslungen, Auslassen, Ersetzen, Verdrehen (b-d, u-n) oder Hinzufügen von Buchstaben, Wortteilen oder ganzen Wörtern, eine reduzierte Lesegeschwindigkeit und –genauigkeit, Probleme beim sinnerfassenden Lesen und Beeinträchtigungen der phonologischen Bewusstheit. Wenn derartige Auffälligkeiten gegeben sind, empfiehlt es sich, eine Diagnostik zu machen, um feststellen zu können, ob Legasthenie oder eine verwandte Störung (wie zum Beispiel eine isolierte Rechtschreibstörung) vorliegt. Wird entsprechend gefördert, ist von langsamen Fortschritten auszugehen, aber nur dann, wenn 2.2 Legasthenie – Informationen zum Störungsbild 7 intensive Übungen stattfinden. Festgehalten wird an dieser Stelle, dass sich in der Dia- gnostik immer wieder zeigt, dass vielfach eine Legasthenie zu Beginn der Schullaufbahn befundet wird, die sich später m Ende der Volksschule nicht bestätigt (ohne dass spezielle intensive Übungen stattgefunden haben). Bildgebender Verfahren bestätigen die Existenz zweier Subtypen bezüglich der Lese- störung, einerseits die phonologisch begründete Leseschwäche, bei der die Analyse der Lautstruktur nicht oder nur schwer gelingt, was bedeutet, dass die Betroffenen keine Verbindung zwischen den visuell vorgegebenen Buchstaben (Graphem) und deren akustischem Klang (Phonem) herstellen können und andererseits die visuell begrün- dete Leseschwäche (visuelle Dyslexie; bei ca. 5–10 % der LRS-Kinder), bei der sich eine verzögerte Verarbeitungsgeschwindigkeit für optisch präsentierte Stimuli zeigt sowie auch unsystematische visuomotorische Suchbewegungen auffällig werden (Blicksprünge). Bei der Rechtschreibschwäche finden sich häufig phonologische und/oder visuell- raumanalytische Schwächen (Ministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren des Landes Schleswig–Holstein, 2019), wie sie in Kap. 6 beschrieben werden. In diesem Zusammenhang ist auch folgendes wichtig: Legasthenie ist vielfach kombiniert mit anderen Störungen, wobei zwischen pri- mären komorbiden Störungen (also Störungen die gemeinsam mit der Legasthenie auftreten) und sekundär komorbiden Störungen (also Störungen, die aufgrund der Leg- asthenie auftreten) unterschieden werden sollte. Primäre komorbide Störungen sind parallel zur Legasthenie vorhanden, wie zum Beispiel klassischerweise ADHS oder andere Teilleistungsstörungen (zum Beispiel Dyskalkulie; abzugrenzen davon ist die Lernstörung/Lernbehinderung/Wissenserwerbsstörung (F81.9 im ICD10) und die Intel- ligenzminderung bei einem IQ unter 70, die im ICD10 mit F7 vercodet wird), Störungen der Visuomotorik oder der Feinmotorik und auch Sprachentwicklungsstörungen. Sekundär ist das Risiko für Ängste, Depressionen und expansive Verhaltensstörungen (zum Beispiel Aggressivität) erhöht, vor allem dann, wenn Legasthenie unbehandelt bleibt. In der Schule und im Schulkontext zeigen sich oft Motivationsverlust, Selbstwertprobleme, Schulangst, Konzentrationsstörungen und motorische Unruhe als Ausdruck einer erhöhten Belastung (Überforderung). Legasthenie zieht also eine Reihe von anderen Folgen mit sich. Studien haben konkret gezeigt, dass Schüler mit Legasthenie vermehrt eine depressive Symptomatik (Maag & Reid, 2006) sowie eine erhöhte Ängstlichkeit (Nelson & Harwood, 2010) und ein verringertes Selbstvertrauen aufweisen (Riddick et al., 1999). Zudem kommt es bei betrof- fenen Kindern oft zu einem vermehrten Aufkommen einer ADHS-Symptomatik (Boetsch et al., 2009) oder generell zu einer komorbid auftretenden Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörung (Carroll et al., 2005). Erwachsene, die als Kinder von einer Lernstörung betroffen waren, haben im späteren Leben vermehrt psychische Probleme, oft keine weiteren oder nur verzögerte Abschlüsse nach der Pflichtschule und Schwie- rigkeiten, eine Beschäftigung zu finden oder zu behalten (Aro et al., 2019). Um dem entgegenzuwirken, ist ein frühzeitiges Erkennen der Störung und eine intensive Förderung 8 2 Legasthenie von großer Wichtigkeit. Werden Kinder beispielsweise bereits im Kindergartenalter trai- niert und unterstützt, kann dieses Training die Leistungen im Lesen und Rechtschreiben in den ersten Schuljahren positiv beeinflussen (Schneider et al., 1998). 2.3 Diagnostische Kriterien Im ICD-10 (Dilling et al., 2015) wird Legasthenie als umschriebene Entwicklungsstö- rung bezeichnet, was bedeutet, dass Menschen mit dieser Störung trotz ausreichender Schuldbildung und normalen kognitiven Fähigkeiten keine ausreichenden Lese- und/oder Rechtschreibfertigkeiten aufweisen können. Das ICD-10 (Dilling et al., 2015) definiert die Lese- Rechtschreibstörung folgender- maßen: „Das Hauptmerkmal ist eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwick- lung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wieder zu erkennen, vorzulesen und Leistungen, für welche Lesefähigkeit nötig ist, können sämtlich betroffen sein. Bei umschriebenen Lesestörungen sind Rechtschreibstörungen häufig und persistieren oft bis in die Adoleszenz, auch wenn einige Fortschritte im Lesen gemacht werden. Umschriebenen Entwicklungsstörungen des Lesens gehen Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache voraus. Während der Schulzeit sind begleitende Störungen im emotionalen und Verhaltensbereich häufig“. Unterschieden davon wird die „isolierte Rechtschreibstörung“ (F 81.1) „Es handelt sich um eine Störung, deren Hauptmerkmal in einer umschriebenen und bedeutsamen Beeinträchtigung der Entwicklung von Rechtschreibfertigkeiten besteht, ohne Vorgeschichte einer Lesestörung. Sie ist nicht allein durch ein zu niedriges Intelligenzalter, durch Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar. Die Fähigkeiten, mündlich zu buchstabieren und Wörter korrekt zu schreiben, sind beide betroffen.“ 2.4 Ablauf der Diagnostik Die Diagnostik umfasst typischerweise zu Beginn eine ausführliche Anamnese und Exploration. Hierbei wird abgefragt, ob es eine verzögerte oder gestörte Sprachent- wicklung im Vorfeld gegeben hat („late talker“), ob die phonologische Bewusstheit merklich beeinträchtigt ist bzw. ob Beobachtungen diesbezüglich gemacht wurden (Nicht- Hören von Doppellauten, stummem h, …), ob es eine genetische Disposition gibt bzw. geben könnte (hat ein Elternteil Legasthenie bzw. Probleme beim Lesen und Schrei- ben/gibt es Geschwisterkinder mit einer ähnlichen Problematik), ob es Komplikationen bei Schwangerschaft oder Geburt gegeben hat (beispielsweise Sauerstoffmangel) und ob das 2.4 Ablauf der Diagnostik 9 sinnerfassende Lesen Probleme bereitet. Zudem wird abgefragt, seit wann die Probleme bestehen, wem es aufgefallen ist und wer zur Diagnostik schickt. Sinnesstörungen sollten ausgeschlossen werden (bedeutet konkret: sieht und hört das Kind ausreichend?), ebenso zu hohe Fehlzeiten, häufige Schul- und Klassenwechsel, neurologische Erkrankungen, Hirnverletzungen, Gehirnentzündungen und Fremdsprachlichkeit. Nach Anamnese und Exploration sollten Textproben durchgesehen werden, weil diese sehr aufschlussreich sein können (Auslassungen/Verdrehungen/Wörter werden lautgetreu bzw. nicht lautgetreu geschrieben/Buchstaben werden verwechselt), bevor standardisierte Testverfahren zum Einsatz kommen. Die standardisierten Verfahren sollten bei einer umfassenden Diagnostik einerseits das Lesen von Wörtern und Pseudowörtern zum Inhalt haben, andererseits Wort- Satz- und Textverständnis sowie einen Rechtschreibteil mit aus- reichend Wörtern, um feststellen zu können, wo genau die Probleme liegen (s/ß, b/p; k/ck; i/ie; Doppellaute; ä/e). Sowohl das synthetische Lesen („Zusammenlauten können“) als auch das automatisierte Wortgedächtnis („Wortspeicher“) sollten abgeprüft werden. Der Ausschluss einer Intelligenzminderung oder Lernbehinderung sollte obligat sein (ideal: sprachfreier Intelligenztest). Zum Lesen empfiehlt sich eine Liste mit häufigen Wörtern (Maus, …) und eine Liste mit „Pseudowörtern“ (amufe, pirulo…), um feststellen zu können, ob das Kind zusam- menlauten kann (dies zeigt sich vor allem beim Lesen der Pseudowörter – werden diese flüssig gelesen?) und ob es Wörter in seinem Wortspeicher präsent hat und eben nicht mehr zusammenlauten muss, weil es das Wortbild bereits kennt (also: muss es das Wort Regen oder das Wort Kugel erst zusammenlauten oder kennt er das Wort beim „Hinschauen“?). Zudem sollte das Satz- und Textverständnis abgeprüft werden. Beim Schreiben sollten alle „Fallen“ abgefragt werden, also die Unterscheidung i/ie, k/ck, Doppellaute, s/ß, ä/e. Es gibt einige valide und reliable Tests am Markt, mit denen diese Kriterien abgedeckt werden. Typische und gut validierte Instrumente für die Testung einer allfälligen Lese- Rechtsschreibstörung sind: Der SLRT II („Salzburger Lese- und Rechtschreibtest, Weiterentwicklung) von Moll und Landerl (2010), der einen Ein-Minuten-Leseflüssigkeitstest für häufige Wörter und Pseudowörter (Abb. 2.1) beinhaltet und damit sowohl die automatische, direkte Wor- terkennung prüft, als auch mögliche Defizite im synthetischen, lautierenden Lesen aufdecken kann und zudem auch einen Rechtschreibteil enthält, bei dem diktierte Wortschreibungen orthografisch korrekt in Rahmensätze eingefügt werden müssen Abb. 2.1 Ausschnitt aus dem SLRT – II „Lesetest Pseudowörter“ (entnommen aus Moll & Landerl, 2010) 10 2 Legasthenie Abb. 2.2 Ausschnitt aus dem ELFE II „Wortlesen“. (entnommen aus Lenhard et al., 2020) (Beurteilung von Schwächen in der lauttreuen Schreibung und Schwächen in der ortho- grafisch korrekten Schreibung; konkret sollen die Kinder Pseudowörter vorlesen und Wörter vorlesen, die auf einer Liste dargeboten werden, wobei geprüft wird, wie viele Wörter in einer Minute (richtig) gelesen werden und sie sollen ein Diktat schreiben, wobei nur einzelne Wörter in bereits vorgedruckte Sätze eingesetzt werden müssen.) Der ELFE II („Leseverständnistest für Erst- bis Siebtklässler, Version 2“) von Len- hard et al. (2020), mit dem die Leseverständnisleistung, die Leseflüssigkeit und die Lesegenauigkeit auf der Wort- (Abb. 2.2), Satz- und Textebene geprüft werden kann (synthetisches Lesen und automatisierte Worterkennung sowie sinnerfassendes Lesen; konkret bekommen die Kinder Vorlagen mit einem Bild und vier Wörtern und sollen das richtige Wort markieren wobei möglichste viele Aufgaben in vorgegebener Zeit bearbeitet werden sollen) Die WLLP R („Würzburger Leise Leseprobe – Revision“) von Schneider et al. (2011) zur Messung der Dekodiergeschwindigkeit beim Lesen, bei den die Kinder in vorgege- bener Zeit möglichst viele Aufgaben bearbeiten sollen, sie sollen jeweils das passende Bild zu einem vorgegebenen Wort markieren, wobei die Bilder beispielsweise Reim- wörter sind, denselben Anfangsbuchstaben haben oder ähnliches (Boot, Brot, Buch,...) (Abb. 2.3). Neben den oben genannten spezifischen Verfahren wird immer ein Intelligenztest durch- geführt, um eine Lernbehinderung oder auch Intelligenzminderung auszuschließen. Abb. 2.3 Ausschnitt aus der Würzburger-Leise-Leseprobe. (Schneider et al., 2011) 2.5 Musterbeispiel Diagnostik 11 2.5 Musterbeispiel Diagnostik Nachstehend findet sich ein Beispiel für das Ergebnis einer Diagnostik mit dem SLRT II (Rechtschreibtest und Lesetest zum synthetischen Lesen und zum automatisierten Wortgedächtnis) und dem ELFE II (Wortspeicher, Satzverständnis, Textverständnis). Die Integration der Information aus der Vorgeschichte (organische Ursachen, wie das Vorliegen von Sinnesbeeinträchtigungen, konnten ausgeschlossen werden) und die von der Psychologin erhobenen Untersuchungsergebnisse geben zur Beantwortung der Frage folgendes Bild: ***** verfügt über unauffällige kognitive Fähigkeiten, es liegt keine Lernbehinderung und keine Intelligenzminderung vor. Im SLRT II erreicht er im Lesetest einen Prozentrang von 13– 15 beim Wortlesen (Fehlerprozent: 6%) und einen Prozentrang von 3–4 beim Pseudowortlesen (Fehlerprozent: 47%). Der Rechtschreibtest ergibt einen Prozentrang von 3–5 (falsch geschrie- bene Wörter). Bei den nicht-lauttreuen Wörtern liegt er mit 3 über dem CutOff von 1 für seine Altersgruppe. In der ELFE II ergeben sich unauffällige T-Werte in den Bereichen Wortverständ- nis und Satzverständnis (T < 40). Im Textverständnis ergibt sich ein unterdurchschnittlicher Wert von T = 37 (Abb. 2.4). Abb. 2.4 Rechtschreibteil aus dem SLRT II. (eigenes Foto) 12 2 Legasthenie Dieses Profil bedeutet: ***** verfügt noch nicht über eine kompetente Strategie des lautierenden synthetischen Lesens und hat auch noch nicht ausreichend Schriftworteinträge in seinem orthografischen Lexikon gespeichert, die er für eine automatische, direkte Worterkennung nutzen kann: PR < 5 beim Pseudowortlesen und PR < 15 beim Wortlesen. Die Kompetenz, diktierte Wortschreibungen orthografisch korrekt in Rahmensätze einzufügen, ist bei ihm ebenfalls unterdurchschnittlich ausgeprägt (PR < 5). Die Fähigkeit zum Textverstehen ist bei ***** ebenfalls auffällig: Er erreicht hier einen T-Wert von 37. 2.6 Unterstützende Maßnahmen Je nach Subtyp und Ausprägung können Kinder entsprechend gefördert werden. Treten Probleme mit der phonologischen Bewusstheit auf, die nachweislich eine ent- scheidende Voraussetzung für einen erfolgreich verlaufenden Schriftspracherwerb darstellt (Küspert & Schneider, 1999; Barth, 2017), sind Übungen in der Vorschule und am Schul- anfang hilfreich, um Kindern die Einsicht in den lautlichen Aufbau der Sprache zu gewähren und mit ihnen an der Fähigkeit zu arbeiten, „aus dem Lautstrom gesproche- ner Sprache einzelne lautliche Elemente zu unterscheiden und zu identifizieren.“ (Barth, 2017). Dazu gibt es verschiedene Übungsprogramme, wie zum Beispiel den „Übungskata- log für den Kindergarten und den Schulanfang“ (Ministerium für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren des Landes Schleswig–Holstein, 2019 Abb. 2.5) oder das Programm „Hören, Lauschen, Lernen“ (Abb. 2.6) von Küspert und Schneider (2018), das problemlos in der Unterricht oder auch in den Alltag (ausgewählte Aufgaben) integriert werden kann. Zusätzlich zu diesen Programmen gibt es eine Vielzahl von Förderkarteien, Klanglot- tos, CDs und Spiele, die ebenso helfen können, die phonologische Bewusstheit in der Schule und zu Hause zu verbessern und zu fördern. Für das automatisierte Worterkennen gibt es zum Beispiel Programme wie das „blitzschnelle Worterkennen“ von Mayer (2018). Wichtig ist in jedem Fall, dass die Förderung symptomspezifisch ist, d. h. direkt an den Schwierigkeiten ansetzt. Im Schulalter eignen sich speziell konzipierte Schreib-, Hör- und Leseübungen sowie eine Verringerung des Notendrucks und das Vermitteln von speziellen Lerntechniken. Selbstverständlich gibt es auch eine Reihe von Spielen, die für die Leseförderung eingesetzt werden können, um das Lesen zu verbessern, zum Beispiel die Lesehexe (Abb. 2.7) (Rohner & Wolf, 2001) oder das Spiel „Wort für Wort“ (Walch, 2006). Beim Spiel Lesehexe vom Haba-Verlag müssen die Kinder zwei Karten finden, die zusammen ein Wort ergeben. Wenn die roten Zauberschuhe der Hexe in die beiden Löcher auf den Karten passen, liegen die richtigen Karten nebeneinander. Das Kind erhält die beiden Karten. 2.6 Unterstützende Maßnahmen 13 Abb. 2.5 Aufgabe aus dem Übungskatalog des Landes Schleswig–Holstein zum Hinhören und zum Unterscheiden von Lauten. (entnommen aus der Broschüre „Förderung der Phonologischen Bewusstheit zur Vorbeugung von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten“ herausgegeben vom Minis- terium für Soziales, Gesundheit, Jugend, Familie und Senioren des Landes Schleswig–Holstein, 2019) Beim Spiel „Wort für Wort“ müssen Wörter gelegt werden, wobei Bilder Hin- weise geben, welcher Buchstabe passend sein könnte, auch die Anzahl der Buchstaben wird durch die Spielkärtchen angegeben. Ein dynamisches Moment ist in Form einer Drehscheibe, die Extraaktionen erlaubt, eingebaut. Wichtig in diesem Zusammenhang ist: 14 2 Legasthenie Abb. 2.6 Übungskarte aus dem Programm „Hören, Lauschen, Lernen“. (entnommen aus Knüs- pert & Schneider, 2018) Abb. 2.7 Aufgabe aus der „Lesehexe“. (entnommen aus dem Spiel „Lesehexe“ von Rohner und Wolf, 2001) Literatur 15 Legasthenie ist eine Teilleistungsstörung, die unbedingt behandelt werden muss, um möglichen späteren Störungen vorzubeugen und auch um die Wahrscheinlichkeit zu erhö- hen, dass Betroffene einen begabungsgemäßen Schulabschluss erreichen. Das Risiko sekundärer psychischer Erkrankungen kann somit verringert werden, die Wahrscheinlich- keit, sich in den Arbeitsmarkt einfügen zu können und eine gesunde Entwicklung zu nehmen, steigt erheblich an. Literatur American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5. Aufl.). American Psychiatric Association. Aro, T., Eklund, K., Eloranta, A.-K., Nähri, V., Korhonen, E., & Ahonen, T. (2019). Associations between childhood learning disabilities and adult-age mental health problems, lack of education, and unemployment. Journal of Learning Disabilities, 52(1), 71–83. Boetsch, E., Green, P., & Pennington, B. (1996). 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Ravensburgerverlag. Dyskalkulie 3 3.1 Einleitung Die Dyskalkulie fällt – wie die Legasthenie – unter die umschriebenen Entwicklungs- störungen schulischer Fertigkeiten und damit unter den Code F81 im ICD-10 (Dilling et al., 2015). Die Rechenfertigkeiten von Kindern mit Dyskalkulie sind massiv beein- trächtigt, was bedeutet, dass schon das Mengeneinschätzen oder einfache Additionen oder Subtraktionen Probleme bereiten. Dieser Beitrag beschreibt die Störung, um – wie auch bei einer Lese und/oder Rechtschreibschwäche entsprechende Förderungen früh- zeitig in Anspruch nehmen zu können und zu wissen, wo genau der Förderbedarf liegt (Subtypenerkennung…). 3.2 Dyskalkulie – Informationen zum Störungsbild Dyskalkulie (Rechenschwäche) ist neben der Lese-Rechtschreibstörung eine der häu- figsten Entwicklungsstörungen mit einer Prävalenzrate von circa 5 %, wobei Mädchen etwa gleich häufig, beziehungsweise etwas häufiger davon betroffen sind als Jungen (von Aster, 2017) und beschreibt ein Defizit in den Rechenfertigkeiten, bei welchem betroffene Kinder vor allem Einschränkungen im Durchführen der Grundrechnungsarten aufweisen (Dilling et al., 2015). Wie auch die Legasthenie tritt statistisch gesehen eine Dyskalkulie also bei ca. einem Kind pro Klasse auf und bringt naturgemäß – wie jede Teilleistungs- störung – eine Vielzahl von Folgeproblemen mit sich. Bei Kindern, die an Dyskalkulie leiden, gibt es Hinweise auf veränderte neuronale Strukturen, denn der Erwerb und die Verarbeitung von Zahlen beginnen im Säuglingsalter und entwickeln sich fortan zu einem komplexen, neuronalen Netzwerk. Dabei ist der gleichzeitige Erwerb von Sprache und © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien 17 Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Kipman, Häufige Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35051-2_3 18 3 Dyskalkulie Abb. 3.1 Modell von Dahaene (1992). (eigene Zeichnung) visuell-räumlichen Fähigkeiten sowie die Entwicklung des Arbeitsgedächtnisses maßge- bend. Zum Beispiel zeigen Kinder mit Dyskalkulie eine verminderte Hirnaktivierung bei der Verarbeitung und beim Vergleich von Zahlenwerten, Zahlengrößen und Zahlensym- bolen sowie bei ungefähren Berechnungen im Vergleich zu Kindern ohne diese Störung (Kucian et al., 2006; Mussolin et al., 2010; Price et al., 2007). Betroffene weisen Defi- zite im neuronalen Volumen und in der funktionellen Aktivierung auf (von Aster, 2017). Wie auch bei der Legasthenie (Lese-Rechtschreibstörung) sind die Ursachen oft komplex, einerseits finden sich erbliche Zusammenhänge, andererseits werden auch Geburtsfehler zu den häufigen Ursachen gezählt. Es können verschiedene Subtypen ausgemacht werden (Triple Code-Modell von Dehaene, 1993, Abb. 3.1): Tiefgreifender Subtyp: Zeigt in allen Bereichen entsprechender neuropsychologi- scher Testverfahren Leistungen mindestens eine Standardabweichung unterhalb des Mittelwertes Sprachlicher Subtyp: Fehler nur bei einfachen Kopfrechenaufgaben (z. B. 1 × 1, Zahlenfaktenwissen), beim Abzählen von Mengen sowie beim Rückwärtszählen Arabischer Subtyp: Fehler beim schriftlichen Rechnen (Addieren, Subtrahieren, Mul- tiplizieren, Dividieren), Fehler beim Transkodieren (Übertragen von Zahlworten in arabische Zahlform und umgekehrt) Störung der analogen Repräsentation von Größen (Zahlensinn) mit Störung von Überschlagsrechnen, Schätzen, Vergleichen und intuitiver Mengenerfassung 3.3 Diagnostische Kriterien 19 Im Zusammenhang mit der Rechenschwäche ist auch folgendes wichtig: Dyskalkulie geht oftmals mit einer Vielzahl von anderen gleichzeitig auftretenden Störungen und Problemen einher. Beispielsweise leiden betroffene Kinder oftmals an psychosomatischen Beschwerden wie Kopf- und Bauchschmerzen, Schlafstörungen und Appetit- oder Antriebslosigkeit. Außerdem sind sie oft unglücklich und ängstlich in Bezug auf den Schulbesuch, was sich bis hin zu einer Weigerung, in die Schule zu gehen, steigern kann (von Aster, 2017). Dyskalkulie beeinflusst zudem spezifische Ängste, wie bei- spielsweise Mathematikangst, welche sich wiederum negativ auf die Mathematikleistung auswirken kann (Dowker et al., 2016). Dieser Zusammenhang wird darauf zurückgeführt, dass Angst Einfluss auf die Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses hat und sich somit auf die Leistung auswirkt (Ashcraft, 2002). Auch kann es zu anderen emotionalen Störungen, wie Probleme mit dem Selbstwert und eine generell erhöhte Ängstlichkeit bei Betroffenen kommen. Zudem leiden Kinder mit Dyskalkulie vermehrt an komorbid auftretenden Ent- wicklungsstörungen, wie zum Beispiel Störungen der sensomotorischen Funktionen, der visuell-räumlichen Verarbeitung und haben Defizite in der Sprach- und Schriftentwicklung sowie Symptome einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (Kain et al., 2018; von Aster, 2017; von Aster et al., 2006). Um dem Auftreten von Komorbiditäten, wie emotionalen Störungen und anderen Entwicklungsdefiziten, entgegenzuwirken, ist eine frühe Förderung von betroffenen Kindern von hoher Relevanz (von Aster, 2017). Studien haben außerdem gezeigt, dass Personen mit Schwierigkeiten in der numerischen Verar- beitung vermehrt an Arbeitslosigkeit, mangelnden Jobangeboten, schlechterer Bezahlung und physischen und psychischen Problemen leiden (Gross et al., 2009; Parsons & Bynner, 2005; Cohen et al. 2013). Dyskalkulie ist also vielfach kombiniert mit anderen Störungen, wobei zwischen pri- mären komorbiden Störungen und sekundär komorbiden Störungen unterschieden werden sollte. Primäre komorbide Störungen sind parallel zur Dyskalkulie vorhanden, wie zum Beispiel ADHS oder anderen Teilleitungsstörungen (zum Beispiel Legasthenie), Störun- gen der Visuokonstruktion oder der Motorik. Sekundär ist das Risiko für Depressionen, Angst und andere Verhaltensprobleme erhöht, es finden sich vielfach stabile negative Selbstzuschreibungen („ich bin blöd“), Vermeidungsverhalten, Rückzug, Versagensängste, Lernbarrieren und Prüfungsangst. 3.3 Diagnostische Kriterien Im ICD-10 (Dilling et al., 2015) wird Dyskalkulie – wie auch Legasthenie – als umschriebene Entwicklungsstörung bezeichnet, was bedeutet, dass Menschen mit dieser Störung trotz ausreichender Schuldbildung und normalen kognitiven Fähigkeiten keine ausreichenden Fertigkeiten in diesem Gebiet aufweisen können (Dilling et al., 2019). Das ICD-10 definiert die Rechenstörung folgendermaßen: 20 3 Dyskalkulie „Diese Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfer- tigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden.“ Die diagnostischen Kriterien aus dem ICD-10 sind: Es liegt ein Wert in einem standardisierten Rechentest vor, der mindestens 2 Standard- abweichungen unterhalb des Niveaus liegt, das aufgrund des chronologischen Alters und der allgemeinen Intelligenz des Kindes zu erwarten wäre; Die Lesegenauigkeit, das Leseverständnis sowie das Rechtschreiben liegen im Norm- bereich; In der Vorgeschichte finden sich keine ausgeprägten Lese- oder Rechtschreibschwie- rigkeiten. Die Beschulung ist ausreichend und es liegen keine außergewöhnlichen Unzulänglich- keiten in der Erziehung vor; Die Rechenschwierigkeiten bestehen seit den frühesten Anfängen des Rechnenlernens; Die Störung behindert eine Schulausbildung oder alltägliche Tätigkeiten, die Rechen- fertigkeiten erfordern; Ausschluss: Nonverbaler IQ < 70 (Dilling & Freyberger, 2019). 3.4 Ablauf der Diagnostik Im Rahmen der Anamnese und Exploration wird abgefragt, ob das Kind schon im Kin- dergarten mit dem Mengenverständnis Probleme hatte, ob es Würfelaugen spontan als Zahl erkennen kann und auch ob das Kind andere Auffälligkeiten aufweist. Zudem wird abgefragt, ob das Kind den Unterricht regelmäßig besucht hat und ob eine genetische Disposition vorhanden sein könnte. Nach Anamnese und Exploration können und sollen unstandardisierte Verfahren durch- geführt werden (Arbeit mit Materialien), bevor standardisierte Testverfahren zum Einsatz kommen. Eine Sammlung sehr bewährter und aussagekräftiger unstandardisierter Verfahren (mit Hinweisen dazu, was erwartbar ist) findet sich beispielsweise bei Simon (2018). Aufgaben können beispielsweise sein: Steckwürfel werden in zwei Farben vorgegeben, das Kind wird gebeten, zu jedem gel- ben Würfel einen roten Würfel zu legen. Es wird besprochen, dass nun gleich viele Würfel 3.4 Ablauf der Diagnostik 21 Abb. 3.2 Mengenerfassung – Typ II-Aufgabe. (eigenes Foto, Idee entnommen aus Simon, 2018) jeder Farbe am Tisch liegen. Die gelben Würfel werden dann in der Reihe zusammenge- schoben, die roten auseinandergezogen, das Kind wird gefragt, ob nun immer noch gleich viele Würfel jeder Farbe am Tisch liegen. Dyskalkuliekinder geben oftmals an, dass die auseinandergezogene Reihe mehr Würfel enthält. Danach werden die gelben Würfel in der Mitte des Tisches zusammengelegt, die roten in einem Kreis rundherum platziert wobei der Testleiter heimlich einen roten Würfel wegnimmt. Das Kind wird neuerlich gefragt, ob nun immer noch gleich viele rote und gelbe Würfel am Tisch liegen. Beobachtet wird, ob das Kind Würfel innen und außen zählt und dann die Zahlen vergleicht (ideale Strategie) oder ob es schieben muss bzw. von einem Würfel zum anderen schaut. Kinder mit Dyskakulie wählen üblicherweise nicht die Variante, die Würfel außen und innen zu zählen und einen Abglich zu machen sondern schauen hin und her bzw. versuchen immer wieder, in den Händen die Würfel zusammenzuschieben um die Aufgabe lösen zu können (Abb. 3.2). Eine andere Aufgabe mit den Würfeln ist besipspielsweise, 3-stöckige Türme zu bauen, zum Beispiel gelb-rot-gelb, das Kind wird gebeten, alle möglichen 3-stöckigen Türme zu bauen (Abb. 3.3), dabei wird beobachtet, wie das Kind arbeitet, also ob es „Zwillings- türme“ macht (rot-gelb-rot zu gelb-rot-gelb…) und ob es alle Türme bauen kann (und ob es auch erklären kann, warum es genau 8 Möglichkeiten gibt). Kinder mit Dyskalkulie finden meist keine Möglichkeit, herauszufinden, ob noch Türme fehlen, eine „Formel“ (2 x 2 x 2) wird nie expliziert. Es wird auch mit Rechenstäbchen gearbeitet. Das Kind wird gebeten, die Stäbchen zu „sortieren“. Beobachtet wird, ob nach Länge oder nach Farbe sortiert wird oder ob es nicht gelingt, zu sortieren. Danach werden die Nummern Eins bis Zehn zugeordnet. Das Kind soll die Eins dem kürzesten Stäbchen zuordnen, die Zehn dem längsten. Dyskalku- liekinder können den Zusammenhang zwischen Länger und Zahl vielfach nicht herstellen udn suchen „nur“ grüne Stäbchen für grüne Karten oder ähnliches (Abb. 3.4). 22 3 Dyskalkulie Abb. 3.3 Aufgabe „Türme bauen“. (eigenes Foto, Idee entnommen aus Simon, 2018) Abb. 3.4 Sortieraufgabe – Rechenstäbchen (eigenes Foto, Idee entnommen aus Simon, 2018) Dem Kind wird auch eine Vorlage präsentiert mit der Bitte, diese mit den Stäbchen auszufüllen (Abb. 3.4). Ideal ist, wenn das Kind möglichst wenige Stäbchen verwenden muss (Abb. 3.5), auffällig ist es dann, wenn nur die Stäbchen der Länge „Eins“ verwendet werden (typisch bei Dyskalkuliekindern). Danach wird das Kind gebeten, für den Test- leiter eine Aufgabe zu machen, wobei auch hier beobachtet wird, wie das Kind vorgeht (zeichnet es beispielsweise runde Formen für eckige Stäbchen). Eine Aufgabe wird auch mit Dominosteinen ausgeführt, das Kind soll die Domino- steine „sortieren“, wobei hier beobachtet wird, ob es dem Kind gelingt, die Steine in eine Ordnungsstruktur zu bringen (Abb. 3.6). Danach werden die Steine gemischt und es wird ein Stein entfernt, das Kind soll nun herausfinden, welcher Stein fehlt. Dies gelingt Dys- kalkuliekindern üblicherweise nicht, weil es ihnen nicht möglich ist, eine Struktur in die Dominosteine zu bringen. 3.4 Ablauf der Diagnostik 23 Abb. 3.5 Ausfüllaufgabe – Rechenstäbchen, ideale Ausführung (eigenes Foto, Idee entnommen aus Simon, 2018) Abb. 3.6 Dominoaufgabe – ideale Sortierung (eigenes Foto, Idee entnommen aus Simon, 2018) 24 3 Dyskalkulie Die standardisierten Verfahren sollten Kardinalzahlverständnis Mengen- und Größenverständnis (z. B. Zuordnung von Zahl und Menge, Über- schlagsrechnungen und Mengenschätzungen) Zählfehler (z. B. Abzählen konkreter Objekte) Transkodierungsfehler (z. B. Übertragen von Lautsprache und Zahlwörtern in arabi- sche Zahlen) Verständnis des Stellenwertsystems (Über den 10er rechnen etc.) Rechenfehler (z. B. Umgang mit und Verständnis von Rechenzeichen, Umgang mit der Null) Verständnis der Grundrechenarten Probleme bei visuell-räumlichen Leistungen prüfen. Bewährte validierte und vielverwendete Verfahren sind: der TEDI-MATH von Kaufmann et al. (2009), der mit insgesamt 28 Subtests eine vollständige Diagnostik von Rechenstörungen/Dyskalkulie ermöglicht.; der TeDDy-PC von Schroeders und Schneider (2008), bei dem die Grundrechenarten geprüft werden und zudem das Erkennen geometrischer Figuren, die Fähigkeit zum Kopfrechnen und das Lösen kurzer Sachaufgaben; der HRT 1–4 von Haffner et al. (2005), der 11 Untertests und 3 Skalenwerte für die Bereiche Rechenoperationen (6 Untertests), numerisch-logische und räumlich- visuelle Fähigkeiten (5 Untertests) umfasst. Aufgaben werden aus den Bereichen Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division, Ergänzungsaufgaben, Größer-Kleiner- Vergleiche, Zahlenreihen, Längenschätzen, Würfelzählen, Mengenzählen, Zahlenver- binden gestellt. Ein Intelligenztest zum Ausschluss einer Intelligenzminderung oder Lernbehinderung mit einem Test, der keine mathematischen Fähigkeiten abfragt, ist obligat, zudem muss – aufgrund der Definition im ICD-10, geprüft werden, ob die Lesefähigkeiten ausreichend gegeben sind, idealerweise werden auch Exekutivfunktionen und visuell-räumliche Fähig- keiten mitgeprüft, das die räumlich-konstruktive Störung vielfach mit Dyskalkulie in Kombination auftritt oder damit verwechselt wird (dazu findet sich ein eigenes Kapitel in diesem Buch). 3.5 Musterbeispiel Diagnostik Nachfolgend ein Beispiel für eine Dyskalkulietestung mit einem 7,5 Jahre alten Mädchen, bei dem zuerst eine unstandardisierte Untersuchung mittels Piaget-Test zum Kardinal- zahlenverständnis (4 Teile) durchgeführt wurde, dann Tests zur Kombinatorik, Tests 3.6 Unterstützende Maßnahmen 25 zur Arbeitsgenauigkeit, zur sensorischen Integration, zu Größen und Zahlen, zur Hand- Auge-Koordination, zur Handlungsplanung sowie Tests zum strukturierten Zählen, zum logischen Denken, zum dezimal strukturierten Zählen und zur Feststellung des mathe- matischen Leistungsstandes. Auch der HRT 1–4 wurde als standardisiertes Verfahren vorgegegen. Festgehalten wird: Es Die durchgeführten unstandardisierten Testverfahren stammen aus Simon (2018) und geben einen sehr guten Überblick über Entwicklungsfelder, Defizite und Problembereiche. Nachstehend ein Ausschnitt aus dem Befund: ***** hat ein unterdurchschnittlich ausgeprägtes Kardinalzahlverständnis, sie kann Längen (noch) nicht den entsprechenden Zahlen zuordnen und ist auch nicht in der Lage, sinnvoll zu sortieren oder zu strukturieren. Sie hat noch keine Vorstellung davon, dass eine gezählte Anzahl eine Aussage über die Zuordenbarkeit von Mengen zueinander macht und schafft es nicht, Ver- bindungen zwischen Größen und Zahlen herzustellen. Die Mengeninvarianz bereitet ihr zudem Probleme. Beim Strukturieren und Analysieren hat sie große Probleme (sinnvoll sortieren/aus einer unübersichtlichen Sammlung von Einzelteilen ein Gesamtbild herstellen). Die Arbeits- genauigkeit von ***** ist im Durchschnitt, die sensorische Integration zwischen Tastsinn und Gesichtssinn ist unauffällig. Das systematische strukturierte Zählen ist ihr (noch) nicht mög- lich. Das Grundprinzip der Addition kennt sie. Bei Aufgaben zum räumlichen Denken gibt es ebenfalls Auffälligkeiten (Strategie und räumliches Verständnis fehlt). Aufgaben zum Bereich abstraktes Denken (Transferleistungen bringen, Ableitungen machen und Kategorien bilden) kann sie nicht lösen, ebenso hat sie Probleme im visuell-konstruktiven Bereich. **** erreicht im HRT T Werte zwischen T = 39 (PR = 14) und T = 45 (PR = 31). Gesamt erreicht sie einen Prozentrang von PR= 22, was bedeutet, dass sie 22% der Kinder der ersten Schulstufe hinter sich lässt und schwächer als 78% der Schüler der ersten Klasse ist. Schwächen zeigen sich bei Größer/Kleiner-Aufgaben und beim Ergänzen, die anderen Bereiche (räumliches Denken; Längen schätzen; Mengen zählen Addition; Zahlen schreiben) sind unauffällig. 3.6 Unterstützende Maßnahmen Die in der Beschreibung des Störungsbildes genannten Probleme mit den kombinierten Zusatzrisiken sprechen für eine frühe und gezielte Förderung von Kindern mit Dyskalkulie und numerischen Verarbeitungsdefiziten. Bewährte Programme sind zum Beispiel das Programm „Mengen, zählen, Zahlen“ von Krajewski et al. (2013) mit dem das Zahlwort- und Mengenverständnis gefördert werden kann. Trainiert werden numerische Basisfertigkeiten (Mengen grob unterscheiden, Zäh- len) das Verständnis dafür, dass Zahlen Mengen darstellen und das „in-Beziehung-Setzen“ von Mengen. Ein anderes Programm für ältere Kinder ist das Programm „Kalkulie“ von Gerlach et al. (2007), das auf fünf Stufen die Fertigkeiten im Bereich der Mathematik fördert: 26 3 Dyskalkulie In der ersten Stufe wird das Zählen erlernt, bis dann auf Stufe fünf Relationen zwischen Mengen und Zahlen hergestellt werden können und Differenzen gebildet werden können. Wichtig ist es, mit Materialien zu arbeiten und möglichst spielerisch und handlungs- orientiert zu fördern. Literatur Ashcraft, M. H. (2002). Math anxiety: Personal, educational, and cognitive consequences. Current Directions in Psychological Science, 11(5), 181–185. Cohen Kadosh, R., Dowker, A., Heine, A., Kaufmann, L., & Kucian, K. (2013). Interventions for improving numerical abilities: Present and future. Trends in Neuroscience and Education, 2, 85–93. Dehaene, S. (1993). Numerical cognition (Cognition special issues). Blackwell. Dilling, H., Freyberger, H. J. & Weltgesundheitsorganisation (2019). Taschenführer zur ICD-10- Klassifikation psychischer Störungen. Hogrefe. Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M. 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Beschrieben wird diese Störung vielfach mit der bildlichen Bezeichnung „Das ungeschickte Kind-Syndrom“. 4.2 Dyspraxie – Theoretische Grundlagen Bei der Dyspraxie handelt es sich um eine Entwicklungs- und Koordinationsstörung, die bei ungefähr fünf bis acht Prozent der fünf- bis elfjährigen Kinder in verschiedenen Aus- prägungen auftritt (American Psychiatric Association, 2013). Studien zeigen, dass Jungen viermal so häufig betroffen sind als Mädchen, was auf verschiedene Ursachen (hirnor- ganische Unterschiede etc.) zurückgeführt wird (Gordon & McKinlay, 1980). Bei rund 25 % der betroffenen Kinder wird vor Einschulung eine Dyspraxie festgestellt, bei den restlichen 75 % in den ersten Schuljahren, wobei Eltern aus höheren sozialen Schichten ihre Kinder eher zu Spezialisten schicken, da sie Bedenken schneller äußern (McGo- vern, 1991). Bei Kindern mit Dyspraxie zeigt sich eine Beeinträchtigung der Organisation, Planung und Ausführung von motorischen Bewegungen (Gibbs et al., 2007). Das heißt, sie haben Schwierigkeiten beim Erlernen und Durchführen von alltäglichen Fähigkei- ten, wie Schuhe zubinden, ihren eigenen Namen schreiben oder Radfahren (Polatajko, © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien 29 Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Kipman, Häufige Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35051-2_4 30 4 Dyspraxie 1999). Zudem weisen Betroffene oft deutliche Verzögerungen beim Erreichen von moto- rischen Meilensteinen, wie zum Beispiel Sitzen, Krabbeln und Gehen, eine generelle Ungeschicklichkeit, wie beispielsweise häufiges Fallenlassen von Gegenständen sowie schlechte Leistungen im Sport auf. Die motorischen Leistungsfähigkeiten liegen hierbei deutlich unter dem chronologischen Alter und der gemessenen Intelligenz der betroffenen Person (American Psychiatric Association, 2013). Kinder mit Dyspraxie bilden eine hete- rogene Gruppe, was bedeutet, dass sie unterschiedliche Koordinationsprobleme aufweisen. Dabei kann es zu Koordinationsdefiziten in der Grobmotorik, Feinmotorik oder in beiden Bereichen kommen. Zum Beispiel haben manche Kinder Probleme mit diskreten Finger- bewegungen, während andere Defizite in der Auge-Hand-Koordination aufweisen. Wieder andere verfügen über eine schlechte Balance oder haben die Entwicklungsmeilensteine später erreicht als Gleichaltrige (Polatajko, 1999; Szklut & Breath, 2001; Polatajko & Cantin, 2006). Viele der Betroffenen manifestieren eine Kombination aus der ideellen Dyspraxie, welche die Planung und Koordination von motorischen Abläufen betrifft und der ideomotorischen oder exekutiven Dyspraxie, womit die Geläufigkeit und Geschwin- digkeit von motorischen Aktivitäten gemeint ist (Gibbs et al., 2007). Diese motorischen Koordinationsdefizite wirken sich auch negativ auf das soziale Umfeld und die Persönlich- keit der betroffenen Kinder aus, da sie im Sportunterricht oft als letzte gewählt werden und sich über sie lustig gemacht wird, was wiederum ihr Selbstbild sowie ihr Selbst- bewusstsein negativ beeinflusst (Cermak, 1985; Levine et al., 1980). Dementsprechend sind eine frühzeitige Diagnose und Therapie äußerst wichtig, da sich keine oder eine falsche Diagnose negativ auf das weitere Leben des Kindes auswirken kann. Beispiels- weise können bei Betroffenen im Erwachsenenalter Arbeitslosigkeit, Entwicklung von psychiatrischen Störungen sowie schlechte zwischenmenschliche Fähigkeiten bis hin zu Substanzmissbrauch und Kriminalität auftreten (Rasmussen & Gillberg, 2000). 4.3 Diagnostische Kriterien Die Dyspraxie gehört zu den Entwicklungsstörungen unter F8 im ICD-10 und wird mit F82 codiert („umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen“), unterschieden wird in Entwicklungsstörungen der Grobmotorik (F82.0), der Fein- und Graphomotorik (F82.1), der Mundmotorik (F82.2) und der „Störung der motorischen Funktionen – nicht näher bezeichnet“ (F82.3). Um diese Diagnose stellen zu dürfen, muss zumindest ein Wert in einem standardi- sierten Test für fein- und grobmotorische Koordination zwei Standardabweichungen unter der Altersnorm liegen und die Schulausbildung und/oder Alltagstätigkeiten behindern. Die Diagnose darf nicht gestellt werden, wenn eine Intelligenzminderung vorliegt (IQ < 70) oder eine neurologische Störung (Dilling et al., 2015). 4.4 Ablauf der Diagnostik 31 4.4 Ablauf der Diagnostik Zu Beginn des Untersuchungsprozesses soll eine sorgfältige Anamnese und Exploration durchgeführt werden (Muskelerkrankungen, Unfälle, Zugang zu motorischen Aktivitä- ten,…). Zudem müssen medizinische Erkrankungen ausgeschlossen werden, die Grund für die motorischen Probleme sein könnten (Adipositas, Gleichgewichtsstörungen, Zere- bralparese, Muskeldystrophie…). Die gesamte Untersuchung soll Aktivitäten des täglichen Lebens berücksichtigen. Informationen hierzu sollen durch verschiedene Quellen erhoben werden, wie beispiels- weise Selbsteinschätzungen, Berichte von Eltern, Fachkräften (medizinisch/pädagogisch) und anderen relevanten Bezugspersonen. Auch die Handschrift sollte in Form einer Arbeitsprobe abgefragt werden. Die testpsychologische Untersuchung sollte einerseits aus Selbst- und Fremdbeurtei- lungsverfahren bestehen, andererseits aus standardisierten Beobachtungsverfahren. Bewährte standardisierte Instrumente sind: Die Movement Assessment Battery for Children, Second Edition (MABC-2) von Henderson et al. (2015), mit der das kindliche Leistungsvermögen in verschiedenen motorischen Bereichen überprüft werden kann Der Bruininks-Oseretsky Test of Motor Proficiency (BOT-2) von Bruininks et al. (2014), mit dem 1. Feinmotorische Genauigkeit, 2. Feinmotorische Integration, 3. Handgeschicklichkeit, 4. Beidseitige Koordination, 5. Gleichgewicht, 6. Schnelligkeit und Geschicklichkeit, 7. Ballfertigkeiten und 8. Kraft getestet werden können Der Körperkoordinationstest für Kinder (KTK) von Kiphard und Schilling (2017), mit dem rückwärts Balancieren (RB), monopedales Überhüpfen (MÜ), seitliches Hin- und Herspringen (SH) und seitliches Umsetzen (SU), also die Gesamtkörperbeherrschung erfasst werden. Zudem können Subskalen aus verschiedenen Entwicklungstestverfahren verwendet wer- den: Der Bayley Scales of Infant Development (Bayley, 2015) ist ein umfangreicher Entwicklungstest, der konzipiert wurde, um motorische, sprachliche und kognitive Funk- tionen bei Kleinkindern im Alter von 0 bis 3 Jahren zu bewerten. Die motorische Subskala kann für beschreibende und evaluative Ziele nützlich sein – besonders bei der Bestimmung früher motorischer Funktionsstörungen im Rahmen einer allgemeinen Entwicklungsun- tersuchung, selbiges gilt für die DES (Diagnostische Einschätzskalen) (Barth, 2017), bei denen Grobmotorik, Lateralität, Feinmotorik, Augenmotorik und Körperorientierung geprüft werden. Empfehlenswert sind zudem die IDS-II-Subtests zur Feinmotorik (Abb. 4.1) und zur Visuomotorik (Abb. 4.2) (Grob & Hagmann-von Arx, 2018). 32 4 Dyspraxie Abb. 4.1 IDS-II- Subtests zur Feinmotorik. (eigenes Foto, Materialien entnommen aus Grob & Hagmann – von Arx, 2018) Abb. 4.2 IDS-II-Subtests zur Visuomotorik. (eigenes Foto, Materialien entnommen aus Grob und Hagmann – von Arx, 2018) 4.6 Unterstützende Maßnahmen 33 Eine Intelligenzdiagnostik wird standardmäßig durchgeführt (es reicht in diesem Fall ein Screening, um Intelligenzminderung auszuschließen). 4.5 Musterbeispiel Diagnostik Nachfolgend ein Ausschnitt aus der diagnostischen Praxis (Dyspraxiekind, 6 Jahre alt): Die Entwicklungsdiagnostik ergibt Auffälligkeiten in den Bereichen Augenmuskelkon- trolle und Auditives Kurzzeitgedächtnis, Entwicklungsfelder finden sich in den Bereichen Köperschema, Mengenerfassung, Optische Diskriminierung und Visuelles Gedächtnis: Dieses Profil bedeutet, dass ***** noch nicht ohne Finger oder Stift eine Linie verfolgen kann und auch Bewegungen ohne Nachfahren nicht gut rekonstruieren kann („Hütchen- spiel“/„Fixieren“), sie kann auch noch nicht Gehörtes nachklatschen oder -sagen („Klatsch- rhythmen“/„Silbenreihen“). Das Körperschema und die Mengenerfassung sind bei ihr leicht beeinträchtigt („suboptimale Zählstrategien bei Mengenunterschieden“, „Bewegungen imitie- ren“). Figuren aus dem Gedächtnis nachzeichnen gelingt ihr nur schwer bzw. bei Figuren mit Artefakten gar nicht, feine Unterschiede erkennt sie nur fallweise. 4.6 Unterstützende Maßnahmen Die Behandlungsansätze bei Dyspraxie werden in zwei Gruppen unterteilt: Einerseits Ansätze, die Aktivitäten nutzen, um vermutete zugrundeliegende Probleme anzugehen, oft als prozess-orientierte Ansätze bezeichnet, und andererseits Ansätze, die das Ausfüh- rungsproblem der Betätigung selbst angehen und die oft als aufgabenorientierte Ansätze bezeichnet werden. Verbesserungen sind möglich, allerdings ist ein großer Einsatz nötig, um nachhaltige Verbesserungen erzielen zu können. Grundsätzlich wird in der psychologischen Praxis für Kinder und Jugendliche mit leichten Beeinträchtigungen gerne Training in Sportvereinen empfohlen. Übungen zur Grobmotorik, die typischerweise für zu Hause empfohlen werden, sind: Einbeinstand links (15–20 Sek für Schulanfänger, > 20 s ab 8 Jahren) Einbeinstand rechts (15–20 Sek für Schulanfänger, > 20 s ab 8 Jahren) Einbeinstand links blind (sollte gelingen ohne den anderen Fuß zu Hilfe zu nehmen) Einbeinstand rechts blind (sollte gelingen ohne den anderen Fuß zu Hilfe zu nehmen) Balancieren auf dem Balken/Balancieren auf einer Linie Einbeinhüpfen links (7–10 × ist passend für Schulanfänger) Einbeinhüpfen rechts (7–10 × ist passend für Schulanfänger) Seitliches Hin und Herspringen (sollte 5 mal gelingen ohne Absetzen) Balancieren im Scherenschritt Auf Zehenspitzen gehen (8–10 Schritte) Auf den Fersen gehen (8–10 Schritte) 34 4 Dyspraxie Froschhüpfen (1 m) Von der Langbank springen Zum Fördern der Feinmotorik werden neben Spielen wie Packesel oder Mikado (oder auch Stapelmännchen, schwerer: Meeple Circus) auch folgende Tätigkeiten empfohlen: Kreisel andrehen Bilder mit der Schere ausschneiden Bügelperlenbilder machen Fingerstricken Perlen auffädeln (Perlentiere machen) Ball fangen Bilder ausmalen Steckspiele (zum Beispiel auch mit Montessorimaterial) Knöpfe auf- und zuknöpfen Ballprellen Schleife binden (ab 6 Jahren) Die Augenmotorik kann zu Hause mit folgenden Übungen trainiert werden: Fixieren eines Gegenstands (zB Fingerhut) aus 40–50 cm Entfernung (10 s) Fixieren eines Kreisbogens (wird mit dem Finger gezeichnet) ohne den Kopf zu bewegen Fixieren von Fingerbewegungen (über Körpermitte gehen!) Wegen mit den Augen folgen (Zeichnungen mit Wegen ohne den Finger zu verwenden) Labyrinthe lösen (wie kommt die Maus zum Käse…) Ein spezielles Programm, das kürzlich entwickelt wurde, ist Motor Imagery: „Das Motor Imagery Training ist ein neuer kognitiver Ansatz, der von Wilson entwickelt wurde. Er nutzt die interne Modellierung von Bewegungen, wobei das Kind motorische Handlungen ohne die direkte Umsetzung planen und deren Auswirkungen vorstellen lernt. Mit der Zeit und mit zunehmender Praxis nutzen Kinder das Wissen aus der Verbindung zwischen Vorstellung und innerem Empfinden der Bewegung, um entsprechende Vorhersagen über die Auswirkun- gen selbst getätigter Bewegungen zu machen; dies reduziert die Fehler. Als Strategie zum Erlernen der Planung scheint das Verfahren bei einigen Kindern zu funktionieren.“ (Blank & Vincon, 2020, S. 71) Auch andere Ideen sind in diesem Zusammenhang vielversprechend, aber in der Wirkung noch nicht ausreichend beforscht: Verfahren unter Nutzung von Virtueller Realität (VR) aktive Videospiele (bekannt aus dieser Sparte ist zum Beispiel „Just Dance“) Literatur 35 Literatur American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (4. Aufl.). American Psychiatric Association. Barth, K. (2017). Die diagnostischen Einschätzskalen (DES) zur Beurteilung des Entwicklungsstandes und der Schulfähigkeit (5. Aufl.). E. Reinhardt. Bayley, N. (2015). Bayley scales of infant development. Pearson Assessment und Information GmbH [u.a.]. Blank und Vincon. (2020). Umschriebenen Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen (UEMF). https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/022-017l_S3_Umschriebene-Entwicklu ngsstoerungen-motorischer-Funktionen-UEMF_2020-08_01.pdf. Zugegriffen: 28. Febr. 2021 Bruininks, R. H., Bruininks, B. D., Blank, R., Jenetzky, E., & Vinçon, S. (2014). Bruininks- Oseretzky Test der motorischen Fähigkeiten. Deutschsprachige Version; Handbuch: Grundlagen, Testauswertung und Interpretation (2. Aufl.). Pearson. Cermak, S. (1985). Developmental Dyspraxia. Advances in Psychology, 23, 225–248. Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M. H., Schulte-Markwort, E., & Remschmidt, H. (Hrsg.). (2015). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F) klinisch-diagnostische Leitlinien (10. Aufl., unter Berücksichtigung der Änderungen entsprechend ICD-10-GM 2015). Hogrefe Verlag. Gibbs, J., Appleton, J., Appleton, R. (2007). Dyspraxia or developmental coordination disorder? Unravelling the enigma. 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Teil III Entwicklungsstörungen: Tiefgreifende Entwicklungsstörungen Asperger 5 5.1 Einleitung Das Asperger-Syndrom fällt in den Bereich der Autismus-Spektrums-Störungen bzw. der tief greifenden Entwicklungsstörungen (F84) (Dilling et al., 2015) und gilt als eine Form des Autismus, bei der eine Diskrepanz zwischen den teilweise guten intellektuel- len und sprachlichen Fertigkeiten und den schweren Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion besteht. 5.2 Asperger- Beschreibung des Störungsbilds Beim Asperger-Syndrom handelt es sich um eine tief greifende bis ins Erwachsenenal- ter hinein bestehende Entwicklungsstörung, bei der Probleme in der sozialen Interaktion, ähnlich wie beim Autismus, gemeinsam mit einer eingeschränkten, sich wiederholenden Palette von Interessen und Verhaltensweisen auftreten. Zudem wird oft eine auffal- lende Ungeschicklichkeit beschrieben. Im Gegensatz zu Autismus sind Personen mit dem Asperger-Syndrom nicht von Entwicklungsdefiziten der Sprache und der kognitiven Ent- wicklung betroffen (Dilling et al., 2015, 2019). Im ICD-10 ist das Asperger-Syndrom als Unterkategorie der Entwicklungsstörungen aufgeführt (F 84.X), im DSM-5 hingegen als Teil der Autismus-Spektrum-Störung, neben frühkindlichem oder Kanner-Autismus und atypischem Autismus (American Psychiatric Association, 2013). Generell gibt es in der Forschung teilweise noch Uneinigkeit in den Diagnosekriterien, was auch die Bestim- mung der Prävalenzrate erschwert. Jedoch gibt es eine ungefähre Rate, die besagt, dass circa 2 bis 4 Personen von 10.000 am Asperger-Syndrom erkranken (Fombonne & Tid- marsh, 2003). Durch die stetige Verbesserung der Diagnosemanuale ist die Identifikation © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien 39 Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 U. Kipman, Häufige Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-35051-2_5 40 5 Asperger von Autismus-Spektrum-Störungen in den letzten Jahren stark angestiegen, damit ein- hergehend ist auch ein Geschlechterunterschied sichtbar geworden, wobei Jungen öfter mit dem Asperger-Syndrom diagnostiziert werden als Mädchen (Wilkinson, 2008). Auch das ICD-10 beschreibt ein überwiegendes Auftreten der tiefgreifenden Entwicklungsstö- rung bei Jungen (Dilling et al., 2019). Personen mit dem Asperger-Syndrom sind oftmals sozial isoliert. Das liegt an ihrer teils seltsamen Ausdrucksweise, zum Beispiel sprechen sie sehr förmlich, eigenartig im Rhythmus und haben oft Probleme, ihre Antworten zu formulieren. Zudem führen sie oft Monologe über ihr spezielles Interesse, unabhängig davon, ob dies auch auf Interesse im Gesprächspartner stößt (Klein et al., 2005; Volk- mar & Klin, 2000; Wing, 1981; Woodbury-Smith & Volkmar, 2009). Hinzu kommt die eingeschränkte und sich wiederholende Palette an Verhaltensweisen. Diese kann man zum einen unterteilen in stereotype motorische Bewegungen und zum anderen in ritualisierte Verhaltensweisen und umschriebenen Interessen. Dieses Interesse wird sozialen Interak- tionen übergestellt und ist oft sehr unterschiedlich zu den Interessen Gleichaltriger (Klein et al., 2005; Volkmar & Klin, 2000; Wing, 1981; Woodbury-Smith & Volkmar, 2009). Zudem steigert sich das Interesse und das Engagement daran mit dem Alter, was als zusätzliche Belastung für Angehörige und dem Betroffenen selbst wahrgenommen wer- den kann (South et al., 2005). Als Hauptursache für das Auftreten des Asperger-Syndroms wird der genetische Aspekt herangezogen. Es gibt ein starkes Auftreten des Asperger- Syndroms bei Verwandten ersten Grades (Volkmar et al., 1998). Mit dem Syndrom gehen auch einige soziale, psychologische und medizinische Probleme einher. Kinder mit Asperger-Syndrom werden aufgrund ihrer teils exzentrischen Art oft von Gleichalt- rigen geärgert und schikaniert. Betroffene weisen vermehrt psychische Probleme, wie Depression (Ghaziuddin et al., 1998) und Angst (Tantam, 2000) auf. Zudem kommen medizinische Komplikationen, wie Krampfanfälle und Schlafprobleme (Filipek, 2005) sowie andere Entwicklungsstörungen, wie Tourette-Syndrom (Baron-Cohen et al., 1999) und die Aufmerksamkeitsdefizits-/Hyperaktivitätsstörung (Ghaziuddin et al., 1998) hinzu. Es gibt kaum Forschung dazu, wie sich das Asperger-Syndrom mit steigendem Alter entwickelt (Klin, 2006). Jedoch konnte man zeigen, dass sich bei Personen mit Autis- mus mit durchschnittlichem Intelligenzniveau die Symptomatik über die Zeit verbessert, jedoch Schwierigkeiten in Bezug auf Kommunikationsfähigkeiten, soziale Anpassung und Führung eines unabhängigen Lebens, bis ins Erwachsenenalter hinein bestehen bleiben (Howlin, 2000; Mawhood et al., 2000). Die Fähigkeit zur sozialen Perspektivenübernahme ist bei Asperger-Patienten also stark eingeschränkt, was bedeutet, dass Asperger-Patienten das Verhalten anderer nicht vorher- sagen können und auch mentale Zustände anderer nur schwer erfassen können, gesamt bezeichnet man dieses Phänomen als eingeschränkte „Theory of Mind“ (Bischof-Köhler, 2011; Förstl, 2012; Premack & Woodruff, 1978). Die Theory of Mind befähigt zu sozial angemessenem Verhalten und eine gut ausgeprägte Theory of Mind wirkt sich im Nor- malfall positiv auf die Kommunikation mit dem jeweiligen Gegenüber aus, da sie es ermöglicht, eigenes und fremdes Verhalten und Erleben zu verstehen, zu beschreiben und 5.2 Asperger- Beschreibung des Störungsbilds 41 vorherzusagen (Bischof-Köhler, 2011; Förstl, 2012). Verschiedene Studien konnten zei- gen, dass Kinder, die über eine hohe Ausprägung der Theory of Mind verfügen, ein besseres Konfliktverhalten zeigen, sich leichter in andere Rollen hineinversetzen kön- nen und bei der Bewertung verschiedener Dilemmata auf einem höheren moralischen Level argumentieren als Kinder, die nur eine niedrige Ausprägung der Theory of Mind aufweisen (Dunn & Cutting, 1999; Lane, et al., 2010). Ein signifikanter Zusammen- hang mit der Empathie konnte interessanterweise nicht festgestellt werden. Abgesehen von der Bedeutung für zwischenmenschliche Interaktionen spielt die Theory of Mind auch für alltagspsychologische Vorstellungen eine fundamentale Rolle: Beispielsweise können Schlüsse über die Beweggründe einer Person gezogen werden, sich in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten (Bender & Beller, 2013). Es kann unterschie- den werden zwischen der impliziten und der expliziten Theory of Mind: Die implizite Komponente umfasst primär unbewusste und intuitive Aspekte, die explizite Komponente setzt kognitive und sprachliche Handlungskompetenz voraus und befähigt uns zum Erken- nen von Absichten, Gedanken, Wünschen und Gefühlen anderer in sozialen Interaktionen (Paschke-Müller et al., 2012; Bischof-Köhler, 2011; Förstl, 2012). Im Normalfall sieht die Entwicklung der Theory of Mind folgendermaßen aus: Babys erkennen sich erst mit einem Alter von ca. 1,5 Jahren selbst im Spiegel (Versuch: Roten Punkt auf die Stirn geben und das Kind in den Spiegel schauen lassen, wischt das Kind bei sich selbst, ist diese Fähigkeit vorhanden). In diesem Alter lernen sie außer- dem, Empathie für ihre Mitmenschen aufzubringen und die eigenen Emotionen und Wünsche von denen anderer Personen zu differenzieren. Aufbauend darauf verstehen die Kinder zunehmend besser, dass das menschliche Verhalten von inneren Bedürfnis- sen und Zielen geleitet wird (Bischof-Köhler, 2011; Förstl, 2012; Haug-Schnabel & Bensel, 2017). Kinder im Alter von 2 bis 3 Jahren sind in der Lage, einfache mentale Zustände (Wünsche, Emotionen und Intentionen) zu deuten. Sie sind zu einer eingeschränkten Rollenübernahme fähig (Bischof-Köhler, 2011; Förstl, 2012). Kinder mit etwa 4 Jahren können zwischen ihrem eigenen mentalen Status und dem Status von anderen Menschen unterscheiden. Sie verstehen, dass jed

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