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PFH.FLB.882.2312_Kommunikation_Inter.pdf

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Lehrbrief Kommunikation, Interaktion und Soziale Gruppenprozesse II M10003 Lehrbrief Kommunikation, Interaktion und Soziale Gruppenprozesse II M10003 Autoren: Friederike Bornträger, Christoph Burkhardt, Ulrike Cress, Nicola Döring, Cecily French, Joachim Kimmerle,...

Lehrbrief Kommunikation, Interaktion und Soziale Gruppenprozesse II M10003 Lehrbrief Kommunikation, Interaktion und Soziale Gruppenprozesse II M10003 Autoren: Friederike Bornträger, Christoph Burkhardt, Ulrike Cress, Nicola Döring, Cecily French, Joachim Kimmerle, René Kopietz, Birgitta Kopp, Heinz Mandl, Kai Sassenberg, Sonja Utz Modulverantwortung: Prof. Dr. Olivia Spiegler Herausgeber: PFH Private Hochschule Göttingen Weender Landstraße 3-7 37073 Göttingen Tel.: +49 (0)551 54700-0 Impressum: www.pfh.de/impressum Datenschutz: www.pfh.de/datenschutz Verlag: © 2023 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG Göttingen Bern Wien Oxford Boston Paris Amsterdam Prag Florenz Kopenhagen Stockholm Helsinki São Paulo Merkelstraße 3, 37085 Göttingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Coverbild: https://stock.adobe.com Sonderausgabe: Der Lehrbrief basiert auf den Kapiteln 4, 5, 12 und 15 des Bandes „Enzyklopädie der Psychologie, Serie Sozialpsychologie, Band 3 Kommunikation, Interaktion und soziale Gruppenprozesse“ von Hans-Werner Bierhoff, Dieter Frey. ISBN: 978-3-8017-0565-7 2. Auflage, Göttingen 2023 | PFH.FLB.882.2312 5 Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis 8 Tabellenverzeichnis 8 Kapitel 1 Einleitung 9 1 Thematische Einführung 10 1.1 Thematische Einführung 10 1.2 Lernziele des Lehrbriefes 10 Kapitel 2 Gemeinsame Wissens­konstruktion 13 2 Gemeinsame Wissenskonstruktion 14 2.1 Einführung und konzeptuelle Klärung 14 2.2 Theoretische Verankerung und Ansätze sowie empirische Befunde 15 2.2.1 Gemeinsame Wissenskonstruktion aus Sicht der Entwicklungspsychologie 15 2.2.1.1 Soziokulturelle Perspektive 15 2.2.1.2 Soziogenetische Perspektive 16 2.2.2 Gemeinsame Wissenskonstruktion aus Sicht der Sozialpsychologie 17 2.2.2.1 Informationsverteilung und Informationsverarbeitung 17 2.2.2.2 Transaktive Wissenssysteme 18 2.2.3 Gemeinsame Wissenskonstruktion aus Sicht der Pädagogischen Psychologie 20 2.2.3.1 Kognitive Elaboration 20 2.2.3.2 Argumentation 22 2.3 Unterstützungsmaßnahmen bei der gemeinsamen Wissenskonstruktion 23 2.3.1 Skripts 24 2.3.2 Schemata 25 2.4 Forschungsperspektive für die Zukunft 26 Reflexionsaufgaben 27 6 Kapitel 3 Sozial geteilte Realität: Wie wir uns in der Interaktion mit unseren Mitmenschen unsere Welt erschaffen 29 3 Sozial geteilte Realität: Wie wir uns in der Interaktion mit unseren Mitmenschen unsere Welt erschaffen 30 3.1 Das menschliche Streben nach sozialer Geteiltheit 30 3.2 Die Theorie der sozial geteilten Realität 32 3.2.1 Ideengeschichtliche Grundlagen 32 3.2.2 Was ist sozial geteilte Realität? Zentrale Begriffe 35 3.2.3 Warum streben wir nach sozialer Geteiltheit? Motivationale Grundlagen 36 3.2.4 Wann entsteht sozial geteilte Realität? Notwendige Voraussetzungen 38 3.2.5 Wie entsteht sozial geteilte Realität? Mögliche Entstehungsverläufe 39 3.3 Aktueller Forschungsstand 40 3.3.1 Das Saying-is-believing-Paradigma 40 3.3.2 Epistemische Motivation als Ursache sozialer Realitätsbildung 43 3.3.3 Beziehung als Einflussfaktor sozialer Realitätsbildung 45 3.3.4 Folgen sozialer Realitätsbildung außerhalb des Labors 47 3.4 Zukünftige Forschungsperspektiven 51 Reflexionsaufgaben 53 Kapitel 4 Sozialpsychologie der Internetnutzung 55 4 Sozialpsychologie der Internetnutzung 56 4.1 Konzeptuelle Klärungen zur sozialpsychologischen Internetforschung 57 4.1.1 Internet 57 4.1.2 Internetnutzung 58 4.1.3 Sozialpsychologie der Internetnutzung 63 4.2 Methoden der sozialpsychologischen Internetforschung 64 4.2.1 Standardisierte Messinstrumente zur Internetnutzung 65 4.2.2 Ambulantes Assessment zur Internetnutzung mittels Smartphone-Apps 65 4.2.3 Analyse von Protokolldaten zur Internetnutzung 66 4.2.4 Semantische Analyse von nutzergeneriertem Internet-Content 68 4.3 Theorien der sozialpsychologischen Internetforschung 69 4.3.1 CvK-Theorien zur Medienwahl 69 4.3.2 CvK-Theorien zu Medienmerkmalen 71 7 4.3.3 CvK-Theorien zum medialen Kommunikationsverhalten 72 4.4 Befunde der sozialpsychologischen Internetforschung 74 4.4.1 Sind Online-Selbstdarstellungen authentisch? 74 4.4.2 Führt Internetnutzung zur Vereinsamung? 76 4.4.3 Führt Internetnutzung zur Verdummung? 78 4.5 Anwendungsbezüge der sozialpsychologischen Internetforschung 81 4.6 Zukünftige Forschungsperspektiven der Sozialpsychologie der Internetnutzung 83 Reflexionsaufgaben 85 Kapitel 5 Soziale Beziehungen und Gruppen im Internet 87 5.1 Internet, Beziehungen und Gruppen – Zentrale Schritte der Theorieentwicklung 89 5.2 Medieneigenschaften computervermittelter Kommunikation 90 5.3 Soziale Beziehungen 91 5.3.1 Theoretische Modelle 92 5.3.2 Empirische Befunde 93 5.4 Soziale Identitäten 95 5.4.1 Das Internet als Raum für soziale Identitäten 95 5.4.2 Der Einfluss sozialer Identitäten online 97 5.4.2.1 Das SIDE-Modell 97 5.4.2.2 Empirische Befunde zum SIDE-Modell 98 5.4.2.3 Zusammenfassung und Implikationen 99 5.5 Wissen als Gruppenleistung 100 5.5.1 Wissen über das Wissen der anderen 100 5.5.2 Lernen in Gruppen als Wissenskonstruktion 101 5.5.3 Zentrale Modelle der Wissenskonstruktion 102 5.5.4 Wissenskonstruktion mit digitalen Medien 103 5.5.5 Zusammenfassung und Implikationen 104 5.6 Fazit und Ausblick 105 Reflexionsaufgaben 107 Anhang 109 Literatur 110 Lösungshinweise zu den Reflexionsaufgaben 130 Ergänzende Übungsaufgaben 132 Lösungshinweise zu den ergänzenden Übungsaufgaben 133 8 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Schematischer Ablauf des Saying-is-believing-Paradigmas von Higgins und Rholes (1978) 41 Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Schematische Darstellung verschiedener Verläufe sozialer Realitätsbildung (French, 2011) 40 Tabelle 2: Überblick der Effekte des Internets im Kontext sozialer Beziehungen und Gruppen 106 Kapitel 1 Einleitung Inhaltsübersicht 1 Thematische Einführung 10 1.1 Thematische Einführung 10 1.2 Lernziele des Lehrbriefes 10 10 Kapitel 1 1.1 Thematische Einführung In der Sozialpsychologie werden soziale Interaktion und soziale Gruppen- prozesse systematisch untersucht. Der zweite Lehrbrief konzentriert sich dabei nun auf solche sozialen Gruppenprozesse, die die gemeinsame Wissenskonstruktion und sozial geteilte Realität betreffen. Darüber hinaus soll eine Verknüpfung zwischen Sozialpsychologie und Digitalisierung hergestellt werden. Da das Handeln im Zusammenhang mit dem Internet sowie Beziehungen im virtuellen Raum an Bedeutung gewinnt, wird in diesem Fernlehrbrief ein Einblick in die damit verbundene sozialpsycho- logische Forschung gewährt. 1.2 Lernziele des Lehrbriefes Die Studierenden haben am Ende des Fernlehrbriefes das Konzept der gemeinsamen Wissenskonstruktion kennengelernt. Sie sind in der Lage, günstige und ungünstige Einflüsse auf die gemeinsame Wissenskonstruk- tion zu beschreiben. Die Studierenden können erläutern, was die Theorie der geteilten Realität über die Entstehung geteilten Wissens aussagt. Die Studierenden können Eigenschaften des Internets benennen, die Einfluss auf interpersonale Beziehungen und die sozialen Identitäten von Individu- en haben. Die Studierenden haben gelernt, einen sozialpsychologischen Blick auf die gemeinsame Wissenskonstruktion im Internet zu legen und dabei das Lernen und Schreiben im Internet als Form der Zusammenarbeit in Gruppen zu begreifen. Lernziele des Kapitels 1 Die Studierenden können am Ende dieses Kapitels beschreiben, wann und wie gemeinsame Wissenskonstruktion stattfindet. Sie haben die Problematik geteilter und ungeteilter Informationen bei der gemeinsamen Wissenskonstruktion kennengelernt. Die Studierenden sind ebenso in der Lage, die Einflüsse des Metawissens auf die gemeinsame Wissenskons- truktion zu beschreiben. Am Ende des Kapitels können die Studierenden herausstellen, wie gemeinsame Wissenskonstruktion gefördert werden kann. Lernziele des Kapitels 2 Die Studierenden können das Konzept der sozial geteilten Realität in seiner psychologischen Bedeutung erklären. Die Studierenden verstehen, was Menschen motiviert, nach einer sozial geteilten Realität zu streben. Sie sind in der Lage, wichtige Entstehungsbedingungen sozial geteilter Realität und typische Entstehungsverläufe zu beschreiben. Einleitung 11 Lernziele des Kapitels 3 Am Ende des Kapitels haben die Studierenden einen Überblick über den Stand der sozialpsychologischen Internetforschung erlangt. Die Studie- renden sind in der Lage, Fragestellungen, Methoden und Befunde der sozialpsychologischen Internetforschung zu benennen und zu erläutern. Sie haben Anwendungsbezüge der sozialpsychologischen Internetfor- schung kennengelernt. Lernziele des Kapitels 4 Am Ende des Kapitels haben die Studierenden die Forschung zu inter- personalen Beziehungen und zu sozialen Identitäten im Internet kennen gelernt. Sie sind dabei in der Lage zu beschreiben, wie Eigenschaften des Internets Einfluss auf interpersonale Bindungen sowie Bindungen an so- ziale Gruppen ausüben. Die Studierenden können am Ende des Kapitels das gemeinsame Lernen und Schreiben im Internet als besondere Form der Zusammenarbeit in Gruppen beschreiben und erläutern. Kapitel 2 Gemeinsame Wissens­konstruktion Birgitta Kopp und Heinz Mandl Inhaltsübersicht 2 Gemeinsame Wissenskonstruktion 14 2.1 Einführung und konzeptuelle Klärung 14 2.2 Theoretische Verankerung und Ansätze sowie empirische Befunde 15 2.2.1 Gemeinsame Wissenskonstruktion aus Sicht der Entwicklungspsychologie 15 2.2.1.1 Soziokulturelle Perspektive 15 2.2.1.2 Soziogenetische Perspektive 16 2.2.2 Gemeinsame Wissenskonstruktion aus Sicht der Sozialpsychologie 17 2.2.2.1 Informationsverteilung und Informations- verarbeitung 17 2.2.2.2 Transaktive Wissenssysteme 18 2.2.3 Gemeinsame Wissenskonstruktion aus Sicht der Pädagogischen Psychologie 20 2.2.3.1 Kognitive Elaboration 20 2.2.3.2 Argumentation 22 2.3 Unterstützungsmaßnahmen bei der gemeinsamen Wissenskonstruktion 23 2.3.1 Skripts 24 2.3.2 Schemata 25 2.4 Forschungsperspektive für die Zukunft 26 Reflexionsaufgaben 27 14 Kapitel 2 2 Gemeinsame Wissenskonstruktion 2.1 Einführung und konzeptuelle Klärung Kennzeichnend für unsere Wissensgesellschaft ist es, dass die Komplexi- tät von Problemstellungen ständig zunimmt. Zugleich kann die große Men- ge an Informationen, die für die Lösung von Problemstellungen benötigt werden, vom Einzelnen alleine nicht mehr bewältigt werden. Daher wird die Zusammenarbeit mehrerer Personen in der Gruppe notwendig. Um in diesen Kooperationen erfolgreich Probleme zu lösen, ist es notwendig, dass die einzelnen Mitglieder verschiedene inhaltliche Perspektiven, die für die Aufgabenbearbeitung relevant sind, einbringen und miteinander aushandeln. Im Fokus dieser gemeinsamen Wissenskonstruktion steht das Ziel, gemeinsam aus dem vorhandenen unterschiedlichen Wissen neues Wissen zu generieren. Dem Thema der gemeinsamen Wissenskonstruktion wird in diesem Ka- pitel unter drei psychologischen Perspektiven, nämlich der Entwicklungs- psychologie, der Sozialpsychologie und der Pädagogischen Psychologie, nachgegangen. Dabei stehen folgende Fragestellungen im Mittelpunkt: Wann und wie findet gemeinsame Wissenskonstruktion statt? Und wie kann gemeinsame Wissenskonstruktion gefördert werden? Die gemeinsame Wissenskonstruktion ist immer an die Situation, in der dieses neue Wissen generiert wird, gebunden (Kopp & Mandl, 2006). Drei wesentliche Aspekte beeinflussen diese Situation: (1) die Gruppen- mitglieder, (2) die Aufgabenstellung sowie (3) die Artefakte bzw. Werk- zeuge, die hierfür eingesetzt werden. Die Gruppenmitglieder verfügen über unterschiedliches Wissen, das in der Gruppe verteilt ist. So teilen Gruppen u. a. aufgabenspezifisches bzw. -relevantes Wissen, Wissen über die Gruppenmitglieder, aber auch Einstellungen und Überzeugungen (Cannon-Bowers & Salas, 2001). Dieses Wissen ist nicht nur Bestandteil eines Individuums, sondern auch zwischen den einzelnen Individuen dis- tribuiert (Salomon, 1993). Da dieses Wissen immer in einer spezifischen Situation entsteht, ist es inhaltsbezogen und kontextgebunden. Aus der Aufgabenstellung heraus ergeben sich die jeweiligen Ressourcen, die für die Bewältigung der Aufgabe notwendig sind. Artefakte bzw. Werkzeuge sind die Mittel, mit deren Hilfe die Aufgabe bearbeitet wird. Dies kann z. B. der Computer als Tool, das gemeinsame Wissen zu repräsentieren, sein. Aber auch andere Artefakte können für die Aufgabe eingesetzt werden. Immaterielle Hilfsmittel sind u. a. das Internet oder Nachschlagewerke; materielle Hilfsmittel können Roboter oder technische Geräte sein. Alle drei Komponenten – Gruppenmitglieder, Aufgabe und Artefakte – nehmen Einfluss auf die gemeinsame Wissenskonstruktion.  Gemeinsame Wissenskonstruktion 15 2.2 Theoretische Verankerung und Ansätze sowie empirische Befunde Im Rahmen der gemeinsamen Wissenskonstruktion gibt es verschiedene relevante Theorien und empirische Befunde, die insbesondere aus der Entwicklungspsychologie, der Sozialpsychologie und der Pädagogischen Psychologie stammen. Diese werden nachfolgend dargelegt. 2.2.1 Gemeinsame Wissenskonstruktion aus Sicht der Entwicklungspsychologie In der Entwicklungspsychologie wird die gemeinsame Wissenskons­ truktion aus einer soziokulturellen und soziogenetischen Sichtweise als Bestandteil des täglichen Lebens betrachtet. Diese beiden Perspektiven sollen hier näher beleuchtet werden. 2.2.1.1 Soziokulturelle Perspektive Im Rahmen der soziokulturellen Perspektive generiert das Individuum in der Interaktion mit anderen und der Umwelt neues Wissen (Vygotsky, 1978). Ursprünglich aus der Beschäftigung mit kindlichen Entwicklungs- prozessen stammend, wird diese Perspektive zunehmend im Rahmen der Forschung zur gemeinsamen Wissenskonstruktion als Referenz her- angezogen (Tudge, 1992). Darin wird angenommen, dass in der Kommu- nikation mit anderen ein Zusammenspiel aus Internalisierung als interne Wissenskonstruktion und Externalisierung als Darlegung dieses Wissens durch die Verwendung von verbalen oder schriftlichen Zeichen als Grund- lage von Wissenskonstruktion stattfindet. So wird die gemeinsame Wis- senskonstruktion als Entwicklung von höheren psychischen Funktionen, wie Gedächtnis, Problemlösen oder Denken, als soziokulturell bedingt und vermittelt betrachtet (Fischer, 2002). Die gemeinsame Verbalisierung von Wissen ist dann von Bedeutung, wenn es um das Verstehen der externalen Welt mit ihren Werkzeugen und Symbolen geht. Über kommunikative Akte werden die Individuen, die in ihrer kognitiven Entwicklung noch nicht aus- reichend fortgeschritten sind, darin unterstützt, ihre Umwelt zu begreifen. Diese Unterstützung ist dann effektiv, wenn sie in der Zone der nächst- höheren Entwicklung („Zone of proximal development“) des Individuums stattfindet (Vygotsky, 1978). Die Zone nächsthöherer Entwicklung wird als Distanz zwischen dem aktuellen Entwicklungsstand eines Individuums und dem Entwicklungsstand, den es durch die Unterstützung eines anderen Individuums erreichen kann, definiert. Um diesen höheren kognitiven Entwicklungszustand zu erreichen, ist Förderung notwendig, die unter anderem durch die gezielte Instruktion eines Erwachsenen erfolgen kann („guided participation“, Rogoff, 1990). 16 Kapitel 2 Studien, in denen die Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden untersucht wird, zeigen, dass sowohl die Lernenden von der Hilfestellung als auch die Lehrenden vom Geben der Hilfestellungen in ihrer kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung positiv unterstützt werden (Rogoff, 2008). 2.2.1.2 Soziogenetische Perspektive Im Rahmen der soziogenetischen Perspektive wird die Wissenskonstruk­ tion als Prozess verstanden, in dem das Individuum seine Erfahrungen aus der Umwelt durch Reflexion, Organisation und Strukturierung verarbeitet. In diesem Zusammenhang stehen zwei Prozesse im Mittelpunkt: die As- similation und die Akkomodation (Piaget, 1932/1986). Die Assimilation umfasst die Aufnahme eines Gegenstands in eine Wissensstruktur, also die Veränderung und Entwicklung kognitiver und affektiver Systeme und Strukturen. Die Akkomodation beschreibt die Anpassung bzw. Adaption einer Wissensstruktur an eine Situation oder an einen Gegenstand. In der Wissenskonstruktion spielt auch hier der soziale Aspekt eine zentrale Rolle, da das Individuum nur dann Wissen konstruiert oder rekonstruiert, wenn es auf unterschiedliche oder neue Auffassungen über einen Sachverhalt stößt. Dies führt zu Störungen (Perturbationen) des kog­nitiven Gleichge- wichts (Äquilibrium). Um dieses Gleichgewicht wieder zu erlangen, hat das Individuum laut Piaget (1932/1986) drei Möglichkeiten: Zum einen kann durch intensive Verarbeitung eine lokale Kohärenz mit verändertem oder vertieftem Verständnis hergestellt werden. Zum Zweiten kann das Individuum die Informationen, die den eigenen Annahmen und Modellen widersprechen, ignorieren. Und zum Dritten ist eine Imitation des anderen Individuums möglich, also die Übernahme der Sicht des anderen ohne weitere kognitive Auseinandersetzung. Gemeinsame Wissenskonstruktion hat gemäß dieser Perspektive also einen inhärent sozialen Ursprung. Die an diese Theorien angelehnte Forschung betont insbesondere den sozio-kog­nitiven Konflikt (Doise & Mugny, 1984): Beim Aufeinandertreffen verschiedener Auffassungen zu einem Thema können die individuellen Wissensstrukturen verändert werden, da die Anregungen aus der Gruppe u. U. die internen kognitiven Strukturen stören (Schnurer, 2005). Um das Äquilibrium wieder herzustellen, muss das Individuum seine internen Strukturen verändern, was zu höheren Denkstrukturen führen kann. Inner- halb einer Gruppe kommt jedoch weniger dem Auftreten sozio-kognitiver Konflikte an sich die größere Bedeutung zu als vielmehr der Form der Kon- fliktlösung. So waren Lösungen, die auf kognitiven Prozessen und nicht auf sozialer Aushandlung basierten, für die Entwicklung der Denkfähigkeit höherer Ordnung und damit für die gemeinsame Wissenskonstruktion am erfolgreichsten (Nastasi & Clements, 1992). Aktuelle Studien zeigen, dass ein sozio-kognitiver Konflikt dann zu positiven kognitiven Lernerfol- gen sowie zu einer kooperativen Beziehungsstruktur in der Gruppe führt,  Gemeinsame Wissenskonstruktion 17 wenn dieser mit epistemischen Elaborationen gelöst wird. Relationale Elaborationen hingegen weisen stärker auf Kompetenzunterschiede hin und führen daher entweder zu Konformität oder zu konkurrenzbetonten Konfrontationen (Buchs, Butera, Mugny & Darnon, 2004). Hilfreich ist auch, wenn das Gruppenklima kooperativ ist und die Mitglieder an komplemen- tären Informationen arbeiten. Für die Gruppe hinderlich sind jedoch ein kompetitives Klima und die Arbeit an identischen Informationen (Buchs & Butera, 2004). Diese beiden entwicklungspsychologischen Perspektiven fundieren die gemeinsame Wissenskonstruktion als generelles sozial-kulturelles Phä- nomen. 2.2.2 Gemeinsame Wissenskonstruktion aus Sicht der Sozialpsychologie Betrachtet man diese Perspektiven in einem engeren sozialpsychologi- schen Zusammenhang, stehen vor allem die Informationsverteilung und das transaktive Gedächtnis im Mittelpunkt der Betrachtung. 2.2.2.1 Informationsverteilung und Informationsverarbeitung Die Verteilung von Wissen und Informationen ist ein inhärentes Merkmal der gemeinsamen Wissenskonstruktion: Jedes Individuum in der Gruppe verfügt über unterschiedliches Wissen, das in Form von Informationen in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess während der Kooperation für die Bearbeitung von Aufgaben eingebracht wird. Informationen, über die nur eine Person verfügt, wird als ungeteilt bezeichnet. Im Gegensatz dazu sind Informationen, auf die mehrere Personen zurückgreifen kön- nen, geteilt. Gemäß dem Information-Pooling-Paradigma von Wittenbaum und Stasser (1996) bzw. dem Collective-Information-Sampling-Modell von Stasser und Titus (1987) bringen Gruppenmitglieder geteilte Infor- mationen oder Ressourcen sehr viel häufiger ein als ungeteilte. Den geteilten Informationen fällt dabei bereits ein rein stochastischer Vorteil zu: Geteilte Informationen können von mehreren Personen genannt und somit für die Aufgabenbearbeitung zur Verfügung gestellt werden. Im Gegensatz dazu kann eine ungeteilte Information lediglich von einer Per- son genannt werden. Ein in diesem Zusammenhang häufig untersuchtes Phänomen ist das „Hidden Profile“. Dieses entsteht dann, wenn für die richtige Lösung einer Aufgabe ungeteilte Informationen unabdingbar sind, also dass sämtliche ungeteilten Informationen in die kooperative Bear- beitung eingebracht und berücksichtigt werden. Damit muss „information pooling“ stattfinden. Sozialpsychologische Studien zum hidden profile untersuchen, welche Wirkmechanismen in dieser Situation stattfinden 18 Kapitel 2 und welche Erklärungsansätze dafür zur Verfügung stehen. Drei Ursachen werden für das Problem des hidden profile, also des Phänomens, dass Gruppenmitglieder einzelne ungeteilte Informationen, die für die Lösung eines Problems benötigt werden, nicht nennen, genannt (Kerschreiter, Mojzisch, Schulz-Hardt, Brodbeck & Frey, 2003; Schulz-Hardt, Brodbeck, Mojzisch, Kerschreiter & Frey, 2006): 1. Aufgrund des oben erläuterten Nennungsvorteils geteilter Informationen findet ein verzerrter Informationsaustausch zwischen den Kooperati- onsteilnehmern statt. 2. Geteilte Informationen weisen häufig einen Akzeptanzvorteil auf, da diese im Gegensatz zu ungeteilten Informationen von den anderen Gruppenmitgliedern validiert werden können, wodurch sie an Glaub- würdigkeit gewinnen. 3. Die dritte Ursache wird präferenzkonsistente Informationsverarbeitung genannt. Das bedeutet, dass die vor der Gruppendiskussion anhand bestimmter Informationen gefällten individuellen Entscheidungspräfe- renzen die spätere Gruppenentscheidung bzw. -lösung maßgeblich beeinflussen (Gigone & Hastie, 1993). Insbesondere die letzte Ursache zur präferenzkonsistenten Informati- onsverarbeitung wurde in aktuelleren Studien bestätigt (Greitemeyer & Schulz-Hardt, 2003; Greitemeyer, Schulz-Hardt & Frey, 2003). In der For- schung zeigt sich auch, dass sich ein Dissens in der Gruppe positiv auf die Lösung des hidden profiles auswirkt (Schulz-Hardt et al., 2006). Bei Entscheidungsfindungsaufgaben zentral wichtig für die Güte der Grup- penperformanz ist die Nennung der ungeteilten Informationen (Winquist & Larson, 1998). Auch der motivationale Aspekt wird zunehmend be- deutsam: So ergaben Untersuchungen, dass Gruppenmitglieder ganz bewusst aussuchen, welche Informationen sie nennen, als auch wie und wem gegenüber sie diese Informationen nennen, um bestimmte Ziele zu erreichen (Wittenbaum, Hollingshead & Botero, 2004). Insgesamt zeigt diese Befundlage, dass Gruppen in ihrer Entscheidungs- findung unterstützt werden müssen, um die Tendenz, dass geteilte Infor- mationen deutlich häufiger genannt werden als ungeteilte, zu verringern. 2.2.2.2 Transaktive Wissenssysteme Eine Möglichkeit, das Nennen von ungeteilten Informationen zu erhö- hen, stellt das transaktive Gedächtnis bzw. transaktive Wissenssysteme (Moreland, 2000) dar. Hierbei handelt es sich um sogenanntes Meta- wissen, also Wissen über das Wissen bzw. die Informationen, über die jedes einzelne Gruppenmitglied verfügt. Voraussetzung ist das Objekt- wissen jeder einzelnen Person, also das individuelle Gedächtnissystem  Gemeinsame Wissenskonstruktion 19 an sich (Wegner, Giuliano & Hertel, 1985). Darüber hinaus sind die In- teraktionsprozesse, die zwischen den Individuen stattfinden, von großer Relevanz (Wegner, 1986). Über solche transaktiven, wissensbezogenen Prozesse zwischen den einzelnen Kooperationspartnern (Brauner, 2003) entsteht Wissen über das Wissen anderer. Dieses Metawissen über das Objektwissen kann sich einerseits auf das eigene Objektwissen, aber auch auf das Objektwissen anderer Personen beziehen. Somit haben die Individuen über dieses transaktive Wissenssystem in der Kooperation nicht nur Zugriff auf die eigenen Gedächtnisinhalte, sondern auch auf die Gedächtnisinhalte ihrer Gruppenmitglieder. Diese können damit als externe Speicher dienen. Transaktive Wissenssysteme entstehen u. a. durch soziale Wahrnehmung und soziale Interaktion: Informationen über eine andere Person werden in einer Situation verbal wie nonverbal aufgenommen, zu einer kognitiven Repräsentation enkodiert, im Gedächtnis gespeichert und bei Bedarf abgerufen. Einen zentralen Bezugspunkt stellt dabei die Kommunikation zwischen den Gruppenmitgliedern dar, die ihre gespeicherten Informa- tionen austauschen und teilen (Hinsz, Tindale & Vollrath, 1997). Für die Entstehung transaktiver Wissenssysteme ist Zeit eine wesentliche Vor- aussetzung. Nur, wenn Gruppenmitglieder über einen länger anhalten- den Zeitraum miteinander interagieren und kooperieren, entsteht bei den Einzelnen Wissen über die Expertise der anderen. So verfügt jeder Facharzt eines interdisziplinären Ärzteteams, das bereits über einen längeren Zeitraum miteinander kooperiert und verschiedene medizinische Fälle diskutiert und gelöst hat, über Metawissen darüber, über welches inhaltliche Spezialwissen die einzelnen Fachärzte verfügen. Durch eine langjährige Kooperation weiß jeder genau, an wen er sich bei welchen Fragestellungen wenden muss, um die notwendigen Informa- tionen und das nötige Wissen zu erhalten. Somit hat sich transaktives Wissen entwickelt. Das transaktive Wissen wirkt sich positiv auf die gemeinsame Wissenskon­ struktion aus. Werden im individuellen Gedächtnis das Objektwissen über Informationen des eigenen Kompetenzbereichs sowie das Metawissen über das Wissen anderer gespeichert, können Gruppenmitglieder Infor- mationen in einer Gruppe schnell lokalisieren und abrufen (vgl. Brauner, 2003; Hollingshead, 1998; Wegner, 1986). Auch zeigen Gruppen, die die Möglichkeit hatten, transaktives Wissen über die Fähigkeiten und Fertigkei- ten anderer Gruppenmitglieder zu erwerben, eine stärkere Spezialisierung, eine schnellere Koordination und mehr Vertrauen in das Fachwissen ihrer Gruppenmitglieder als Gruppen, die kein transaktives Wissen besaßen (Liang, Moreland & Argote, 1995). Gruppenmitglieder, die Kenntnis davon besitzen, wer von ihnen über bestimmte Informationen verfügt, wenden dieses Wissen häufiger bewusst an, um zu einer optimaleren Lösung von 20 Kapitel 2 Problemen zu gelangen. Außerdem zeigen Gruppen, die im transaktiven Gedächtnis trainiert wurden, bessere Leistungen wie Gruppen ohne dieses Wissen (Moreland, 2006). Somit werden mit Hilfe dieses Metawissens die negativen Effekte, die mit der Verteilung von Informationen bzw. Ressour- cen verbunden sind, reduziert. Transaktive Wissenssysteme bergen jedoch auch Gefahren auf der sozio- emotionalen Ebene. So kann es in Gruppen, die seit Langem miteinan- der kooperieren, zu starken Kohäsionskräften kommen. Das bedeutet, dass zugunsten des Gruppenzusammenhalts und der Einhelligkeit der gemeinsamen Meinung Informationen nicht berücksichtigt werden, die für die gemeinsame Lösung von Problemen oder zur Entscheidungsfin- dung von ausschlaggebender Relevanz sind. Janis (1972) spricht hier von Groupthink. Mit diesem Phänomen verbunden ist ein verzerrtes Ent- scheidungsverhalten, Für und Wider von Argumenten können dann in der Gruppe nicht mehr nach objektiven Vernunftkriterien gegeneinander abgewogen werden. Dies tritt nicht nur bei hoch kohäsiven Gruppen auf, sondern auch dann, wenn Gruppen beim Treffen von Entscheidungen bzw. beim Lösen von Aufgaben unter sehr hohem Zeitdruck stehen. Beide sozialpsychologischen Theorien zur gemeinsamen Wissenskons­ truktion beziehen sich vor allem auf den Interaktionsaspekt beim Austausch von Informationen. Das Bereitstellen und gegenseitige Referenzieren auf unterschiedliche Informationen zur gemeinsamen Wissenskonstruktion steht hier im Mittelpunkt des Interesses. Eine weitere Sichtweise stellt die Pädagogische Psychologie zur Verfügung. 2.2.3 Gemeinsame Wissenskonstruktion aus Sicht der Pädagogischen Psychologie Die Pädagogische Psychologie fokussiert vor allem den gemeinsamen und individuellen Wissenserwerb, also kooperatives und individuelles Lernen. Der Fokus liegt dabei auf konkret stattfindenden Prozessen, die durch die Gruppe angeregt und für das Lernen als hilfreich erachtet werden. Zwei wichtige Ansätze sind hier die kognitive Elaboration und die Argumentation. 2.2.3.1 Kognitive Elaboration Grundannahme der kognitiven Elaboration ist es, dass Lernende durch den Aushandlungsprozess in der Gruppe dazu angeregt werden, ihr Wissen stärker zu elaborieren, was zu einer tieferen Integration des neuen Wissens in bestehende Wissensstrukturen und somit zu einem höheren Wissenserwerb führt (Renkl, 1996; Cohen, 1994). Elaborationen umfassen  Gemeinsame Wissenskonstruktion 21 die Anreicherung gegebenen Materials durch zusätzliche Informationen. Deren Bildung oder Konstruktion wird durch andere Gruppenmitglieder gefordert und gefördert, da die Kooperationspartner den jeweils anderen Standpunkt nur dann verstehen können, wenn dieser auch adäquat er- läutert und ergänzt wird. Neben der Bildung von Elaborationen ist auch deren Bewertung zentral, da diese in der Gruppe immer in Relation zu den eigenen Elaborationen ausgewertet werden. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob die eigenen Elaborationen mit den Elaborationen der anderen Gruppenmitglieder übereinstimmen oder konträr sind. Bei un- terschiedlichen Standpunkten findet eine kognitive Auseinandersetzung mit den jeweils anderen Ansichten statt, wenn die neuen Informationen einen hohen Grad an Elaboriertheit aufweisen (Fischer, 2002). Dies führt wiederum zu einer tieferen Verarbeitung des Gesagten. Neben dem Grad an Elaboriertheit ist auch die Qualität der Elaborationen ein Indiz für einen erfolgreichen Wissenserwerb. So konnten Webb und Farivar (1999) in verschiedenen Studien nachwei- sen, dass Kooperationspartner, die elaborierte Erklärungen gaben, einen höheren Wissenserwerb aufwiesen als Kooperationspartner, die gering elaborierte Erklärungen gaben. Von King (1994) werden drei Ebenen zur Erfassung der Qualität von Elaborationen vorgeschlagen: (1) die Ebene der Wissenswiedergabe, bestehend aus einfachen Aussagen mit Fakten oder Informationen, die direkt aus dem Gelernten oder aus dem Vorwissen entlehnt sind; (2) die Ebene der Wissensaneignung, die sich durch Definitionen, Beschreibungen oder Paraphrasierungen des Inhalts in eigenen Worten auszeichnet und (3) die Ebene der Wissensintegration. Darin werden Verbindungen hergestellt, die über das hinausgehen, was gelernt wurde. Beispiele hierfür sind elaborierte Erklärungen, Inferenzen, Verbindungen zwischen Ideen sowie Bewertungen. Studien zeigen, dass durch die Vorgabe von Aufgaben zur Fokussierung elaborativer Aktivitäten während der Kooperation der inhaltliche Wissenserwerb gefördert wurde (Larson et al., 1985). Auch die Studien von Webb zum Geben und Erhalt von Erklärungen bzw. Elaborationen in kooperativen Lernsettings sind in diesem Kontext von Bedeutung (Webb, 1989, 1992, Webb & Farivar, 1999; Webb, Troper & Fall, 1995). Diese zeigen, dass beide Aktivitäten positive Auswirkungen auf den Wissenserwerb haben. Das Geben von Erklärungen ist für das Lernen insofern von Relevanz, als dadurch das eigene Wissen reorganisiert, Wissenslücken ausgefüllt und Inkonsistenzen gelöst werden können (Webb & Farivar, 1999). Dabei reicht sogar die Induktion der Erwartung auf eine spätere Kooperation aus, dass es beim Individuum zu vermehrten Prozessen kognitiver Restrukturierung kommt, ohne dass jedoch die Interaktion selbst stattfindet (King, 1999). Der Erhalt von Erklärungen ist nur dann hilfreich für den Kooperationspartner, wenn die Erläuterungen in hoch elaborierter Form erfolgten und das Dargestellte unmittelbar danach auf ein ähnliches Problem angewendet wird (Webb, 1992; Webb et al., 1995; Webb & Farivar, 1999). 22 Kapitel 2 2.2.3.2 Argumentation Argumentation ist eine Situation, in der verschiedene Argumente, die einen thematischen Bezug zueinander aufweisen, in einem Dialog oder auf textlicher Basis in einem Kooperationsprozess ausgetauscht werden (Baker, 1996). In diesem Prozess findet einerseits der individuelle Prozess des Generierens und Begründens eines Standpunktes mit adäquaten Argumenten statt, und zum anderen der kooperative Prozess des Aus- handelns verschiedener Ansichten und Überzeugungen (Derry, 1999; Leitao, 2000, 2001). Die Bereitstellung von Argumenten für die gemeinsame Wissenskons­ truktion umfasst vor allem Aktivitäten des kritischen Denkens, nämlich die korrekte Bewertung von Aussagen bzw. Argumenten (Astleitner, 1998) sowie das Ziehen von richtigen Schlussfolgerungen (Johnson, 1991) und das Begründen seiner Ansichten (Van Eemeren, Grootendorst & Henke- mans, 1996). Dabei wird nicht nur über das eigene Denken reflektiert, sondern auch über die Beiträge der Kooperationspartner. Damit stellt das kritische Denken die Grundlage für die Interpretation, Bewertung und Rechtfertigung seiner eigenen Überzeugungen und der Ansichten anderer dar. Reflexive bzw. metakognitive Prozesse der Überwachung und Be- wertung eigener Kognitionen (Kuhn, 1991) sind dabei ebenso wichtig wie die Evaluation der Argumente der Kooperationspartner (Astleitner, 1998). Die Argumentation wird als diskursive Situation angesehen, in der unter- schiedliche Standpunkte begründet und alternative Perspektiven erwogen werden, um die Ansicht eines Publikums bzw. der Kooperationspartner zu einem bestimmten Thema zu verändern (Leitao, 2001). Drei Dimen- sionen werden hier als wichtig erachtet: die diskursive/dialogische, die dialektische und die entwicklungspsychologische Dimension von Argu- mentation. Der Dialog zwischen den Kooperationspartnern ist zentrale Voraussetzung dafür, dass ein Gruppenmitglied mit seinen Argumenten die anderen Mitglieder von seiner Meinung überzeugt, indem er seinen Standpunkt rechtfertigt und gegensätzliche Meinungen in Betracht zieht und widerlegt. Die Dialektik besteht darin, dass opponierende Positio- nen dargelegt und begründet werden müssen, um schlussendlich eine einheitliche Sichtweise herzustellen (Baker, 2003). Unter entwicklungs- psychologischen Gesichtspunkten wird durch die Argumentation ein ko- gnitiver Entwicklungsprozess in Gang gesetzt, der eine Veränderung von Ansichten zur Folge hat. Studien zum Argumentieren untersuchen vor allem, inwiefern Individuen überhaupt argumentieren und wie Argumentation im Alltag stattfindet (Kuhn, 1991; Leitao, 2000). Im Kontext gemeinsamer Wissenskonstruk- tion stellt die Transaktivität einen wesentlichen Faktor für einen verbes- serten Lernerfolg dar (Teasley, 1997). Transaktiv bedeutet dabei, dass der Standpunkt oder die Schlussfolgerung eines Diskussionspartners  Gemeinsame Wissenskonstruktion 23 erweitert, paraphrasiert, redefiniert, vervollständigt oder kritisiert wird. Ein hohes Maß an Transaktivität, also an gegenseitiger Bezugnahme auf die vorangegangene Aussage, ergab bei Dyaden einen höheren Lernerfolg als ein geringes Maß an Transaktivität (Teasley, 1997). In beiden Perspektiven der Pädagogischen Psychologie zur gemeinsamen Wissenskonstruktion geht es um einen verbesserten Wissenserwerb. Grundannahme ist, dass durch das kooperative Setting beim Individuum Lernprozesse angeregt werden, die im individuellen Kontext nicht statt- finden würden. 2.3 Unterstützungsmaßnahmen bei der gemeinsamen Wissenskonstruktion Aus der Darstellung obiger Theorien und empirischer Befunde wird deut- lich, dass gemeinsame Wissenskonstruktion nicht automatisch stattfindet, sondern bestimmten Bedingungsfaktoren unterworfen ist. Um solche Faktoren bereitzustellen, wird gemeinsame Wissenskonstruktion häufig unterstützt. Ein zentrales übergeordnetes Konzept der Unterstützung lautet in diesem Zusammenhang Scaffolding (Belland, Kim & Hannafin, 2013; Fischer, Kollar, Mandl & Haake, 2007). Auf der soziokulturellen Perspektive der Zone der nächsthöheren Entwicklung basierend sind Scaffolds „tools, strategies, and guides used by human and computer tutors, teachers, and animated pedagogical agents during learning to enable them to develop understandings beyond their immediate grasp“ (Azevedo & Hadwin, 2005, S. 368). Scaffolds umfassen damit sämtliche Unterstützungsmaßnahmen zur Wissenskonstruktion. Dies erfolgt meist über einen kompetenteren Erwachsenen, Lehrer, Tutor oder Peer. Damit der Lernende gemeinsam mit einer ihn unterstützenden Person Wissen konstruiert, sind insbesondere vier zentrale Elemente notwendig: (1) Das Festlegen eines gemeinsamen Ziels zur Bewältigung einer Aufgabe, (2) die ständige Evaluation des Lernfortschritts und darauf abgestimmte adaptive Unterstützung, (3) Kommunikation und Interaktion zwischen Lernendem und Unterstützendem, sowie (4) das langsame Ausblenden (Fading) der Unterstützung bei Zunahme an Kompetenz. Während Scaffolding sehr stark auf die stetige und ständige Interaktion zwischen Lernendem und Lehrer ausgerichtet ist und dadurch einen sehr adaptiven Charakter hat, kann Unterstützung auch in Form von vorher festgelegten Strukturierun- gen erfolgen, wie u. a. in Ablaufstrukturen oder grafischen Strukturen wie Tabellen. In diesen Vorgaben kann sowohl der soziale Aspekt der gemein- samen Wissenskonstruktion in Gruppen als auch der inhaltliche Aspekt fokussiert werden. Dem sozialen Aspekt wird durch Skripts Rechnung getragen, dem inhaltlichen durch Schemata. Diese beiden Ansätze finden zunehmend in der Forschung zum com- puter-supported collaborative learning, kurz CSCL, Anwendung. Com- 24 Kapitel 2 puterbasierte Lernumgebungen bieten sich durch ihre verschiedenen Möglichkeiten der Kommunikation geradezu an, gemeinsam Wissen zu konstruieren. Dabei wird zwischen synchronen und asynchronen Sze- narien unterschieden. Während in synchronen Szenarien die Gruppen- mitglieder zeitgleich miteinander kooperieren – entweder mit Hilfe einer Videokonferenz, einer Chat-Funktion oder computerbasierter Telefonkon- ferenz, wird in asynchronen Szenarien zeitversetzt häufig mit Hilfe von Kommunikationsforen agiert. Um die beiden Strukturierungsmaßnahmen zur Unterstützung der gemein- samen Wissenskonstruktion zu illustrieren, sollen nachfolgend die beiden Ansätze kurz erläutert werden, in ihrer ursprünglichen Anwendung darge- legt und dann auf computerbasierte Lernszenarien übertragen werden. 2.3.1 Skripts Die Bezeichnung Skripts wurde aus der Kognitiven Psychologie entlehnt und bezeichnet ursprünglich individuelle, relativ statische Gedächtnis- strukturen (Schank & Abelson, 1977). Im pädagogischen Kontext von Unterstützungsmaßnahmen wurde dieser Begriff in seiner Bedeutung etwas verändert. Hier zeichnen sich Skripts durch einen dynamischen Charakter aus und schreiben stets einen bestimmten Prozess oder Ab- lauf eines Ereignisses fest (Dansereau, 1995). Die Ereignisabfolgen sind in der jeweiligen Situation, in der diese aktiviert werden, relativ streng vorgegeben (Kollar, Fischer & Hesse, 2006) und dynamisch aufeinander bezogen. So werden Skripts häufig als Strategien vorgegeben, wie die gemeinsame Wissenskonstruktion stattzufinden hat. In diesem Zusammenhang ist der Scripted-Cooperation-Ansatz von Be- deutung. Dieser wurde im Zusammenhang mit einem besseren Text- verständnis für kooperative Lernszenarien entwickelt (O’Donnell, 1999; O’Donnell & Dansereau, 1992). Im Fokus dieses Ansatzes stehen die Ver- teilung alternierender Rollen, nämlich die des „Listeners“ und „Recallers“ sowie die Übernahme spezifischer Aufgaben zur Förderung kognitiver Prozesse. Diese umfassen vier Aktivitäten: reading, recalling, listening, und elaborating. Zunächst lesen beide Lernende einen Textabschnitt durch (reading). Dann beginnt einer der beiden, diesen Textabschnitt zusammenzufassen ohne die Unterlagen zu verwenden (recalling). Sein Lernpartner hört ihm aufmerksam zu und versucht, Fehler oder Unvollstän- digkeiten zu entdecken sowie Unklarheiten zu beseitigen (listening). Auch dieser darf für diese Aufgabe nur auf die Textinhalte zurückgreifen, an die er sich ohne den Text erinnern kann. Im nächsten Schritt elaborieren die Lernenden gemeinsam den Textinhalt, um ihn besser mit dem Vorwissen zu verknüpfen und damit im Gedächtnis zu verankern (elaborating). Dieser Zyklus wird nun für die nächsten Textabschnitte mit alternierenden Rollen erneut durchlaufen.  Gemeinsame Wissenskonstruktion 25 Studien zu dieser Lehr-Lern-Form umfassten den Vergleich von koopera- tivem Lernen mit und ohne Skript, die Gestaltung effektiver Skripts, den Einfluss von Aufgabentypen und interindividuellen Unterschieden sowie die kognitiven und emotionalen Lernerfolge (O’Donnell, 1999). Insgesamt zeigten sich positive Effekte dieser Methode auf kognitive Aktivitäten, wie Erklären oder Elaborieren, auf den Wissenserwerb und auf Emotionen, wie die Verringerung von Angst (O’Donnell, 1999; O’Donnell & Dansereau, 1992). In computerbasierten Lernumgebungen wurden Skripts eingesetzt, um die Kooperation in Phasen zu untergliedern, die mit unterschiedlichen Aufgaben für die Lernenden spezifiziert werden. In diesen Untersuchungen zeigten sich positive Effekte auf die gemeinsame Wissenskonstruktion, insbesondere auf den Austausch von inhaltsbezogenen Informationen, die zur Aufgabenbearbeitung notwendig waren (Reiserer, 2002), auf epi- stemische Aktivitäten (Weinberger, 2003) oder auf das Begründen von Argumenten (Kopp & Mandl, 2011a). Auch auf den Lernerfolg hat der Ein- satz von Skripts überwiegend positive Wirkungen (Kopp & Mandl, 2011b). 2.3.2 Schemata Mit Schemata wird die gemeinsame Wissenskonstruktion inhaltlich un- terstützt. Dies bedeutet, dass auf einer Metaebene sämtliche wichtigen Komponenten des Inhalts als auch deren Zusammenhänge in bildlicher oder grafischer Form veranschaulicht werden (Lambiotte, Skaggs & Dansereau, 1993), z. B. in Form einer Tabelle. Die Lernenden sind nur dann in der Lage, den relevanten Einzelaspekten eines Schemas eine relevante Bedeutung zuzusprechen, wenn diese einfach zu erfassen und ihre Rela- tionen untereinander ersichtlich sind. Mit dieser Metastruktur eröffnet ein Schema den Lernenden die nötigen Leerstellen, die sie beim Verstehen von Handlungen, Situationen, Texten oder Inhaltsgebieten benötigen. Wissensschemata wurden bislang vor allem beim Verbessern des indi- viduellen Lernens in Form von Tabellen eingesetzt. So ergab das Trai- ning eines tabellarischen Wissensschemas zum besseren Textversehen namens „DICEOX“ von Brooks und Dansereau (1983) einen erhöhten Lernerfolg sowie eine bessere freie Reproduktion im Vergleich zu anderen Unterstützungsmaßnahmen. Auch in computerbasierten Lernumgebungen werden Schemata in Form von Tabellen eingesetzt, die eine Metastruktur mit den relevanten Aspekten der Aufgabenbearbeitung vorgeben (Brooks & Dansereau, 1983) und zugleich die Zusammenhänge zwischen den individuellen Inhaltskom- ponenten darlegen. Dadurch werden spezifische Aspekte der Aufgaben- bearbeitung für die Lernenden salient (Suthers, 2003). Studien zeigen die positiven Wirkungen von Wissensschemata auf die gemeinsame 26 Kapitel 2 Wissenskonstruktion: Lernende mit Schema tauschen mehr Informationen und häufiger relevante Informationen aus (Reiserer, Ertl & Mandl, 2002; Weinberger, Stegmann, Fischer & Mandl, 2007), begründen ihre Argu- mente häufiger (Kopp & Mandl, 2011a) und haben einen verbesserten Lernerfolg (Kopp & Mandl, 2011b). Die Forschung zur Strukturierung der gemeinsamen Wissenskonstruktion zeigt insgesamt sehr positive Ergebnisse. Diese sind umso wichtiger, weil diese Form der Unterstützung unmittelbar in die Lernumgebungen inte- griert werden kann, so dass die Lernenden vorab weder trainiert werden noch ein Tutor persönlich anwesend sein muss. 2.4 Forschungsperspektive für die Zukunft Die Darstellung der verschiedenen Forschungsrichtungen zeigt vor allem eines: Gemeinsame Wissenskonstruktion ist ein wichtiges und zentrales Thema, dennoch findet keine Integration der unterschiedlichen Ansätze zu einem kohärenten Ganzen statt. Vielmehr werden in Theorie und Empirie immer nur spezifische Phänomene und Einzelaspekte herausgegriffen, die näher betrachtet werden. Eine zentrale Forschungsperspektive für die Zukunft wäre daher, die unterschiedlichen Forschungsrichtungen aufei- nander zu beziehen, um ein gesamtes integratives Forschungsgerüst zu etablieren. Letztendlich wäre eine Berücksichtigung aller Perspektiven möglich: Zunächst ist die Verbalisierung von Wissen zentrale Grundlage für eine gemeinsame Wissenskonstruktion. Findet diese bei Vygotsky (1978) zunächst vor allem zwischen Eltern und Kindern statt, weitet sich dieser Diskurs bei Piaget (1932/1986) auf die Peers aus, bei denen im Aushandeln verschiedener Positionen sozio-kognitive Konflikte entstehen, die es zu bewältigen gilt. Beim Abwägen verschiedener Informationen, sind Informationsverarbeitungsprozesse nötig (Stasser & Titus, 1987; Wittenbaum & Stasser, 1996). In solchen Diskussionen wird einerseits die eigene Position elaboriert (kognitive Elaboration; Webb & Farivar, 1999), aber auch argumentativ dargelegt (Baker, 1996; Derry, 1999; Leitao, 2000, 2001). Schlussendlich münden diese Aushandlungsprozesse in transaktive Wissenssysteme (Moreland, 2000), in denen die einzelnen Gruppenmitglieder genau darüber Bescheid wissen, über welches Wissen ihre Kollegen verfügen. Mit diesen Ansätzen wird auch der Weitergabe von Wissen von Erwach- senen an Kinder in Familie und Schule bzw. der Weitergabe von Exper- tenwissen zwischen Mitarbeitern in Unternehmen oder in Hochschule, Aus- und Weiterbildung Rechnung getragen. Denn: Gemeinsame Wis- senskonstruktion bzw. die Weitergabe von Informationen findet in der beschriebenen Form laufend statt. Durch aktiven Austausch, Diskussi- on und Aushandlung von Informationen, Wissen oder unterschiedlichen  Gemeinsame Wissenskonstruktion 27 Positionen wird neues Wissen generiert und konstruiert. Diesem kommt auch im unternehmerischen Wissensmanagement eine große Rolle zu (Dalkir, 2011). In diesem Forschungsgerüst dürfen neben den kognitiven Aspekten ge- meinsamer Wissenskonstruktion die emotionalen Aspekte, wie Freund- schaft und soziale Kohäsion oder Zusammenhalt, nicht fehlen. Diese werden in der aktuellen Forschung viel zu wenig berücksichtigt, spielen aber in der Realität eine große Rolle, wenn es um die Nachhaltigkeit ge- meinsamer Wissenskonstruktion geht. Schließlich werden nur die Grup- penmitglieder weiterhin miteinander kooperieren, die sich gegenseitig sympathisch finden. Auch die Kommunikationsforschung wird nur in geringem Ausmaß in den Kontext gemeinsamer Wissenskonstruktion einbezogen. In den einschlä- gigen Modellen zur Kommunikation geht es um vier Aspekte, nämlich um den Sachinhalt, die Selbstoffenbarung, den Beziehungsaspekt und den Appell (Schulz von Thun, 1981; Watzlawick, Beavin & Jackson, 1996). Die Theorien zur gemeinsamen Wissenskonstruktion fokussieren vor allem auf den Sachinhalt. Selbstoffenbarung, Beziehungsaspekt und Appell bleiben darin weitgehend ausgeschlossen. Gemeinsame Wissenskonstruktion findet laufend statt. Umso wichtiger ist es letztendlich, die hier vorgestellten verschiedenen Perspektiven unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zu betrachten, da sämtliche theore- tischen Ansätze ihre Berechtigung bei der Erklärung dieses komplexen Prozesses haben. Dabei gilt es vor allem, die sozial-emotionalen Kom- ponenten in zukünftiger Forschung stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Reflexionsaufgaben 1. Unterscheiden Sie zwischen geteilten und ungeteilten Informationen. Welche Probleme bringt diese Aufteilung mit sich? 2. Unterscheiden Sie zwischen synchronen und asynchronen Szenarien bei computerbasierten Lernumgebungen. Lösungshinweise finden Sie auf Seite 130 Kapitel 3 Sozial geteilte Realität: Wie wir uns in der Interaktion mit unseren Mitmenschen unsere Welt erschaffen Cecily French, René Kopietz, Friederike Bornträger und Christoph Burkhardt Inhaltsübersicht 3 Sozial geteilte Realität: Wie wir uns in der Interaktion mit unseren Mitmenschen unsere Welt erschaffen 30 3.1 Das menschliche Streben nach sozialer Geteiltheit 30 3.2 Die Theorie der sozial geteilten Realität 32 3.2.1 Ideengeschichtliche Grundlagen 32 3.2.2 Was ist sozial geteilte Realität? Zentrale Begriffe 35 3.2.3 Warum streben wir nach sozialer Geteiltheit? Motivationale Grundlagen 36 3.2.4 Wann entsteht sozial geteilte Realität? Notwendige Voraussetzungen 38 3.2.5 Wie entsteht sozial geteilte Realität? Mögliche Entstehungsverläufe 39 3.3 Aktueller Forschungsstand 40 3.3.1 Das Saying-is-believing-Paradigma 40 3.3.2 Epistemische Motivation als Ursache sozialer Realitätsbildung 43 3.3.3 Beziehung als Einflussfaktor sozialer Realitätsbildung 45 3.3.4 Folgen sozialer Realitätsbildung außerhalb des Labors 47 3.4 Zukünftige Forschungsperspektiven 51 Reflexionsaufgaben 53 30 Kapitel 3 3 Sozial geteilte Realität: Wie wir uns in der Interaktion mit unseren Mitmenschen unsere Welt erschaffen 3.1 Das menschliche Streben nach sozialer Geteiltheit Menschen sind soziale Tiere. Seit über 250 000 Jahren leben wir in über- schaubaren Gruppen von Artgenossen, die wir persönlich kennen, mit de- nen wir bedeutsame soziale Beziehungen unterhalten und denen wir heute im Zweifel auch Weihnachtskarten schicken (Hill & Dunbar, 2003). Von un- seren ersten Lebensmonaten an, in denen wir ohne die Fürsorge anderer nicht überleben könnten, sind soziale Gefüge ein zentraler Bestandteil un- serer Art zu leben. Auf affektiver Ebene leistet soziale Nähe einen wichtigen Beitrag zu unserem individuellen Wohlbefinden (Baumeister & Leary, 1995; Gruter & Masters, 1986; Williams & Sommer, 1997). Auf kognitiver Ebene nimmt die soziale Interaktion mit anderen Personen wesentlich Einfluss darauf, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, interpretieren und bewerten. Bereits mit 9 Monaten richten wir unsere Aufmerksamkeit auf Dinge, die relevante Personen in unserem Umfeld beachten (Tomasello, Carpenter, Call, Behne & Moll, 2005). Mit 12 Monaten deuten wir auf Objekte, die uns gerade faszinieren, und sind erst dann zufrieden, wenn andere auch Interesse an ihnen bekunden (Liszkowski, Carpenter, Henning, Striano & Tomasello, 2004). Als Teenager oder Erwachsene erzählen wir unseren Freunden von Ideen, Konzerten oder den neuesten Filmen, die uns gerade begeistern und reagieren mitunter ziemlich empfindlich, wenn sie unsere Begeisterung nicht teilen. Wir schildern einander beim Mittagessen in der Kantine die neuesten Geschichten aus der Abteilung und bilden uns gemeinsam im Austausch miteinander eine Meinung über sie. Wir teilen unsere Urlaubsfotos und Ansichten auf Facebook oder Twitter und freuen uns über Lesende und Likes. Von früh an sind soziale Interaktionen eng mit unserer Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung unserer Umwelt verwoben. Vom Kleinkind, das auf den bunten Luftballon am Himmel zeigt, bis hin zu unserer Nutzung von sozialen Netzwerken im Internet – wir alle wollen unsere Sicht der Welt mit anderen teilen. Dieses menschliche Bedürfnis nach einer sozial geteilten Sicht der Welt bildet den zentralen Ausgangspunkt der Theorie der sozial geteilten Re- alität (Hardin & Higgins, 1996). Seit nunmehr drei Dekaden bietet die Theorie einen Rahmen, um die Voraussetzungen, Prozesse sowie Folgen des sozialen Teilens zu untersuchen. Im Zentrum steht hierbei folgende Annahme: Wenn andere unsere Sicht der Welt teilen, entsteht eine sozial geteilte Realität, die unsere individuelle Wahrnehmung und Interpretation richtig und zuverlässig erscheinen lässt. Das Erleben sozialer Geteiltheit formt die Entstehung und Aufrechterhaltung unseres Verständnisses von Wirklichkeit. Empirische Belege dafür, wie wichtig soziale Geteiltheit für uns und unsere individuelle Sicht der Welt ist, entstammen unterschiedlichen Sozial geteilte Realität 31 Forschungsrichtungen und reichen von klassischen Studien zu sozialem Einfluss (Asch, 1951; Sherif, 1935, 1936) über Gruppenentscheidungs­ prozesse (Stasser & Titus, 1985; vgl. auch Faulmüller, Mojzisch, Kerschreiter & Schulz-Hardt, 2012; Mojzisch, Schulz-Hardt, Kerschreiter, Brodbeck & Frey, 2008) bis hin zu neueren Hinweisen darauf, dass das Bedürfnis nach sozialer Geteiltheit einen wesentlichen Einflussfaktor der Nutzung von sozialen Netzwerken im Internet bildet (French, Zech, Quinten & Kerschreiter, 2015; Knausenberger, Hellmann & Echterhoff, 2014). Aber auch auf Makroebene der Evolution von Menschen und nicht mensch- lichen Primaten kommt unserem Bedürfnis nach sozialer Geteiltheit eine besondere Bedeutung zu. Vergleicht man uns Menschen mit unseren nächsten evolutionären Verwandten, den großen (nicht menschlichen) Menschenaffen, so finden sich zunächst viele Gemeinsamkeiten: Wie wir leben auch sie in einer Welt der permanenten Objekte und sozialen Beziehungen und verstehen, was andere wahrnehmen (für einen Überblick vgl. Tomasello & Herrmann, 2010). Sie antizipieren zukünftige Ereignisse (Mulcahy & Call, 2006), zeigen schlussfolgerndes Denken (Call, 2004) und nutzen Beobachtungen des Verhaltens anderer, um Probleme zu lösen (Buttelmann, Carpenter, Call & Tomasello, 2007). Sie interagieren auf vielfältige, komplexe Art und Weise (für einen Überblick vgl. Tomasello et al., 2005) und setzen Gesten flexibel ein, um sich auszudrücken. In Gefangenschaft lebende Schimpansen deuten beispielsweise auf Aspekte ihrer Umwelt, um Präferenzen zu indizieren (Leavens, Russell & Hopkins, 2005) und um zu kommunizieren, wo erwünschte Objekte versteckt liegen (Menzel, 1999) oder wo die zum Erreichen dieser Objekte benötigten Werkzeuge zu finden sind (Call & Tomasello, 1994). Bei all diesen Gemein- samkeiten zwischen menschlichen und nicht menschlichen Primaten weist aber gerade der Einsatz von Gestik auch auf einen wichtigen Unterschied hin. Während Schimpansen (ebenso wie Menschen) Gestik nutzen, um andere zu erwünschtem Verhalten zu bewegen, gehen menschliche Klein- kinder noch einen Schritt weiter: Sie deuten auch dann auf Aspekte ihrer Umwelt, wenn das Deuten ausschließlich dazu dient, anderen zu zeigen, was sie gerade beschäftigt (Tomasello, Carpenter, Lizkowski & Liszkowski, 2007). In diesem Versuch, die eigene Sicht der Welt mit anderen zu teilen, zeigt sich schon früh ein deklaratives Motiv, das bisher nur am Menschen beobachtet wurde. Es befördert die Entstehung und Aufrechterhaltung kollaborativer Aktivitäten mit geteiltem Aufmerksamkeitsfokus und mag hierüber vermittelt einen zentralen Beitrag zur Entwicklung menschlicher Symbolsprache, sozialer Normen und menschlicher Kultur geleistet haben (Tomasello et al., 2005). Das Streben nach einer sozial geteilten Sicht der Welt ist also eine spe- zifisch menschliche Besonderheit, die sowohl auf Individualebene unse- res täglichen Lebens als auch evolutionspsychologisch betrachtet eine 32 Kapitel 3 wichtige Rolle spielt. Dennoch blieb eine dezidierte Untersuchung der Fragen, warum, wie und mit welchen Konsequenzen wir soziale Geteiltheit anstreben und herstellen, lange aus. Ihr widmet sich die Theoriebildung und empirische Forschung zum Phänomen der sozial geteilten Realität. 3.2 Die Theorie der sozial geteilten Realität Die Theorie der sozial geteilten Realität ist eine relativ junge Theorie. Erst 1996 erarbeiteten Curtis Hardin und Tory Higgins eine erste umfangreiche Analyse bisheriger Erkenntnisse zur sozialen Realitätsbildung und leiteten hieraus die grundlegenden theoretischen Postulate der shared reality theory ab (vgl. Hardin & Higgins, 1996). Den zentralen Ausgangspunkt dieser Postulate bildet die Annahme, dass unsere Sicht der Welt kein eindeutiges Abbild einer objektiven Realität darstellt, sondern stark von sozialen Prozessen beeinflusst wird. Diese Idee war natürlich auch schon 1996 keineswegs neu. Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Psycho- logie haben zahlreiche theoretische und empirische Arbeiten die soziale Basis des menschlichen Verständnisses von Wirklichkeit erforscht. Im Folgenden werden wir zunächst kurz einige sozialpsychologische Kon- zepte skizzieren, denen eine wichtige Rolle in der ideengeschichtlichen Entwicklung der Theorie der sozial geteilten Realität zukommt. Dann wer- den wir die theoretischen Grundannahmen der Theorie der sozial geteilten Realität vorstellen und hierbei insbesondere auf motivationale Grundla- gen, notwendige Voraussetzungen und mögliche Entstehungsformen sozial geteilter Realität eingehen. Letztlich werden wir anhand zentraler Paradigmen, Studien und Ergebnisse einen Einblick in den aktuellen For- schungsstand zur Theorie der sozial geteilten Realität geben und neuere Forschungsströme und zukünftige Forschungsperspektiven skizzieren. 3.2.1 Ideengeschichtliche Grundlagen In der Theorie der sozial geteilten Realität wird postuliert, dass unsere Sicht der Wirklichkeit maßgeblich von sozialen Prozessen beeinflusst wird. Diese Idee ist weder neu noch spezifisch sozialpsychologisch. Das Feld der theoretischen und empirischen Arbeiten zur sozialen Basis unseres Verständnisses von Wirklichkeit umfasst eine Vielzahl an unterschiedlichen Disziplinen und Fachbereichen (u. a. Kognitive Psychologie, Soziologie, Psycholinguistik, Entwicklungspsychologie, Kognitive Neurowissenschaf- ten, Biologie und Philosophie; einen Überblick bietet Echterhoff, 2012). Zahlreiche dieser Arbeiten haben Eingang in die Entwicklung der Theorie der sozial geteilten Realität gefunden. Innerhalb der Sozialpsychologie bildet das Konzept der „directive states“ (Bruner & Postman, 1949) einen der wichtigsten Vorläufer der Theorie der Sozial geteilte Realität 33 sozial geteilten Realität. Bis zu seiner Einführung Mitte des 20. Jahrhun- derts folgte das dominante Verständnis von Wahrnehmung einem eher positivistischen Ansatz. Wahrnehmung galt als das mit Hilfe von Sinnes- organen entstandene, weitgehend eindeutige Abbild objektiv gegebener Stimuli. Der „new look in perception“ hingegen postulierte erstmals einen direkten Einfluss intrapersonaler Faktoren (sogenannter „central directive states“, auf Deutsch etwa aufmerksamkeitslenkende Zustände) auf die menschliche Wahrnehmung (Bruner & Postman, 1949). Zahlreiche empi- rische Studien boten Belege dafür, dass nicht nur die Beschaffenheit der wahrgenommenen Stimuli, sondern auch körperliche Bedürfnisse (Levine, Chein & Murphy, 1942), assoziierte Belohnung und Bestrafung (Proshans- ky & Murphy, 1942) und individuelle Werthaltungen (Postman, Bruner & McGinnies, 1948) aufseiten der wahrnehmenden Person die menschliche Wahrnehmung beeinflussen. Mit diesen Erkenntnissen fanden erstmals variable innere Zustände einen Platz in der Beschreibung unserer Wahr- nehmung und Interpretation der uns umgebenden Welt. Die menschliche Sicht von Wirklichkeit galt nicht mehr nur als direktes, objektives Abbild vorhandener Gegebenheiten, sondern auch als das Produkt der inneren Zustände des Wahrnehmenden. Bedürfnisse und Motive beeinflussen, wie wir die Welt sehen. Einen weiteren wichtigen Meilenstein der Theorie der sozialen Realitätsbil- dung bildet die ebenfalls von Jerome Bruner Mitte des vergangen Jahrhun- derts entwickelte Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung (Bruner, 1957). Ihr zufolge basiert die menschliche Wahrnehmung auf einem mehr- stufigen Prozess, innerhalb dessen eine individuelle Erwartungshypothese bezüglich der Beschaffenheit der umgebenden Welt mit den aktuell einge- henden Reizinformationen verglichen und dann entweder bestätigt oder angepasst wird. Ob eine Hypothese bestätigt oder angepasst wird, hängt (vermittelt über die Hypothesenstärke) von verschiedenen Einflussfaktoren ab; so zum Beispiel von der Häufigkeit früherer Bestätigungen und der Anzahl möglicher Alternativhypothesen, aber auch von dem Ausmaß ihrer sozialen Verankerung. Je stärker eine Hypothese ist, desto wahrschein- licher wird sie aktiviert und desto weniger unterstützende Informationen werden zu ihrer Bestätigung benötigt (Allport, 1955). Je schwächer eine Hypothese, desto mehr unterstützende Informationen sind notwendig, um sie zu bestätigen (Blake & Vanderplas, 1950). Ist wenig Reizinformation gegeben, so wird auch der soziale Konsens mit anderen Personen zur Bestätigung einer Hypothese herangezogen (Allport, 1955; Sherif, 1935, 1936). Mit dieser Berücksichtigung individueller Erwartungshypothesen finden erstmals auch kognitive Annahmen und deren soziale Verankerung einen Platz in der Beschreibung unserer Wahrnehmung und Interpretation von Wirklichkeit. Die menschliche Sicht der Wirklichkeit wird nicht mehr nur von motivationalen Zuständen und körperlichen Bedürfnissen geprägt. Auch Erwartungen und deren soziale Verankerung beeinflussen, wie wir die Welt sehen. 34 Kapitel 3 Einen dritten zentralen Meilenstein in der Ideengeschichte der Theorie der sozialen Realitätsbildung bildet schließlich die Theorie des sozialen Vergleichs (Festinger, 1950, 1954). Ihr zufolge nutzen Menschen sozia- le Vergleiche mit anderen Personen, um ihre eigenen Fähigkeiten und Ansichten zu evaluieren und sich selbst und die umgebende Welt zu interpretieren. Dabei sind soziale Vergleiche insbesondere dann relevant, wenn es für unsere Handlungen wichtig ist, uns selbst und die gegebene Situation zutreffend einzuschätzen. Dies ist zum Beispiel der Fall bei der Auswahl von zu lösenden Aufgaben (Jones & Regan, 1974) und wenn uns andere, objektiv erscheinende Maßstäbe fehlen: „where the dependence upon physical reality is low the dependence upon social reality is corres- pondingly high“ (Festinger, 1950, S. 272). Ein klassisches experimentelles Beispiel dafür, wie der Vergleich mit Ansichten anderer unsere Sicht der Welt formen, bieten Sherifs Studien zum autokinetischen Effekt (Sherif, 1935; Sherif, 1936): Betrachtet man einen statischen Lichtpunkt in einer ansonsten abgedunkelten Umgebung, so scheint er sich (infolge unwill- kürlicher sakkadischer Augenbewegungen) zu bewegen. Bittet man nun Gruppen, die Bewegung dieses Lichtpunktes zu beschreiben, so zeigt sich, dass die Urteile der einzelnen Gruppenmitglieder schnell in Rich- tung einer einheitlichen Gruppennorm konvergieren (wobei die jeweilige Gruppennorm von Gruppe zu Gruppe stark variiert). Die Ansichten der anderen Gruppenmitglieder beeinflussen die individuelle Wahrnehmung von Bewegung unabhängig von deren tatsächlicher Natur – soziale Ge- teiltheit schafft wahrgenommene Realität. Diese sozial geschaffene Sicht der Realität ist sogar so stark, dass Probandeninnen und Probanden in diesen Studien auch nach Aufklärung darüber, dass der Punkt sich nicht bewegte, fest davon überzeugt waren, dass er es tat. Ideengeschichtlich betrachtet findet hier erstmals auch der direkte soziale Vergleich mit den Ansichten anderer Eingang in die Beschreibung dessen, wie wir zu unse- rem Verständnis der Welt gelangen. Unsere Sicht der Wirklichkeit wird nicht mehr nur von Motiven und Erwartungen beeinflusst, sondern ist vielmehr das Ergebnis eines epistemisch, also von dem Streben nach Erkenntnis, motivierten Prozesses der Wirklichkeitskonstruktion unter Zuhilfenahme der Fähigkeiten und Ansichten anderer. Die hier skizzierte Veränderung im Verständnis der menschlichen Sicht von Wirklichkeit – von einem weitgehend eindeutigen Abbild objektiver Realität zu einer von Bedürfnissen und Motiven geformten und von sozi- alen Vergleichen geleiteten individuellen Konstruktion – wurde Ende des vergangenen Jahrhunderts in der Theorie der sozial geteilten Realität aufgegriffen und weitergedacht. Während frühere Theorien annahmen, dass soziale Faktoren vor allem in der Wahrnehmung und Interpretation uneindeutiger Reizinformationen relevant sind (Festinger, 1950), postuliert die Theorie der sozial geteilten Realität in ihrer ursprünglichen Fassung (Hardin & Higgins, 1996), dass jede individuelle Erfahrung von sozialer Geteiltheit geformt und aufrechterhalten wird. Aktuell zeigt die empirische Forschung wieder in die andere Richtung: Soziale Geteiltheit scheint für Sozial geteilte Realität 35 unsere Sicht der Welt vor allem dann relevant zu sein, wenn der betreffende Aspekt der Welt nicht eindeutig definiert ist (Echterhoff, Higgins & Levine, 2009). So lassen wir uns zwar von anderen in unserer Bewertung eines Ereignisses beeinflussen, aber wir benötigen niemanden, der bzw. die uns sagt, dass die Sonne scheint. Bewegt sich das Verständnis sozialer Realitätsbildung damit wieder weg von einer radikal konstruktivistischen Perspektive hin zu Festingers Annahme eines indirekten Zusammenhangs zwischen der Relevanz physischer und sozialer Faktoren? Möglicherweise scheint der Widerspruch zwischen diesen beiden Pers- pektiven größer als er ist. Die wahrgenommene Eindeutigkeit eines Stimu- lus muss nicht unbedingt als Merkmal des Stimulus verstanden werden. Sie zeigt auch an, wie ausdifferenziert und wie (intra- und interindividuell) stabil die kognitiven Kategorien und Schemata sind, die zur Einordnung des Stimulus herangezogen werden können. Sähen wir die Sonne heute zum ersten Mal, und behaupteten alle anderen, da sei nichts – wie sicher wären wir uns unserer Wahrnehmung? Aus dieser Perspektive betrachtet ist das, was wir als objektiv gegebene eindeutige Reizinformation ansehen, vielleicht nur eine stabile, lang etablierte und sozial stark geteilte Reprä- sentation von Wirklichkeit. Die Annahme eines Unterschieds zwischen sozialer und physischer Welt bietet (unabhängig von der Frage seiner Existenz) dann wenig pragmatischen Mehrwert (Hardin & Higgins, 1996). 3.2.2 Was ist sozial geteilte Realität? Zentrale Begriffe Seit Hardin und Higgins 1996 den Grundstein der Theorie der sozial geteil- ten Realität legten, hat die Frage, wie unsere Sicht der Wirklichkeit entsteht und aufrechterhalten wird, innerhalb der empirischen Sozialpsychologie stark an Beachtung gewonnen. Der Großteil aller experimentellen Studien zur sozialen Realitätsbildung wurde erst innerhalb der letzten Dekade publiziert. Mit diesem wachsenden empirischen Forschungsinteresse wuchs auch der Bedarf an einer weiteren Präzisierung des theoretischen Verständnisses sozialer Realitätsbildung. Gerald Echterhoff, Tory Higgins und John Levine haben im Jahre 2009 diesem Bedarf Rechnung getragen und die notwendigen Voraussetzungen, limitierenden Faktoren und zen- tralen Konzepte der Theorie der sozial geteilten Realität definiert. Diese sollen im Folgenden kurz dargestellt werden. Was also ist genau gemeint, wenn wir von sozial geteilter Realität sprechen? Hinsichtlich der Definition von Realität folgt sowohl das ursprüngliche als auch das heutige Verständnis sozialer Realitätsbildung einer konstrukti- vistischen Sicht von Wirklichkeit. Da Menschen keinen erkenntnisunab- hängigen Zugang zur Realität haben, sind sie nicht in der Lage, zwischen den Bedingungen der Existenz von Realobjekten und den Bedingungen individueller Erkenntnis von Realität zu unterscheiden (Luhmann, 1996). Anders gesagt: Was wir als Wirklichkeit verstehen, ist immer subjektive 36 Kapitel 3 Wahrnehmung und Interpretation. Hinsichtlich der Frage, was sozial ge- teilt bedeutet, sind verschiedene, potenziell relevante Arten von Geteiltheit zu unterscheiden (Cannon-Bowers & Salas, 2001; Thompson & Fine, 1999): die Geteiltheit im Sinne des Offenlegens (z. B. im Fall einer mitge- teilten Neuigkeit), im Sinne der Aufteilung (z. B. im Fall eines aufgeteilten Lottogewinns), im Sinne einer für andere erkennbaren, den betreffenden Personen aber nicht zwingend bewussten Gleichheit (z. B. im Fall einer all- gemein bekannten Information) und im Sinne einer erlebten Entsprechung (z. B. im Fall einer gemeinsamen Vorliebe für George-Clooney-Filme). Für die Theorie sozialer Realitätsbildung ist vor allem die letztgenannte Form sozialer Geteiltheit relevant. Ein eigenes Erleben gilt dann als sozial geteilt, wenn man die Erfahrung macht, dass es im Erleben anderer eine Entsprechung findet (Echterhoff, Higgins & Levine, 2009). Aus dem dargestellten konstruktivistischen Verständnis von Realität und Geteiltheit ergibt sich auch die aktuelle Definition sozial geteilter Realität: Sozial geteilte Realität ist das Produkt eines motivierten Prozesses, in dessen Rahmen das Individuum die Erfahrung macht, dass der eigene innere Zustand (zum Beispiel Gefühle, Einstellungen, Urteile; Higgins & Pittman, 2008) bezüglich eines Aspekts der Welt im inneren Zustand min- destens einer anderen Person Entsprechung findet (Echterhoff, Higgins & Levine, 2009). Der dieser Erfahrung zugrunde liegende Prozess wird als soziale Realitätsbildung beschrieben. Den zentralen Ausgangspunkt der Entstehung einer sozial geteilten Realität bildet das spezifisch menschliche Bedürfnis nach sozialer Geteiltheit, also das Bedürfnis, die eigene Sicht der Welt als von anderen geteilt zu erleben. Aber warum ist es so wichtig für uns, unsere Sicht der Welt mit anderen zu teilen? 3.2.3 Warum streben wir nach sozialer Geteiltheit? Motivationale Grundlagen Die Erfahrung sozial geteilter Realität erfüllt verschiedene soziale und epistemische Funktionen (Hardin & Higgins, 1996). Stellen Sie sich vor, Sie nehmen an einer Konferenz teil. In der Pause kommen Sie zufällig am Kaffeestand mit jemandem ins Gespräch ­und entdecken, dass Sie beide den Kaffee eigentlich gar nicht mögen, aber den Amarettini, die dazu ge- reicht werden, einfach nicht widerstehen können. Was ist wohl ihr erster Eindruck voneinander? Vermutlich werden Sie einander, so nichts anderes dagegen spricht, spontan sympathisch finden (Byrne, 1997; Heider, 1958). Wenn uns keine anderen Informationen zur Verfügung stehen, genügt es, dass andere einen einzelnen, zufällig ausgewählten Aspekt der Welt so sehen wie wir, damit wir sie als ein Mitglied der Eigengruppe ansehen und anderen gegenüber bevorzugen (Tajfel, 1970; Tajfel & Billig, 1971). Auf sozialer Ebene führt das Erleben sozialer Geteiltheit dazu, dass wir uns anderen näher und stärker verbunden fühlen, und befriedigt so das zentrale menschliche Bedürfnis nach Verbundenheit und Zugehörigkeit (Baumeister & Leary, 1995; Deci & Ryan, 2000; Maslow, 1968). Sozial geteilte Realität 37 Auf epistemischer Ebene formt das Erleben sozialer Geteiltheit die Ent- wicklung und Aufrechterhaltung unseres Verständnisses von Wirklichkeit (Hardin & Higgins, 1996). Was wir als Wirklichkeit beschreiben, ist immer nur unsere subjektive Repräsentation von Wirklichkeit und so variabel wie die ihrer Repräsentation zugrunde liegenden Wahrnehmungs- und Inter- pretationsprozesse. So halten wir beispielsweise gleichbleibend große Gegenstände für verschieden groß, je nachdem welchen Wert wir ihnen zuschreiben (Bruner & Goodman, 1947). Inhaltlich unveränderte Entschei- dungsoptionen erscheinen uns unterschiedlich attraktiv, je nachdem, ob sie als Gewinn oder Verlust dargestellt sind (Tversky & Kahneman, 1981) oder welchen regulatorischen Fokus wir gerade haben (Idson, Liberman & Higgins, 2000). Wir finden den gleichen Comic mehr oder weniger lustig, je nachdem wie aktiv unsere Lachmuskeln gerade sind (Strack, Martin & Stepper, 1988). Sogar unser Leben als Ganzes erscheint uns mehr oder weniger gut, je nachdem in welcher Stimmung wir gerade sind (Schwarz & Clore, 1983). Die sozialpsychologische Forschung bietet zahlreiche Beispiele für die Variabilität des individuellen Verständnisses von Wirk- lichkeit; unser Verständnis der Wirklichkeit scheint also, auf sich allein gestellt, oft flüchtig und instabil. Wird die eigene Sicht der Welt hingegen von anderen geteilt, gewinnt sie subjektiv an Verlässlichkeit und Richtigkeit und wir fühlen uns sicherer darin, dass die Welt so ist, wie wir sie sehen: „in the absence of social verification, experience is transitory, random, and ephemeral, like the flicker of a firefly. But once recognized by others and shared … it achieves the phenomological status of objective reality“ (Hardin & Higgins, 1996, S. 28). Dieser Einfluss aktueller sozialer Geteiltheit ist dann am deutlichsten, wenn der betreffende Aspekt der Welt besonders uneindeutig ist (Byrne & Clore, 1967; Deutsch & Gerard, 1955; Festinger, 1950; Sherif, 1935, 1936), oder, konstruktivistisch gedacht, wenn nicht auf bereits etablierte inter- und intraindividuell stabile Kategorien zurückgegriffen werden kann, um eine aktuelle Wahrnehmung zu interpretieren. In jedem Fall aber verleiht soziale Geteiltheit, ob aktuell oder im Vorfeld erfahren, der individuellen Sicht von Wirklichkeit Validität und Reliabilität und macht sie in unserer subjektiven Wahrnehmung zu einem verlässlichen Bestandteil scheinbar objektiver Realität (Hardin & Higgins, 1996). Damit bedient das Erleben sozialer Geteiltheit zwei zentrale menschliche Motive: das Erkenntnismo- tiv, uns selbst und die uns umgebende Welt zu verstehen (Bartlett, 1932; Higgins, 2011; Kagan, 1972; Loewenstein, 1994) und das Kontrollmotiv, die uns umgebende Welt wirksam beeinflussen zu können (Bandura, 1977; DeCharms, 1968; White, 1959). Zusammenfassend betrachtet befördert soziale Geteiltheit also auf sozia- ler Ebene das Erleben von sozialer Nähe. Auf epistemischer Ebene macht sie die individuelle Sicht der Wirklichkeit gleichsam zu einem Bestandteil verlässlicher, scheinbar objektiver Realität. Über diese beiden Wirkungen vermittelt, befriedigt sie zentrale menschliche Bedürfnisse bzw. Motive 38 Kapitel 3 nach sozialer Verbundenheit, Erkenntnis und Kontrolle. Auf Metaebene tragen soziale Verbundenheit, Erkenntnis und Kontrolle dazu bei, dass wir die eigenen Interessen erfolgreich verfolgen können (für einen Überblick vgl. Higgins, 2011). Insgesamt scheint es also durchaus sinnvoll, dass wir danach streben, die eigene Sicht der Welt als von anderen geteilt zu erleben. Wie jedoch gelingt uns dies? 3.2.4 Wann entsteht sozial geteilte Realität? Notwendige Voraussetzungen Soziale Realitätsbildung baut darauf auf, dass der eigene innere Zustand bezüglich eines Aspekts der Welt im inneren Zustand einer anderen Person eine Entsprechung findet. Allerdings entsteht nicht aus jeder Entsprechung auch eine ­sozial geteilte Realität. Hierfür müssen mehrere situationale und inhaltliche Voraussetzungen erfüllt sein, die im Folgenden kurz skizziert werden (für eine detaillierte Ausführung vgl. Echterhoff, Higgins & Levine, 2009). Auf situationaler Ebene besteht das minimale System, in dem eine sozial geteilte Realität entstehen kann, aus drei Elementen: einer Indexperson, die soziale Geteiltheit erlebt, einem Meinungsgegenstand, bezüglich dessen die Indexperson eine Repräsentation bildet, und einem Interaktionspartner, mit dem die Indexperson eine Entsprechung innerer Zustände bezüglich des Meinungsgegenstandes erlebt. Sind diese situationalen Voraussetzungen erfüllt, so ist die Entstehung einer sozial geteilten Realität an vier weitere inhaltliche Bedingungen ge- knüpft. Erstens muss die erlebte Entsprechung eine Entsprechung inne- rer Zustände sein (wie z. B. Gedanken und Gefühle; Higgins & Pittman, 2008); eine bloße Gleichheit beobachtbaren Verhaltens genügt nicht. Wenn ich beispielsweise sehe, wie jemand mit mir einen Vortrag verlässt, muss ich annehmen können, dass er das ebenso wie ich aus Verärgerung über den Vortrag tut. Sehe ich allerdings, dass er geht, um einen Anruf ent- gegenzunehmen, erlebe ich zwar ähnliches Verhalten, aber keine sozial geteilte Realität. Zweitens müssen die betreffenden inneren Zustände sich auf einen Aspekt der Realität, also auf einen spezifischen Meinungsgegen- stand beziehen; eine bloße Gleichheit ungerichteten Affekts genügt nicht. Zu sehen, dass jemand anderes auch erfreut ist, führt nur dann zu sozialer Realitätsbildung, wenn ich annehmen kann, dass die andere Person über dasselbe erfreut ist wie ich. Drittens muss die erlebte Entsprechung aus dem epistemischen Erkenntnismotiv oder dem sozialen Verbundenheits- motiv heraus entstanden sein. Basiert sie auf anderen Motiven, wie z. B. dem Motiv, den eigenen Gewinn zu maximieren, entsteht keine sozial geteilte Realität (für eine empirische Überprüfung dieser Voraussetzung vgl. Echterhoff, Higgins, Kopietz & Groll, 2008). Viertens muss die Entspre- chung innerer Zustände von der Indexperson als Entsprechung wahrge- nommen werden. Objektiv vorhandene (bzw. konstruktivistisch gedacht, für dritte Personen erkennbare) von der Indexperson aber nicht als solche Sozial geteilte Realität 39 erlebte Entsprechungen führen nicht zur sozialen Realitätsbildung. Umge- kehrt können objektiv nicht vorhandene (bzw. für Dritte nicht erkennbare), subjektiv aber als vorhanden wahrgenommene Entsprechungen durchaus zum Erleben sozial geteilter Realität führen (Stukas, Bratanova, Peters, Kashima & Beatson, 2010). Es ist für die Bildung einer sozialen Realität also gar nicht nötig, dass beide Personen die gleiche Perspektive auf einen Gegenstand haben. Vielmehr ist es ausreichend, dass die Indexperson der Überzeugung ist, eine gemeinsame Perspektive sei vorhanden. 3.2.5 Wie entsteht sozial geteilte Realität? Mögliche Entstehungsverläufe Sind die genannten situationalen und inhaltlichen Voraussetzungen erfüllt, so kann soziale Realitätsbildung auf verschiedenen Wegen stattfinden. Die empirische Forschung zu sozial geteilter Realität hat sich bisher stark auf soziale Realitätsbildung im Saying-is-believing-Paradigma konzentriert (Higgins & Rholes, 1978). In diesem Paradigma geschieht soziale Reali- tätsbildung durch adressatenorientierte Kommunikation (engl.: audience tuning) und eine hierüber vermittelte Anpassung der eigenen Sicht eines Meinungsgegenstandes an die Sichtweise der Adressaten (für weitere Details zum Paradigma und dem aktuellen Stand der Forschung vgl. Abschnitt 3.3.1). Sozial geteilte Realität kann aber beispielsweise auch entstehen, wenn Personen spontan entdecken, dass sie ähnliche Einstel- lungen und Werte teilen (Bar-Tal, 2000). Oder zum Beispiel auch, wenn wir einfach annehmen, dass andere die Welt ebenso sehen wie wir (Ross, Greene & House, 1977). Insgesamt können die verschiedenen möglichen Entstehungswege sozial geteilter Realität danach gegliedert werden, ob die beteiligten Personen schon zu Beginn der Interaktion über gefestigte Repräsentationen des betreffenden Meinungsgegenstandes verfügen und inwieweit diese Repräsentationen einander entsprechen (French, 2011). Stellen Sie sich vor, es ist dieses Jahr Ihnen zugefallen, gemeinsam mit einem anderen Teammitglied den jährlichen Ausflug Ihrer Arbeitsgruppe zu planen. Irgendwie kam die Idee auf, man könne doch gemeinsam in einen Hochseilgarten fahren. Möglicherweise entdecken Sie bei der Planung, dass Sie die Vorstellung, in 10 Metern Höhe an einem Seil über dem Boden zu schweben, beide ziemlich unattraktiv finden. Oder Sie haben beide noch keine klare Vorstellung vom Hochseilgarten und bilden sich im Austausch miteinander eine Meinung. Vielleicht sind Sie selbst aber auch noch unschlüssig, während Ihr Gesprächspartner den Hoch- seilgarten großartig findet und Sie überzeugt. Oder es ist umgekehrt, und Sie überzeugen Ihren Gesprächspartner. In jedem dieser Fälle entsteht soziale Geteiltheit; entweder durch die Entdeckung unabhängiger Gleich- heit, durch Co-Konstruktion einer geteilten Sichtweise, durch Übernahme der Sicht eines anderen oder indem jemand anderes die eigene Sicht übernimmt (vgl. Tab. 1). 40 Kapitel 3 Tabelle 1: Schematische Darstellung verschiedener Verläufe sozialer Realitätsbildung (French, 2011) Sicht des Interaktionspartners gefestigt ungefestigt gleich anders unge­festigt Co-­Konstruktion Übernahme Sicht der Indexperson unabhängige ge­festigt Überzeugung Konflikt Gleichheit Grundsätzlich besteht aber natürlich auch die Möglichkeit, dass beide Interaktionspartner mit bereits gefestigten divergierenden Sichtweisen in den Dialog eintreten. In diesem Fall kommt es leicht zu kognitiver Disso- nanz, die durch Abwertung der anderen Partei und ihrer divergierenden Sichtweise reduziert wird (Festinger, 1957). Interessanterweise sind es jedoch gerade die Kontexte stabiler divergierender Sichtweisen, die das Potenzial für Erkenntnis generierende Diskurse bieten. Wie Realitätsbil- dung in diesen Kontexten aussehen kann, ist eine neuere Forschungsper- spektive der Theorie sozial geteilter Realität (French, 2011). Im Folgenden werden jedoch zunächst zentrale lang etablierte Befunde der empirischen Forschung zur Entstehung sozial geteilter Realität dargestellt. 3.3 Aktueller Forschungsstand 3.3.1 Das Saying-is-believing-Paradigma Wie Sie dem theoretischen Hintergrund entnehmen konnten, ist die Idee, dass die Welt, in der wir leben, sozial konstruiert ist, keinesfalls neu. Dementsprechend lang und vielfältig ist auch die Liste der relevanten For- schungsarbeiten, die diesen Punkt auf die ein oder andere Art und Weise empirisch untermauern. Trotz dieses reichhaltigen Hintergrunds wurde die Theorie der sozialen Realitätsbildung (Echterhoff et al., 2009; Hardin & Higgins, 1996) bisher vor allem innerhalb des klassischen Saying- is-believing-Paradigmas erforscht (Higgins & Rholes, 1978; Überblicke bieten Higgins, 1992, 1999, sowie Echterhoff, Higgins & Levine, 2009). Aus diesem Grund wird sich der Abschnitt zum empirischen Hintergrund vor allem auf diese Forschung konzentrieren. Das Saying-is-believing-Paradigma untersucht vordergründig ein alltägli- ches und natürliches Kommunikationsverhalten, die adressatenorientierte Kommunikation (engl.: audience tuning; Higgins, 1992, 1999): Wenn wir miteinander kommunizieren, berücksichtigen wir meist die Eigenschaften unserer Gesprächspartner und passen uns ihnen an: Fragt Sie zum Bei- spiel jemand nach einer Wegbeschreibung in Ihrer Heimatstadt, dann be- schreiben Sie den Weg einer Ortsfremden anders als jemandem aus Ihrer Stadt (Kingsbury, 1968). Sie reden anders mit Ihrer Freundin, je nachdem, Sozial geteilte Realität 41 ob sie fröhlich oder traurig, nüchtern oder betrunken ist. Und Sie sprechen über die Arbeitsleistung des neuen Praktikanten, der zufällig der Neffe der Chefin ist, anders, je nachdem, ob Sie mit Ihrem Kollegen oder eben der Chefin sprechen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass wir uns in der Kommunikation an das Wissen, den Gefühls- und Geisteszustand sowie an die Einstellung unserer Gesprächspartner anpassen. Diese Anpassung in der Kommunikation ist wichtig, da sie es uns ermöglicht, effektiver zu kommunizieren und Missverständnisse zu vermeiden. Das Saying-is-believing-Paradigma (Higgins & Rholes, 1978) macht sich dieses Phänomen der adressatenorientierten Kommunikation zunutze. In einer typischen Studie sollen die Versuchspersonen (Senderinnen und Sender) einem Adressaten eine Zielperson so beschreiben, dass der Adressat die Zielperson aus einer Gruppe von 20 Personen identifizieren kann (vgl. Abb. 1). Hierzu erfahren die Versuchpersonen zuerst, dass ihr Adressat die Zielperson entweder mag oder nicht mag. Dann lesen die Ver- suchpersonen eine Beschreibung der Zielperson (vorgeblich entstanden im Rahmen einer Langzeitstudie zu Freizeitverhalten, an der obengenannte 20 Personen teilnehmen). In dieser Beschreibung ist die Zielperson eva- luativ unein

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