Zusammenfassung Behinderung HS22 (PDF)

Summary

This document provides a historical overview of attitudes towards disability, tracing the changing social and medical approaches from ancient times to the Enlightenment. It examines how perceptions of disability evolved through different historical periods and the emergence of early concepts of special education.

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1 Geschichte des Umgangs mit Behinderung 1.1 Umgang mit Behinderung vom Altertum bis zur frühen Neuzeit 1.1.1 Behinderung im Altertum Erste Überlieferungen aus dem ägyptischen und mesopotamischen Raum o Hinweise, dass man sich dafür interessiert hat – Beschäf...

1 Geschichte des Umgangs mit Behinderung 1.1 Umgang mit Behinderung vom Altertum bis zur frühen Neuzeit 1.1.1 Behinderung im Altertum Erste Überlieferungen aus dem ägyptischen und mesopotamischen Raum o Hinweise, dass man sich dafür interessiert hat – Beschäftigung damit Tötung behinderter Neugeborener in Sparta aus Gründen des Gemeinwohls (allerdings umstritten, ob verbreitete Praxis) → Arbeit war in diesem Zeitalter sehr wichtig, d.h. bei einer Behinderung war direkt klar, dass diese Personen nichts beitragen können zum Gemeinwohl Wer überlebte oder später behindert wurde, wurde zu Bettler, Sklave oder Narr. Existenz von Narrenmärkten (forum morionum) → Behinderte sind angewiesen auf die Wohltätigkeit anderer 1.1.2 Geschichte des Umgangs mit Behinderung im Alten Testament (Judentum) Zusammenhang zwischen Schuld bzw. Sünde und Krankheit/Behinderung im Alten Testament → Menschen die behindert waren, sind von Gott bestraft worden Die soziale Brauchbarkeit von Menschen in der Fähigkeit, religiöse Riten durchzuführen → bis in der Neuzeit war dies so, dass die soziale Brauchbarkeit behinderter Menschen an die Fähigkeit religiöser Riten gebunden ist Behinderung als Folge unüblicher sexueller Praktiken, Dämonenbesitznahme, Strafe für die Übertretung religiöser Gebote → Leute versuchten zu erklären, warum jemand behindert ist Fürsorgewesen getragen von egoistischen Motiven → Ziel war nicht die behinderten Personen in die Gemeinschaft einzufügen, sondern damit die Gesellschaft (wir) behelligt wird 1.1.3 Geschichte des Umgangs mit Behinderung im Neuen Testament (Christentum) Im Neuen Testament waren Behinderte im Mittelpunkt des Weltbildes → Jesus Geschichten über Arme, Leute, die Hilfe brauchen etc. → Gesellschaftliche Stellung der Behinderten verbessert Der im Alten Testament hervorgehobene Zusammenhang zwischen Schuld/Sünde und Krankheit/Behinderung neu bestritten bzw. hinterfragt o Behinderung wurde nicht mehr klar als eine Bestrafung angesehen 1.1.4 Behinderung im Mittelalter Teilweise Verbrennung von psychisch oder geistig behinderten Menschen als Hexen Martin Luther rief in seiner Tischrede dazu auf, sogenannte Wechselbälge (Idee Baby wurde ausgetauscht mit dämonischen Wesen, sie kommen auf die Welt um uns zu schaden) zu ertränken (nicht klar, ob dies tatsächlich Praxis war) o Bild: Kind sieht aus als hätte es das Down-Syndrom → sieht nicht normal aus, kann nicht menschlich sein 1.1.5 Behinderung im Mittelalter und frühe Neuzeit Lebensbedingungen im Mittelalter waren sehr schlecht: Hungerepidemien nach Missernten, immer mehr Leute auf der Welt, Pest etc. Kriege führten zu einer Bevölkerungsdezimierung von 30-35% und einer dramatischen Zunahme des Pauperismus (= alle sind arm, so arm, dass sie nicht wissen, ob sie den nächsten Tag überleben) Kirche hat begonnen Hilfe zu institutionalisieren: Einrichtung von Findelhäusern (Papst Innocenz III. in Rom) und Hospitälern, in denen Aussätzige und Randständige gerade noch am Leben erhalten wurden → Motiv, welches man immer wieder durch die Geschichte sieht: Behinderte von restlicher Bevölkerung abgesondert und beschützt, sie werden aber nur knapp am Leben gehalten → keine wirklich gute Versorgung o Kirche begann Hilfe zu institutionalisieren 1.1.6 Beginn der Neuzeit Beginnende Industrialisierung: Wirtschaftliche Interessen rückten ins Zentrum → man brauchte Arbeiter Interesse an der Ausbildung des Nachwuchses Expandierende Industrie auf billige Arbeitskräfte angewiesen Schule gleichzeitig auch Aufbewahrungsstätte → hier konnten die Kinder sein, solange die Eltern arbeiteten und gleichzeitig lernten Kinder etwas für zukünftige Arbeit 1.1.6.1 Schulrealität Lehrer waren oft Handwerker, die ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten → Sie konnten meist selber nicht lesen oder schreiben → Folge: Kinder konnten ebenfalls nicht lesen oder schreiben → Lernbehinderung Schulklassen mit teilweise über 200 Kindern Behinderung als «soziale Frage» (Armut, Obdachlosigkeit etc.) → Behinderung war die Regel und nicht die Ausnahme → Gesundheitsstatus der Bevölkerung war sehr schlecht 1.2 Die Ursprünge der Sonderpädagogik in der Aufklärung Wann hat man sich begonnen wissenschaftlich mit Behinderung zu befassen? 1.2.1 Die Rolle der Aufklärung Bereits früher mit John Locke (1632-1704) als Vordenker der Aufklärung – hat sich aber sehr medizinisch für den Menschen (Körper) begonnen zu interessieren → Weg von Gott Idee von tabula rasa beim Menschen Ideen und Fähigkeiten nicht angeboren, sondern über Wahrnehmung erfahren → anderes Denken: Mensch ist entwicklungsfähig 1.2.2 Zentrale Fragen und Themen der Aufklärung Was unterscheidet Menschen von Tieren? Wie entwickelt sich Sprache (sind Ideen angeboren?) Beziehung zwischen Körper und Seele Entwicklung von Charakter Möglichkeiten und Grenzen der Erziehung Grenzen der Mündigkeit → Menschen mit Behinderung waren für die damalige Zeit logische Beispiele, an denen man diese Fragen diskutieren und zeigen konnte → bspw. können Gehörlose denken? 1.2.3 Behinderung und Aufklärung Behinderte Menschen als «Wilde der Zivilisation» → Zwischenform Mensch und Tier Behinderte als Testfälle philosophischer Ideen (es ging also nicht per se um die Behinderten) o Man versuchte an Menschen mit Behinderungen verschiedene Testideen vorzeigen – Gehörlose können nicht denken → versucht man ihnen das Denken beizubringen o Leben über die Sinne (Sehen, Hören etc.) – Grenzfälle = wieso leben die Menschen, die einen Sinn nicht haben? → Test-Anfang Dogma der Perfektabilität des Menschen → Annahme, dass alle Menschen sich entwickeln können → entspricht nicht der Religion, wo man in etwas hineingeboren wird und so auch bleibt → führte zu einem anderen Umgang mit den Behinderten 1.2.3.1 Umgang mit den Behinderten In den «reinen Seelen» (da sie nichts hören können) gehörloser Menschen fanden Philosophen lebende Anschauungsbeispiele für ihre Theorien über die Spezifität der menschlichen Natur → man sah, dass sie lernfähig sind Versuch, über Bildung Beweis zu erbringen, dass Lernen für gehörlose Menschen möglich ist Gehörlose waren erste Empfänger sonderpädagogischer Bildungsbemühungen Beispiel Denis Diderot: Abhandlung «Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden» → als Appell zu verstehen: Blinde sind lernfähig, wir müssen ihnen nur helfen Wie bildet sich bei Blinden die Idee von Figuren? Was sind die Grundlagen der Wahrnehmung? Was für eine Vorstellung von der Welt haben Blinde? o Bei Blinden ist vor allem das Tasten ausgeprägt o Adlige und Kleriker wurden zu «Salongespächen» eingeladen, wo versch. Ideen diskutiert wurden, wie man z.B. Blinden helfen kann, diese wurden in Armenhäusern von Klerikern ausprobiert, die von den Adligen finanziell unterstützt wurden Gründung der Pariser Taubstummenanstalt durch den Priester Charles Michel de l’Epée (1712-1789) ca. 1760 (Vertreter der Gebärdensprache) 1788 Gründung der ersten Taubstummenanstalt in deutschem Land in Leipzig, Leitung durch Samuel Heinicke (1727-1790) (Vertreter der Lautsprache = reden für Gehörlose) → Bildung von verschiedene Tischsalons, wo man genau über solche Ideen sprach wie bspw. «Wie kann man Behinderte unterstützen im Lernen?» → Damit diese Anstalten überleben, waren sie angewiesen auf das Geld von Adligen: Kinder der Taubstummenanstalt mussten vor den Adligen zeigen, was sie gelernt haben, wenn dieser denkt, dass diese Anstalt nützlich ist, wird er sie weiterhin finanziell unterstützen Ein Beispiel von Victor, der Wilde von Aveyron o August 1800: Einlieferung eines Kindes in die Taubstummenanstalt von Paris, in der Jean Itard leitender Arzt war o Victor war verwahrlost, man wusste nicht genau was er hat, er konnte nicht reden und hat sich wie ein Tier benommen – man versuchte ihn zu «vermenschlichen» o Man hatte erstes Mal ein Problem, weil man nicht wusste was mit ihm los ist – gehörlos? Kognitive Behinderung? o Itard begann mit Unterricht o «Idee» der Bildbarkeit von Menschen mit geistigen Behinderungen → hat nie gelernt zu reden, man wollte ihn unbedingt bildungsfähig machen – Geld ging aber verlosen, weil er nichts vorzeigen konnte den Adligen 1.3 Erste Institutionalisierungen und ein Exkurs Bildungsbemühungen für Menschen mit Sinnesbeschädigungen gab es bereits im 18. Jahrhundert, teilweise auch früher Der Begriff Heilpädagogik ist erst im 19. Jahrhundert entstanden. In die Wissenschaft eingeführt wurde er 1861 von Jan Daniel Georgens und Heinrich Marianus Deinhardt 1.3.1 Jan-Daniel Georgens und Heinricht Marianus Deinhardt Sie gelten als Gründer der wissenschaftlichen Sonder- und Heilpädagogik Sie haben mal ein Heim gegründet für geistesschwache Kinder namens Levana, welches es nicht lange gab, da die Adligen es nicht mehr finanzieren wollten. Grundsätze des Heims Levana: o Der Mensch ist prinzipiell entwicklungsfähig o Förderung der persönlichen Eigenart (eigene Bedürfnisse und Möglichkeiten) o Bereitstellung sozialer und materieller Lebensgrundlagen → Kinder konnten praktisch tätig sein, dies haben leider viele Adlige komisch gefunden und sie deswegen nicht mehr finanziell unterstützt → ahead of it’s time → erste reformpädagogische Ideen 1.3.2 Exkurs Johann Jakob Guggenbühl (1816-1863) und der Abendberg bei Interlaken Zürcher Arzt Vertreter der Medico-Pädagogik Zielsetzung: Kretinismus erforschen und auslöschen Einfluss des Klimas/ der Höhenluft auf die Gesundheit erforschen 1841: eröffnet der Kretinenanstalt auf dem Abendberg Konzept: o Kretinismus vorbeugen o Sorgfältige Bearbeitung des Bodens in den Kretinendistrikten o Bessere Wohnungen, bessere Baugesetze für die Zukunft o Verbesserung der Lebensumstände durch: Vervielfältigung der Nahrungsmittel Beschränkung des Branntweines Sorge für gutes Trinkwasser Einführung jodhaltigen Kochsalzes in den Familien, die mit Kropfdisposition behaftet sind o Internationale Verbreitung des Konzepts ̶ Guggenbühl sehr erfolgreich → 1846 Ableger in GB, 1847 in Schweden ̶ Sendungsschreiben an Kongressmitglied zur Thematisierung der Erziehung und Bildung von Kindern mit geistiger Behinderung geführt ̶ Vorwurf wegen absichtlicher und fortwährender Täuschung im In- und Ausland, wegen Zusammenleben von Kretinisten und gesunden Kindern, wegen ausbleibender Heilung des Kretinismus, fehlende Betreuung durch Ärzte oder Lehrpersonen, usw. ̶ Folge: «Stille Phase» im gesamten Alpenraum 1.3.3 Kretinismus ̶ Bezeichnung einer Behinderung, die aufgrund von Jodmangel entstanden ist → Hormonunterfunktion in Schilddrüse ̶ Guggenbühl damals gedacht, es sei eine Alpenkrankheit → den Lebensbedingungen wie Luft, Boden, Nahrung zugrundeliegend ̶ 1830-1850: Neue Wahrnehmung des Kretinismus o Statistische Erfassung → ergibt Frage, wen man alles mitzählt → unzuverlässig 1.4 Zusammenfassung: Im Verglich zum Altertum und zum Mittelalter folgte in der Neuzeit eine ‘Humanisierung’ der Behandlung behinderter Menschen → Loslösen von Schuld Erste professionelle Bemühungen (und bis weit in die Neuzeit hinein) waren getragen von caritativen, häufig christlich-religiösen Motiven → aus Wohltätigkeit Die Aufklärung hatte wichtige, aber auch zwiespältige Impulse für die Sonderpädagogik: «Entdeckung» von Hilfe für Menschen mit Behinderung, aber auch (Über-)Betonung von Rationalität und Verstand, → wenn man mit dem scheiterte, liess man die Menschen fallen 1.5 Literatur: Geschichte der Erziehung und Bildung behinderter, benachteiligter und ausgegrenzter Menschen 1.5.1 Anfänge heilpädagogischen Handelns Anfangs Bezug nur auf spezifische vorwiegend somatisch bedingte Behinderung (Gehörlosigkeit, Blindheit etc.) Spezifische Schädigung des menschlichen Funktionsapparates Sinnesschädigungen: Gehörlosigkeit, Blindheit sowie schwerwiegende kognitive und motorische Beeinträchtigungen seit frühen Jahrhunderten im Blick der Pädagogik Anfang der Bildung gehörloser Kinder: 16. Jahrhundert o Spanischer Benediktermönch Pedro Ponce de Leon o Lautsprache mit Hilfe vom Fingeralphabet Pädagogischen Optimismus brachte die Aufklärung im 18. Jahrhundert o Abbe de l’Eppé entwickelte ein System von Gesten o Pereira schuf das Fingeralphabet und setzte auf die Anbildung der Lautsprache ▪ Damit gehörlose Personen möglichst ähnlich wie Hörende sprechen können 1779 öffnete in Wien ein Taubstummeninstitut mit methodischen Ansätzen in Anlehnung an de l’Eppé, wechselte aber später zur Lautsprachenmethode Zwischen dem späten 19. Jh. Und frühen 20. Jh. Trennte sich die Schwerhörigenpädagogik von der Gehörlosenpädagogik ab o Durch Hörübungen trat eine deutliche Verbesserung des Lernvermögens bei geringfügig resthörigen Kindern ein o Heutige Schwerhörigenpädagogik baut auf dem auf In Paris entstand die erste Blindenschule im 18. Jh. Durch Valentin Haüy o Grundgedanke: Ersetzen des Gesichtssinns durch den Tastsinn o Erfand ein Alphabet, bei dem Buchstaben haptisch zu erfassen waren und so konnten blinde Menschen lesen lernen Die Bildung Taubblinder Kinder fand ihre Pioniere in den USA, wo Chirurg Samuel Howe eine Blindenstiftung in 1832 in Boston gründete o Ging auch von der Reliefschrift aus, ergänzte diese durch Berührungen des Körpers bei Lob, Tadel und Gleichheitszeichen – so lernten die Kinder wie sich das geschriebene Wort auf dem Blatt in der Realität anfühlt Vgl. Gehörlosenschule → Schwerhörigenschule: Blindenpädagogik → Sehbehindertenpädagogik zu Beginn 19. Jh., wo von «halbblinden» Kindern berichtet wird o Erste Bildungen von Gruppen für Sehschwache finden ihren Anfang im 20. Jh, die die Folge der Einführung von schulärztlichen Untersuchungen waren Schwierig zu sagen was der wirkliche Anfang ist: o Möckel: Erziehungsversuch armer und verwahrloster Kinder durch Pestalozzi ▪ In D erste Heimerziehungsprojekte Anfang 19. Jh., als Kriegsfolge ▪ Wicherns Heimgründung, die in weiten Teilen religiös motiviert war, war eine Folge der Zunahme an Kindern in den Grossstädten der Industrialisierung Die Anfänge der Hilfs- und Bildungsmassnahmen für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen sind mit der Etablierung neuer medizinischer Einrichtungen verbunden o Vor allem die Behandlung mit medizinischen Geräten und Hilfsmitteln stand im Vordergrund o Erste Schule für körperbehinderte Kinder im eigentlichen Sinne war die «Krüppelschule» von Johann Nepomuk Edler von Kurz in München In der ersten Hälfte der 19. Jh. entstanden die ersten Anstalten für Menschen mit geistiger Behinderung – Anstalten für Kretine, Blödsinnige, Idioten Guggenmoos unterrichtete als Privatlehrer gehörlose und sprachgestörte Kinder ab 1816 bei Salzburg – erste Bildungsversuche mit geistig behinderten Kindern → erste Art von einem Lehrplan für den Unterricht mit geistig behinderten Kindern Guggenbühl/ Itard: siehe Notizen VL o Von Itard angelegte Prinzipien der Bewegungs- und Wahrnehmungsschulung baute sein Schüler Séguin aus und legte ein umfangreiches schriftlich ausgearbeitetes Konzept vor, das bis zu didaktischen Materialien zum Erwerb von Schreib-, Lese- und Rechenfähigkeiten reichte → Maria Montessori übernahm es und modifizierte es Taubenstummlehrer Heinrich Ernst Stötzner verfasste eine Schrift « Schulen für schwachbefähigte Kinder», die bis heute als der programmatische Entwurf für die Entstehung der Hilfsschule gibt Sprachstörungen wie Stottern oder Stammeln wurden in medizinischen und pädagogischen Schriften auch im 19. Jh. wiederholt beschrieben 1.5.2 Heilpädagogik als Theorieentwurf im 19.Jh. Anfang 19. Jh. nahm der Wiener Bischof und Lehrkanzelinhaber Vinzenz Eduard Milde Kinderfehler, Gebrechen der Physischen Anlagen und Geistesschwäche in den Blick einer allgemeinen Erziehungskunde Johannes Gstach beschreibt die Auffälligkeiten des Körpers wie des Verhaltens als «Kretinismus» und «Blödsinn», die jedoch mit den heutigen Begriffen «geistige Behinderung» oder «intellektuelle Beeinträchtigung» nicht gleichgesetzt werden können Levana Gründer: siehe Notizen VL o In der Einrichtung lebten Ärzte, Lehrer, Künstler und Erzieherinnen und 30 Zöglinge von denen (aus heutiger Sicht) 10 geistig behindert waren und 20 nicht o Man stellte fest, dass im Unterschied zu Grunderziehung hier individualisiert vorgegangen sein muss o Getragen von realistischeren und humanistischen, religiös ungebundenen Ideen o Zögling soll lernen sich in der Umwelt orientieren Ende 19. Jh. und Anfang 20. Jh. waren für die Heilpädagogik Zeiten eines kontinuierlichen Ausbaus, wo sich HP zwischen pädagogischem und medizinischem Zugang bewegte Etablierung der Hilfsschule o Sie ging aus der bereits etablierten HP der sogenannten Idiotenanstalten hervor o War sie ein Produkt der sich durchsetzenden Schulpflicht, die zu Problemen mit der Heterogenität der Schülerschaft in übervollen Schulklassen führte o Erste Nachhilfe Klassen und schliesslich selbstständige Schulen für geistesschwache Schüler wurden gegründet, mit der Legitimierung die Volksschule zu entlasten 1.5.3 Die NS-Zeit als Entwicklungsbruch Drittes Reich und Massenmord ab Anfang der 1940er Vom eugenischen Standpunkt her zu pädagogischen Fragen argumentiert Eugenik o Erbhygiene o Pflege des Erbguts und die Vermeidung der Weitergabe von Schädigungen o Tradition von Darwins Lehre über die Entwicklung von Arten – Sozialdarwinismus o Theorien über starke und weniger lebensfähige Rassen o Lebensrecht von Menschen mit geistiger Behinderung wurde in Frage gestellt o Buch: «Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Leben» o Führte schrittweise und schleichend zur Euthanasie o «Gesetz zur Verhütung erkranken Nachwuchses» ▪ Zwangssterilisation bei «Erbkrankheiten» («angeborener Schwachsinn») o Aufgabe von Hilfsschulen: nicht nur Förderung von schulschwachen Kindern, sondern auch Pflege der Erbgesundheit o Führte schlussendlich zu Euthanasie als gross angelegtem staatlichen Mordprogramm, die neben psychisch kranken, vor allem geistig behinderte Menschen traf «Aktion T4» o Tiergartenstrasse 4, Berlin o Beseitigung der Insassen der Heil- und Pflegeanstalten o Eltern wurden überredet ihre Kinder, die vorerst zuhause lebten, in Anstalten unterzubringen – das Umfeld könne den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden o Befugnisse einer Gruppe von Ärzten wurden so erweitert, dass sie über das Weiterleben der Begutachteten (Kindern) entscheiden durften – manchmal innerhalb weniger Tage über Hunderte von Menschen o 6 Heime im ganzen Reich, die gezielt zur Tötung umgerüstet waren ▪ 1 Tötungsraum mit einer Sammeldusche, aus der Gas anstatt Wasser trat ▪ Ein Krematorium dazu ▪ Standesamt, das die Totenscheine ausstellte o Sinn der Anstalten blieb nicht verborgen, wurde jedoch selten widersprochen o Angebliche Todesursachen wurden den Angehörigen zugeschickt, wegen einer Häufung von Verleugnungen führte es zu einer Zunahme des Misstrauens und schliesslich auch zu Protesten o Gestoppt, jedoch von der «wilden Euthanasie» abgelöst ▪ Anstatt Vergasung → Gabe einer hohen Dosis des Medikaments Luminal, das zum Koma und schlussendlich zum Tod wegen einer Lungenentzündung führte – falls überlebt: mit schweren Behinderungen starben oder verhungerten o Das Vorhandensein einer beschränkten Arbeitsunfähigkeit oder Kriegsverletzungen als Ursachen von Behinderungen bedeuteten anfangs einen Schutz vor Euthanasie, der aber dann schleichend wegfiel ▪ 1945 hatte man an einigen Orten Menschen mit schlechten medizinischen Herz- und Lungenbefunden für Euthanasiemassnahmen im Visier o Mordmaschinerie für die keinerlei ethische Massstäbe mehr galten Wenige Menschen, die ausserhalb ihrer Familien lebten überlebten das Dritte Reich und die beteiligten Ärzte wurden nur in wenigen Fällen zur Rechenschaft gezogen, sodass Sie 1950 wieder in Amt und Würden zurückgelangten Eine der Hauptaufgaben von Hilfsschulen wurde in der Unterstützung des Staates in erb- und rassepflegerischen Massnahmen gesehen Als eine Hypothek aus dem Dritten Reich blieb in der Bundesrepublik Deutschland noch sehr lange der Begriff der «Bildungsunfähigkeit» aus dem Reichsschulpflichtgesetz, gemäss dessen Bestimmung Kinder mit geistiger Behinderung auch nach dem Ende des Dritten Reiches nicht schulpflichtig waren 1.5.4 Die Entstehung der akademischen Heilpädagogik Schweiz war das erste deutschsprachige Land, in dem sich eine akademische Heilpädagogik etablierte 1931 mit dem Lehrstuhl von Heinrich Hanselmann als wissenschaftliches Fach an einer Universität etabliert Eine pädagogisch und psychologisch akzentuierte Heilpädagogik konnte sich in der Schweiz bis heute bruchlos entwickeln Aufgrund des Fehlens einer universitären Sonderschullehrer*innenausbildung konnte sich Sonder-/ Heilpädagogik in Österreich nur sehr begrenzt quantitativ weiterentwickeln In den 1960er Jahren fiel in Deutschland die Unterscheidung zwischen. «Sonderpädagogik» für den schulischen und. «Heilpädagogik» für den ausserschulischen Bereich In D – kategoriale Ausdifferenzierung mit unterschiedlichsten Lehrstühlen Ab 1990 wurden Kinder mit geistiger Behinderung schulpflichtig und die entsprechenden Schulen wurden aufgebaut oder bestehende Betreuungseinrichtungen zu Schulen weiterentwickeln Die Integration von Menschen mit Behinderungen ändert nicht nur das System professioneller Hilfen, sondern hat weit reichende Auswirkungen auf die Entwicklung der Heilpädagogik als Wissenschaftsfach 1.5.5 Die verschiedenen Fachbezeichnungen und die Frage nach der disziplinären Identität Notwendigkeit der Verortung innerhalb der Pädagogik als Kerndisziplin Pädagogik wurde in den 60-70ern vom Begriff Erziehungswissenschaft verdrängt Heilpädagogik: o Heilen wird assoziiert, womit es in die Nähe der Medizin gedrückt wird o Als eine medizinische oder von der Medizin angeleitete Tätigkeit o Entscheidungen nach Abwägen des Für und Wider rational fällen o Ist die älteste Bezeichnung des Fachgebiets im deutschsprachigen Raum o Aus. + CH dominiert, bezogen auf schulische wie ausserschulische Handlungsfelder o Abwendung von medizinischen wie theologischen Verortungen und eine Hinwendung zu säkularen Begründungen von Zielen und Aufgaben wie zur empirisch ausgerichteten erziehungswissenschaftlichen Forschung Sonderpädagogik: o Wurde zumeist als Sonderschulpädagogik verstanden o Verwendung des Begriffs in den Dokumenten der Bildungspolitik und Schuladministration etablierten ihn endgültig. Als Leitbegriff im öffentlichen Sprachgebrauch o Bezugnahme zum Sonderschulwesen und damit eine negative Konnotation – Menschen sind anders, brauchen eine ‘Sonderbehandlung’ (aber nicht zwingend! – Mensch/ Aufmerksamkeit als besonders – positiv) Behindertenpädagogik o «Pädagogik der Behinderten» o Verbindende Kategorie für die bisher sehr verschiedenen Adressat*innen der HP&SP Rehabilitationspädagogik o Anfangs begrenzt auf Ostdeutschland o Jedoch als begriffliche Alternative zu SP oder HP, liesse sich einwenden, dass Rehabilitation nicht unbedingt zu pädagogischen Aufgabenstellungen führen muss «Spezielle Pädagogik» o Wörtliche Übersetzung des englischen Begriffs «special education» Als älteste bereits im 19. Jh. von Georgend und Deinhardt gewählte Bezeichnung war HP im Kontext einer Pädagogik entstanden, welche die Erziehung von Kindern mit Behinderungen im Kontext einer allgemeinen Pädagogik anging 2 Geschichte der Sonderpädagogik in der Schweiz und im deutschsprachigen Ausland im 19. Und 20. Jahrhundert 2.1 Kurzer Rückblick In den 40er Jahren des 19. Jh. Boden vorbereitet für erfolgreiche praktische Versuche Verantwortungsübernahme des Staates für die Gehörlosen und Blinden, bei ‘Geistesschwachen' aber unentschlossen o Lange war man unsicher ob Geistesschwache bildungsfähig sind o Heute: kognitive/ intellektuelle Behinderung o Früher gab es keine Staaten mit einer ausgeprägten Verwaltung (für Schulen extrem wichtig), deswegen war die Administration nicht möglich (1. Platz = Preussen) Es braucht staatliche Behörden, Administration und finanzielle Unterstützung → Adlige finanzierten vieles, jedoch als sie merkten, dass das Geld nichts bringt, zogen die es zurück und viele Institutionen mussten deswegen schliessen → Träger meistens privat (christlich) bis weit ins 20. Jahrhundert 2.2 Hilfsschulen 2.2.1 Entstehung und Ausbau der Hilfsschule Schulpflicht: Folge war Problem der Heterogenität der Schülerschaft sowie eine erhöhte Komplexität der Organisation von Schule o Schulpflicht für alle: Mädchen, Jungs, mit/ ohne Behinderung, arm, reich etc. → jedoch haben nicht alle den Schulstoff erlernt, deswegen… Hilfsschulen ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Sollten die Regelschule entlasten und die schwächeren Schüler sozial brauchbar machen (doppeltes Motiv) – man versuchte möglichst viele dazu bringen zu arbeiten und Geld zu verdienen und somit Mitglied der Gesellschaft machen Weitere Differenzierung der Sonderpädagogik als Folge o Bildung für Lehrer und Leiter einer Sonderschule → Sonderpädagogik löste Probleme, die in der Regelpädagogik entstanden sind, obwohl das oft als umgekehrt gesehen wird 2.3 Weimarer Republik und NS-Zeit 2.3.1 Die Blüte der Sonderpädagogik in der Weimarer Republik (1918-1933) Bedrückende Zeitumstände (Armut, Kriegsfolgen), aber auch demokratische Aufbruchsstimmungen, Reform- und Experimentierfreudigkeit Diskussion über Eugenik o Lehre von guten Erbanlagen o Rassenhygienischer Beigeschmack 1920 Veröffentlichung von ‘Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens’ durch den Strafrechtler Karl Binding und den Psychiater Alfred Hoche Menschen mit geistiger Behinderung: ‘geistig Tote’, ‘Ballastexistenzen’ und ‘leere Menschenhülsen’ → Sympathie für die behinderten Menschen wurde so kaputt gemacht Ende 1. Wk bis Machtübernahme von Hitler → deswegen bedrückende Zeiten in Deutschland und Österreich, wegen Kriegsfolgen (Armut etc.) o Männer kamen vom Krieg mit schweren Verletzungen zurück – Kriegsgewohnte Nationen hatten viel früher Sozialversicherungssysteme + Rehabilitationssysteme 2.3.2 Eugenik Man gibt das Bild, dass Menschen genetische verbessert werden können (freiwillig? - heute) Man wollte somit die ‘Sympathie und Empathie’ für Menschen mit Behinderungen plattmachen – zerstörte die mit verschiedenen Begriffen das Bild → z.B. scheinechte Behinderung: deutet auf eine echte und falsche Behinderung Schüler von Darwin übernahm seine Theorie (Durchsetzen des stärksten Tieres/ Erbguts) auf Menschen → Sozialdarwinisten Man braucht starke Wurzeln um starke Äste und gute Früchte zu haben (wichtig, dass man verhindert, dass sich schlechtes und schwaches Erbgut weitertragen kann) 2.3.3 Rassenpolitik und gesellschaftliche Ausgrenzung im ‘Dritten Reich’ (1933-1945) Ausweitung der Gesundheitsfürsorge (Mütter- und Säuglingsfürsorge, Schulgesundheitspflege, Schulzahnarztpflege, Tuberkulosen- und Gesellschaftsfürsorge) und Massnahmen der Bevölkerungs- und Familienpolitik Ausgrenzung (und später Ermordung) ‘minderwertiger’ Staatsbürger o Zuerst mit Begriffen wie: asozial, Ballastexistenzen → moralisch aufgeladen o Schleichende Prozesse in der Etablierung des Denkens in der Bevölkerung → stillschweigende Akzeptanz der Leute – wie? – mit Propaganda, Abwertung, Begrifflichkeiten etc. 2.3.4 Vernichtungsprogramme im ‘Dritten Reich’ Die «Kinderaktion», zynisch als «Aktion Gnadentod» bezeichnet o Kinder und Neugeborene o 1939 waren Kinder mit Behinderungen die ersten Toten → Testung der Vernichtungsprogramme für Juden an Behinderten im Bezug auf WAS die soziale Reaktion sein wird Die «Aktion T4» o Erwachsene und Jugendliche o Code für Tiergarstenstrasse 4, Berlin → Meldeort für Kinder mit Behinderungen o Gestoppt durch Proteste, vor allem der Kirche und Kleriker ▪ «wenn wir erlauben, dass die unsere Kinder töten, die nicht arbeitsfähig sind, dann erlauben wir unsere Tötung, wegen Alter & Arbeitsunfähigkeit in der Zukunft» Die «Sonderbehandlung 14f13» o Bürokratische Formel für Ermordung von Kranken und nicht arbeitsfähigen KZ- Häftlingen o 14= KZ-Lager, f= Todesfall, 13= Todesart: Vergasung Wie kam es dazu, dass die Eltern das in erster Linie ‘erlaubten’ o Fragen, ob die Eltern ihre Kinder als Ballast empfinden o Was passiert, wenn man Kinder/Menschen mit Behinderungen ermordet? → Aufschrei? Meldungen? ▪ Man mordete nur die, die z.B. in Institutionen nicht besucht worden waren, die die Eltern ‘nervten’, de kein nahes soziales Umfeld hatten Entlastete die Eltern und den Staat 2.3.5 Die Hilfsschule im ‘Dritten Reich’ Die Hilfsschule konnte sich zwar im ‘Dritten Reich’ behaupten Existenzberechtigung aber nur legitimiert über ihre Funktion für das NS-Regime und nicht (wie in der Weimarer Republik) über Bildungsansprüche von Kindern und Jugendlichen Auch die akademische Lehrerbildungen zurückgefahren o Für weniger behinderte Menschen braucht man weniger Lehrer → als unnötig erachtet Viele Hilfsschule im Krieg geschlossen und für militärische Zwecke als Lazarette verwendet 2.3.6 Nach dem Krieg… Versuch der Etablierung einer «Stunde Null» o Jetzt ist alles neu/ gut Lage der Sonderschulen desaströs o Kriegsbedingte Schäden o Wenig materielle Ausstattung o Kein Personal, wegen mangelnder Ausbildung Teilweise Wiedereinsetzung von Personen mit «brauner» Vergangenheit o Man nahm zur Bildung Menschen mit Nazi-Vergangenheit und betitelte sie als Mitläufer – das Denken, dass Behinderte keinen Anspruch auf Bildung haben, blieb also noch lange nach dem Krieg erhalten 2.4 Exkurs I: Österreichische Heilpädagogik 2.4.1 Heilpädagogische Station 1911 Einrichtung der ersten Heilpädagogischen Beobachtungsstation Europas in der Kinderklinik der Universität Wien Prägend waren Pädiater Erwin Lazar und Hans Asperger Lazar starb 1932, Asperger übernahm mit 26 Jahren die Leitung 2.4.2 Theodor Heller (1869-1938) Studierte in Wien und Leipzig Philosophie und Psychologie (u.a. bei Wilhelm Wundt) Zentrales Anliegen: verbesserte Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Heilpädagogen Wurde 1938 als Österreicher jüdischen Glaubens von den Nazis abgesetzt und starb an den Folgen eines Selbstmordversuchs 2.5 Exkurs II: Rehabilitationspädagogik in der DDR 2.5.1 Rehabilitationspädagogik in der DDR Enge Verbindung zwischen staatlicher Ideologie, Allgemeiner Pädagogik und Pädagogik der Geschädigten → medizinisches Denken Differenzierung in Sonderschultypen ähnlich wie in der BRD Einfluss der Staatsideologie zeigte sich. V.a. in der Anlehnung an sowjetische Vorbilder, z.B. der Lehre Pawlows. 2.5.2 Pawlow Russischer Mediziner und Physiologe (1904 Nobelpreis für Medizin) Theorie der ‘klassischen Konditionierung’ Begründer des Behaviorismus Lernen folgt Reiz-Reaktions-Schema o Übertrug dies auf Menschen – zeigte, dass Menschen sehr gut trainierbar sind und so zu Hochleistungen kommen können 2.6 Schweizer Heil und Sonderpädagogik 2.6.1 Allgemeine Bemerkungen Zwischen 1880 und 1930 vergleichbare Vorgänge in D und CH Zählung anormaler Kinder 1897, Unterscheidung Schwach- (bildungsfähig) und Blödsinn (nicht bildungsfähig) Bildungskurse als Grundstein der CH Heil- und Sonderpädagogik – Nachdiplomkurse Zwei Zentren der Schweizer Heil- und Sonderpädagogik: Fribourg (katholisch, Heilpädagogik) und Zürich (protestantisch, Sonderpädagogik) o Vorgänglich: «trial & error» - wir probieren was aus, bieten es an und schauen was da rauskommt o Zusammenarbeit verboten!! – Denken in religiösen Gebieten und nicht geographischen (Katholiker Aus Zug musste auf Fribourg und durfte nicht nach Zürich, obwohl es näher ist) o Papst: Alle Heilpädagogik, die nicht katholisch ist, ist nicht gut 2.6.2 Die Zürcher Sonderpädagogik 1931 wurde mit dem Lehrstuhl von Heinrich Hanselmann (1885-1960) Sonderpädagogik erstmals in Europa an einer Universität verankert o Frage: zu welcher Fakultät gehört das – medizinisch oder philosophisch? Seine Sonderpädagogik war demokratisch angelegt und offen kritisierte er auch die rassistische Sonderpädagogik des NS-Systems Reger Austausch mit Theodor Heller in Wien 2.6.3 Grundlagen von Hanselmann und Moor Liberale, demokratische Pädagogik mit pietistischem Hintergrund o Pietismus: tief im Glauben verankert, Leben richtet sich nah an Bibel Entwicklungsbegriff bei Hanselmann im Zentrum (Biologe bzw. Neurobiologe) – zentraler Begriff: Entwicklungshemmung → Behinderung = gehemmte Entwicklung o Eher biologische Begriffe Zentrale Begriffe bei Moor: innerer und äusserer Halt o Eher religiöse Begriffe 2.7 Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg 2.7.1 Prägende Entwicklungen Elterninitiativen (in CH eher demographische Gründe) 1940-er bis 1960-er Jahre zudem geprägt durch mangelnde Öffnung und Vernetzung mit internationalen Entwicklungen in der Sonderpädagogik o Schulen waren nicht mehr gefüllt – mussten zusammengenommen werden o Erste Ansätze über andere institutionelle Lösungen nachzudenken 2.7.2 KMK-Empfehlungen von 1960 Kultusminister Konferenz «Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens» und Drang nach ideeller und schulorganisatorischer Eigenständigkeit o 12 verschiedene Schularten: Blindenschule, Erziehungsschule, etc. Die enthaltenen Empfehlungen legitimieren Heil- und Sonderpädagogik zum ersten Mal seitdem 2. WK nicht über soziale Brauchbarkeit und Entlastung von Volksschule, sondern über individuelle Rechte auf angemessene Bildung und Erziehung, in dem an die «Pflicht der Allgemeinheit» und die «Achtung vor der Menschenwürde» auch behinderter Menschen erinnert wurde 2.7.3 Dennoch… Doppelmotiv Hilfe (für Individuen) und Entlastung (der sozialen Gemeinschaft) der Volksschule war allgegenwärtig und wurde nicht hinterfragt Starke Spezialisierung (und damit systeminterne Segregation) insbesondere des deutschen Sonderschulsystems o Man wollte es Ihnen wieder ‘gut’ machen nachdem man so viele von ihnen im 2.WK tötete o Trotz der Spezialisierung, nachher schwierig in die Gesellschaft wieder zu integrieren Nach wie vor personelle Kontinuität o Von Personen mit «brauner» (Nazi-)Vergangenheit Ideelle Kontinuität spürbar 2.7.4 Erste kritische Einwände und Gegenentwürfe Seit den 1960er Jahren auch Reformdebatten, die eingebettet waren in allgemeine gesellschaftliche Abstimmungen (68-er) o «Krüppelbewegung» - nahmen extra die «schlechten» Begriffe und wollten diese wieder gut machen Sozialkritik und pädagogische Forderungen 2.7.5 Von Sondereinrichtungen zu Integration zu Inklusion Sein den 1980er Jahren die inhaltliche Ausrichtung von einem grundlegenden Wandel geprägt o Starke Separierung und Segregierung in Hilfsschulen begann man zu kritisieren/ hinterfragen → man stellte sich die Fragen wie/was/wann erst im Nachhinein Die Integration von Menschen mit Behinderungen ändert nicht nur das System professioneller Hilfen, sondern hat weit reichende Auswirkungen auf die Entwicklung der Sonderpädagogik als Wissenschaftsfach Seit den frühen 200-er Jahren spricht man zunehmend von Inklusion (VL 08.12.2022) 2.7.6 Zusammenfassung Der Zweite Weltkrieg hatte verheerende Folgen für die Sonder- und Heilpädagogik im deutschsprachigen Ausland Die Schweiz konnte als einziges Land eine Kontinuität aufweisen, auch personell (Bedeutung von H. Hanselmann) o In Deutschland wurde man manchmal vom Primarlehrer zum Professor an einer Universität, weil man sonst niemanden für die Stelle hatte 2.8 Literatur: Die Professionalisierung der Heil-/Sonderpädagogik in der deutschsprachigen Schweiz (1850-1950) 2.8.1 Einleitung Schwierigkeit in der Schweiz, sodass sich Heilpädagogik gleichmässig entwickeln konnte waren z.B. die vier Landessprachen, versch. Religiöse Bekenntnisse und 25 Erziehungsdirektionen Aufsatz soll dazu dienen den Überblick über die Anfänge der HP/SP als Praxis, Ausbildung, Profession und Disziplin geben 2.8.2 Begriffserklärung Professionalisierung o Einen über einen längeren Zeitraum zu rekonstruierenden gesellschaftlichen Prozess, im Verlauf dessen sich eine bestimmte Tätigkeit zunächst als Lohnarbeit zu etablieren beginnt (Praxis) und sich dann auf den Auf- und Ausbau einer spezifischen Ausbildung und Disziplin hin zu einer Profession fortentwickelt o Professionalisierungsforschung in versch. Typologien ▪ Erarbeitung von Wissen (Disziplin) ▪ Erwerb durch angehende Professionelle (Ausbildung, Definition und Durchsetzung von Ausbildungsstandards) ▪ Etablierung von professionsspezifischen Werten (Berufsethik) ▪ Position einer Profession in Bezug zu anderen (Autonomie, Kooperation) o Im Zusammenhang mit solchen Prozessen entstehen Berufsverbände, welche sich für einen Regelung des Berufszuganges, die Qualität der Ausbildung und der Berufsausübung (Berufskodex) stark machen o Professionelle zeichnen sich dadurch aus, dass sie bestimmte Kriterien haben: ▪ Verfügen über besondere Qualifikationen, gestützt auf einer Berufswissenschaft ▪ sind in ihrem Handeln relativ autonom ▪ orientieren sich an berufsethischen Werten und sind sich dessen bewusst (professionelle Identität) o Zur Erforschung von Professionalisierungsprozessen gehört die Untersuchung der strukturellen Voraussetzung, unter denen professionelles Handeln erst möglich wird o Im untersuchten Zeitraum ist eine Entwicklung in Richtung einer so verstandenen Professionalisierung festzustellen Heil-/Sonderpädagogik o Der Autor verwendet den historisch älteren Quellenbegriff Heilpädagogik und fasst unter ihm auch Begriffe wie Heil- und Sondererziehung zusammen o Er bezeichnet darunter Aktivitäten wie Bildung, Erziehung und Fürsorge von Menschen mit Behinderung ▪ Auch das Volksschulsystem (Bildung) sowie traditionell als sozialpädagogische (Erziehung) und als sozialarbeiterische (Fürsorge) bezeichnete Aktivitäten o Das relativ umfassende Verständnis vom Begriff ist nötig, weil in der Schweiz, aufgrund kleiner Verhältnisse und der föderativen Struktur, wenig Spezialisierungen stattfinden konnten und Institutionen deswegen zu einem breiten Profil gezwungen waren o Hauptgewicht heilpädagogischer Bemühungen liegt im Bereich von Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen, in der Regel mit stärkerer Gewichtung auf Bildung Deutschsprachige Schweiz in der Zeit 1850-1950 o Zu dieser Zeit umfasste die deutschsprachige Schweiz ca. 2/3 der Bevölkerung o Um die Entwicklung der HP zu rekonstruieren, waren zentrale staatliche Voraussetzungen wichtig: ▪ Liberaler Bundesstaat mit seinem beschränkten sozialpolitischen Interesse und einer Bevorzugung für nichtstaatliche Interventionen in der Sozialpolitik ▪ Föderalistische Struktur mit weitgehend autonomen Subsystemen ▪ Sprachliche Aufteilung an den drei unterschiedlichen heilpädagogischen Traditionen, die die sprachgrenzenüberschreitende Kooperation erschwerte ▪ Konfessionelle Spaltung der Schweiz – katholisch, protestantisch – die die Entwicklung der HP durch die konfessionelle Konkurrenz förderte, aber die Professionalisierung durch die Konfessionalisierung von Professionsfragen hinderte ▪ Staatliche Entwicklung im Verhältnis zum Ausland, vor allem weil der Bundesstaat auf demokratischer Grundlage organisiert war und nicht in den beiden Weltkriegen involviert war o Die Initiative zur Institutionalisierung der HP als Praxis kam immer seitens privater Organisationen oder einzelner Pioniere*innen o Gemeinde und Kantone kamen erst in der Phase der Konsolidierung (Festigung bzw. Sicherung eines Bestandes) hinzu o Die dreifache und nicht deckungsgleiche Unterteilung des Landes führte dazu, dass kleinere Institutionen mit kleineren Einzugsgebieten entstanden (Praxis und Ausbildung) o Infolge der Konkurrenzsituation (zws. Kantonen und Konfessionen) wie auch Kommunikationsschwierigkeiten waren die Angebote regional gut aber landesweit schlecht koordiniert ▪ Es kam kaum zu Spezialisierungen der Angebote, da die Einzugsgebiete zu klein waren o An den strukturellen Voraussetzungen änderte sich erst mit dem Abklingen der konfessionellen Spaltung in der zweiten Hälfte des 20. Jh. und stärker dann mit der Einführung der schweizerischen Invalidenversicherung 1961 o Geschichtsschreibung der HP in der Schweiz schwierig, weil heutzutage viele Institutionen privat sind und somit die Quellensuche abhängig ist vom Zugang zu Privatarchiven, zu denen Teils ohne Begründung Zugang verweigert werden kann 2.8.3 Leitlinien der Geschichte der Heilpädagogik in der Schweiz (1800-1950) Die Entwicklung lässt sich in drei Phasen unterteilen Phase 1 (ca. 1800-1899): o Die Institutionalisierung begann mit der Gründung von Institutionen zur Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit Sinnesbehinderungen o Ca. ¼ des 19.Jh. versuchte man an versch. Orten Menschen mit geistiger Behinderung zu bilden, erziehen und ‘heilen’ o Wegen Guggenbühls Bestrebungen zur ‘Heilung des Kretinismus’ leitete er die ‘stille Zeit der Idiotenfürsorge’ ein, die bis zum Ende der ersten Phase dauerte o Massgeblich waren in dieser Phase liberale Vereinigungen oder einzelne Pioniere*innen o Entwicklung setzte in deutschsprachigen Stadtkantonen früh ein, wurde dann von der protestantischen französischen Schweiz aufgenommen und führte mit einiger Verspätung auch in katholischen Stadt- und später Landkantonen zu entsprechenden Gründungen o Zentral im katholischen Bereich war die Gründung von den sogenannten Schwesterkongregationen, welche Ende 19.Jh. aktiv wurden Phase 2 (ca. 1890-1918): o Führte zu einer umfassenden Industrialisierung der Praxis im Schulbereich o Ausgangspunkt war der in der ganzen Schweiz einsetzender Ausbau des Volksschulwesens o Die zunehmende Durchsetzung der Schulpflicht, wie auch die Verbesserung der Unterrichtsqualität liessen sich zeitgleich an versch. Orten das Problem der «Schwachbegabten» als drängend erscheinen o Die Lösung wurde in der Ausdifferenzierung des Volksschulsystems durch Schaffung von Spezial- oder Hilfsklassen gesehen o Mit dem Doppelargument* war eine Formel gefunden, mit der die heilpädagogische Praxis zum ersten Mal vor dem Hintergrund der allgemeinen Schulpflicht Anspruch auf staatliche Mittel stellen konnte ▪ *«Entlastung» der Volksschule ▪ Bessere Förderung der «Schwachbegabten» o Je nach Ressourcenlage, setzten die Kantone die Entwicklung unterschiedlich schnell um, wobei katholische Landkantone mit grosser Verspätung nachzogen o Mit der Schaffung von «Erziehungsanstalten für Schwachsinnige» in denen Kinder und Jugendliche unterrichtet werden sollten, die den Unterricht in der Spezialklasse nicht zu Folgen vermochten und als «nicht bildungsfähig» beurteilt wurden, war die nächste institutionelle Differenzierung gelegt o In katholischen Kantonen lag der Bereich der Erziehungs- und Pflegeanstalten überwiegend in kirchlichen Händen o Der erste Fachverband im Bereich der HP wurde gegründet, womit die föderative, sprachliche und konfessionelle Unterteilung im HP-Bereich ansatzweise überwunden werden konnte, da er den Auf- und Ausbau des HP-Bildungs- und Erziehungssystems kantonsübergreifend koordinierte o Das Problem das noch blieb, war das der Ausbildung von Fachkräften, wobei mit «wandernden» Bildungskursen der Grundstein für spätere Institutionalisierung gelegt wurde Phase 3 (ca. 1918-1950): o Die Phase brachte die Konsolidierung der in den frühen drei Jahrzehnten aufgebauten heilpädagogischen Praxis und anderseits eine ansatzweise Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der heilpädagogischen Arbeitsfelder Trotz der Nicht-Teilnahme der Schweiz am Krieg, fanden sich etliche Institutionen am Rand des finanziellen Ruins, wobei man auch feststellen musste, dass die bisherige Möglichkeit des Ausbildungs- und Wissenstransfers aus den umliegenden Ländern faktisch nicht mehr möglich war Mit der Gründung von SVfA (Schweizerischen Verein für Anormale) und Pro Juventute wurde eine ‘Dachorganisation ins Leben gerufen, die in der Bildung, Erziehung und Fürsorge von Menschen mit einer Behinderung tätig waren o So konnte der Bund die Institutionen indirekt finanziell unterstützen (SVfA - Subventionsempfängerin) Das zweite Problem war, dass frühere Bemühungen um eine feste Institutionalisierung der Ausbildung wieder Auftrieb erhielten o Führte zur Gründung des Heilpädagogischen Seminars, das gemäss Statuten ein konfessionell neutrales Seminar sein sollte, jedoch einen unverkennbaren protestantisch-interkonfessionellen ‘Beigeschmack’ hatte Josef Spieler (dt.) erhielt die Lehrbefugnis an der Universität Freiburg für Heilpädagogik und legte somit den Grundstein für eine mit der Universität verbundene HP-Ausbildung o Die «Katholische Heilpädagogik» musste jedoch nach der Ausweisung von Josef Spieler, der vom Bundesrat nach dem 2. WK. aufgrund unterstellten und erst im nachhinein bewiesenen Nazisympathien des Landes verwiesen worden war, von Grund auf neu beginnen Das vom Genfer Institut «Jean-Jaques Rousseau» 1916 herausgegebene Buch von Alice Descœudres über die «Erziehung der anormalen Kinder» war das erste heilpädagogische Lehrmittel, das in der Schweiz verfasst wurde 2.8.4 Aspekte der Professionalisierung 2.8.4.1 Heilpädagogische Praxis Die Praxis war in eine Vielzahl weitere Institutionen- und Berufsverbände unterteilt, bedingt durch die föderative, konfessionelle und sprachliche Trennung Die Verberuflichung- und Professionalisierungsprozesse hatten auch je nach Handlungsfeld sehr unterschiedliche Tempi o Ein erster Verband der Entstand war der, der Taubenstummlehrer Mitte 19. Jh. o Im Erziehungs- und Fürsorgebereich dauerte es wesentlich länger → entscheidend waren die unterschiedlichen staatlichen Voraussetzungen o Der Erziehungs- und Fürsorgebereich blieb länger von staatlichen Regelungen unerfasst und erhielt auch weniger finanzielle Unterstützung Besonders schwierig war die Situation im Bereich der katholischen HP, die in erster Linie über den konfessionellen und weniger über den professionellen Bezug auf ein HP-Praxisfeld definierte o Die ständig angespannte Finanzlage der Institutionen führte zu einer sehr hohen Arbeitsbelastung der Mitarbeitenden, wobei nicht nur ideologische Gründe im Weg einer Professionalisierung standen, sondern auch finanzielle Gründe 2.8.4.2 Ausbildungen Während der Bereich der Bildung analog zum Volksschulsystem aufgebaut und relativ schnell von Staat finanziell tatkräftig unterstützt wurde, war der Erziehungs- und Fürsorgebereich, auch was die Ausbildung von Fachkräften anging, weniger von staatlichen Regelungen durchdrungen, erhielt aber auch weniger Subventionen Die Ausbildungen waren nicht akademisch auch wenn sie eng mit den Universitäten verbunden waren, denn nur durch diese Doppelstruktur liessen sich die Ausbildungsstätten in die damalige Logik des schweizerischen Bildungssystems integrieren Kennzeichnend war auch die Nähe von schulischer und nichtschulischer HP, von Bildungs- und Erziehungsfragen Die Zuweisung von Bildung zur HP und Erziehung zur Sozialpädagogik in der Ausbildungsthematik erfolgte erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh. In Solothurn und in Basel gegründeten «Fräulein- und Schwesterschulen» stand die Zahl der diplomierten Abgänger*innen in einem Missverhältnis zur Nachfrage nach besonders heilpädagogisch qualifizierten Fachleuten, wobei das am ausgeprägtesten im Erziehungsbereich war 2.8.4.3 Disziplin Es war sehr überraschend, dass es in der Schweiz zu einer universitären Etablierung der HP kam, weil die HP-Ausbildung wie auch die allgemeine Lehrer*innenbildung nicht universitär war und es somit keine strukturellen Gründe gab, einen entsprechenden Lehrstuhl einzurichten Zürich war der ideale Boden zur Entwicklung des Lehrstuhls für HP und Jugendfürsorge, weil es in der sozialstaatlichen Entwicklung anfangs 20. Jh. im schweizerischen Kontext federführend war Hanselmann, der die ideale Besetzung war, war deshalb geeignet, weile er durch den Einbezug naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auch ausserhalb des Bereichs der philosophischen Fakultät als «wissenschaftlich» galt Während in Zürich v.a. um die disziplinäre Erschliessung des entstandenen HP-Praxisfeldes ging, stand in Freiburg die Rekatholisierung des als bedroht wahrgenommenen älteren Handlungsfeldes der Bildung und Erziehung im Vordergrund o Zürich: Vor allem Modernisierung der Verknüpfung und Systematisierung von Wissen aus Natur- und Geisteswissenschaft in Bezug auf den professionellen Gegenstand o Freiburg: Abwehr dieses neuen Wissens bzw. darum «das Gute herauszuholen, es mit unserer katholischen Weltanschauung in Einklang zu bringen und dann zum Wohle unsere armen Kinder anzuwenden» o Zürich: Hanselmann wählte als seine Leitbegriffe: «Entwicklung» bzw. Entwicklungshemmung als Leitkonzept für die HP und integrierte unter diesem Aspekt biologisches, psychisches und soziales Bezugswissen o Freiburg: Der «Wertsinn», gestützt auf eine theologisch-philosophische Wertlehre mit Gotteserkenntnis als obersten Wert, wurde zum obersten Leitbegriff im katholischen Kontext Die katholische HP war zu dieser Zeit vor allem katholisch und erst dann heilpädagogisch Das gegenseitige Ignorieren der beiden Heilpädagogiken war Ausdruck ihrer Differenzen o International anerkannt wurde praktisch ausschliesslich die Zürcher HP Die Schweiz war das einzige, deutschsprachige Land, in dem sich die HP in der ersten Hälfte des 20. Jh. kontinuierlich und ohne dramatische Zäsuren entwickeln konnte 2.8.4.4 Werte HP war in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jh. in der Frage nach der Bedeutung professionsspezifischer Werte theoretisch und praktisch gespalten In Zürich war die Wertefrage nicht zentral thematisiert – man orientierte sich an liberalen christlich-humanistischen Ethikvorstellungen In Freiburg waren die Wertefrage und die Orientierung an einem rechtskatholischen antimodernistischen Bezugsrahmen heilpädagogisches Programm Der Boden, für eine gemeinsame Berufsethik war nicht gegeben, solange in Freiburg die Konfessionslogik die Professionslogik dominierte und in Zürich umgekehrt 2.8.5 Fazit: Heilpädagogik als Profession Es sind mehrfach unterteilte Prozesse mit grossen kantonalen, konfessionellen und sprachräumlichen Unterschieden, sodass in dieser Zeit in der Schweiz nicht von Heilpädagogik als Profession die Rede sein kann Es entwickelte sich keine heilpädagogische Professionalität, sondern allenfalls Ansätze der Professionalität in bestimmten heilpädagogischen Handlungsfeldern Weder war der Berufszugang abschliessend über gewisse Qualifikationen geregelt, noch erfolgte eine Orientierung an einer gemeinsamen Berufswissenschaft und Berufsethik Es lässt sich also angesichts der grossen Unterschiede bezweifeln, ob es so etwas wie eine die verschiedenen Unterteilungen überwindende heilpädagogische Identität gab o Dass es zu dieser Situation kam, hat viel mit der staatlichen Grundstruktur der CH zu tun, wie sie mit der Gründung 1884 gelegt wurde und deren Auswirkungen in HP- Praxisfeld bis heute zu spüren sind 3 Disziplinäre Begründungen und Behinderungsbegriff 3.1 Einführende Bemerkungen 3.1.1 Ein Thema, das alle angeht In Ländern mit einer Lebenserwartung von über 70 Jahren verbringen Menschen im Durchschnitt acht Jahre oder 11,5% ihrer Lebenszeit mit einer Behinderung Zudem hat jeder Mensch Hunderte von Mutationen in seinem Genom, viele davon haben Prädispositionen für Krankheiten oder Schädigungen o Es ist also eher eine Ausnahme, dass sich die Gene nicht irgendwann zu Krankheiten z.B. Krebs ausweiten bzw. dass man ohne eine Genschädigung geboren wird 3.1.2 Geschichte des Begriffs Behinderung Krankheit und Behinderung wurde vor dem 20. Jahrhundert gemeinsam klassifiziert Vor dem 20. Jahrhundert sprach man konkret von Blindheit, Taubheit etc. o Viele Gedanken, Ideen aus der Weimarer Republik Behinderung ist ursprünglich ein sozialrechtlicher, kein politischer oder pädagogischer Begriff → es werden sozialrechtliche Ansprüche mit diesem Begriff erklärt bspw. Versicherungsansprüche und nicht pädagogische Ansprüche 3.1.3 Komplexität des Begriffs Behinderung Sozialrechtlich ist Behinderung an Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft geknüpft o Verschiedene Personen mit der gleichen Behinderung sind unterschiedlich beeinträchtigt ▪ z.b. gebrochenes Bein bei Ivana und Kornelia beeinträchtigt unterschiedlich → Ivana kann nicht mehr Tanzen → kein Geld verdienen → Kornelia kann im Kaffee stehen und arbeiten → Geld verdienen Allerdings fehlt soziologisches Wissen darüber, wann die Teilnahme einer Person am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist und wann nicht (Felkendorff 2003) o Man versucht das mit dem Rückgriff auf die Medizin zu lösen – leiten davon ab, dass es mit einer Krankheit/Behinderung «X» zu einer Beeinträchtigung «Y» am Arbeitsleben kommt Gelöst wird das Problem mit Rückgriff auf medizinische Kategorien 3.2 Sprache und Behinderung 3.2.1 Behinderte Menschen (z.B. UK – Disabled People) Behinderte Menschen werden behindert durch die Gesellschaft o Weil die Menschen im Vergleich zur Gesellschaft anders (behindert) sind Die Bezeichnung behinderte Menschen substantiviert also nicht die Behinderung als Eigenschaftsmerkmal von Menschen, sondern will betonen, dass diese Menschen behindert werden durch Einflüsse, die ausserhalb ihrer Person liegen o Dieser Begriff soll ausdrücken, dass solche Personen ausgeschlossen aus der Gesellschaft sind 3.2.2 Menschen mit Behinderung (z.B. USA, Canada, aber auch bei uns) Menschen mit Behinderung (Bsp. People First Bewegung): o Sie haben eine Behinderung/ Störung, sie sind aber immer noch Menschen «Ich möchte nicht als ‘geistig Behinderter’ bezeichnet werden. Das verletzt mich. Dazu hat kein Mensch das Recht. Bitte unterstützen Sie uns weiterhin dabei, gegen dieses Unrecht zu kämpfen. Ich bitte Sie: Erzählen Sie auch anderen Menschen von unserer Unterschriften- Liste. Damit der Begriff geistig behindert (dies ist auch eine Substantivierung) endlich abgeschafft wird.» - Stefan Göthling: Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e.V.: 1000 Unterschriften gegen den Begriff ‘geistige Behinderung’ 3.2.3 Behinderung als individuelles Defizit vs. Soziale Zuschreibung Die beiden Begriffe, die wir vorher kennengelernt haben, werden nicht klar einer dieser Sichtweisen (individuelles Defizit vs. Soziale Zuschreibung), sondern sie betonen diese zwei Sichtweisen. Frage: Ist Behinderung ein individuelles Defizit oder eine Sozial Zuschreibung? Individuelles Defizit (Stefan Göthling zielte auf Soziale Zuschreibung (v.a. in UK dieses das ab) Denken) Behinderung als individuelle Defekte, Die soziale resp. gesellschaftliche die Grundbehinderungen, lösen Bedingtheit von Behinderung wird Folgebehinderungen in der Erziehung betont: «Behindert ist man nicht, und Bildung aus (Ulrich Bleidick z.B. behindert wird man (durch spricht von ‘Erziehungsbehinderungen) Gesellschaft).» Individuellen Normabweichungen Menschen mit Behinderung werden unterscheiden sich hinsichtlich ihrer durch solche Zuschreibungen Schwere, ihres Umfangs und ihrer exkludiert, marginalisiert, diskriminiert, Dauer. M.m.B. sind menschliche benachteiligt, stigmatisiert etc. ‘Sonderfälle’ Die Aufspaltung in getrennte ‘Sonderpädagogiken’ (z.B. Blinden-, Gehörlosen-, Geistigbehindertenpädagogik) 3.3 Modelle von Behinderung Medizinisches Modell: individuelle Defizitzuschreibung (Dominantere Sichtweise, aber auch viel kritisiert) Soziales Modell: soziale Zuschreibung bzw. Genese der sozialen Auffassung von Behinderung 3.3.1 Soziales Modell 1983 prägte der britische Sozialwissenschaftler Michael Oliver den Ausdruck «soziales Modell von Behinderung» in Bezug auf seine ideologische Entwicklung o Wenn man mit 20Jahren wegen einem Unfall auf dem Rollstuhl landet, weil man gelähmt ist, ist man NICHT behindert, sondern beeinträchtigt! Ablehnung des individuellen Modells von Behinderung und hin zu einer sozialen Sichtweise, weil nach Oliver dort die Probleme liegen: Wie bspw. Gesellschaft mit Behinderten umgeht, sie ausgrenzt etc. Unterscheidung zwischen Beeinträchtigung und Behinderung durch die UPIAS zentral o UPIAS = britische Selbsthilfe-Organisation 3.3.2 Medizinisches vs. soziales Modell von Behinderung Medizinisches (individualistisches) Modell: o Behindert durch Schädigung o Behinderung als individuelles Defizit, man braucht ‘Sonderanthropologie’ (Landmeier & Landmeier 2012) ▪ Sonderanthropologie = Sonderbeschreibung dieser Menschen, weil sie grundlegend anders sind o Problem der unreflektierten Normativität (man weiss nicht was an Schädigung bzw. Beeinträchtigung eine bestimmte normative Relevanz hat) Soziales Modell (heute diese Sichtweise als main stream): o Konzept dahinter ist die Menschenrechtsbewegung o Behindert durch soziale Unterdrückung o In UK: Bedeutung der Union of the Physically Impaired Against Segregation UPIAS (Vereinigung der körperlich Beeinträchtigten gegen Segregation) ▪ «Behinderung ist etwas aufgezwungener, zusätzlich zur Beeinträchtigung durch die Art und Weise, wie man von der vollen Teilnahme an der Gesellschaft unnötigerweise isoliert und ausgeschlossen sind» → Auf dies hat Oliver Bezug genommen → «man ist behindert, weil man sozial unterdrückt ist» o Für den deutschsprachigen Raum z.B. Wolfgang Jantzens historischer und dialektischer Materialismus (Marxistische Sichtweise) (Behinderte Menschen als ‘Arbeitskräfte minderer Güte’ – Beeinträchtigung liegt vor allem in der Unterdrückung und dem Ausschluss aus dem Arbeitsleben) oder Walter Thimms ‘Soziologie der Behinderten’ o Problem der Trennung von Körper und Sozialem o Konzept dahinter = Menschenrechtsbewegung in den 60-70ern 3.3.3 ICIDH Modell der WHO (1980) → Medizinisches Modell International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps → Erweiterung zu ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) Impairment (Schädigung): beeinträchtigende Veränderung in psychologischer, physiologischer oder anatomischer Hinsicht Disability: Beeinträchtigung im Vollzug von Funktionen und Rollen als Folge einer Schädigung Handicap → Behinderung: bezogen auf die Gesamtfolgen einer bestimmten Beeinträchtigung insbesondere in sozialer Hinsicht Folge = Behinderung wird als Folge angesehen Linear kausal - Liegt beim Individuum Ziel des Modells: Soziale Folgen sollen aufgezeigt werden Schädigung = Verlust von etwas / normabweichend Fähigkeitsstörung = Aktivitäten können nicht «normal» durchgeführt werden Soziale Beeinträchtigungen = Benachteiligungen werden aufgezeigt 3.3.4 ICF Modell der WHO (2001) Versteht Behinderungen sind nicht linear kausal, sondern ein faktorbedingtes Konzept → multikausal – viel vernetzter mit vielen Rückkoppelungen Umweltfaktoren = Ebene des Individuums (Familie, Schule) / Ebene der Gesellschaft (Angebot, Dienste) → wird beim anderen Modell nicht miteinbezogen Personenbezogene Faktoren = Geschlecht/Alter/Fitness/Gewohnheit → wurde bei diesem Modell auch neu ergänzt 3.3.5 Konzeptuelle Grundlage der ICF Bio (Körper)-psycho (Inneres)-soziales (Gesellschaftlich) Verständnis von Behinderung Universalität – Behinderung ist nicht ein klar definiertes Merkmal einer Gruppe von Menschen Kontextabhängigkeit – Es gibt Faktoren in der Umwelt UND in der Person, die die Behinderung beeinflussen (Behinderung + ihre Wahrnehmung) Phänomenologische Situationsbeschreibung – ICF beschreibt Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt Transdisziplinarität – ICF = Rahmenklassifikation, die für verschiedene Nutzer*innen angewendet werden (z.B. Schulgespräche als Zusammenarbeit von versch. Disziplinen) 3.3.6 Andere Modelle Kulturelles Modell (Anne Waldschmidt) – Modell möchte Fokus des sozialen Begriffs auf die Kultur hinzufügen: Es ist kulturabhängig wie wir über Behinderung denken Menschenrechtsmodell (Theresia. Degener) – Menschen mit Behinderungen haben auch Rechte wie ‘normale’ Menschen → Nach Dozentin nicht wirklich Modellebene, sondern Ebene einer normativen Forderung 3.4 Was Behinderung nicht (nur) ist 3.4.1 Behinderung ist keine Krankheit Krankheit ist heilungsbedürftig, es handelt sich um ein pathologisches Geschehen o z.B. Bein gebrochen → etwas ist geschädigt → kann geheilt werden Behinderung ist ein Ausdruck einer funktionellen Einschränkung als Resultat eines pathologischen Prozesses (resp. seiner Interaktion mit Umweltbedingungen) Die professionelle Kernaufgange bei Behinderung ist nicht Heilung Dennoch Übergänge von chronischer Krankheit zu Behinderung o z.B. Lähmung wegen Umfall → laufen wird zu rollen (Rollstuhl) 3.4.2 Behinderung ist nicht (nur) eine Barriere Barriere und Behinderung sind relational und kontextsensitiv Beide haben mit dem Körper zu tun Bei Gleichsetzung von Behinderung mit Barriere Annahme, dass Barrieren extern zur Person und veränderbar sind o z.B. Stufen (extern), die Zugang verhindern, können durch Rampen ersetzt werden (veränderbarer Umweltfaktor) Es gibt aber auch Barrieren, die intrinsisch zur Person sind und verändert werden können o z.B. Sehbeeinträchtigung durch Brillen Es gibt zudem auch externe Barrieren, die nicht leicht (oder nur mit Nebenfolgen) veränderbar sind o z.B. Bedeutung von Schriftsprache in unserer Gesellschaft 3.4.3 2 Achsen von Barrieren Intern-stabil: Blindheit Intern-veränderbar: Sehschwäche veränderbar durch Brille Extern-stabil: Berge als Barriere, können nicht verändert werden Extern-veränderbar: Treppen als Barriere können zu Rampen verändert werden → v.a. auf diesen Punkt zielt das soziale Modell 3.5 Zusammenfassung Behinderung ist ein doppeltes Label (wenn nicht sogar mehr) Heute gehen wir mehrheitlich davon aus, dass Behinderung ein relationales, komplexes Verhältnis von biologischen sozialen und psychologischen Momenten ist und eher ein Prozess denn ein Zustand darstellt Behinderung soll nicht mit Krankheit oder Barriere verwechselt werden. Von beiden unterscheidet sie sich, auch wenn es Überschneidungen gibt 3.6 Literatur: Behinderung und Benachteiligung als pädagogische Herausforderungen 3.6.1 Die Funktion wissenschaftlicher Grundbegriffe Grundbegriffe = besitzen eine Orientierungs- und Ordnungsfunktion für den fachlichen Diskurs innerhalb einer Disziplin Sie ermöglichen die Verständigung innerhalb der ‘scientiftc community’, sie bestimmter also nicht nur den Gegenstandsbereich, sondern auch den Verantwortungsbereich der Wissenschaft Begriffe werden leitend zur Identifikation besonderer Unterstützungsbedürfnisse und sind somit definitionsmächtig, können zur Etikettierung, zur Einschränkung oder Ausweitung verwendet werden Werden häufig als Klassifikationssysteme abgeleitet Unterschiedliche erziehungswissenschaftliche Theorien basieren auf unterschiedlichen begrifflichen Grundlagen Die gegenwärtige Situation ist durch die gewisse Unübersichtlichkeit gekennzeichnet, die auf eine tiefe Verunsicherung hinsichtlich des Gegenstands- und Verantwortungsbereichs der erziehungswissenschaftlicher Teildisziplin zurückzuführen ist Teildisziplin wird als Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung bezeichnet Begrifflichkeiten müssen: o Einer handlungs- bzw. professionstheoretischen Wissenschaftskostitution der Erziehungswissenschaft als Ganzer zuträglich sein und das Zusammenwirken der einzelner erz.wiss. Teildisziplinen fördern o Im Sinne der Interdisziplinarität eine ‘gemeinsame Sprache’ ermöglichen & professionelles Handeln trotz unterschiedlicher Gegenstandsperspektiven erleichtern o Zur Klärung drängender gesellschafts- und bildungspolitischer Fragen einen konstruktiven Beitrag leisten 3.6.2 Behinderung 3.6.2.1 Behinderung als individuelles Defizit Von Anfang an wurden Begriffe verwendet, die einen bestimmten Personenkreis von den ‘Normalen’ abgrenzen In individualtheoretischer Sicht gelten Behinderungen und Beeinträchtigungen als individuelle Defizite, deren Auftreten Hilfs- bzw. Unterstützungsleistungen erfordern «Die pädagogische Anthropologie im Sinne Bleidicks geht – um es überspitzt zu sagen – nicht vom Menschen, sondern vom Behinderten aus», weil die Menschen zu Behinderten werden Fünf Reflexionsschritte: o Definition als Krankheit, Folgeleiden von Krankheit, Devianz, Dysfunktionalität, Defekt usw. o Aus dem Menschen wird ein Behinderter (vs. er hat oder lebt mit Behinderungen) o Identifikation des Menschen mit seinen Beeinträchtigungen → der als behindert geltende Mensch hat sich am Massstab der Nicht-Behinderten zu messen o Erziehung im Zusammenhang mit eingeschränkter Lernmöglichkeiten; die Person ist in seiner Bildsamkeit gestört o Theorie der Wohltätigkeit: verstehen die Erziehung und Bildung als Hilfe für die ‘schwächsten’ Glieder der Gesellschaft Man soll das anthropologische Paradigma der Behinderung durch ein ethisches der Integration zu ersetzen, das auf eine Ethik der Anerkennung in Bezug auf Selbstachtung und Gerechtigkeit abhebt Die Normativität lässt sich nicht gleichsam am Menschenbild ablesen, und soll letztendlich auf Freiheit und Gleichheit gegründet werden Aus individualtheoretischer Sicht werden die Normabweichungen hinsichtlich der Schwere, Dauer und Umfang vorgenommen → drei Grade von Beeinträchtigung o Behinderung als umfängliche, schwere und langfristige Beeinträchtigung → Sondererziehung als Kernaufgabe der Sonderpädagogik o Störungen als partielle, weniger schwere und kurzfristige Beeinträchtigung → Fördererziehung von sonderpädagogischen Fachkräften o Gefährdungen als Beeinträchtigungen, die zu Störungen oder Behinderungen führen können → präventive pädagogische Massnahmen Soziale Benachteiligung wird zu einer personen- oder merkmalsbezogenen Kategorie umgedeutet, um sie am Individuum bearbeitbar zu machen o Wird seither als drohende Behinderung aufgefasst und soll in die Überlegungen zur Organisation sonderpädagogischer Förderung einbezogen werden Als sozial benachteiligte Kinder gelten solche, deren o Intellektuelle, emotionale und soziale Entwicklung aufgrund von Besonderheiten des häuslichen Milieus und der sozialen Schicht im Vergleich zur Mehrheit der Gleichaltrigen retardiert ist o Familien gestört sind und sie in Heimen unterbracht sind Die Aufspaltung in getrennte ‘Sonderpädagogiken’ wir aus heutiger Sicht als einseitige Auslegung wissenschaftlicher Spezialisierung im Zuge der Etablierung der Sonderpädagogik als Wissenschaft bei gleichzeitiger Vernachlässigung der in aller Regel komplexen Lern- und Entwicklungshindernisse behinderter und sozial benachteiligter Menschen kritisiert Zur Bearbeitung fachlich übergreifenden Zusammenhänge ist immer wichtiger die inner- und interdisziplinäre Kooperation 3.6.2.2 Behinderung als soziale Zuschreibung Wolfgang Jantzen versteht Behinderung als soziale Isolation, die nicht nur die gesellschaftliche Teilhabe gefährdet, sondern auch den Kontakt zum eigenen Selbst Defekte werden als wesentlich angesehen und doch wird Behinderung als sozialen Gegenstand begriffen Während Bleidick in den 1970er Jahren sagte, dass die betroffenen Menschen besondere Hilfe und Erziehung benötigen, weil sie die Norm nicht erreichen, ging es bei Jantzen darum ein ‘Behindertwerden’ durch die Gesellschaft abzubauen Stigmatheorie (Erwin Goffman) – wurde zur Stützung des individualtheoretischen Paradigmas herangezogen → menschliche Identität entwickelt sich innerhalb und mit Hilfe sozialer Interaktion, in denen durch Symbole kommuniziert wird – Symbole haben keine festgelegte Bedeutung o Stigma = negativ bewertende Eigenschaft einer Person oder einer Gruppe, durch die sie sich von der Normalität unterscheidet o Geht von massiven und zwangsläufigen Gefährdungen der Identität aus, wobei als Endpunkt die erlernte soziale Rolle gilt Behinderung als Stigma → Produkt sozialer Zuschreibungen → These der beschädigten Identität Wegen der undifferenzierten und selektiven sonderpädagogischen Rezeption der Theorie wurde angesehen, dass Identitätsstörungen nicht nur als Folge des Stigmatisierungsprozesses, sondern auch als Konsequenz der Behinderung angesehen werden kann Übersicht vom Begriff Behinderung: o Verwendung führt zu einer Stigmatisierung der betroffenen Individuen o Wegen Rückgriff auf individuelle, biologisch definierte Merkmale → Wesensmerkmal → kaschiert den Zugang zu tatsächlich gesellschaftlichen oder kulturellen Unterschieden o Festlegung individueller Mängel → menschliche Minus-Varianten o Höchst unterschiedliche Phänomene werden unter den Begriffen summiert → wegen Überdehnung werden Genauigkeit und Spezifität verloren o Tatsache wird verdeckt, dass es eine Folge von gesellschaftlichen Erwartungen und sozialen Reaktionen auf ‘Anders-sein’ ist o Trägt bei zu sozialer bzw. institutioneller Segregation o Gefahr die Personen, von vorne herein auf bestimmte Verhaltensweisen etc. festzulegen – self fulfilling prophecy o Ist ein negativ konnotierter Begriff 3.6.2.3 Behinderung als mehrdimensionales und relationales Konstrukt Klassifikation ICF bietet ein breites Spektrum von Informationen zur Gesundheit ICD-10 klassifiziert die Gesundheitsprobleme – ICF klassifiziert die Funktionsfähigkeit bei Behinderung Behinderung kann mit keiner Klassifikation der Krankheit adäquat beschrieben werden Zwei neue Erkenntnisse: o Behinderung ist etwas Relatives – Mensch ist nur in ganz bestimmten Situationen behindert o Mensch kann durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen zusätzlich sozial beeinträchtigt werden Definition: Die Beeinträchtigung ist charakterisiert durch eine Diskrepanz zwischen Verhalten und Status der Person und der Erwartung der speziellen Gruppe, deren Mitglied sie ist – entstehen im Ergebnis ihrer Unfähigkeit, sich den Normen diese Umwelt anzupassen, somit ist es ein soziales Phänomen, das die gesellschaftlichen und Umweltfolgen für den Menschen zum Ausdruck bringt, die seiner Schädigung und Fähigkeitsstörung zuzuschreiben sind Im erweiterten bio-psycho-soziales Modell der ICF wird Behinderung nicht mehr als Zustand, sondern als (Handlungs-)Situation angesehen 3.6.2.4 Disability Studies und menschenrechtliches Modell von Behinderung Disability Studies haben sowohl die Weiterentwicklung der ICF als auch die neuere Theoriebildung in der Sonderpädagogik beeinflusst Im Rahmen der Sonderpädagogik und der Rehabilitationswissenschaften wird Behinderung noch immer als Problem angesehen Bei den genannten Studien geht es um solche, die nicht ‘über oder zu Behinderungen’ sind, sondern ‘Behinderung als soziale Konstruktion’ betrachten Alle Forscher versuchen ihre Arbeit als den Versuch, Behinderung als Gesellschaftsprodukt und soziale Konstruktion zu konzeptualisieren Zentrale These ist, dass Behinderung ein historisches, kulturelles und gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal zu betrachten ist – man geht von einem sozialen Modell der Behinderung aus Behinderung ist als Teil der menschlichen Verschiedenheit zu betrachten 4 Die Struktur der besonderen Förderung und Begleitung: Rechtliche und bürokratische Rahmenbedingungen Wie ist die Schweizer Sonderpädagogik finanziert/ strukturiert/ welche Probleme stellen sich? 4.1 Rückblick Entwicklungen in Deutschland (Vorlesung 2) Nach dem 2. Weltkrieg: Anknüpfung an die Tradition der Hilfsschule von 1933 o versuchte es mit deren Hilfe ausbauen, da nach dem 2. WK nichts mehr vorhanden war o Schule für schwachbegabte Kinder Kultusministerkonferenz (KMK) 1972: Empfehlungen zur Sonderschulung als eigenständiger Schulform → Sonderschulpädagogik (Sonderpädagogik) o Für Kinder mit Behinderungen wurden spezielle Schulen errichtet (nicht Klassen) 1978: Schulpflicht für Schüler*innen mit schweren Behinderungen wird eingeführt o Vorher nicht immer möglich (zuhause oder in Institutionen) Seit den 1980-er Jahren: Schulversuche zur integrativen Schulung von Kindern mit besonderem Förderbedarf → stark von Elterninitiativen geprägt o «mein Kind soll nicht ausgesondert werden, es soll mit anderen Kindern zur “normalen“ Schule gehen 1990-er Jahre: Umbenennung Sonderschulen in Förderschwerpunkte o Wenn Sonderschule für Lernbehinderte dann waren es nur Kinder mit einer Lernbehinderung 2008: Unterzeichnung der UN-Konvention zum Schutz der Rechte der Behinderten in Deutschland → inklusive Schulung wird angestrebt 4.2 Sonderschultypen DE 1960 und 1972 Die Liste von 1960 wurde reduziert auf die Liste von 1972 KMK 1960 KMK 1972 Blindenschule Blinde Sehbehindertenschule Gehörlose Gehörlosenschule Geistig Behinderte Schwerhörigenschule Körperbehinderte Sprachheilschule Kranke Körperbehindertenschule Lernbehinderte Krankenschule Schwerhörige Hilfsschule Sehbehinderte Beobachtungsschule Sprachbehinderte Erziehungsschwierigenschule Verhaltensgestörte Gefängnisschule Sonderberufsschule 4.3 Von der Sonderschule zu den Förderschwerpunkten Ab 1990: Umbenennung der Sonderschulen in Deutschland Förderschule mit dem Förderschwerpunkt… o … Lernen (Aktuell: Sonderpädagogischer Schwerpunkt Lernen) ▪ Kinder mit Schwierigkeiten im Bereich «XY» o … Emotionale und soziale Entwicklung → Verhalten o … Geistige Entwicklung → intellektuelle/ geistige Behinderung o … Körperliche und motorische Entwicklung o … Hören o … Sehen o … Sprache Förderschulen in Deutschland auch noch heute; gleichzeitig mit dem Willen diese abzuschaffen und die Kinder möglichst schnell in Regelschulen zu integrieren 4.4 Bildungsangebot in der Schweiz: Bildung für alle? 1874: Unterrichtsobligatorium für alle und öffentliche Kontrolle des Unterrichts in der Bundesverfassung verankert o Heisst nicht, dass alle Kinder die Möglichkeit hatten die Schule zu besuchen 1889: Erste Schweizerische Konferenz für das Idiotenwesen → Gründung von Hilfs- und Spezialklassen sowie Anstalten. «Schwachbegabten» Kindern besondere Förderung zukommen zu lassen o Keine ganzen Schulen (in D schon) , sondern einzelne Klassen gegründet in CH o NICHT Kinder mit schweren Behinderungen gemeint o Besorgte Lehrkräfte zusammengetroffen und bestimmten, dass in den grossen Klassen, sie Schüler*innen haben, denen sie nicht helfen können 1897: Zählung des Eidg. Statistischen Amtes der schwachsinnigen, körperlich gebrechlichen und sittlich verwahrlosten Kinder im schulpflichtigen Alter → ein Teil der Kinder wird gar nicht beschult → Widerspruch zur Unterrichtspflicht für alle o Man wollte den Überblick haben, wie viele Kinder es mit besonderem Förderbedarf gibt Unterscheidung von Schwachsinnigen (schulungsfähig) und Blödsinnigen (nicht schulungsfähig) → Unterrichtspflicht nur für schulungsfähige o Kinder mit komplexen, schweren Behinderungen gefördert → Invalidenversicherung half sehr bei der Entwicklung o Schulungsunfähige → «die machen eh keine Fortschritte» → waren in Anstalten untergebracht oder zuhause, kriegten keine Förderung/ Anregung → vegetierten manchmal nur vor sich hin 4.5 Gründung der Invalidenversicherung (IV) 1960 IV: Sozialwerk mit unterschiedlichen Leistungen: Renten, Massnahmen zur beruflichen und medizinischen Eingliederung → Massnahmen gegen den Erwerbsausfall o Vor 1960 war nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung versichert gegen Folgen eines gesundheitsbedingten Arbeitsausfalls o Invalid = Jemand ist Erwerbungsunfähig Pflegebeiträge, Hilfsmittel oder Subventionen an Behinderteneinrichtungen → Schulung für «Bildungsunfähige Minderjährige» wird möglich o Es gab Anstalten für Kinder mit Behinderungen – privat finanziert, mit schlechten Zuständen → die IV griff den Institutionen unter die Arme «Als Sonderbedürftig im Sinne der IV gelten Minderjährige, deren Leistungsfähigkeit so stark beeinträchtigt ist, dass sie dem Unterricht in der Volksschule mit Einschluss der Hilfs- und Förderklassen (Kleinklassen) nicht zu folgen vermögen» o Schulungsmöglichkeiten eingerichtet für Kinder, die auch in Hilfsklassen nicht geschult werden konnten o Bildungsrecht für Kinder mit schweren Behinderungen viel früher als in Deutschland IV bezahlte Hilflosenentschädigung, Fahrtkosten zu den Sonderschulen o Zusätzlich zu Subventionen für Hilfsschulen 1968: Erste IV-Revision → pädagogisch therapeutische Massnahmen, Leistungen für Früherziehung wurden geschaffen o Bezahlt für Logopädie, Legasthenie (Förderung von Kindern mit Schwierigkeiten von Schreibsprache), Psychomotorik – früher gab es das nicht zur Förderung von Kindern mit Schwierigkeiten Leistungen der IV an Werkstätten, Beschäftigungsstätten, Wohnheime usw. Leistungen sind an. «Diagnosen» gebunden (Ziffern im IVG) o Massnahmenkatalog im IV-Gesetz mit unterschiedlichen Ziffern und nur wird einer solchen Ziffer zugeordnet werden kann, bekommt Leistungen → ist bis heute eine Herausforderung 4.6 Leistungen IV für Kinder heute Hilflosenentschädigung (Beitrag an Eltern) Medizinische Geräte (bspw. Kind braucht Rollstuhl) Therapien Fahrtkosten Z.T. Unterstützungskosten o IV erbringt Leistungen für Kinder und Jugendliche – für Sonderschulungen erbringt die IV heute keine Leistungen mehr Voraussetzung: Zuordnung zu einer Ziffer im IVG → Fehler der Gesetzgebung nicht der IV, dafür braucht man aber die Mehrheit o Dies hat Vorteile und Nachteile, denn nicht jeder Behinderte hat eine Diagnose, manche Familien bekommen so kein Geld von der IV → Unterstützung ist nicht immer gewährleistet 4.7 Strukturen Sonderschulung 1968 bis 2007 Volksschule: Bildungsdirektion Sonderschule: Gesundheitsdirektion Besondere Klassen (Kleinklassen, Sonderschulen werden durch IV (mit)finanziert: Sonderklassen) werden durch Kanton (bzw. - Beiträge an Sonderschulen Gemeinden) finanziert - Beiträge an Individuen Ab 1980-er Jahren: Angebot von Übernahme von medizinisch therapeutischen «Spezialunterricht» bzw. «ambulanten Massnahmen (Ergo- und Physiotherapie) Angeboten» bei Lernschwierigkeiten Übernahme von pädagogisch-therapeutischen Massnahmen (Logopädie, Legasthenietherapie, Psychomotorik) Heilpädagogische Früherziehung – Förderung von behinderten Kindern vor Schuleintritt Je nachdem also ob das Kind eine Behinderung hatte oder nicht wurde die Schule von einer anderen Direktion finanziert Problem, weil behinderte Kinder nicht in Regelschulen gehen konnten, weil IV dann nicht Zahlen würde → Keine Integration/ Inklusion! 4.8 Entwicklung der schulischen Integration seit den 1980-er Jahren: Meilensteine Einführung integrativer Schulung aus demografischen Gründen in den 1980er Jahren o Wegen generellem Rückgang der Schülerzahlen mussten Regelklassen schliessen o Schulen versuchten möglichst viele Kinder zu finden um Klassen zu füllen – die die sonst in eine Kleinklasse überwiesen worden wären, wurden dann an den Regelklassen behalten o Hilfsklassen = leer, geschlossen → fehlendes Angebot bzw. nur weiter weg vom Wohnort (vor allem ländliche Regionen z.B. Schwyz- Adelboden) ▪ Eltern weigerten sich die Kinder in weit entfernte Schulen zu schicken – so wurde das Modell der heilpädagogischen Schülerhilfe eingeführt ▪ Wurde von HP-Lehrern gemacht, die die Ausbildung schon hatten und unterstützten so die Kinder (Kofferpädagogen → fuhren von Schule zur Schule) Anpassung von ersten gesetzlichen Grundlagen (z.B. Freiburg) in den 1990-er Jahren o Kinder mit einer Behinderung konnten unter bestimmten Bedingungen die Regelschule besuchen Behindertengleichstellungsgesetz (2002): «Die Kantone fördern, soweit dies möglich ist und dem Wohl des behinderten Kindes oder Jugendlichen dient, mit entsprechenden Schulungsformen die Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule» o «soweit das möglich ist»: man könnte immer einen Grund finden und sagen, dass es nicht möglich ist; z.B. Schule MUSS ermöglichen, dass das Schulgebäude rollstuhlgängig ist – kann gesetzlich eingefordert sein o «dient»: Was dient den Kindern und Jugendlichen? Wer entscheidet das? Kinder/ Eltern/ Schulpsycholog*in? 2014: Ratifizierung (Anerkennung) der UN-Behindertenrechtskonvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung in der Schweiz 4.9 UN-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen States Parties recognize the right of persons with disabilities to education. With a view to realizing this right without discrimination and on the basis of equal opportunity, States Parties shall ensure an inclusive education system at all levels and life long learning. In realizing this right, States Parties shall ensure that: o (a) Persons with disabilities are not excluded from the general education system on the basis of disability, and that children with disabilities are not excluded from free and compulsory primary education, or from secondary education, on the basis of disability; ▪ “general education system”: was gehört dazu? Regelschule? Sonderschule? Etc. 1. Bildungsrecht generell 2. Recht auf inklusive Bildung o (b) Persons with disabilities can access an inclusive, quality and free primary education and secondary education on an equal basis with others in the communities in which they live ▪ Wie wird das kontrolliert? Wer überprüft das? Was kann man einklagen, wenn etwas nicht gewährleistet werden kann? → Die Schweiz hat noch Probleme die Forderungen vollständig umzusetzen 4.10 Beispiel Zürich Die sonderpädagogischen Massnahmen dienen der Schulung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen. Die Schülerinnen und Schüler werden, wenn möglich in der Regelklasse unterrichtet. (VSG § 33) Die Gemeinden bieten (müssen) Integrative Förderung, Therapien und Aufnahmeunterricht an. Sie können (müssen nicht) auch besondere Klassen führen. Sie gewährleisten die Sonderschulung o + genauere Regelungen wie viel der Mittel (Geld) die in die Interaktion/ Separation stecken können Besondere Klassen sind ausserhalb der Regelklassen geführte Lerngruppen. Zulässig sind Einschulungsklassen, Aufnahmeklassen für Fremdsprachige sowie Kleinklassen für Schülerinnen und Schüler mit besonders hohem Förderbedarf. (VSG § 35) 4.11 Aber: Grosse kantonale Unterschiede (Bsp.

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