Verbindung und Trennung im psychischen Raum I PDF
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Sigmund Freud Privatuniversität
Gerhard Burda
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This document explores the concepts of connection and separation in the psychological realm. It examines primary wholeness and the nature of negativity in the context of psychological processes, specifically analyzing the roles of poles and the experience of self-differentiation and the interplay of conscious and unconscious forces in human behavior.
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5 Verbindung und Trennung im psychischen Raum I Copyright © 2019. Waxmann Verlag GmbH. All rights reserved. May not be reproduced in any form without permission from the publisher, except fair uses permitted under...
5 Verbindung und Trennung im psychischen Raum I Copyright © 2019. Waxmann Verlag GmbH. All rights reserved. May not be reproduced in any form without permission from the publisher, except fair uses permitted under 5.1 Primäre Ganzheit und die Frage der Negativität Ich gehe davon aus, dass wir immer zwei Pole benötigen, um uns über die Gegen- stände unseres Wissens verständigen zu können. Das gilt auch in Bezug auf uns selbst. Beide Pole fungieren in diesem Prozess als Medien unserer jeweiligen Identi- fikationsprozesse, und obwohl wir uns immer mehr oder weniger mit einem Pol be- sonders identifizieren, ist die jeweilige Identität nicht auf einen einzelnen Pol zu re- duzieren, sondern transzendiert ihn in Richtung auf den anderen Pol hin. Zwischen den Polen und an diesen wirken Verbindungs- und Trennungsverhältnisse. Um den „subjektiven“ Faktor zu bezeichnen, haben sich in der Tradition an den Polen Be- griffe wie Selbst, Subjekt, Bewusstsein, Individuum, Person, Selbstbewusstsein usw. abgelagert. Diese Begriffe sind, auch das wurde bereits mehrfach betont, phantasma- tisch und nicht rein logisch zu verstehen. Auf einen der Pole projizieren wir in der Regel die Rolle eines ersten Prinzips. Dieser erste Pol muss jedoch vom zweiten Pol her entwickelt werden, um verstanden werden zu können. Dabei taucht regelmäßig das Problem auf, was früher war, die Henne oder das Ei, der erste oder der zweite Pol. Ich bringe ein Beispiel: Versucht man etwa in der Philosophie Selbstbewusst- sein zu erklären, so heißt es immer wieder, dass es dazu einer Reflexion bedarf. Die Reflexion entspricht aber einer Verspätung und kann daher Selbstbewusstsein nicht wirklich erklären (siehe 1.1). Verbindung wie Trennung verkomplizieren sich noch insofern, als sie positiv oder negativ besetzt werden können. Das abendländische Denken neigt generell zu einer Positivierung des Negativen, es verdrängt dieses oder integriert es dialek- tisch. Die Tradition tut sich also insgesamt schwer damit, die Zweipoligkeit stehen zu lassen. Sie versucht den Dualismus aufzulösen – sei es in Richtung Einheit oder in Richtung Differenz. Ich werde gegen dieses Entweder-oder ein Sowohl-als-auch zu formulieren versuchen und dafür den Begriff Selbst-Differenz vorschlagen. Die Frage, ob von einer Ganzheit oder von einem Gegensatz ausgegangen werden soll, erzeugt eine Spannung, die von unterschiedlichen Selbsttheorien entweder in die eine oder in die andere Richtung aufzulösen versucht wird. Entweder wird die Ganz- heit bevorzugt – das ist in der Tradition der hauptsächliche Weg –, oder aber der Gegensatz bekommt das Primat zugesprochen – so besonders im 20. Jahrhundert. U.S. or applicable copyright law. Beide Antworten drehen sich um den Ausgang vom Einen, einmal pro, einmal kon- tra. Die Selbst-Differenz des Anfangs wird einmal mehr in Richtung Ganzheit und das andere Mal mehr in Richtung Dissoziation phantasiert. Die Frage ist also, wovon wir tatsächlich ausgehen können. Diese Frage begegnet uns gerade auch beim Begriff des Selbst. Die uns hier be- schäftigende Frage ist nun, ob dieses Selbst im Sinne einer a priori gegebenen, ange- borenen Einheit gedacht werden kann oder ob eher eine ursprüngliche Vielheit anzu- 96Publishing : eBook Collection (EBSCOhost) - printed on 4/11/2023 8:34 AM via UNIVERSITAET WIEN EBSCO AN: 2194741 ; Gerhard Burda.; Pandora und die Metaphysica medialis : Psychotherapie – Wissenschaft – Philosophie © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Account: s3700943 nehmen ist, die sich erst durch Beziehungen zu einer geordneten Einheit formieren Copyright © 2019. Waxmann Verlag GmbH. All rights reserved. May not be reproduced in any form without permission from the publisher, except fair uses permitted under kann. Wenn wir hier die Psychoanalyse nach Freud und die Analytische Psychologie Jungs miteinander vergleichen, so ergibt sich Folgendes: In der Psychoanalyse wird dieser hoch aufgeladene Begriff des Selbst hauptsächlich mit der frühen Entwicklung, dem primären Narzissmus und der Herausbildung von Identität in jungen Jahren in Verbindung gebracht. In der Triebtheorie Freuds gibt es ein chaotisches Bündel un- koordinierter Triebimpulse, die den Säugling überschwemmen würden, würde nicht die Mutter eine Art Hilfs-Ich-Funktion übernehmen. Die primäre Dissoziation, der „psychotische Kern“, kann sich erst dadurch langsam zu einer einheitlichen inneren Welt wandeln. Das Gegenmodell der primären Einheit findet sich bei Jung, Fordham, Kohut oder auch Stern. Jungs Selbstbegriff ist auch weiter gefasst als derjenige der Psycho- analyse: Es geht um nichts weniger als den „Gesamtumfang aller psychischen Phäno- mene im Menschen“, um die „Einheit und Ganzheit der Gesamtpersönlichkeit“ (GW 6, §891). Das Selbst ist das a priori Vorhandene, das Ich geht aus diesem hervor (GW 11, § 391). Nun ist interessant, dass es bei Jung neben der Vorstellung von Einheit auch den Gegensatz gibt, nämlich die in den Trieben wurzelnde Dissoziabilität (GW 8, §365). Ich und Selbst bilden somit zwei Pole, am Selbstpol ist beides vorhanden und dies spiegelt sich im Ich wieder: Dissoziation und Einheit. Entwicklungspsychologisch gesehen gibt es also zwei Antworten. Im ersten Fall der primären Einheit steht das Selbst für Verbundenheit, aus der heraus sich ein Ich im Zusammenspiel mit der Umwelt löst. Im zweiten Fall geht es um eine primäre Dissoziation, um einen „psychotischen Kern“, der zu einer Einheit formiert werden muss. Plakativ betrachtet setzen Psychoanalyse und Analytische Psychologie am jeweils anderen Pol an. Beide Modelle setzen gleichermaßen sowohl Verbindung als auch Trennung voraus. Das Selbst als Einheit muss sich entfalten, das Selbst als Differenz muss zu einer Einheit gebündelt werden. Das Selbst als Einheit betont Ver- bindung – das Selbst als Differenz die Trennung. Wenn man hier das Ich als zweiten Pol dazu nimmt, dann können Verbindung und Trennung jeweils auf beide Pole pro- jiziert werden. Einmal steht das Selbst für Dissoziation und das Ich für Verbindung, das andere Mal ist es umgekehrt. Der unterschiedliche Ausgang schlägt sich auch in der jeweiligen Auffassung von Projektion nieder. Beziehen wir uns zunächst auf das psychoanalytische Konzept der projektiven Identifizierung. Diese Abwehr- bzw. Kommunikationsform dient dazu, etwas Bedrohliches aus der Psyche nach außen zu verlagern und das mit Selbstan- U.S. or applicable copyright law. teilen kontaminierte Objekt mit dem Bedrohlichen zu identifizieren. Nun gehört die Integration von Spaltungsprozessen zur Ich-Entwicklung. Zur Kohärenz des Ich gehört, dass es Spaltungen integrieren und Vieldeutigkeit tolerieren kann (Mendels- sohn 2010, 131.) Das Ich ist paradoxerweise gerade in seiner Dezentrierung, in seiner Trennung von sich als Einheit, auf dem Höhepunkt seiner synthetischen Funktionen. Herrscht dagegen übermäßige Spaltung vor, hat das Auswirkungen auf die Symbol- bildung. Im Extremfall kann dann nicht mehr symbolisiert werden: Symbol und symbolisiertes Objekt können dadurch nicht unterschieden werden (siehe 2.2). Das EBSCO Publishing : eBook Collection (EBSCOhost) - printed on 4/11/2023 8:34 AM via UNIVERSITAET WIEN 97 AN: 2194741 ; Gerhard Burda.; Pandora und die Metaphysica medialis : Psychotherapie – Wissenschaft – Philosophie © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Account: s3700943 ist nun vielleicht etwas, was auch dann passiert, wenn entweder dem Modell der Copyright © 2019. Waxmann Verlag GmbH. All rights reserved. May not be reproduced in any form without permission from the publisher, except fair uses permitted under primären Einheit oder dem der primären Dissoziation der Vorrang eingeräumt wird. Was wird also projiziert? Wohl etwas, das nicht verbunden werden kann und ab- gespalten werden muss, nämlich, dass es etwas gibt, das das Subjekt ständig von sich und seinem Streben nach Einheit und Homöostase trennt. Was da an das Subjekt vor allem in Form von Affekten herandrängt, hat natürlich sehr wohl etwas mit dem Subjekt zu tun. Es spaltet somit ab, dass es sowohl intra- als auch interpsychisch von Prozessen der Negation bestimmt wird und dass es sich folglich nicht nur als auto- nomes Subjekt verstehen dürfte, das sich so ohne weiteres selbst erkennen kann. Das Subjekt ist so gesehen auch das Objekt des internen und externen Prozesses, dem es immanent ist. Dass es dabei Objekt ist, ist nicht in dem Sinn aufzufassen, dass es als Subjekt über sich selbst als Objekt nachdenkt, sondern viel elementarer, dass es nicht das eigentliche Subjekt ist, sondern eben nur das Objekt psychischer (medialer) Pro- zesse und damit auch einer Art von Negativität. Dieser Objektstatus impliziert, dass das Subjekt immer auch von sich selbst, d.h. von seiner Einheit und Verbindung mit sich selbst getrennt ist. Mit Freud gesprochen: Es ist nicht Herr im eigenen Haus. Die Einheit des Bewusstseins ist nicht gegeben. Das ist natürlich für das humanistische, moderne Denken mit der Betonung des Bewusstseins eine bittere Lektion. Die Lek- tion beinhaltet, dass das Subjekt keine selbstverständliche Einheit sein kann, sondern immer eine Differenz zu sich beinhaltet. Der zweite Deutungsstrang führt uns nun zu Jungs Auffassung von Projektion. In den Psychologischen Typen (GW 6, §870) bezeichnet er sie als „Dissimilationsvor- gang“: Projektion tritt erst dann auf, wenn die Notwendigkeit der Auflösung einer unbewussten archaischen Identität von Subjekt und Objekt besteht. Vorher gibt es nur ein unbewusstes Gleichsein. Hier gibt es noch gar keine Zweiheit, die beiden Pole sind noch in einer archaischen Identität miteinander verschmolzen. Das bestim- mende Phantasma ist ein Bild von Ganzheit, das solange integrativ wirkt, als nicht Ereignisse eintreten, die eine Adaptionsleistung erfordern. Dieser Deutungsstrang betont die Trennung der Ganzheit, der vorherige die Verbindung des Getrennten. Bei der projektiven Identifizierung wird die Verbindung des Getrennten betont, die erst dann einsetzt, wenn die Projektion eigener Selbstanteile auf ein mit dem Be- drohlichen identifiziertes Objekt zurückgenommen werden kann. Bei Jung gibt es eine Verbindung, die getrennt werden muss, um sich ihr wieder annähern zu können (die so genannte Ich-Selbst-Achse). Auch in diesem Fall gibt es die Andeutung eines neuen Bewusstseins, nämlich des Bewusstseins von Trennung. Der Ausgangspunkt U.S. or applicable copyright law. ist bei Jung jedoch ein anderer als vorhin: Er liegt in der Einheit des Selbst. In der Psychoanalyse gibt es eine anfängliche Trennung zu integrieren. Dies sind jeweils die Folgen der Ausgangslage. Wenn wir hier die beiden Deutungsstränge zusammenfüh- ren, dann wird für uns zunächst wichtig, die andere Seite des Selbst, die Negativität, nicht aus den Augen zu verlieren und nicht zu verdrängen. Heften wir uns deshalb an die Spur der Negativität – zuerst bei Freud, dann bei Jung. Bei Freud finden wir die Negativität im – nicht zuletzt durch Sabine Spielrein angeregten – Dualismus von Le- bens- und Todestrieb. Eros tendiert nach Vereinigung und Zusammenhalt, Thanatos 98Publishing : eBook Collection (EBSCOhost) - printed on 4/11/2023 8:34 AM via UNIVERSITAET WIEN EBSCO AN: 2194741 ; Gerhard Burda.; Pandora und die Metaphysica medialis : Psychotherapie – Wissenschaft – Philosophie © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Account: s3700943 nach Auflösung von Zusammenhalt und Bindung und letztlich nach Zurückführung Copyright © 2019. Waxmann Verlag GmbH. All rights reserved. May not be reproduced in any form without permission from the publisher, except fair uses permitted under des Lebens ins Unbelebte. Irgendwann einmal wurden „in unbelebter Materie durch eine noch ganz unvorstellbare Krafteinwirkung die Eigen- schaften des Lebenden erweckt. Vielleicht war es ein Vorgang, vorbildlich ähnlich jenem anderen, der in einer gewissen Schicht der lebenden Materie später das Bewusstsein ent- stehen ließ. Die damals entstandene Spannung in dem vorhin unbelebten Stoff trachtete danach, sich abzugleichen; es war der erste Trieb gegeben, der, zum Leblosen zurückzu- kehren. Die damals lebende Substanz hatte das Sterben noch leicht, es war wahrschein- lich nur ein kurzer Lebensweg zu durchlaufen […]. Eine lange Zeit hindurch mag so die lebende Substanz immer wieder neu geschaffen und gestorben sein“ (Freud 1993, 40). Das Todestriebkonzept hat innerhalb der Psychoanalyse heftige Kontroversen pro- voziert und insgesamt wenig Resonanz gefunden. Ausnahmen finden sich bei Me- lanie Klein, Jacques Lacan, Igor Caruso und Ignacio Matte Blanco. Dieser Tendenz zur Vernachlässigung bzw. sogar Verdrängung zum Trotz hat Catherine Malabou kürzlich die Frage gestellt, ob diese Tendenz nicht auch dem Freud’schen Konzept innewohnt. Sie fragt, ob das Todestriebkonzept und die Negativität in der Psycho- analyse überhaupt radikal genug gedacht werden. Malabou weist darauf hin, dass im westlichen Denken Phänomene wie Metamorphose, Negativität, Plastizität oder Möglichkeit einseitig affirmativ gedacht werden, das heißt letztlich im Sinne einer Tendenz zum Positiven gedeutet werden. Die Möglichkeit etwa wird als dasjenige verstanden, dessen man fähig ist. Das Negative wird höchstens im Zusammenhang mit Konstruktion und Kreation von etwas Neuem gewürdigt. So sind Phänomene wie Verdrängung oder Verneinung latent an eine auffindbare Bedeutung geknüpft. Gegen diese affirmative Tendenz bringt Malabou das Destruktionsvermögen als for- mendes Prinzip der Identitätsbildung in Stellung. Sie spricht hier auch von einer dem Todestrieb geschuldeten Plastizität. Diese zeigt sich etwa in Phänomenen der post- traumatischen Subjektivität, in den Figuren der Leere, der Demenz, der verwüsteten Identität, in der eine ursprüngliche Einheit radikal und ohne Hoffnung auf Verbes- serung eine andere geworden ist und diese geänderte Form bleiben wird. Negative Plastizität schafft eine Form ohne Erlösung, eine Form, die nicht reparierbar ist. Es gibt keine restitutio ad integrum. Hier stoßen wir wieder auf meine Eingangsfrage nach der Qualität des Anfangs, die auch die Endvorstellung bestimmt. Ist der Anfang eine Ganzheit? Oder kommt hier ein ursprünglicher Gegensatz ins Bild? Ist es eine Ganzheit, die sich in einem Gegenüber komplettieren muss? Worin besteht der Mangel? Wird er auf den An- U.S. or applicable copyright law. fang oder auf den zweiten Pol projiziert? (An diese Fragen schließt sich auch eine weitere an, die nach der Lokalisation psychischer Störungen.) Wir haben vorhin bei Malabou erfahren, dass das westliche Denken dazu neigt, die Negativität zu positi- vieren. Paradoxerweise kann genau die Positivierung des Negativen bei Freud und Jung gerade auch als Ausdruck des verdrängten Gegenspielers, nämlich des Todes- triebs, verstanden werden. Andrew Samuels schreibt dazu: „Das ist eine jungianisch gefärbte Betrachtung des Todestriebes […]. Das Selbst, manifestiert in der Form des EBSCO Publishing : eBook Collection (EBSCOhost) - printed on 4/11/2023 8:34 AM via UNIVERSITAET WIEN 99 AN: 2194741 ; Gerhard Burda.; Pandora und die Metaphysica medialis : Psychotherapie – Wissenschaft – Philosophie © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Account: s3700943 ‚Todestriebs‘, meint die Erfahrung der Vereinigung, der Fusion, des Einsseins“. Diese Copyright © 2019. Waxmann Verlag GmbH. All rights reserved. May not be reproduced in any form without permission from the publisher, except fair uses permitted under Sicht billigt also ausgerechnet dem Todestrieb den Zweck eines Gegenmittels gegen den „Schmerz und die Angst, die aus Bruch und Trennung resultieren“ zu (Samuels 1989, 183f.). Man sieht hier schön, dass Verbindung und Trennung ineinander übergehen können, wenn die phantasmatische Perspektive gewechselt wird. Man sieht, wie Trennung als Verbindung verstanden werden kann und Verbindung als Trennung. Das gilt auch für Freud, da der Todestrieb nicht nur der große Trenner von allem sein muss, sondern im Gegenteil auch als Verbindung mit dem Ganzen des Anorga- nischen verstanden werden kann. Er ist ebenso Rückkehr in die prä-ödipale Ein- heit (Lacan) wie der „Exzess des Lebens“, der den „normalen Gang der Dinge zum Scheitern“ (Žižek 2006, 61) bringt und so das Leben immer weiter vorantreibt und vor Erstarrung bewahrt. Der Tod ist so gesehen doch nicht einfach das letzte Ziel des Lebens. Die Dialektik von Leben und Tod geht nämlich immer weiter. Im Todestrieb begegnet der Lebenstrieb seiner Selbst-Differenz und vice versa. Bezogen auf das Ich heißt das, dass es genau in der scheinbaren Leere und im Nichts seiner abgrün- digen Freiheit begegnet (Žižek). Es begegnet damit aber auch seiner Angst. Dies hat besonders Melanie Klein herausgearbeitet: Bei ihr steht am Beginn der seelischen Entwicklung ein höllisches Drama und eine Verlagerung von der Lust hin zur Angst, da bereits der Säugling einem Ansturm negativer Gefühle ausgesetzt ist, die unter dem Diktat des Todestriebs stehend als verfolgende Objekte erlebt werden. Unbe- wusste Phantasien, die primären Inhalte psychischer Prozesse, sind die psychischen Repräsentanten der Triebregungen. Todes- und Lebenstrieb sind ständig aktiv und kommen nie abgelöst von den Triebregungen und ihren Objekten vor. Freud wie Jung setzen beide, so lässt sich nun aus unserem Vergleich schließen, sowohl Einheitsvorstellungen als auch Trennungsverhältnisse voraus: Freud setzt die Einheit des Anorganischen voraus, von dem das Leben sich losreißt, um wieder zurückzustreben. Jung geht von der Ganzheit des Selbst/Unbewussten aus, aus der heraus sich das Ich löst. In beiden Fällen gibt es also ein Drama von Trennung und Rückkehr. Gehen wir einen Schritt weiter und widerstehen wir der Versuchung, die Negativität wieder zu positivieren oder dialektisch aufzulösen. Unser Ausgang war das Entweder-oder von Ganzheit und Gebrochenheit. Aus der von mir gewählten dualistischen Perspektive ist das natürlich einseitig und letztlich phantasmatisch, und entgegen der klassischen Logik gibt es eine Alternative. Wie sieht diese aus? Wir können Folgendes versuchen: Wir können die beiden Bilder aus ihrer Isolierung U.S. or applicable copyright law. befreien und sie nebeneinander stellen, also das gebrochene Bild neben das heile. Wir können sie nun sowohl als voneinander unterschieden (getrennt) als auch in Verbindung zueinander sehen. Kurz gesagt: Wir können sie in ihrer Selbst-Differenz realisieren. Das ist eigentlich auch das, womit Freud wie Jung tatsächlich beginnen: Beide beginnen mit einer Selbst-Differenz, das heißt mit Verbindungs- UND Tren- nungsverhältnissen, die sich zwischen zwei Polen und an diesen – in Form von Be- griffen wie Ich/Selbst, Ich/Unbewusstes und so weiter – manifestieren. 100Publishing : eBook Collection (EBSCOhost) - printed on 4/11/2023 8:34 AM via UNIVERSITAET WIEN EBSCO AN: 2194741 ; Gerhard Burda.; Pandora und die Metaphysica medialis : Psychotherapie – Wissenschaft – Philosophie © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Account: s3700943 Wenn man den Dualismus von Verbindung und Trennung durchdenkt, kommt Copyright © 2019. Waxmann Verlag GmbH. All rights reserved. May not be reproduced in any form without permission from the publisher, except fair uses permitted under man zu dem Ergebnis, dass sich einseitige Ganzheits- und Gebrochenheitsvorstel- lungen nicht aufrecht halten lassen. Aus dieser Schwäche lässt sich jedoch eine Stärke machen, wenn man die Fragilität unserer Identitätsbildungen und Sinnstiftungen ak- zeptieren kann. Alles Weitere hängt also wesentlich davon ab, ob Ganzheits- und Ge- brochenheitsvorstellungen nebeneinander stehen gelassen werden können, ohne das Eine ins Andere auflösen zu müssen. Dieses Stehen-lassen-Können der Selbst-Dif- ferenz ist die Voraussetzung dafür, sich zu ihr in ein bewusstes Verhältnis setzen zu können. 5.2 Der „subjektive“ Faktor in den Metamodellen der Psychotherapieforschung Vorhin wurde der Mensch als Homo medialis, d.h. als Medium, charakterisiert, also als etwas, das sich von anderem Seienden grundsätzlich nicht unterscheidet. Wir müssen nun in einem nächsten Schritt fragen, was den Menschen dennoch im Be- sonderen charakterisieren könnte. Wählen wir dazu als Ausgangspol den eher ver- pönten Begriff Bewusstsein, um uns dieser Frage zu stellen. Die Ausrichtung am Be- wusstsein wird gern als Paradigma der Moderne bezeichnet, das im 20. Jahrhundert durch die sprachkritische Wende (linguistic turn) an Bedeutung verloren haben soll. Erkennen gilt nun als sprachlich vermittelt. Damit kommt es zu einer Verschiebung vom Subjekt zur Intersubjektivität. Die Wirklichkeitsauffassung schwenkt vom on- tologischen Realismus zum Konstruktivismus. Im Kontext medialer Identität soll Bewusstsein nun für das Realisieren von Selbst-Differenz stehen. In diesem Dual von Bewusstsein und Selbst-Differenz ist Realisieren in einem doppelten Sinn von Ver- wirklichen und Erkennen/Verstehen gemeint. Es wird sich zeigen, dass der Rückgriff auf den Begriff Bewusstsein keinen Widerspruch zur Bedeutung des Sprachlichen darstellt. Mit Erkennen/Verstehen ist außerdem auch ein ethischer Anspruch ver- bunden, der an traditionelle Bezeichnungen wie conscience gemahnt. Gehen wir zunächst von einer „unbewussten“ medialen Matrix aus, der das Be- wusstsein in meiner Annahme entspringen soll. Es „erwacht“ irgendwann zu sich und realisiert (verwirklicht) seine Selbst-Differenz noch in einem trivialen Sinn. Tri- vial heißt, dass dabei noch nicht in vollem Umfang erkannt wird, dass es nicht nur zu anderem und zu den anderen, sondern auch zu sich selbst in Differenz steht. Es realisiert zudem nicht, dass auch anderes selbst-different ist und es in etwas wur- U.S. or applicable copyright law. zelt, was nie ganz erklärt werden kann bzw. über das es nie ganz verfügen kann (die unbewusste Matrix). Es ist eher das „Objekt“ oder das „Mich“ des Prozesses bzw. auch „seiner“ Selbst-Differenz und so gesehen in einer passiven Rolle, in der es aber nichtsdestoweniger im medialen Kontext auch als Medium an der Selbst-Differenz anderer Medien – aber auch an der „eigenen“ – wirkt. Die Rhythmen von Verbin- dungs- und Trennungsvorgängen laufen noch eher automatisch ab. Beginnt dieses Bewusstsein nun, auf die Ränder, Ungereimtheiten und Symptome zu achten, die es erzeugt und in die es verstrickt ist, dann kommt zum Verwirklichen noch eine EBSCO Publishing : eBook Collection (EBSCOhost) - printed on 4/11/2023 8:35 AM via UNIVERSITAET WIEN 101 AN: 2194741 ; Gerhard Burda.; Pandora und die Metaphysica medialis : Psychotherapie – Wissenschaft – Philosophie © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Account: s3700943 besondere Form von Verstehen hinzu. Und dieses Verstehen impliziert die Möglich- Copyright © 2019. Waxmann Verlag GmbH. All rights reserved. May not be reproduced in any form without permission from the publisher, except fair uses permitted under keit des Zurücktreten-Könnens von unbewussten Verhältnissen der Verbindung und der Trennung – und das heißt auch: von Identifizierungen mit je konkreten, starren Identitäten. Damit kommt Bewusstsein in eine mehr aktive Rolle und es ver- mag nun, zu seiner Selbst-Differenz Stellung zu beziehen. Seine Identität verändert sich dadurch von einer konkreten mehr in Richtung einer symbolischen, Spaltungen vermeidenden Identität. Bewusstsein in diesem Sinn wäre also insofern nichttrivial, als es die Fragilität von Identifikationen realisiert und Abstand von auf Spaltung be- ruhenden Extrempositionen nehmen kann. Bewusstsein impliziert als Medium des Realisierens von Selbst-Differenz eine epis- temologisch-ontologische Differenz. Damit ist gemeint, dass Realisieren in einem dop- pelten Sinn als Verwirklichen (ontologischer Aspekt) und als Verstehen (epistemolo- gischer Aspekt) aufgefasst werden kann. Wichtig ist nun, dass bei beiden Aspekten die mediatisierende Rolle anderer Medien – z.B. der Sprache – nicht ausgeblendet werden darf. Verstehen ist daher nicht nur das Verwirklichen eines autonomen Sub- jekts, sondern auch ein Verwirklicht-Werden (durch andere Medien). Ich möchte dies kurz anhand einer phänomenologischen Lesart von Hegels Phänomenologie des Geistes illustrieren, die sich auf die beiden zentralen Aspekte Ansichsein und Für- sichsein konzentriert. Fink (1977) erklärt diese beiden universalen „kosmo-ontologi- schen“ Grundbegriffe so, dass es sich bei Ansichsein und Fürsichsein um allgemei- ne Bestimmungen handelt, die alles Seiende betreffen: Es sind Weisen, wie „Welt“ und „Himmel“ das Seiende sein lassen. Ansichsein ist die welthafte Seinsweise von Substanzen, Fürsichsein ist die welthafte Seinsweise der Subjekte. Ansichsein ist das Insichberuhen der Dinge, ihr Selbststand, Fürsichsein entspricht der Seinsverfassung des Menschen, dem sein eigenes Sein als Freiheit aufgegeben ist. Er ist nicht bloß an sich „Mensch“, sondern für sich selbsthaft und selbstständig. Das Subjekt verhält sich deshalb zu sich, zu seinem Sein, zu den Gegenständen und zu anderen Subjekten: „Sein ‚Fürsichsein‘ (seine Subjektivität und seine Vereinzelung) ist gerade die Weise, wie der Mensch ‚an sich‘ ist“ (ebd., 9). Wenn wir nun von der phänomenologischen Interpretation zur phänomediolo- gischen wechseln, dann können wir mehrere Arten von VTV unterscheiden: Zu- nächst ist das Selbstsein bei Hegel in sich „aufgerissen“ als das Selbst der Sache und das Selbst der Subjektivität (Subjekt-Objekt-Relation). Das Selbstsein einer Sache können wir nur denken, indem wir es gegen anderes abscheiden. In ihrem „Selbst- Stand“ sind alle Seienden vereinzelt und doch miteinander „verkettet“. Die „Welt“ U.S. or applicable copyright law. ist der im „Halbschatten verbleibende Horizont des […] dialektischen Spiels der universal-ontologischen Begriffe“ (ebd., 16) und hat im „Himmel“ ihren „ursprüng- lichsten Unterschied“. Damit ist das „Aufklaffen einer Zwietracht des Offenen und Verschlossenen, des Weltdunkles und des Weltlichtes“ gegeben. Alle selbstständigen Seienden reflektieren dadurch den „Widerschein des Unterschieds“. Diesen Unter- schied bündelt Hegel allerdings letztlich wieder in der „Eintracht des Ganzen“, d.h. im „absoluten Geist“, dem eigentlichen Sein aller Dinge bzw. der „Subjektivität des Subjekts“ (ebd., 18). Ich würde hier nun eine relative und eine absolute Form von 102Publishing : eBook Collection (EBSCOhost) - printed on 4/11/2023 8:35 AM via UNIVERSITAET WIEN EBSCO AN: 2194741 ; Gerhard Burda.; Pandora und die Metaphysica medialis : Psychotherapie – Wissenschaft – Philosophie © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Account: s3700943 Selbst-Differenz unterscheiden und die These wagen, dass Selbst-Differenz bei Hegel Copyright © 2019. Waxmann Verlag GmbH. All rights reserved. May not be reproduced in any form without permission from the publisher, except fair uses permitted under nur in einem relativen Sinn gemeint ist. Das Subjekt ist hier nur als relative Selbst-Dif- ferenz konzipiert: Es verliert sich, d.h. seinen Selbstaspekt, a) in den Gegenständen (das Subjekt steht in einem Entfremdungsverhältnis zum Objekt, aus dem es sich zu- rückholen muss) und b) im Zu-sich-Kommen des zu sich selbst erwachenden abso- luten Geistes. Es verliert in beiden Fällen jedoch nicht nur sein Selbst, sondern auch die Differenz: Je mehr das Wissen nämlich vom Endlichen zum Unendlichen voran- schreitet, desto mehr verschwindet sowohl der Gegensatz zu den Gegenständen als auch zum absoluten Subjekt. Die relative Selbst-Differenz des Subjekts verliert „sich“, d.h. ihre Selbst-Differenz in der spekulativen Einheit von Einheit und Differenz. Im Detail sieht dies so aus: Das Sein hat einen inneren Widerspruch in sich, es ist das „Sichselbstentzweiende“ und das „aus der Entzweiung wieder Sichherstellende“, das „ruhelose Spiel des Setzens und Aufhebens der endlichen Dinge“ (ebd., 159). Sub- jekt und Objekt begrenzen einander zunächst, sind aber letztlich in der „Seinstiefe des Unendlichen“ aufgehoben. Das (endliche) Subjekt erkennt allmählich im end- lichen Ding dessen und seine Unendlichkeit, also das „Herz der Dinge“, und gewinnt so die „ganze Welt“. Im Denken des Unendlichen soll der Gegensatz von Subjekt und Objekt verschwinden und das Allgemeine mit dem Besonderen versöhnt wer- den. Das Selbstbewusstsein ist also nicht schon immer vorhanden, sondern entsteht durch Einsicht als Sicherkennen im Anderen. Es ist zunächst an den Gegenstand verloren und selbstentfremdet und muss aus dem Außersichsein zu sich kommen, wodurch der Unterschied zwischen Gegenstand und Subjekt verschwindet. Was hier aufbricht, ist ein weiteres VTV in der allgemeinen Struktur des Selbstbewusstseins: „Ich unterscheide mich von mir selbst, und es ist darin unmittelbar für mich, dass dies Unterschiedene nicht unterschieden ist“ (zit. ebd., 164). Ist Selbst-Differenz nicht in einem absoluten, sondern in einem relativen Aspekt bewusst, dann identifiziert sich das Bewusstsein bzw. das Subjekt mit seinem Sein und seinem Erkennen bzw. mit seinem Ansich und Fürsich. Anders gesagt: Das Bewusstsein hat von seiner Selbst-Differenz eine triviale Vorstellung. Das Subjekt identifiziert sich dann mit seinem Sein (conatus bei Spinoza), seinem Erkennen und seiner Subjektivität. Erkennen und Verwirklichen sind in diesem Fall miteinander verbunden: Das Subjekt versteht sich dann – wie bei Hegel – aus einer Identität he raus, in der und an die es sich letztlich verliert. Bei Hegel wirkt ein imaginales Phan- tasma, das die Differenz aufhebt, wie in der Enzyklopädie (Hegel 1970, §456) zu lesen ist: „Die Phantasie ist der Mittelpunkt, in welchem das Allgemeine und das Sein, U.S. or applicable copyright law. das Eigene und das Gefundensein, das Innere und das Äußere vollkommen in Eins geschaffen sind“. Denkt man die Selbst-Differenz des Subjekts dagegen absolut, dann ist der Seins- status absolut fragil, ohne auf ein absolutes Subjekt hinzuweisen: Nicht das Seiende oder das Sein sind notwendig, sondern die Fragilität (siehe 8.1, Ebene C). Das Subjekt ist dann nicht selbst-different, weil das Sein abgründig selbst-different wie bei Hegel oder auch Heidegger ist, weshalb es in der Einheit mit dem absoluten Geist wieder verbunden werden müsste. In einem absoluten Sinn stellt Selbst-Differenz vielmehr EBSCO Publishing : eBook Collection (EBSCOhost) - printed on 4/11/2023 8:35 AM via UNIVERSITAET WIEN 103 AN: 2194741 ; Gerhard Burda.; Pandora und die Metaphysica medialis : Psychotherapie – Wissenschaft – Philosophie © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Account: s3700943 ein selbst-differentes „Prinzip“ dar, das erstens weder in Richtung eines ersten An- Copyright © 2019. Waxmann Verlag GmbH. All rights reserved. May not be reproduced in any form without permission from the publisher, except fair uses permitted under fanges noch in Richtung eines letzten Zieles überschritten werden kann. Zweitens ist es nicht in der Art eines Ansichseins oder Fürsichseins gegeben, sondern sein Ansich ist bereits „prinzipiell“ medial auf anderes angewiesen bzw. sein Fürsich ist bereits ein Füranderes und nicht wie bei Hegel der Gegensatz zu einem Füranderesein, dem die für die Intersubjektivität konstitutive Wechselbestimmung der gegenseitigen An- erkennung fehlt. Anders gesagt: Ansich und Fürsich sind bereits medial vermittelt. In Bezug auf das Bewusstsein bzw. das Subjekt heißt dies, dass dieses „Prinzip“ einer absoluten Selbst-Differenz immer schon in ihm und durch es wirkt (frei- lich ohne einen letzten Grund darzustellen). Darin besteht seine Selbst-Transzen- denz und der Grund dafür, warum Bewusstsein sich in einem nichttrivialen Sinn zu seiner Selbst-Differenz bzw. zur Selbst-Differenz insgesamt verhalten kann (Selbst-Selbst-Differenz). Einzusehen ist natürlich auch in diesem Fall, dass wir nie gänzlich in dieser Identifikation aufgehen, da auch sie selbst-different bleibt. Zwar kann Identität aus unterschiedlichen Perspektiven wie Bewusstsein, Ich, Subjekt,