Skript-02 (3) PDF - Soziologie - Vorlesungsskript

Summary

Dieses Skript behandelt den Gegenstand der Soziologie und verschiedene gesellschaftliche Konzepte. Es untersucht die Bedeutung von Kontext und Perspektiven in der Sozialwissenschaft, mit Beispielen und Theorien, die den Gegenstand der Soziologie erläutern.

Full Transcript

Was ist der Gegenstand der Soziologie? Obwohl in vielen Lehrbüchern steht, dass der Ge- genstand der Soziologie die Gesellschaft sei, ist es bis heute relativ unklar, was der Begriff meint. Die Soziologie steht damit aber nicht alleine: Viele Disziplinen haben Probleme, wenn...

Was ist der Gegenstand der Soziologie? Obwohl in vielen Lehrbüchern steht, dass der Ge- genstand der Soziologie die Gesellschaft sei, ist es bis heute relativ unklar, was der Begriff meint. Die Soziologie steht damit aber nicht alleine: Viele Disziplinen haben Probleme, wenn es darum geht ihren Gegenstand zu definieren und abzugrenzen: − Medizin: Die menschliche Gesundheit umfasst das körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden. 1 Je weiter das Konzept ausgedehnt wird, umso unschärfer werden die Grenzen. Was hat eigentlich NICHT mit Gesundheit zu tun? − Pädagogik: Erziehung umfasst alle möglichen Formen der Einflussnahme auf Heranwachsende. − Politikwissenschaft: Der Staat ist zugleich eine Institu- tion, Machtstruktur und rechtliche Ordnung. 2 Die "Kreuzung" der Möglichkeiten Die Soziologie ist somit nicht die einzige Wissen- schaft mit ernsten Abgrenzungsproblemen. Ziel der heutigen Vorlesung ist es folglich nicht, eine trennscharfe Definition zu entwickeln. Vielmehr geht es darum, dafür den Blick zu schärfen, wie der Gesellschaftsbegriff in den Sozialwissenschaften benutzt wird und was wir so über den Gegenstand lernen können. Für den Einstieg stellen Sie sich bitte folgendes Szenario vor: Sie stehen an einer stark belebten Kreuzung in einer Großstadt. 3 [Video-Beispiel: Die Shibuya-Kreuzung in Tokyo gilt mit bis zu 3.000 Menschen, die gleichzeitig über die Straße gehen, als weltweit verkehrsreichster Fußgängerüberweg] Mit diesem einfachen Beispiel kann man einige zentrale Merkmale von Gesellschaft herausarbeiten: Es zeigt eine Masse an Menschen, die sich in kurzer Zeit relativ geordnet und störungsfrei über eine komplexe Kreuzung bewegen. − Wie ist das möglich, wo sich die Beteiligten doch gar nicht aktiv koordinieren? − Aber reicht das schon aus? Was, wenn diese Regeln ganz plötzlich wegfallen würden? Hätte wir Chaos? 4 Gesellschaft als "Zone" der Wahrscheinlichkeiten Was lässt sich aus diesem Beispiel über die Gesellschaft lernen? − Das Video offenbart ein verblüffend regelmäßiges Ordnungsmuster: Die Gesellschaft ist mehr als nur eine Ansammlung von Individuen, die erratisch durcheinanderlaufen. Sie zeigt sich in wieder- kehrenden und wohlgeordneten Verhaltensmustern. − Straßenkreuzung als "Zone der Wahrscheinlichkeit" (Nassehi 2023): Situationsbedingt sind bestimmte Verhaltensweisen wahrscheinlicher als andere. 5 Das Ordnungsmuster bestimmt das Verhalten der Verkehrsteilnehmenden aber nicht bis ins Detail. Sie haben Handlungsspielräume und können von Erwartungen abweichen. − Anonymität: Die Gesellschaft funktioniert auch ohne persönliche Bindungen. An der Kreuzung stehen keine Bekannten, sondern Fremde. Ihre Teilhabe in der Ordnung endet, sobald sie die Kreuzung verlassen haben. − Vielfalt: Die Gesellschaft integriert Pluralität und Heterogenität. An der Kreuzung in Tokyo treffen Menschen nicht nur aus Japan, sondern aus vielen verschiedenen Ländern und Kulturen aufeinander. 6 − Unklare Adressierbarkeit: Die gesellschaftliche Ord- nung wird durch keine einzelne Instanz repräsentiert. Die Politik macht zwar Regeln. Es gibt aber auch Ordnungsmuster jenseits davon. Wenn man fragen würde: "Wer sorgt dafür, dass die Shibuya-Kreuzung so geordnet funktioniert?", gibt es keinen adressierbaren Akteur. Es sind vielmehr alle. Jede Fußgängerin entscheidet selbst, wann sie sich bewegt und wohin. Verkehrsregeln, Polizei, Ampeln etc. haben darauf nur einen beschränkten Einfluss. 7 Gesellschaft als Kontext Damit haben wir bereits einiges über die Gesellschaft gelernt. − Die Gesellschaft ist nur der Kontext, der uns beeinflusst, indem bestimmte Handlungen ermöglicht – und damit wahrscheinlicher – oder erschwert werden. − Sie rückt daher oft erst ins Blickfeld, wenn wir diesen Kontext thematisieren. − Die nächste Frage lautet somit: Wann thematisieren wir eigentlich die Gesellschaft? Hier scheinen vor allem vier Anlässe relevant zu sein (siehe unten). 8 Gesellschaft als Kontext für Vergleiche (kulturelle Muster): − Wie individuell und besonders die einzelne Person ist, zeigt sich zumeist erst im gesellschaftlichen Kontext. − Der Geschmack, die Bildung und Herkunft einer Per- son sind einerseits Ausdruck ihrer Identität, anderer- seits folgen sie oft einem systematischen Muster. − Die Wahl von Kleidung, Auto oder Wohnort einer Per- son spiegelt nicht nur den persönlichen Geschmack, sondern auch die sozialen Kreise, in denen man Anerkennung sucht. − Die soziologische Lebensstil- und Milieuforschung macht sich diese Muster oft zu nutze. 9 Gesellschaft als Kontext für Konflikte (hierarchische Muster): − Rousseau sieht den Gründungsakt der Gesellschaft in der Einzäunung des ersten Stück Lands. − Mit diesem Akt entsteht eine Ordnung die zwischen Besitzenden und Besitzlosen unterscheidet. − Beide Interessengruppen sind aber gerade in ihrer Gegensätzlichkeit durch die Gesellschaft verbunden. Gesellschaft als Kontext für die Verfolgung unter- schiedlicher Interessen (logische Muster): − Die Kunst folgt einer anderen Logik als Wirtschaft oder Politik. 10 − In diesen Kontexten herrschen unterschiedliche Spiel- regeln. Dies ist auch dann den meisten klar, wenn sie keine Ahnung von Kunst haben. Gesellschaft als Kontext für die Bildung "latenter" Muster (algorithmische Muster) − Durch Umfragen, Big Data und Statistiken lassen sich algorithmische Muster sichtbar machen, die wir im Alltagsleben oft nicht wahrnehmen. − Hier ist oft von "gesellschaftlichen" Einflüssen (Korrelationen) die Rede. Beispiel: Mit wem wir zusammenleben ist stärker abhängig von unserer sozialen Herkunft als von der konkreten Person unserer Wahl. 11 Metaphern der Gesellschaftstheorie Um diese Kontexte sichtbar zu machen bedient sich die Sozialwissenschaft zumeist Metaphern. − Metaphern sind sprachliche Bilder, bei denen ein Begriff verwendet wird, um Ähnlichkeiten zwischen unterschiedlichen Gegenständen aufzuzeigen. − Sie erleichtern das Verstehen komplexer Gegenstände und prägen die Art und Weise, wie Forschende über ihre Objekte nachdenken. Beispiel: Der "ökologische Fußabdruck" nutzt das Bild eines physischen Fußabdrucks, um den durch unseren Lebensstil verursachten Schaden für die Natur zu illustrieren. 12 Für die Beschreibung der Gesellschaft haben sich in der Soziologie vor allem zwei Metaphern etabliert: − der Vertrag − der Organismus Beide machen unterschiedliche Attribute der Gesellschaft sichtbar, teilen aber auch viele Gemeinsamkeiten. 13 Gesellschaftsvertrag Die Metapher des Gesellschaftsvertrags basiert auf der Idee, dass die Gesellschaft ein Produkt menschlichen Handelns sei (Taylor 2002). − Im Übergang zur Neuzeit setzte sich das Bild einer Ge- sellschaft durch, die auf einer vertraglichen Überein- kunft zwischen gleichrangigen Individuen basiert. − Nach Hobbes geben die Individuen dabei freiwillig einen Teil ihrer Freiheit ab, um Sicherheit durch eine zentrale Autorität zu erhalten. − Dieser Vertrag schafft eine "überindividuelle" Ordnung, die unabhängig von den Individuen existiert und ihre Handlungen bestimmt. 14 Beispiel: Der Staat kann Einzelne auch gegen ihren Willen zur Steuerzahlung zwingen, zum Militär einziehen oder ihren Besitz enteignen. 15 Organismus Die Organismus-Metapher stammt aus der antiken Philosophie (Merz-Benz & Wagner 2007). − Gesellschaft wird dabei als Körper betrachtet, dessen einzelne Teile wie Organe zusammenwirken (System). − Die Teile allein sind nicht überlebensfähig, gleichzeitig aber unverzichtbar für das Funktionieren des Ganzen (Nassehi 2023: 100). Emile Durkheim (1999) prägte in diesem Sinne den Begriff der "organischen Solidarität", wonach Die Einheit der Gesellschaft auf Arbeitsteilung basiert. 16 Beispiel: Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft etc. sind wechselseitig voneinander abhängig und verstärken gerade dadurch die Integration der Gesellschaft etc. 17 Polykontexturale Gesellschaft Beide Metaphern – Vertrag und Organismus – teilen trotz aller Unterschiede mehrere Gemeinsamkeiten: − Die Gesellschaft ist abhängig von den Akteuren, die sie durch ihr Handeln immer wieder neu herstellen. − Umgekehrt sind auch die Akteure ein Produkt der Ge- sellschaft: Soziale Ordnungsmuster prägen ihre Identität und ihr Handeln. − Beide Seiten brauchen einander, aber keine ist voll- ständig abhängig. Sie beeinflussen sich, ohne die jeweils andere Seite festzulegen. 18 Die Gesellschaft lässt sich so als ein Ensemble von Ordnungsmustern definieren, die untereinander zusammenhängen und das Handeln prägen. − Dieses Verständnis kommt einer Definition des Gesellschaftsbegriffs am Nächsten. − Der Begriff der "Polykontexturalität" (Schimank 2005) beschreibt genau diesen pluralen Zusammenhang. − Die Besonderheiten der Kontexte werden in der Gesellschaftstheorie durch bestimmte Metaphern betont. 19 Formen der Musterbildung Vertrag und Organismus haben sich dabei als besonders einflussreich etabliert. − Ungleichheitstheorien problematisieren die Bildung hierarchischer Muster zwischen prinzipiell gleichen Gesellschaftsmitgliedern (Metapher: Vertrag). − Differenzierungstheorien rücken die logischen Muster ins Zentrum, entlang derer die Rationalisierung und Arbeitsteilung voranschreitet (Metapher: Organismus). In der soziologischen Gesellschaftstheorie gibt es aber noch weitere Ansätze, die von anderen Meta- phern und Formen der Musterbildung ausgehen. 20 − Diskurstheorien thematisieren die kulturellen Muster, durch die kultureller Sinn produziert, aufbewahrt und verfügbar gemacht wird (Metapher: Archiv). − Netzwerktheorien lenken die Aufmerksamkeit auf die relationalen Muster, durch die Akteure aufeinander Einfluss ausüben (Metapher: Netzwerk). − Die Technikforschung betont die technischen Muster, die zunehmend beeinflussen, wie Menschen interagie- ren und Information verbreiten (Metapher: Medium). 21 Lernfragen Inwiefern ist die Gesellschaft ein bloßer "Spielraum" bzw. "Kontext" für unser Handeln? Was versteht Durkheim unter organischer Solidarität? Wie unterscheidet sich in der Gesellschaftstheorie die Metapher des Vertrags von der des Organismus? Wo liegen die Gemeinsamkeiten? Was heißt "polykontexturale" Gesellschaft? 22 Literatur Durkheim, Emile, 1999: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Merz-Benz, Peter-Ulrich, & Gerhard Wagner, 2007: Die Gesellschaft als sozialer Körper. S. 89-116 in: Klingemann, C. (Hrsg.), Jahrbuch für Soziologiegeschichte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Nassehi, Armin, 2011: Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen. Wiesbaden: VS Verlag. Nassehi, Armin, 2023: Gesellschaft. S. 84-109 in: Nassehi, A. (Hrsg.), Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede. Berlin: Suhrkamp. Schimank, Uwe, 2005: Polykontexturale Gesellschaft. S. 43-51 in: Schimank, U. (Hrsg.), Differenzierung und Integration der modernen Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag. Taylor, Charles, 2002: Modern Social Imaginaries. Public Culture 14: 91-124. 23

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