Soziologie und Verhalten an Straßenkreuzungen

Was ist der Gegenstand der Soziologie?

• Der Gegenstand der Soziologie, die Gesellschaft, ist bis heute relativ unklar definiert.
• Viele Disziplinen, wie die Medizin, haben Schwierigkeiten, ihren Gegenstand zu definieren und abzugrenzen.
• Die menschliche Gesundheit umfasst körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden.

Je weiter das Konzept ausgedehnt wird, umso unschärfer werden die Grenzen

• Je weiter ein Konzept (z.B. "Gesundheit") ausgedehnt wird, desto schwieriger wird es, klare Grenzen zu ziehen.
• Die Pädagogik beschäftigt sich mit allen Formen der Einflussnahme auf Heranwachsende.
• Die Politikwissenschaft betrachtet den Staat als Institution, Machtstruktur und rechtliche Ordnung.

Die "Kreuzung" der Möglichkeiten

• Die Soziologie ist nicht die einzige Wissenschaft mit Abgrenzungsproblemen.
• Ziel der Vorlesung ist es, den Blick für den Gesellschaftsbegriff in den Sozialwissenschaften zu schärfen und zu zeigen, was man über den Gegenstand lernen kann.
• Ein Beispiel ist eine stark belebte Kreuzung in einer Großstadt.

Video-Beispiel: Die Shibuya-Kreuzung

• Die Shibuya-Kreuzung in Tokio, mit bis zu 3.000 Menschen, die gleichzeitig über die Straße gehen, zeigt zentrale Merkmale von Gesellschaft.
• Die Masse der Menschen bewegt sich geordnet und störungsfrei über die Kreuzung.
• Die Beteiligung der Menschen lässt sich kaum aktiv koordinieren.
• Die Frage ist, ob ein Zusammenbruch der Ordnung eintreten würde, wenn die Regeln wegfallen würden.

Gesellschaft als "Zone" der Wahrscheinlichkeiten

• Das Video offenbart ein regelmäßiges Ordnungsmuster in der Gesellschaft, das mehr als nur eine zufällige Ansammlung von Individuen darstellt.
• Menschen folgen wiederkehrenden Verhaltensmustern an Straßenkreuzungen.
• Die Straßenkreuzung ist eine "Zone der Wahrscheinlichkeit" (Nassehi 2023), wo bestimmte Verhaltensweisen wahrscheinlicher sind als andere.

Das Ordnungsmuster bestimmt das Verhalten

• Das Ordnungsmuster bestimmt das Verhalten der Verkehrsteilnehmenden (z.B. Fußgänger), aber nicht bis ins Detail.
• Die Menschen in der Gesellschaft haben Handlungsspielräume und können von Erwartungen abweichen.
• Die Gesellschaft funktioniert auch ohne persönliche Bindungen (anonym).
• Die Gesellschaft integriert Pluralität und Heterogenität (Vielfalt von Menschen).

Unklare Adressierbarkeit

• Die gesellschaftliche Ordnung wird nicht von einer einzelnen Instanz repräsentiert.
• Es gibt gesellschaftliche Ordnungsmuster jenseits der von der Politik gesetzten Regeln.
• Es gibt keine Person, die dafür verantwortlich ist, dass beispielsweise eine Straßenkreuzung geordnet abläuft (z.B. Polizei).
• Jede Person entscheidet selbst, wann und wohin sie sich bewegt.

Gesellschaft als Kontext

• Die Gesellschaft beeinflusst, welche Handlungen möglich oder erschwert werden.
• Der Kontext der Gesellschaft wird erst thematisiert, wenn man sich mit der Gesellschaft auseinandersetzt.
• Es gibt vier Hauptanlässe, warum wir die Gesellschaft thematisieren.

Gesellschaft als Kontext für Vergleiche (kulturelle Muster)

• Die Individualität und Besonderheit eines Menschen zeigt sich am besten im gesellschaftlichen Kontext.
• Geschmack, Bildung und Herkunft sind Ausdruck der Identität einer Person und gesellschaftlichen Mustern.
• Die Wahl von Kleidung, Auto oder Wohnort ist nicht nur Ausdruck des persönlichen Geschmacks, sondern auch der sozialen Kreise, in denen man Anerkennung sucht.

Gesellschaft als Kontext für Konflikte (hierarchische Muster)

• Rousseau betrachtet den Gründungsakt der Gesellschaft in der Einzäunung des ersten Stück Landes.
• Die Gesellschaft hat eine soziale Struktur und Ordnung, die zwischen Besitzenden und Besitzlosen unterscheidet.

Gesellschaft als Kontext für die Verfolgung unterschiedlicher Interessen

• Die Kunst folgt einer anderen Logik als Wirtschaft oder Politik.

Gesellschaft als Kontext für die Bildung "latenter" Muster

• Algorithmische Muster können durch Umfragen, Big Data und Statistiken sichtbar werden.

Metaphern der Gesellschaftstheorie

• Um gesellschaftliche Kontexte zu verdeutlichen, verwenden Sozialwissenschaftler häufig Metaphern.
• Metaphern sind sprachliche Bilder, die Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Gegenständen verdeutlichen.
• Ein Beispiel ist die Metapher des "ökologischen Fußabdrucks".

Für die Beschreibung der Gesellschaft ... zwei Metaphern

• Zwei etablierte Metaphern in der Soziologie sind der Vertrag und der Organismus.
• Beide Metaphern zeigen unterschiedliche Attribute der Gesellschaft, aber teilen auch Gemeinsamkeiten.

Gesellschaftsvertrag

• Der Gesellschaftsvertrag basiert auf der Vorstellung, dass die Gesellschaft das Ergebnis menschlichen Handelns ist.
• Im Übergang zur Neuzeit wurde die Gesellschaft als Vertrag zwischen gleichrangigen Individuen betrachtet.
• Personen verzichten auf einen Teil ihrer Freiheit, um Sicherheit durch eine zentrale Autorität zu erreichen.

Organismus

• Die Organismus-Metapher stammt aus der antiken Philosophie.
• Gesellschaft wird als Körper betrachtet, dessen Teile wie Organe zusammenwirken.
• Die Teile sind voneinander abhängig und unverzichtbar für das Funktionieren des Ganzen.
• Durkheim prägte den Begriff der "organischen Solidarität", die von der Arbeitsteilung abhängt.

Polykontexturale Gesellschaft

• Beide Metaphern (Vertrag und Organismus) haben Gemeinsamkeiten: die Gesellschaft ist von den Akteuren abhängig, die sie ständig neu erschaffen.
• Soziale Ordnungsmuster prägen die Identität und das Handeln der Akteure.
• Die Gesellschaft ist keine feste Einheit, sondern ständig im Fluss und ständig abhängig.

Die Gesellschaft lässt sich...

• Die Gesellschaft lässt sich als ein Ensemble von zusammenhängenden Ordnungsmustern definieren.
• Dieses Verständnis ist mit dem Begriff der Polykontexturalität eng verbunden.
• Die Besonderheiten der verschiedenen Kontexte werden durch verschiedene Metaphern in der Gesellschaftstheorie betont.

Formen der Musterbildung

• Vertrag und Organismus sind einflussreiche Metaphern in der soziologischen Gesellschaftstheorie.
• Ungleichheitstheorien problematisieren die Bildung hierarchischer Muster innerhalb scheinbar gleichrangiger Gesellschaftsmitglieder, und somit ist die Metapher des Vertrages hilfreich.
• Differenzierungstheorien betonen die logischen Muster der Rationalisierung und Arbeitsteilung, was die Metapher des Organismus verdeutlicht.

Diskurstheorien / Netzwerktheorien / Technikforschung

• Diskurstheorien untersuchen kulturelle Muster kultureller Sinnproduktion.
• Netzwerktheorien befassen sich mit den relationalen Mustern, durch die sich Akteure beeinflussen.
• Technikforschung betont die technischen Muster, die die Interaktionen und Informationsverbreitung von Menschen beeinflussen.

Lernfragen

• Wie weit ist die Gesellschaft ein Spielraum oder ein Kontext für unser Handeln?
• Was versteht Durkheim unter organischer Solidarität?
• Wie unterscheidet sich die Metapher des Gesellschaftsvertrags von der des Organismus?
• Was bedeutet polykontexturale Gesellschaft?