Psychosoziale Aspekte des T1DM bei Kindern und Jugendlichen PDF
Document Details
Uploaded by PleasantAbstractArt
Universitätskinderklinik Bern
Dr. med. Ch. Hamann
Tags
Summary
This document discusses the psychosocial aspects of type 1 diabetes in children and adolescents, covering topics such as chronic illness, challenges for children and parents, and support for families.
Full Transcript
Psycho-soziale Aspekte des Diabetes Typ I Dr. med. Ch. Hamann Kinder- und Jugendpsychosomatik Universitätskinderklinik Bern [email protected] ÜBERSICHT 1. Chronisch kranke Kinder - allgemeine Aspekte 2....
Psycho-soziale Aspekte des Diabetes Typ I Dr. med. Ch. Hamann Kinder- und Jugendpsychosomatik Universitätskinderklinik Bern [email protected] ÜBERSICHT 1. Chronisch kranke Kinder - allgemeine Aspekte 2. Das Kind mit Typ I Diabetes Belastungen im Verlauf der Erkrankung Herausforderungen für Kinder und Eltern Anpassung an die Erkrankung Psychische Gesundheit 3. Begleitung und Beratung von Kinder und Jugendlichen mit Typ I Diabetes und ihren Familien Gesprächsführung Gesprächsführung mit Jugendlichen DEFINITION EINER CHRONISCHEN KÖRPERLICHEN ERKRANKUNG I eine allgemein verbindliche Definition ‚chronische Erkrankung‘ existiert nicht Chronic Illness Chronic Condition children with special health care körperliche Erkrankungen, die viele Jahre oder lebenslang in mehr oder weniger bedrohlicher Weise das Planen, Handeln und Empfinden des Kindes und seiner Familie bestimmen Petermann et al. 1987 körperliche Erkrankungen, die sich in der Regel langsam entwickeln, über einen langen Zeitraum andauern und einen unvorhersehbaren Verlauf nehmen Schulz und Hammermann 1991 DEFINITION EINER CHRONISCHEN KÖRPERLICHEN ERKRANKUNG II Annäherung: 1. Körperliche Erkrankung deren Dauer mindestens einen Zeitraum von > 3 - 12 Monaten überschreitet (abhängig von Definition) 2. nur bedingt oder gar nicht heilbar 3. multiple Einschränkungen der Funktionsfähigkeit und sozialen Rolle 4. Besonderer Betreuungs- und Unterstützungsbedarf (Medikamente, Diäten, Hilfsmittel, persönliche Anleitung), dauerhafte bis lebenslang, zur o Verbesserung der Grundkrankheit und ihrer Symptomatik o Kompensation von Einschränkungen der Funktionsfähigkeit o Stärkung der psychischen Adaptation an erkrankungsbedingte psychosoziale Belastungen und behandlungsbedingte Anforderungen sowie der sozialen Integration CHRONISCHE ERKRANKUNGEN NACH ORGANSYSTEMEN zB Endokrinium Phenylketonurie, AGS, Kleinwuchs Haut Neurodermitis Herz-Kreislauf Angeborene Herzfehler Blut Sichelzellanämie, Leukämie, Hämophilie Lunge Asthma bronchiale, Cystische Fibrose Magen/Darm Colitis ulcerose, Morbus Crohn, Cystische Fibrose Muskulatur/Skelett Rheumatoide Arthritis, Myopathien Nieren Chronische Niereninsuffizienz Stoffwechsel Diabetes ZNS Epilepsie, Tumoren, Sinnesbehinderungen Chronische Schmerzen LEBENSZEITPRÄVALENZ CHRONISCHERE ERKRANKUNGEN Organsystem Krankheit Häufigkeit (%) Lunge Asthma bronchiale ≈ 10 Chronisch obstruktive Bronchitis ≈ 13 Herz Angeborene Herzfehler 0.8 – 1.0 (Schweiz ~ 800 Kinder/Jahr) Niere Chronische Niereninsuffizienz 0.3 – 0.6 Haut Neurodermitis 7-13-19 Bewegungsapparat Rheuma 0.3 – 0.5 Stoffwechsel Diabetes mellitus Typ I 0.1 - 0.4 Sinnesorgane Blindheit 0.03 – 0.1 ZNS Krampfanfälle/Epilepsie ≈4 ….. BELASTUNGEN/SORGEN VON ELTERN CHRONISCH KRANKER KINDER ˃ Eine chronische Erkrankung wirkt sich auf die ganze Familie aus ˃ Die mit der Erkrankung verbundenen Anforderungen und Bewältigungsaufgaben kommen zu den Entwicklungsaufgaben und allgemeinen Erziehungsanforderungen hinzu ˃ Spezifische psychische Belastungen sind u.a.: 1. Frage nach der ‚Schuld‘ (zB vererbte Erkrankungen, frühkindl. Schädigungen) 2. Sorgen/Ängste um das kranke Kind (zB (Berufliche)Zukunft, kommende Belastungen) 3. Erziehungshaltung an die Anforderungen der chronischen Erkrankung anpassen lernen (zB Balance von Verwöhnen vs Fordern; Autonomie vs Behüten) 4. Vernachlässigung der eigenen Beziehungen (zB Paar, Freunde, Hobby) 5. Zusätzlicher Zeitaufwand und Betreuungsbedarf (zb Arztbesuch, tägliche Therapien) 6. Umgang mit Geschwistern (zB Rivalitäten, Sorgen der Geschwister) 7. Finanzieller Mehraufwand Bsp. normative Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen Frühe Kindheit, zB ˃ Bindung an Bezugsperson(en) ˃ Sprachentwicklung ˃ Entwicklung von Selbständigkeit ˃ Motorische Entwicklung Mittlere Kindheit, zB ˃ Erwerb der Kulturtechniken (Schreiben, Lesen, Rechnen) ˃ Geschlechtsrollenidentifikation ˃ Soziale Kompetenz und Kooperation (zB Spiel in Gruppen) Jugendalter, zB ˃ Positionierung unter Gleichaltrigen ˃ Erlangen einer neuen Körperidentität ˃ (Emotionale) Ablösung von den Eltern, Autonomie ˃ Eigene Entscheidungen treffen lernen ˃ Entwicklung beruflicher Pläne ˃ eigenes Wertesystem aufbauen (zB moralisches Bewusstsein) ˃ Gestalten sexueller Beziehungen WESENTLICHE DIMENSIONEN EINER CHRONISCHEN ERKRANKUNG A. Erkrankungsmerkmale B. Folgen Belastungen und Anforderungen (physisch, psychisch, sozial) Erkrankungs- und behandlungsbedinge Stressoren (zB Schmerzen) Therapieanforderungen Funktionseinschränkungen und Behinderungen Psychosoziale Belastungen C. Adaptionsprozesses DIMENSIONEN CHRONISCHER ERKRANKUNG - KRANKHEITSMERKMALE Verlauf kontrollierbar nicht kontrollierbar, Konstant Progredient, in Schüben Prognose stabil progredient bis letal Lebenserwartung normale verkürzt Schweregrad leicht schwer Dauer zeitlich begrenzt lebenslang Erkrankungsbeginn angeboren erworben Sichtbarkeit der nicht sichtbar sichtbar Symptome Therapieoptionen Verbesserung keine Verbesserung; nur symptomatisch, Linderung von Beschwerden Behandlungsformen VERLAUF EINER CHRONISCHEN ERKRANKUNG VERLAUF BEISPIEL Kompensierter Verlauf bei Fructoseintoleranz konsequentem Einhalten einer Diät Vorübergehende Beschwerden bei Laktoseunverträglichkeit Diätfehler Schubweiser Krankheitsverlauf Chronisch-entzündliche Darmerkrankung Anfallsartiger Krankheitsverlauf Asthma bronchiale; Epilepsie Stationärer Krankheitsverlauf Infantile Zerebralparese Verkürzte Lebenserwartung Spinale Muskelatrophie ……. BEHANDLUNGSFORMEN BEI EINER CHRONISCHEN ERKRANKUNG BEHANDLUNGSFORM BEISPIEL Ersatz von fehlender körpereigener Angeborene Hypothyreose Substanz Diabetes Medikamentöse Langzeitbehandlung Epilepsie Besondere Körperpflege Neurodermitis Meidung bestimmter Stimuli Allergische Erkrankung Diätische Behandlung Phenylketonurie Künstliche Ernährung Kurzdarmsyndrom Organersatztherapie Chronische Niereninsuffizienz Operative Behandlung Herzfehler Organtransplantation Herz Leber Niere BELASTUNGEN, RESSOURCEN UND PSYCHO-SOZIALE ADAPTATION Unter- Bewältig.- stützung verhalten Persön- lichkeit fehlende Unter- Persön- stützung lichkeit Fehlende PSYCHOSOZ. Akzeptanz ADAPTATION der Erkrankung PRÄVALENZ DES DIABETES BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN Häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindes- und Jugendalter CH: 3 000 Kinder/Jugendliche mit Typ I Diabetes D: ca. 32 000 Kinder/Jugendliche < 18 Jh mit Typ I Diabetes Zunahme Diabetes im Kindes und Jugendalter jährlich 3-4% (!) in Europa D: 2 200 Neuerkrankte/Jahr Weltweit: 425 Mio Menschen mit Diabetes (Typ I u. Typ II) 2025: 625 Mio Menschen mit Diabetes (Typ I u. Typ II) Kinderklinik Bern: o 30-35 neu entdeckte Diabetiker Typ I/Jahr o Betreut werden 200-220 Diabetiker (0-18 jh.) VERLAUF DES DIABETES Erstmani- Pädiatrische Internistische festation Langzeitbehandlung Langzeitbehandlung Entwicklungsaufgaben Bsp. normative Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen Frühe Kindheit, zB ˃ Bindung an Bezugsperson(en) ˃ Sprachentwicklung ˃ Entwicklung von Selbständigkeit ˃ Motorische Entwicklung Mittlere Kindheit, zB ˃ Erwerb der Kulturtechniken (Schreiben, Lesen, Rechnen) ˃ Geschlechtsrollenidentifikation ˃ Soziale Kompetenz und Kooperation (zB Spiel in Gruppen) Jugendalter, zB ˃ Positionierung unter Gleichaltrigen ˃ Erlangen einer neuen Körperidentität ˃ (Emotionale) Ablösung von den Eltern, Autonomie ˃ Eigene Entscheidungen treffen lernen ˃ Entwicklung beruflicher Pläne ˃ eigenes Wertesystem aufbauen (zB moralisches Bewusstsein) ˃ Gestalten sexueller Beziehungen DER TRAUERPROZESS I 1. Nicht-Wahrhaben-Wollen (Verleugnen, Schock) 2. aufbrechenden Emotionen (widersprüchliche Gefühle wie Schuldgefühle, Wut, Hass, Angst, Verzweiflung) 3. Suchen und Neuorientierung (Versuch zu akzeptieren) 4. Annehmen (können) (Neuorientierung und Integration) nach Verena Kast 1982 DER TRAUERPROZESS II Nicht wahr haben wollen Aufbrechende Emotionen Suchen und Annehmen Neuorientierung BELASTUNG IM ZEITLICHEN VERLAUF - DIAGNOSE > Diagnose trifft Kind und Eltern unvorbereitet (kritisches Lebensereignis) o Diabetesdiagnose Auseinandersetzung mit (1) chronischer Erkrankung, (2) lebenslanger Therapie, (2) Risiko schwerwiegender Folgeerkrankungen verlangt Coping (Anpassungsleistung); sehr unterschiedlich, auch innerhalb der Familie o Reaktion auf Diagnose unterschiedlich (nicht wahr haben wollen, Wut, Angst, Verzweiflung, Frustration, Schuld, Hilflosigkeit) Trauerprozess die meisten Familien arrangieren sich innerhalb eines Jahres mit der neuen Situation und finden emotionales Gleichgewicht aber 70% der Eltern zeigen 2 Wochen nach Diagnoseeröffnung Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung im Verlauf Anpassungsstörung/Depression (1/3 der Eltern; vor allem Mütter) Belastete Familien, Ressourcen erschöpft psychosoziale Probleme verstärkt BELASTUNG IM ZEITLICHEN VERLAUF - INITIALE PHASE (< 12 Monate) Konfrontation mit Lebens(stil)veränderungen erlernen des Diabetesmanagement (tägliche mehrmalige BZ Bestimmungen und mehrmalige Insulininjektionen; Einhalten einer kohlenhydratberechneten Ernährung u.a.m) o Kinder mit Therapieverantwortung überfordert verlässliche Unterstützung der Eltern notwendig konsequentes Einfordern von (Therapie)Verhaltensregeln Eltern-Kind-Konflikte vorprogrammiert fordert lebenslange Therapie o Intensives Therapiemanagement setzt hohe Therapiemotivation voraus (wird von Jugendlichen oft nicht aufrechterhalten; Bsp: bei 13-18 jh in nur 45% mit adäquatem HBA1c-Wert !) verlässliche Unterstützung zur Aufrechterhaltung der Therapiemotivation durch die Eltern notwendig o Diabetes zusätzlich zu normalen Entwicklungsaufgaben/Lebensschicksal BELASTUNG IM ZEITLICHEN VERLAUF - INITIALE PHASE (< 12 Monate) Konfrontation mit Lebens(stil)veränderungen Neuorganisation des Familienlebens und Gestaltung des Alltags o > 30% der Mütter geben Beruf auf/reduzieren Arbeitspensum, bei Vorschulkindern Anteil > 40% o Väter in Betreuung wenig involviert, insb. Spritzen Einbezug Vater wichtig! o Angemessene Versorgung des Kindes schwierig (zB verlässliche Fremdbetreuung; Festli; Ausflüge; Kontakt mit Freunden; Schullager u.a.m.) o Lebensplanung ungewiss (zB Spontaneität fehlt; eigene soziale Kontakte oft eingeschränkt) o Geschwisterkinder mitbetroffen UND WAS IST MIT DEN GESCHWISTERN ? > ausgeprägtes Krankheitswissen > Sorgen sich um Geschwister und fühlen sich verantwortlich > versuchen negative Gefühle zu minimieren (Eifersucht, Ärger, Rivalität) > grosse Sorgen um eigene Gesundheit und Angst, selber an Diabetes zu erkranken, reden aber NICHT mit den Bezugspersonen darüber Thema aktiv ansprechen und aufklären BELASTUNG IM ZEITLICHEN VERLAUF - LANGZEITVERLAUF (> 12 Monate) Integration der chronischen Erkrankung verlangt Krankheitsakzeptanz o Kinder/Jugendliche welche die Diagnose nicht akzeptieren können hohes Risiko für unzureichende Stoffwechseleinstellung und psychosoziale Probleme Kontakt mit andern fördert Akzeptanz (zB Diabeteslager) führt zu Erziehungsproblemen o Beteiligung der Eltern an der Therapie (wichtig! Kunst: altersgemässe Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung vs Kontrolle und Überwachung; entwicklungsangemessene Übergabe der Therapieverantwortung = eigene Rolle finden; Kinder ≤ 12jh. können Therapieverantwortung nicht selber übernehmen) zu beachten: Kinder aus bildungsfernen Familien, mit Migrationshintergrund oder aus konfliktbelasteten Elternhäuser sind besonders gefährdet, keine adäquate Unterstützung zu bekommen !! BELASTUNG IM ZEITLICHEN VERLAUF - LANGZEITVERLAUF (> 12 Monate) Integration der chronischen Erkrankung verlangt Krankheitsakzeptanz o Kinder/Jugendliche welche die Diagnose nicht akzeptieren können hohes Risiko für unzureichende Stoffwechseleinstellung und psychosoziale Probleme Kontakt mit andern fördert Akzeptanz, zB Diabeteslager führt zu Erziehungsproblemen o Beteiligung der Eltern an der Therapie (wichtig! Kunst: altersgemässe Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung vs Kontrolle und Überwachung; entwicklungsangemessene Übergabe der Therapieverantwortung = eigene Rolle finden; Kinder ≤ 12jh. können Therapieverantwortung nicht selber übernehmen) o Alterstypische psychosoziale Belastungen plus krankheitsbedingte familiäre Konflikte Max, 3 1/2 jh. Bei Max wurde vor drei Monaten ein Diabetes Typ I diagnostiziert. Die Eltern erhielten eine ausführliche Schulung. Nach der Spitalentlassung war Max anfänglich sehr ängstlich und anhänglich. Er fing wieder an einzunässen. Hypoglycämien erkennt er noch nicht. Die Eltern sind sehr verunsichert und messen mehr als 10mal täglich seinen Blutzucker. Inzwischen ist die Insulingabe nur noch mit zwei Erwachsenen möglich. Max läuft, weg, schreit, lässt sich kaum beruhigen und setzt sich körperlich gegen die Massnahmen zur Wehr. Bsp: ALLTAGSBELASTUNGEN EINER FAMILIE MIT EINEM KLEINKIND MIT DIABETES Erleben, Verhalten, Bedürfnis des Anforderungen und Belastungen der Eltern Kindes mit Diabetes kaum Verständnis für schmerzhafte Gegenden intensiven Widerstand des Kindes und Therapie (Injektion; BZ-Messung) gegen eigene innere Widerstände handeln müssen grosse emotionale Belastung wenig Verständnis für Gefahr eines Hypo; Angst vor nächtlichem Hypo /Krampfanfall ständiges Hypo-Symptome werden nicht erkannt Beobachten des Kindes (auch nachts), übermässige BZ-Kontrolle; Verhaltensänderung schwierig einzuschätzen (Hypo? anders begründet?) Spontanes Essverhalten und körperliche mengenmässig unregelmässiges Essen ständiges Aktivität sind nicht verlässliche Beobachten und Kontrolle kurzfristig Anpassung der voraussehbar und planbar Therapie notwendig häufige BZ-Schwankungen durch Trotz Intensivierung der Therapie Gefühl der Bewegung, Ernährung, Infekt, Stress Hilflosigkeit und Machtlosigkeit ev. Depression Diabetes erblich; Folgeerkrankungen Schuldgefühle bei hohen BZ-Werte, hohem HBA1C, wahrscheinlich nicht optimal eingestellt, Eltern selber Diabetiker Kontinuierliche Therapie erforderlich Fremdbetreuung schwer zu organisieren, nur bei ständiger Rufbereitschaft der Eltern möglich(Kita, KiGa, Gre, Festli, Lager etc.) Orientierung des Alltags am Diabetes Geschwisterrivalität, Partnerschaftsprobleme; Isolation der Familie, eingeschränkte Freiräume Corina, 13 jh. Der Diabetes besteht seit Kleinkindalter. Im Alter von 9 jh. wurde auf eine funktionelle Insulintherapie umgestellt. Die Umstellung erfolgte vor allem um die Essenszeiten besser auf intensives Tennistraining abstimmen zu können. Seit ca. einem Jahr verschlechtert sich die zuvor hervorragend eingestellte Blutzuckereinstellung. Vor 6 Monaten hat Corina ihren Tennissport aufgegeben. Inzwischen verweigert sie ihren Eltern Einblick in die Blutzuckermessung, ein Kontrollheft führt sie nicht mehr. Die Mutter hat heimlich den Speicher der Blutzuckermessung angeschaut und gesehen, dass nur selten Messungen stattfinden. Die Werte sind meisten sehr hoch. Im Wartzimmer sitzen Mutter und Tochter – die Stimmung ist angespannt, beide schweigen. AUSEINANDERSETZUNGEN BEI ÜBERGABE DER THERAPIEVERANTWORTUNG Was nervt Jugendliche besonders … > ständiges Nachfragen der Eltern, ständige Kontrolle (bin ich noch Kind der Eltern oder nur noch Diabetiker?) > (Emotionale) Reaktionen (Ärger, Vorwürfe, Drohungen, Bestrafungen) der Eltern auf ungünstige BZ-Werte blame and shame cycle > ständige Misserfolge in der Therapie erschüttern Selbstbild Was müssen wir wissen? Jugendliche erleben den Diabetes als massive Einschränkung. Sie müssen sich nochmals intensiv mit ihrer chronische Erkrankung auseinandersetzen und sie akzeptieren lernen Jugendliche wollen so sein wie die Anderen. Körperliche Unversehrtheit bestimmt stark das Selbstbild von Jugendlichen Angst von Gleichaltrigen abgelehnt zu werden ev. sozialer Rückzug, Verheimlichen der Erkrankung erhöhte Hormonausschüttung (Wachstum- ,Sexualhormon) physiologische Insulinresistenz erschwert Stoffwechseleinstellung Misserfolg Resignation AUSEINANDERSETZUNGEN BEI ÜBERGABE DER THERAPIEVERANTWORTUNG Elterliche Strenge und Restriktionen begünstigen ungünstige Stoffwechsel- einstellungen die Kunst besteht darin, Autonomie angemessen zu fördern ohne die Jugendlichen zu überfordern förderliches Elternverhalten o Beteiligung an der Therapie o Verständnis für Schwierigkeiten/Fehler im Management des Diabetes zeigen o Anerkennen der Therapiebemühungen, auch wenn sie nicht erfolgreich sind o Sorgen in einem ruhigen Moment und wohlwollend deponieren BELASTUNG IM ZEITLICHEN VERLAUF – LANGZEITVERLAUF (> 12 Monate) Integration der chronischen Erkrankung verlangt Krankheitsakzeptanz o Kinder/Jugendliche welche die Diagnose nicht akzeptieren können hohes Risiko für unzureichende Stoffwechseleinstellung und psychosoziale Probleme führt zu Erziehungsproblemen o Beteiligung der Eltern an der Therapie (wichtig! Kunst: altersgemässe Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung vs Kontrolle und Überwachung; entwicklungsangemessene Übergabe der Therapieverantwortung = eigene Rolle finden; Kinder ≤ 12jh. können Therapieverantwortung nicht selber übernehmen) o Alterstypische psychosoziale Belastungen und krankheitsbedingte familiäre Konflikte o manipulatives Einsetzen/Instrumentalisieren des Diabetes zur Bewältigung anderer Konflikte/Durchsetzung eigener Interessen (zb simulierte und provozierte Hypoglycämien um Prüfung nicht schreiben zu müssen; Neutralisierung familiärer Konflikte etc.) PSYCHISCHE GESUNDHEIT VON KINDERN/JUGENDLICHEN MIT DIABETES TYP I Datenlage uneinheitlich, keine repäsentativen Daten (kleine Stichproben; untersch. Diagnosekriterien; Resultat Ergebnis von Elternbefragungen u.a.m.) kein Evidenz für klinisch relevante Störungen, aber erhöhte Risiko … o Subklinische psychische Auffälligkeiten in allen Altersgruppen Belastungsreaktionen und affektive Störungen 2-3x höher (Ängste, Depressionen), w > m Essstörungen um 10-15% erhöht o Auffälligkeiten bei Jugendlichen häufiger, bei Kinder seltener Hintergrund, zB fehlende Krankheitsakzeptanz (Jugendliche; Familie) Angst vor Hypo’s und Folgeerkrankungen Gewichtsmanipulation durch gezieltes Unterdosieren des Insulins = verhindert Gewichtszunahme (insulin purging) Screening auf Essstörungen ! hohe psychosoziale Belastung der Eltern ….. PSYCHOSOZIALE VERSORGUNG VON FAMILIEN MIT EINEM KIND MIT DIABETES Psychosoziale Versorgung der Patientenfamilien muss integraler Bestandteil der Diabetestherapie sein Was ist gefordert: > Interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe (Sozialarbeit, Psychologie, Medizin, Ernährungsberatung) > Kontinuierliche, krankheitsbegleitende psychosoziale Betreuung aller Familienmitglieder (Diabetes betrifft die ganze Familie- Niemand ist alleine krank) > Präventiv ausgerichteter Beratungsansatz > werden Familien ab Diagnosestellung betreut, können sie Unterstützungs- angebote erfahrungsgemäss besser akzeptieren Ziele: 1. Krankheitsbewältigung fördern 2. Belastungen frühzeitig erfassen und entspr. Hilfsangebote organisieren 3. Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten verhindern/minimieren PSYCHOSOZIALE VERSORGUNG VON FAMILIEN MIT EINEM KIND MIT DIABETES Schwerpunkte der Beratung und Betreuung 1. Diagnoseeröffnung und Zeit der Erstmanifestation 2. Langzeitbetreuung, stationäre und ambulant 3. kurzfristige Krisenintervention bei akuten medizinischen, psychischen und sozialen Problemen 4. Alters- und therapiespezifische Schulung 5. Unterstützung der Familie in schwierigen Situationen Interdisziplinäres Team ! ZEITLICHER UMFANG DES DIABETES-SELBSTMANAGEMENTS EINER FAMILIE 2-4 std. ambulante Behandlung 12-24 std. ambulante Schulung Ein Jahr im Leben eines Kindes mit Typ I Diabetes ~2 000 BG Messungen ~ 1 800 Injektionen 365 TAGE Reflexion aller relevanten Aktivitäten (Essen, Bewegung, Stress..) Alltagsanforderungen Entwicklungsschritte ~ 8 745 std. Belastungen eigenverantwortliche ….. Therapie INHALTE DER PSYCHOSOZIALEN BERATUNG UND BEGLEITUNG 1. Kontinuierliche Sicherung des Therapiewissens, zB o Wissen kontinuierlich vermitteln (Folgeschulungen) o Kontrolle Stoffwechseleinstellung o praktische Umsetzung der Therapie im Alltag 2. Erfassung der aktuellen Belastungen ALLER Familienmitglieder, zB o Psychisches Befinden der Bezugspersonen o Emotionale Bewältigung der Erkrankung o Krankheitsakzeptanz 3. Begleitung kritischer Phasen, zB o Anstehende Entwicklungsschritte (zB Schuleintritt, Pubertät) o Kritische Lebensereignisse (zB Trennung der Eltern, Tod eines Familienangehörigen, Geburt eines Geschwisters) o Hilfe bei der emotionalen Verarbeitung schwieriger Situationen und Ängsten (zB Bewusstlosigkeit/Krampfanfall bei Hypo) INHALTE DER PSYCHOSOZIALEN BERATUNG UND BEGLEITUNG 4. Erarbeitung förderlicher Erziehungsstrategien zB o Übergabe der Therapieverantwortung, Unterstützung altersentspr. Selbständigkeit o Suche nach Unterstützung ausserhalb der Familie (andere Betroffene; Selbsthilfegruppen) 5. Aufrechterhaltung einer genügenden Behandlungsmotivation 6. Frage der Folgeerkrankungen/Verhinderung von Folgeerkrankungen was immer im Auge behalten werden muss ….. zb dass das Problem nicht gelöst werden kann, trotz guter Einstellung (Lebenslänglich!) Akzeptanz von Blutzuckerschwankungen trotz optimaler Therapiedurchführung (Enttäuschung; schwindende Motivation) Angst vor Hypos und Folgeschäden als ständiger Begleiter die ganze Familie ist betroffen Einschränkungen und Verzicht bezgl. Spontaneität im Alltag DIE PSYCHOSOZIALE ADAPTATION Individuum PA Krankheits- Umfeld bedingungen PA = psychosoziale Adaptation PSYCHOSOZIALE ADAPTATION BEI CHRONISCHER KÖRPERLICHER ERKRANKUNG Krankheits- Entwicklungs- Lebens- bedingungen aufgaben schicksal Psychosoziale Adaptation Familiäres Soziale Umfeld Persönlichkeit Umwelt chronische erkrankungen/f-psychosoziale adpatiation bei chr erkrankung-farbig CHECKLISTE ZUR ADAPTATION BEI EINER CHRONISCHER ERKRANKUNG Krankheitsbedingungen Entwicklungsaufgaben Lebensschicksal Frage: z.B. Frage: z.B. Frage: z.B. Bestehen bei der Ist die Familie oder der Stehen notwendige Familie oder dem Patient über den Sinn Entwicklungsschritte Patienten aktuell und Zweck der vor- für die Familie oder belastende Situationen gesehenen Therapie den Patienten an, ausserhalb der die nicht vollzogen gut informiert? Erkrankung? werden? Biol. Voraussetzungen Familiäres Umfeld Soziale Umwelt und Entwicklungsstand Frage: z.B. Frage: z.B. Frage: z.B. Ist die Krankheit von Sind beim Patienten Ist die Erkrankung der Familie oder dem Auffälligkeiten zu in der Umgebung Patient akzeptiert und finden, die unabhängig des Kindes akzeptiert angenommen? von der Krankheit oder führt sie zur aufgetreten und vor- Isolation des Patienten bestehend sind? oder der Familie? FRAGEN, DIE SICH BEI EINEM DIABETESKRANKEN KIND IMMER STELLEN - Welche Krankheitserfahrungen wirken auf das Kind und seine Familie ein ? - Welche Folgen haben die Krankheitsbedingungen, unter denen das Kind heranwächst, für die Gestaltung des familiären und persönlichen Lebens ? - Wie verarbeitet das Kind und die Familie die krankheitsbedingten Einschränkungen ? - Wie gehen das Kind und die Eltern mit der Notwendigkeit medizinischer Massnahmen um (zB Spritzen, BZ-Messungen, Krankenhausaufenthalte)? - Ist/fühlt sich das Kind stigmatisiert und wie werden dadurch Selbsterleben und Reaktionen der Umwelt beeinflusst - Wie kann das chronisch kranke Kind in Freundeskreis und Freizeit sozial aktiv sein? - Wie kann das Kind an einer möglichst normalen schulischen/beruflichen Ausbildung teilnehmen? ZUSAMMENFASSUNG > Diabetes trifft die ganze Familie - Niemand ist alleine krank > die Diagnose Diabetes Typ 1 ist sowohl für das betroffene Kind wie auch für dessen Eltern und Geschwister mit andauernden psychosozialen Belastungen verbunden und greift in das gesamte Leben und Erleben des Betroffenen und seiner Familie ein > Belastungen resultieren aus der täglichen und lebenslangen Selbstbehandlung und aus der psychosozialen Bewältigung oder Nicht-Bewältigung der Erkrankung > sowohl für die Behandlung wie auch für die Prognose sind somatische und psychosoziale Faktoren gleichermassen bedeutsam > Kinder und Jugendliche mit Diabetes können sich ebenso gut entwickeln wie gesunde Gleichaltrige > eine funktionale Krankheitsbewältigung und ein angemessener Umgang mit diabetesbezogenen Belastungen sind entscheidend für den Verlauf > Entwicklungsrisiken bestehen vor allem für Kinder mit unzureichender Unterstützung, psychischen Störungen und sozio-ökonomischen Belastungen > es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der psychischen Gesundheit des Kindes und der Qualität seiner Stoffwechseleinstellung man kann die Wellen des Lebens nicht verändern, aber wir können lernen, uns in ihnen zu bewegen Fragen? [email protected]