Grundlagen einer Soziologie der Behinderung - PDF

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This document is from a lecture series on the sociology of disability. It includes learning objectives, examples, and discussions on socio-economic factors influencing participation, complexities of families with children with disabilities, and implications for special education practices. The document analyses the ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) framework.

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Grundlagen einer Soziologie der Behinderung Sitzung 4: ICF: Implikationen für sonderpädagogisches Handeln ■ 04.11.2024 Lernziele Sie können Implikationen einer ICF-basierten Betrachtungsweise für das sonderpädagogische Handeln aufzeige...

Grundlagen einer Soziologie der Behinderung Sitzung 4: ICF: Implikationen für sonderpädagogisches Handeln ■ 04.11.2024 Lernziele Sie können Implikationen einer ICF-basierten Betrachtungsweise für das sonderpädagogische Handeln aufzeigen. www.uni-due.de WS 24/25 2 Zur Erinnerung… Bio-Psycho-Soziales Modell www.uni-due.de WS 24/25 3 Zur Erinnerung… Ziel: Weltweit einheitliche Sprache für versch. Professionen aus verschiedenen kulturellen Zusammenhängen → Interaktionistische Denkweise www.uni-due.de WS 24/25 4 Zur Erinnerung… Behinderung als Oberbegriff für Schädigungen (Funktionsstörungen, Strukturschädigungen), Beeinträchtigungen der Aktivität und Beeinträchtigung der Partizipation (Teilhabe). - Schädigung einer Körperfunktion oder –struktur, - Beeinträchtigung einer Aktivität, - Beeinträchtigung von Teilhabe, - oder/ und ein Zusammenhang von zweien oder alle dreien Aspekten. Cloerkes (2007, 8): „Eine Behinderung ist eine dauerhafte und sichtbare Abweichung im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich, der allgemein ein entschieden negativer Wert zugeschrieben wird.“ www.uni-due.de WS 24/25 5 Beispiel: Anwendung von ICF im schulischen Kontext Bitte lesen Sie den Textausschnitt (Pretis et al. 2019, 36-42) zu den Fallbeispielen Friedrich und Ajsa durch. Beschäftigen Sie sich dann mit den folgenden Fragestellungen: - Wie kann die ICF dabei helfen, eine gemeinsame Kommunikationsebene aller Beteiligten des „Teams um das Kind und die Familie“ zu finden? - Zeigen Sie auf, an welchen Stellen die Orientierung am Ziel von Partizipation bzw. Teilhabe deutlich wird. www.uni-due.de WS 24/25 6 ▪ Welche Chancen birgt die ICF-Orientierung für das sonderpädagogische Handeln? ▪ Welche Herausforderungen sehen Sie? Was sehen Sie kritisch? ▪ Was nehmen Sie für sich persönlich als handlungsleitendes Fazit mit? www.uni-due.de WS 24/25 7 Exkurs: Sonderpädagogische Diagnostik Bildung und Diagnostik Prävention Erziehung Rehabilitation (Förderung, Unterricht Beratung Therapie) Kooperation Aufgabenfelder der Sonderpädagogik www.uni-due.de WS 24/25 8 Exkurs: Sonderpädagogische Diagnostik Ziele: ▪ Feststellung des besonderen Förderbedarfs ▪ Entscheidung über den angemessenen Förderort ▪ Ableitung von Therapie- und Förderzielen ▪ Folgebeeinträchtigungen vorbeugen > Vermittlung zwischen Lernausgangslage und Lernfortschritt www.uni-due.de WS 24/25 9 Exkurs: Methoden der Diagnostik ▪ Anamnese ▪ Exploration ▪ Verhaltensbeobachtung ▪ (Standardisierte) Testverfahren www.uni-due.de WS 24/25 (Biewer 2017) 10 Exkurs: Sonderpädagogisches Gutachten ▪ AO-SF- Verfahren = Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs ▪ Wird von den Eltern über die allgemeinbildende Schule in Auftrag gegeben ▪ Sonderpädagog*in erstellt das Gutachten in Zusammenarbeit mit einer Lehrkraft der allgemeinbildenden Schule https://www.brd.nrw.de/themen/schule-bildung/schulrecht-verwaltung/fragen-und- antworten-zum-sonderpaedagogischen www.uni-due.de WS 24/25 11 Exkurs: Sonderpädagogisches Gutachten Beantwortet u.a. folgende Fragen: ▪ Wie kann die Beeinträchtigung beschrieben werden? ▪ Mögliche Hinweise auf die Ätiologie? > Austausch mit Ärzten ▪ Wird eine bestimmte sonderpädagogische Förderung empfohlen? Wenn ja, welcher Art? ▪ Welche Empfehlung für den Förderort kann ausgesprochen werden? www.uni-due.de WS 24/25 12 Exkurs: Vorgehensweise ▪ Einholen und Analyse diagnostischer Informationen aus unterschiedlichen Quellen (Eltern, Betroffene, andere Lehrkräfte etc.) ▪ Analyse/Interpretation bereits vorliegender diagnostischer Ergebnisse, (>Anamnese) ▪ Beobachtung des Kindes in unterschiedlichen Situationen (>Beobachtung); möglichst exakte Beschreibung der Ressourcen und Fähigkeiten bzw. der Herausforderungen www.uni-due.de WS 24/25 13 Exkurs: Vorgehensweise ▪ Um möglichst differenzierte Aussagen zu Förderbedürfnissen zu erhalten, machen Sie sich klar, zu welchen Entwicklungsbereichen Sie differenziertere Informationen benötigen, um Art und Umfang des Förderbedarfs ermitteln zu können. ▪ Auswahl eines Verfahrens, das geeignet ist, über die von Ihnen vermuteten Schwerpunkte differenziertere Informationen zu liefern (> Testdiagnostik) www.uni-due.de WS 24/25 14 Exkurs: Vorgehensweise ▪ Quantitative Auswertung ▪ Objektivierung der subjektiven Eindrücke ▪ Qualitative Interpretation ▪ Identifizieren der Subtests bzw. Aufgabenstellungen, bei denen das Kind besondere Schwierigkeiten hatte; ▪ Überlegen, welche Fähigkeiten bei diesen Aufgaben gefordert sind ▪ Ableiten, was den Schwierigkeiten des Kindes zugrunde liegen könnten www.uni-due.de WS 24/25 15 Exkurs: Beispiel ▪ TROG-D (Fox-Boyer 2020) Zeige: „Sie pflückt die Blumen.“ Zeige: „Der Junge, den das Pferd jagt, ist dick.“ www.uni-due.de WS 24/25 16 Exkurs: Beispiel ▪ Quantitative Auswertung: Liegen die Verstehensleistungen des Kindes im durchschnittlichen Bereich (für seine Altersgruppe)? ▪ Qualitative Auswertung: Die Verarbeitung welcher sprachlicher Strukturen stellt für das Kind eine besondere Herausforderung dar? >> Ableitung von Förderzielen www.uni-due.de WS 24/25 17 Exkurs: AO-SF Geltende Gesetze, Verordnungen und Formblätter auf Homepage der Bezirksregierungen Auszüge einer möglichen Struktur: - Bericht der meldenden Schule - Protokolle über Vorfälle und Verstöße - Aktueller Förderplan - Zeugnisse - Unterrichtsbeobachtungen - Gespräche mit Sopäd - Testsituationen mit Sopäd - Testergebnisse standardisierter Testverfahren - Gespräche mit Schulleitung - Gespräche mit Klassenlehrerin - Gespräche mit Fachlehrerinnen - Gespräche mit Erziehungsberechtigten www.uni-due.de WS 24/25 18 Literatur CLOERKES, G. (2007): Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. 3. Aufl. Heidelberg: Edition. KASTL, Jörg Michael (2010): Einführung in die Soziologie der Behinderung. Wiesbaden: VS. KMK (2020): Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2011 bis 2020. Online verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/Dokumentationen/Dok231_SoPaeFoe_2020.pdf PRETIS, Manfred; KOPP-SIXT, Silvia; MECHTL, Rita (2019): ICF-basiertes Arbeiten in der inklusiven Schule. München: Ernst Reinhardt Verlag. Download der ICF-Klassifikation unter: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICF/_node.html6 www.uni-due.de WS 24/25 19 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 20 Grundlagen einer Soziologie der Behinderung Sitzung 5: Einfluss sozio-ökonomischer Faktoren, Situation von Familien ■ Sozialpolitische Grundlage ■ 11.11.2024 Lernziele Sie können aufzeigen, inwiefern sozio-ökonomische Faktoren eine Rolle für die Auswirkungen eines Gesundheitsproblems auf die Teilhabe haben können. Sie können einige Besonderheiten und Herausforderungen für Familien im Zusammenleben mit einem Kind mit Beeinträchtigungen benennen. Sie können dieses Wissen nutzen, um Implikationen für das sonderpädagogische Handeln abzuleiten. www.uni-due.de WS 24/25 2 Behinderung und soziale Ungleichheit Häufigkeit von Behinderung ▪ Statistische Angaben zur Anzahl von Menschen mit Behinderung sind mit äußerster Vorsicht zu bewerten! ▪ Realistische Schätzungen: ca. 10 % der Gesamtbevölkerung ▪ Im Schulalter: Schätzungsweise 6% aller Kinder (Cloerkes 2007) www.uni-due.de WS 24/25 4 Stand 2020: 7,7% aller SuS haben einen sonderpädagogischen Förderbedarf (KMK 2020, XVII) www.uni-due.de WS 24/25 5 (KMK 2020, XVI) www.uni-due.de WS 24/25 6 Behinderte Menschen als Minderheit? Auch wenn die Anzahl von Menschen mit Behinderung nicht gering ist (mindestens 10% der Bevölkerung), können Menschen mit Behinderung nach sozialwissenschaftlichem Verständnis als Minderheit gelten. Wichtige Kriterien, die Minderheiten/ Minoritäten definieren, treffen auch auf die Gruppe von Menschen mit Behinderungen zu: - Unterprivilegiertheit - Isolierung - Zuschreibung von Minderwertigkeit - Generalisierung www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 7 Sozio-ökomische Bedingungen Soziale Schicht, Milieu, soziale Lage Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht wird – sehr vereinfacht ausgedrückt - bestimmt über die Kriterien - Bildung - Einkommen - Prestige des Berufs → Status www.uni-due.de WS 24/25 8 Einige Forschungsergebnisse ▪ Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich „Lernen“: ▪ stammen zu 90% aus den unteren sozialen Schichten ▪ Kinder mit Migrationshintergrund sind überproportional häufig vertreten ▪ stammen häufig aus Familien mit großer Kinderanzahl ▪ wachsen häufig in beengten Wohnverhältnissen auf ▪ Die familiäre Sozialisation ist geprägt durch mangelnde Zukunftsorientierung und einen eher restringierten statt elaborierten Sprachcode (Cloerkes 2007, 95, Begemann 2002) www.uni-due.de WS 24/25 9 Einige Forschungsergebnisse ▪ Größeres Risiko für unterschiedliche Erkrankungen in niedrigeren sozialen Schichten (Früherkennung und Vorsorge Schwangerschaft, Säuglingsalter, Vorsorgeuntersuchungen im Kindesalter): Qualität der ärztlichen Versorgung unterscheidet sich, zudem geringere Bereitschaft zur Annahme gesellschaftlicher Hilfsangebote, sprachliche Barrieren ▪ Für Beeinträchtigungen im Bereich der Sehens, des Hörens, der Sprache, der Kognition, und des Verhaltens belegen jeweils Studien, dass der Anteil an Menschen aus niedrigeren sozialen Schichten jeweils wesentlich höher liegt als ihr Anteil in der Gesamtbevölkerung (Cloerkes 2007, 96) www.uni-due.de WS 24/25 10 Der Gesellschaftstheoretische Ansatz ▪ Höhepunkt in den 70er Jahren www.uni-due.de WS 24/25 11 Modelle/ Paradigmata im Kontext von Behinderung Medizinisches Soziales/ System- Gesellschafts- Modell Interaktionistisches theoretisches Modell theoretisches Modell (z.B. ICIDH, WHO 1980) Modell (z.B. Speck 2003) (z.B. Jantzen 1974) (z.B. ICF, DIMDI 2005) Behinderung als Behinderung Behinderung als Behinderung als individuelles entsteht erst im/ Resultat schulischer Produkt Merkmal durch den sozialen Leistungs- (kapitalistischer) Kontext differenzierung gesellschaftlicher Prozesse Behinderung als Behinderung als medizinische soziale Kategorie Erwartungshaltung www.uni-due.de WS 24/25 12 Der Gesellschaftstheoretische Ansatz ▪ Höhepunkt in den 70er Jahren ▪ Jantzen 1974: „Sozialisation und Behinderung“: „Behinderung kann nicht als naturwüchsig entstandenes Phänomen betrachtet werden. Sie wird sichtbar und damit als Behinderung erst existent, wenn Merkmale und Merkmalskomplexe eines Individuums aufgrund sozialer Interaktion und Kommunikation in Bezug gesetzt werden zu jeweiligen gesellschaftlichen Minimalvorstellungen über individuelle und soziale Fähigkeiten. Indem festgestellt wird, dass ein Individuum aufgrund seiner Merkmalsausprägung diesen Vorstellungen nicht entspricht, wird Behinderung offensichtlich, sie existiert als sozialer Gegenstand erst von diesem Augenblick an“ (21f.). www.uni-due.de WS 24/25 13 Der Gesellschaftstheoretische Ansatz In eigenen Worten? www.uni-due.de WS 24/25 14 „Behindert wird vor allem der, der arm ist, und wer behindert ist, wird arm. Behinderung und Armut sind eng miteinander verflochten.“ (Cloerkes 2007, 99) www.uni-due.de WS 24/25 15 Situation von Familien mit behinderten Kindern Annahme und Verarbeitung ▪ Reaktionen der Eltern auf das Wissen über die Behinderung des Kindes sind u.a. beeinflusst von ▪ ihrer Erwartungshaltung ▪ dem Zeitpunkt, zu dem sie von der Behinderung erfahren (Cloerkes 2007) www.uni-due.de WS 24/25 17 Annahme und Verarbeitung ▪ Vielschichtige emotionale Reaktionen sind möglich, u.a. ▪ Ambivalenz zwischen Zuneigung- Ablehnung ▪ Schockerleben ▪ Schuldgefühle ▪ Abwehrmechanismen (z.B. Verleugnung, Projektion der Schuld auf andere, Intellektualisierung der Behinderung, Sublimierung der Behinderung) (Cloerkes 2007) www.uni-due.de WS 24/25 18 Annahme und Verarbeitung ▪ Typischerweise verläuft der Verarbeitungsprozess der Eltern über unterschiedliche Phasen hinweg (> „Trauerarbeit“) ▪ initial eine Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens ▪ eine Phase mit sehr chaotischen Emotionen, Trauer, Angst, Wut ▪ schließlich eine Phase des Sich-Trennens und Neu-Findens, der Akzeptanz bzw. zumindest der Erkenntnis des Sich-Abfinden-Müssens Inwiefern kann das Wissen über derartige (Cloerkes 2007) Verarbeitungsprozesse wichtig für ihr sonderpädagogisches Handeln sein? www.uni-due.de WS 24/25 19 Diskussion Inwiefern kann das Wissen über derartige Verarbeitungsprozesse wichtig für ihr sonderpädagogisches Handeln sein? DAB-Methode: Denken, Austauschen, Besprechen www.uni-due.de WS 24/25 20 Diskussion Inwiefern kann das Wissen über derartige Verarbeitungsprozesse wichtig für ihr sonderpädagogisches Handeln sein? D(enken) für 2 Min. Machen Sie sich dabei gerne Stichpunkte. www.uni-due.de WS 24/25 21 Diskussion Inwiefern kann das Wissen über derartige Verarbeitungsprozesse wichtig für ihr sonderpädagogisches Handeln sein? D-A(ustauschen) für 3 Min. www.uni-due.de WS 24/25 22 Diskussion Inwiefern kann das Wissen über derartige Verarbeitungsprozesse wichtig für ihr sonderpädagogisches Handeln sein? D-A-B(esprechen) www.uni-due.de WS 24/25 23 Mögliche Anpassungsprobleme Desintegration: Außerfamiliäres gestörtes Verhältnis zwischen und Familie und gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen Desorganisation: Störung der innerfamiliären Sozialbeziehungen Normalisierungsprinzip das Leben von (erwachsenen) Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in allen Phasen so normal wie möglich zu gestalten ist. www.uni-due.de WS 24/25 24 Dynamik des Familiensystems ▪ Behinderung eines Kindes wirkt sich auf die Rollenbeziehungen innerhalb der Familie aus ▪ Um das Rollengleichgewicht innerhalb der Familie wieder herstellen zu können, müssen die Eltern ihre Erwartungshaltung an das Kind mit Behinderung verändern ▪ Aber auch die Rollen der anderen Familienmitglieder verändern sich: ▪ Neuorientierung der Eltern als „Eltern eines behinderten Kindes“: ▪ Instrumental-technischer Anteil der Rolle (z.B. Annahme von Hilfsmaßnahmen der Gesellschaft) ▪ Emotional-expressiver Anteil der Rolle (Verarbeitung der eigenen psychischen Reaktionen sowie Umgang mit den Reaktionen der Umwelt) (Cloerkes 2007) www.uni-due.de WS 24/25 25 Familiäre Rollen ▪ Mutter: oftmals Verstärkung der traditionellen Rolle als Hausfrau und Mutter, große physische und psychische Belastung ▪ Vater: als Gegenpol in der klassischen „Ernährer“-Rolle, oftmals eher distanzierteres Verhältnis zum behinderten Kind, weniger intensiver Kontakt mit dem Kind, ggf. Eifersucht, aber auch Chance auf verstärkten Einsatz als Elternteil und größere Gefühlsoffenheit ▪ Kind mit Behinderung: unterschiedliche problematische Rollenzuschreibungen sind möglich: gemeinsames Sorgenkind der Familie, Partnerersatz, Sündenbock ▪ Geschwister: sehr vielfältige positive und negative Auswirkungen sind denkbar, je nach Familienkonstellation (Cloerkes 2007) www.uni-due.de WS 24/25 26 Erzieherisches Verhalten ▪ Entscheidend: Frage nach der Bewältigung durch die Eltern ▪ Ungünstige Verhaltensweisen: ▪ Überbehütung ▪ Überforderung ▪ Vernachlässigung ▪ Die sozio-ökonomischen Verhältnisse (u.a. die Frage nach angemessenen Wohnverhältnissen) können sich auf die Familiensituation und die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes auswirken (Cloerkes 2007) www.uni-due.de WS 24/25 27 Hilfen und Unterstützung für Familien ▪ Offene Hilfen: ambulante, personenbezogene, sozialen Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen, Ziel: selbstbestimmtes Leben außerhalb stationärer Einrichtungen ermöglichen ▪ Familienentlastende/ Familienunterstützende Dienste (FED): ambulante Dienste, bieten stunden- oder tagewiese Entlastung von der Betreuung oder Pflege an ▪ Stationäre Unterbringung (Heimunterbringung): wenn die Betreuung des Kindes in der Familie nicht geleistet werden kann (Cloerkes, 2007) www.uni-due.de WS 24/25 28 Wie könnte die Umwelt reagieren und wie könnten Betroffene diese Reaktionen erleben? www.uni-due.de WS 24/25 29 Das Erleben von Umweltreaktionen Isolation und Kommunikationsbarrieren ▪ Integration des Kindes in soziale Umwelt wird schwieriger oder ganz verhindert → Abhängigkeit nimmt zu ▪ Unselbstständigkeit ▪ Überbehütung ▪ Verständigung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung wird erschwert → Außenkontakte sind enorm wichtig für die Entwicklung www.uni-due.de WS 24/25 30 Behindertenrecht / Sozialrecht Siehe: Deutscher Bildungsserver https://www.bildungsserver.de/behindertenrecht-sozialrecht-1011-de.html www.uni-due.de WS 24/25 31 Bis zur nächsten Woche … Sie haben heute vieles über den Faktor der „Umwelt“ erfahren (sozio- ökonomische Verhältnisse, Familienstruktur, Erziehungsverhalten,… ). Inwiefern könnte dieses Wissen für Ihre alltägliche sonderpädagogische Arbeit relevant sein? www.uni-due.de WS 24/25 32 Literatur CLOERKES, G. (2007): Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. 3. Aufl. Heidelberg: Edition S. JANTZEN, W. (1974): Sozialisation und Behinderung. Studien zu sozialwissenschaftlichen Grundfragen der Behindertenpädagogik. Frankfurt: Psychosozial. KMK (2020): Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2011 bis 2020. Online verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/Dokumentationen/Dok231_SoPaeFoe_2020.pdf PRETIS, M.; KOPP-SIXT, S.; MECHTL, R. (2019): ICF-basiertes Arbeiten in der inklusiven Schule. München: Ernst Reinhardt Verlag. Download der ICF-Klassifikation unter: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICF/_node.html6 www.uni-due.de WS 24/25 33 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 34 LA Sonderpädagogische Förderung Modul: Grundlagen der Sonderpädagogik Bezugswissenschaften I: Soziologische Grundlagen der Sonderpädagogik Grundlagen einer Soziologie der Behinderung Sitzung 6: Einstellungen und Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderung ■ 18.11.2024 Lernziele Sie verstehen, was Einstellungen sind und wie sie entstehen. Sie können Interaktionsstörungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung erkennen. Sie können Implikationen für Ihr professionelles (sonder-) pädagogisches Handeln ableiten. www.uni-due.de WS 24/25 3 Einstellungen und Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderung Ausgangspunkt ▪ Der Mensch mit Behinderung weicht von den gesellschaftlichen Erwartungen ab, er ist „in unerwünschter Weise anders“ ▪ Die Wahrnehmung einer Abweichung ist kulturell bestimmt ▪ Die negative Bewertung von Menschen mit Behinderung resultiert aus den Wertvorstellungen unserer Gesellschaft ▪ Soziale Reaktion: beinhaltet die Gesamtheit der Einstellungen und Verhaltensweisen der zwischenmenschlichen Interaktionen www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 5 Einstellungen Kognitive Handlungs- Komponente komponente Affektive Komponente „Vorurteile sind extrem starre, irrationale und negative Einstellungen, die sich weitgehend einer Beeinflussung widersetzen.“ (Cloerkes 2007, 104) www.uni-due.de WS 24/25 6 Woher kommen Einstellungen? Kognitiv basierte Einstellungen: Relevante Fakten, objektive Bewertung, abwägen, informieren… Affektiv basierte Einstellungen: Emotionen, Wertvorstellungen → Klassische und operante Konditionierung Verhaltensbasierte Einstellungen: Unsicherheit, Uneindeutigkeit d. Gefühle, d. Einstellung → Beobachtung d. eigenen Verhaltens gegenüber Objekt → Selbstwahrnehmungstheorie www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 7 Selbsttest: Affektive und kognitive Grundlagen v. Einstellungen hasserfüllt -3 -2 -1 0 1 2 3 liebevoll traurig erfreut ärgerlich glücklich angespannt entspannt gelangweilt aufgeregt wütend ruhig angeekelt akzeptiert Ihre Empfindungen gegenüber www.uni-due.de WS 24/25 Schlangen (Aronson 2008) 8 Selbsttest: Affektive und kognitive Grundlagen v. Einstellungen nutzlos -3 -2 -1 0 1 2 3 nützlich dumm klug gefährlich sicher schädlich nützlich wertlos wertvoll unvollkommen vollkommen ungesund gesund Eigenschaften/ Charakteristika v. Schlangen www.uni-due.de WS 24/25 (Aronson 2008) 9 Selbsttest: Affektive und kognitive Grundlagen v. Einstellungen hasserfüllt -3 -2 -1 0 1 2 3 liebevoll traurig erfreut ärgerlich glücklich angespannt entspannt gelangweilt aufgeregt wütend ruhig angeekelt akzeptiert Ihre Empfindungen gegenüber www.uni-due.de WS 24/25 Staubsaugern (Aronson 2008) 10 Selbsttest: Affektive und kognitive Grundlagen v. Einstellungen nutzlos -3 -2 -1 0 1 2 3 nützlich dumm klug gefährlich sicher schädlich nützlich wertlos wertvoll unvollkommen vollkommen ungesund gesund Eigenschaften/ Charakteristika v. Staubsaugern www.uni-due.de WS 24/25 (Aronson 2008) 11 Studien zu Einstellung gegenüber MmB Einflussfaktoren: 1. Die Art der Behinderung 2. Sozio-ökonomische bzw. demographische Werte 3. Persönlichkeitsmerkmale 4. Kontakt → kaum eindeutige Bestimmungsgründe www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 12 Einflussfaktoren sind abhängig von: ▪ der Art der Behinderung, dem Ausmaß ihrer Sichtbarkeit ▪ unterscheiden sich nicht wesentlich in Abhängigkeit von sozioökonomischen oder demographischen Faktoren ▪ evtl. bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, aber nicht klar durch Studien nachgewiesen ▪ Kontakterfahrung mit Menschen mit Behinderung Studien der letzten 25 Jahre zeigen v.a. ambivalente Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderungen www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 13 Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit Behinderung Typische soziale Reaktionen? Was fällt Ihnen dazu ein? ▪ Anstarren und Ansprechen ▪ Diskriminierende Äußerungen ▪ Witze ▪ Spott/ Hänseleien ▪ Aggressivität www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 14 Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit Behinderung Vordergründig positive Reaktionen, dienen aber ebenso der Ausgrenzung, z.B.: ▪ Äußerung von Mitleid ▪ Aufgedrängte Hilfe ▪ Unpersönliche Hilfe (=Spenden) ▪ Schein-Akzeptanz www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 15 Interaktionsstörungen ▪ Entstehen aufgrund von negativen Emotionen (Angst, Unsicherheit, Unbehagen), die beim Nicht-Behinderten im Kontakt mit Menschen mit Behinderung hervorgerufen werden können ▪ Keine rational kontrollierbaren Prozesse ▪ Als Konsequenz werden Interaktionen mit Menschen mit Behinderung vermieden www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 16 Verhaltensrelevante Aspekte ▪ Auffälligkeit der Behinderung → vor Kontaktaufnahme → beim ersten Kontakt → zunächst verborgen, kontrolliert offenbart ▪ Ästhetische Beeinträchtigung ▪ Funktionale Beeinträchtigung kommunikativer Fähigkeiten ▪ Zugeschriebene Verantwortlichkeit www.uni-due.de WS 24/25 (Tröster 1988) 17 Zwischenfazit… Die Ebene der Einstellungen und die Ebene des tatsächlichen Verhaltens gegenüber Menschen mit Behinderungen sind klar voneinander zu trennen. Zwischen ihnen besteht nur ein begrenzter Zusammenhang und oftmals keine klare Übereinstimmung. www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 18 Wie entstehen soziale Reaktionen? ▪ Werte und Normen werden im Rahmen von Sozialisationsprozessen in der Kindheit gelernt ▪ Kulturhistorische Prozesse: christliche Tradition hat über Jahre hinweg Ablehnungstendenzen gegenüber Menschen mit Krankheit und Behinderung befördert ▪ Entlastung von Schuld www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 19 Normativer Konflikt ▪ Es bestehen widersprüchliche soziale Normen in Bezug auf Menschen mit Behinderung ▪ dies führt zu sozialen Reaktionen, die „vordergründig akzeptabel sind und Entlastung von Unsicherheit versprechen, letztlich aber Ablehnung und soziale Isolation bewirken.“ (Cloerkes 2007, 118) www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 20 Normativer Konflikt ▪ „Andersartigkeit“/ Abweichung von Menschen mit Behinderung von sozialen Erwartungen führt zunächst zu einer distanzierenden Reaktion, Störgefühl ▪ aber: für Menschen mit Behinderung ist diese soziale Reaktion nicht ohne weiteres tolerabel, denn eine „absichtliche, aktive Verletzung der Normen liegt ja nicht vor und auch aus moralisch-rechtlichen Gründen darf ihnen ihre Abweichung nicht offiziell angelastet werden.“ (Cloerkes 2007, 199) ▪ Normativer Konflikt resultiert daraus, dass uns „auf der einen Seite per Sozialisation negative Einstellungen vermittelt wurden, während gleichzeitig auf der anderen Seite dieselbe Gesellschaft ein offenes „Ausleben“ solcher überwiegend affektiver Tendenzen missbilligt.“ (Cloerkes 2007, 119) > Dies führt zu Verhaltensunsicherheit, Ambivalenz, Schuldangst www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 21 (Cloerkes WS 22/23 www.uni-due.de 2007, 120) 22 Reaktionen auf Menschen mit Behinderung ▪ Originäre, ursprüngliche, spontane Reaktionen ▪ Aggressive originäre Reaktionen: sind gesellschaftlich nicht akzeptiert, kommen nur selten offen zum Ausdruck, bestimmen aber oftmals die Einstellungen ▪ Offiziell erwünschte Reaktionen („Behinderte muss man akzeptieren und als gleichwertig anerkennen.“ Cloerkes 2007, 121) ▪ Überformte Reaktionen: Ausweg aus dem Konflikt zwischen originären und sozial erwünschten Reaktionen, die originären Reaktionen werden nach und nach im Sinne der sozialen Erwünschtheit überformt www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 23 Reaktionen auf Menschen mit Behinderung ▪ Doppelzüngigkeit und Scheinakzeptierung: vordergründig positive Reaktionen (Mitleid, aufgedrängte Hilfe) führen tatsächlich zu einer Abwertung und weiteren sozialen Isolation des Menschen mit Behinderung ▪ > Ambivalenz zwischen affektiver Abwehr und sozial vorgeschriebener Akzeptanz von Menschen mit Behinderung www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 24 Reaktionen auf Menschen mit Behinderung ▪ Irrelevanzregel: Es kommt zu einer Schein-Akzeptierung des Menschen mit Behinderung (Schein-Normalität), Verhaltensvorschrift: sich so verhalten, als existiere das Handicap gar nicht, als sei es irrelevant ▪ Verhaltensunsicherheit durch Irrelevanzregel und mangelnde Erfahrungen mit Menschen mit Behinderungen www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 25 Wie könnten die Einstellungen und GA sozialen Reaktionen 5-10 auf Menschen mit Minuten Behinderungen verändert werden? www.uni-due.de WS 24/25 26 Wie könnten die Einstellungen und sozialen Reaktionen auf Menschen mit Behinderungen verändert werden? - Frühzeitige Aufklärung (z.B. Bücher in Kitas) > Wissen und Informationen vermitteln - Transparent mit den Unsicherheiten umgehen - Mensch mit Behinderung: Wie wünsche ich mir den Umgang? - Integration/ Inklusion: Arbeitsmarkt muss sich öffnen, Anpassung des Lohns - Barrierefreie Kontaktmöglichkeiten schaffen - Normalisierung (z.B. Spielzeug, Medien) - Fortbildungen für Eltern, Lehrkräfte und Erzieher*innen - Gemeinsames Spielen und Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung: - Integration/ Inklusion muss gut begleitet werden! www.uni-due.de WS 24/25 27 Informationsstrategien ▪ Idee: Je mehr Wissen ich über (Menschen mit) Behinderungen habe, desto weniger Raum bleibt für unbegründete Vorurteile ▪ Ggf. problematisch: ▪ Wissensvermittlung setzt i.d.R. bei der kognitiven Komponente von Einstellungen an, diese sind aber vielfach v.a. affektiv bestimmt ▪ Selektive Wahrnehmung und grundsätzliche Bereitschaft, seine Einstellung ändern zu wollen ▪ Darstellung von Menschen mit Behinderung in den Medien ist oftmals negativ, nutzt Schuldgefühle aus, schürt Ängste, verstärkt Vorurteile www.uni-due.de WS 24/25 (Cloerkes 2007) 28 Informationsstrategien ▪ Wichtig, damit sie zu einer Einstellungsänderung beitragen können: ▪ Positive Darstellung / Identifikation mit einer Person mit Behinderung ▪ Glaubwürdigkeit des Kommunikators https://ict-for-inclusion.ch/2022/02/08/mit-den-augen-sprechen/ www.uni-due.de WS 24/25 29 Kontakt ▪ Idee: Direkter Kontakt mit Menschen mit Behinderung kann zu einer Änderung der Qualität von Einstellungen und Verhalten führen, je häufiger der Kontakt, desto positiver wird die Einstellung ▪ Wichtig: ▪ Qualität und Intensität des Kontakts ▪ Positive emotionale Fundierung ▪ Freiwilligkeit des Kontakts www.uni-due.de WS 24/25 30 Perspektivübernahme ▪ Idee: Die simulierte Übernahme der Rolle eines Menschen mit Beeinträchtigung/ Behinderung führt zu einem höheren Maß an Empathie und Sensibilität https://www.onetz.de/f /ic/ga- large/articlemedia/2017 www.uni-due.de WS 24/25 /02/23/665370_orig.jpg 31 Ganz wichtig Drüber sprechen! www.uni-due.de WS 24/25 32 Literatur ARONSON (2008): Sozialpsychologie. 6. aktualisierte Aufl. München: Person. CLOERKES, G. (2007): Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. 3. Aufl. Heidelberg: Edition S. KMK (2020): Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2011 bis 2020. Online verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/Dokumentationen/Dok231_SoPaeFoe_2020.pdf TRÖSTER (1988): Interaktionsspannungen zwischen Körperbehinderten und Nichtbehinderten. Verbales und nonverbales Verhalten gegenüber Körperbehinderten. Göttingen/ Toronto/ Zürich: Hogrefe. www.uni-due.de WS 24/25 33 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 34 LA Sonderpädagogische Förderung Modul: Grundlagen der Sonderpädagogik Bezugswissenschaften I: Soziologische Grundlagen der Sonderpädagogik Grundlagen einer Soziologie der Behinderung Sitzung 8: (Soziokultureller) Konstruktivismus und Inklusion: Disability Studies, Mad Studies■ 02.12.2024 Lernziel Sie verstehen die sozial-konstruktivistische Perspektive auf Behinderung und leiten die Bedeutung dieser für gelingende Inklusion ab. www.uni-due.de WS 24/25 3 Konstruktivismus Der „außerirdische Blick“ auf den Menschen ▪ Mensch als „animal sociale“, „zoon politikon“ → Mensch als soziales, politisches Wesen ▪ „Das Alltagsleben des Menschen ist wie das Rattern einer Konversationsmaschine, die ihm unentwegt seine subjektive Wirklichkeit garantiert, modifiziert und rekonstruiert“ (BERGER & LUCKMANN, 2004, 163) www.uni-due.de WS 24/25 5 Sozialkonstruktivismus ▪ Eine Reihe von Theorien und Erklärungsansätzen, die sich auf die Wirklichkeit als „soziale Konstruktion“ beziehen ▪ Kritik: Häufig wird er mit „einer Art radikalem Antirealismus in Bezug auf die Realität im Allgemeinen“ (MALLON, 2008, 93) gleichgesetzt. → „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ → „Anything goes“ www.uni-due.de WS 24/25 6 Zentrale Idee des Sozialkonstruktivismus ▪ Menschliche Kultur und Entscheidungen haben einen starken, oft unbemerkten Einfluss auf die Welt, in der wir leben. ▪ Betonung der Kontingenz eines Sachverhalts → Ist dies bei allen Sachverhalten so? - Gesetzmäßigkeiten d. Logik/ Mathematik? - Physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Natur? - Ökologische Verfassung d. Erde? - Biologische Verfassung d. Menschen? - Moralische Überzeugungen? - Menschliche Entscheidungen und kulturelle Hintergründe? Mallon, 2008 www.uni-due.de WS 24/25 7 Zentrale Idee des Sozialkonstruktivismus ▪ Menschliche Kultur und Entscheidungen haben einen starken, oft unbemerkten Einfluss auf die Welt, in der wir leben. ▪ Betonung der Kontingenz eines Sachverhalts - Menschliche Entscheidungen und kulturelle Hintergründe Mallon, 2008 www.uni-due.de WS 24/25 8 Sozialkonstruktivistische Positionen ▪ Erklären, wie soziale Phänomene zustande gekommen sind (konstruiert worden sind) ▪ Zeigen auf, dass als natürlich, selbstverständlich, unveränderbar angesehen Sachverhalte sehr wohl kontingent sind → „Ent-selbstverständlichung“ des Selbstverständlichen ▪ Bei ungerecht empfunden Sachverhalten Aufruf (politisch) zu Handeln Mallon, 2008 www.uni-due.de WS 24/25 9 Disability Studies Disability Studies Bürgerrechtsbewegung: „Nichts über uns ohne uns“ → Es wird statt wie bisher über, nun von und mit Menschen mit Behinderungen geforscht → Aktives Subjekt statt Forschungsobjekt ▪ Kritik an der medizinalisierten Perspektive bzw. am medizinischen Modell von Behinderung ▪ Betonung der Bedeutung von Selbstpräsentation behinderter Menschen ▪ Kritik an der Individualisierung von Behinderung und Fokus auf soziale Relationen und gesellschaftliche Verhältnisse ▪ Aufzeigen der kulturellen und historischen Kontingenz von Kategorisierungen als „behindert“ www.uni-due.de WS 24/25 Borger, 2022 11 Disability Studies „Und da gab es nun welche, die das alles umdrehten, die sagten, ich bin da, ich habe ein Existenzrecht, ich bin ein Mensch und ich bin ein Bürger, ich habe Menschenrechte, ich habe Bürgerrechte. Wenn ich in ein Gebäude nicht reinkomme, sind die schuld, die versäumten einen Fahrstuhl zu bauen. Nicht mein Rollstuhl ist zu breit, die Tür ist zu schmal. Die Verkehrsmittel, die ich nicht benutzen kann, nehmen mir mein Recht auf Mobilität. Eine Instanz die sagte: Du bist richtig, die Umwelt ist falsch“ (Gottschalk 1999: 104f; zitiert nach Köbsell, 2012, 38) www.uni-due.de WS 24/25 12 Disability Studies Bürgerrechtsbewegung, Behindertenrechtsbewegung, Krüppelbewegung: Hintergründe kurz und knackig zusammengefasst: https://www.aktion- mensch.de/inklusion/recht/hintergrundwissen/behindertenrechtsbewegung www.uni-due.de WS 24/25 13 Mad Studies Mad Studies ▪ Im deutschsprachigen Raum noch wenig etabliert ▪ Kann als Teildisziplin der Disability Studies verstanden werden, die sich mit Re/Dekonstruktion der seelischen Behinderung befasst. ▪ Gegenstand: Seelische Behinderung, madness, Wahnsinn, Irresein, Verrücktheit, verrückt_werden, pathologisiert Werden, psychische Störung, psychische Krankheit, seelische Krisen … ▪ Äquivalent zur Sopäd und FS ESE (Unterkategorie) Borger, 2022 www.uni-due.de WS 24/25 15 16 Mad Studies ▪ Aspekte aus Disability Studies übertragbar: - Kritik am psychiatrischen Modell der Psychopathologie: trifft eher auf gesellschaftliche Offenheit - Selbstpräsentation z.B. anhand von Selbsterzählungen: Airless Spaces (Shulamit Firestone, 1998) Auf der Spur des Morgensterns – Psychose als Selbstfindung (Dorothea Bucks, 2005) - Kritik an der Individualisierung von Behinderung und Fokus auf soziale Relationen und gesellschaftliche Verhältnisse: Termini d. allg. Pädagogik vs. Förderpädagogik → Othering - Aufzeigen der kulturellen und historischen Kontingenz von Kategorisierungen als „behindert“: Bezogen auf Schule → FS ESE Diagnose, woran gemessen? Borger, 2022 www.uni-due.de WS 24/25 17 Disability Studies/ Mad Studies www.uni-due.de WS 24/25 18 Disability Studies/ Mad Studies www.uni-due.de WS 24/25 19 Inklusion Integration ▪ Verhältnis Integration vs. Emanzipation Passiver Vorgang „integriert werden“ vs. aktiv „sich emanzipieren“ „(...) Integration geht ja gar nicht. Integration ist ja nur Zwangsanpassung an die Normalität und bedeutet für uns Persönlichkeitszerstörung“ (CHRISTOPH 1981; zitiert nach KÖBSELL 2012, 41) ▪ Sich anpassen, sich beugen an Werte und Normen der Leistung, des Verhaltens, des Aussehens; Normalitätsdruck → Integration als erstrebenswertes Ziel aus Sicht der Menschen, die sich anpassen müssen? www.uni-due.de WS 24/25 21 Exklusion, Segregation, Integration, Inklusion www.uni-due.de WS 24/25 22 Inklusion ▪ Zentrales Thema der Disability Studies ▪ Trends aus Studien (COOK ET AL 2001; PITT/CURTIN 2004, OLIVER/BARNES 2010; KÖBSELL 2007; zitiert nach KÖBSELL 2012) - Vorhanden-Sein von Peers mit vergleichbaren Beeinträchtigungen - Erfragen und Berücksichtigen d. Bedürfnisse - Aktive Auseinandersetzung mit dem Thema „Behinderung“ - Wertschätzendes Schulklima - Anerkennung menschlicher Vielfalt www.uni-due.de WS 24/25 23 Inklusion als Utopie? www.uni-due.de WS 24/25 24 Literatur BERGER & LUCKMANN (2004): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 20. Auflage. Frankfurt a. M.: Fischer. BORGER, M.-A. (2022): Einführung in die Mad Studies für verhaltensgestörte Pädagog*innen. In: Badstieber, B. & Amrhein, B. (Hrsg.): (Un-)mögliche Perspektiven auf herausforderndes Verhalten in der Schule. Berlin: Beltz: S. 113-132. KASTL, J. M. (2010): Einführung in die Soziologie der Behinderung. Wiesbaden: VS. KÖBSELL, S. (2012): Integration/Inklusion aus Sicht der Disability Studies: Aspekte aus der internationalen und der deutschen Diskussion. In: Rathgeb, K. (Hrsg.): Disability Studies. Kritische Perspektiven für die Arbeit am Sozialen. Wiesbaden: VS.: S. 36 -54. MALLON, R. (2007): A Field Guide to Social Construction. In Philosophy Compass 2/ 1: S. 93-108. www.uni-due.de WS 24/25 25 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 26 LA Sonderpädagogische Förderung Modul: Grundlagen der Sonderpädagogik Bezugswissenschaften I: Soziologische Grundlagen der Sonderpädagogik Grundlagen einer Soziologie der Behinderung Sitzung 9: Behinderung und… Armut,… Flucht,… Migration, … Arbeit und Freizeit ■ 9.12.2024 Lernziel Sie können die Wechselwirkung von Behinderung und Armut aufzeigen und deren Auswirkungen auf besondere Lebensschwierigkeiten in den Kontexten von Flucht und Migration setzten. Sie können beschreiben, wie Besonderheiten einer Behinderung das Arbeits- und Freizeitverhalten in unserer Gesellschaft beeinflussen können. www.uni-due.de WS 24/25 3 Behinderung und Armut Definition „Armut“ ▪ Soziales Problem ▪ Uneindeutig definierbar ▪ Integriert Wahrnehmungs-Wertungs- und Handlungsfrage ▪ Weltbank: Unterschreiten des monentären Einkommens für Deckung v. Grundbedürfnisse. ▪ United Nations Development Programme (UNDP): Vorenthaltung v. für die menschliche Entwicklung entscheidende Chancen und Wahlmöglichkeiten. → Uneindeutig, „Die Definition entscheidet, wer in der Gesellschaft arm ist bzw. als arm wahrgenommen wird“ (A 1998, 27) NNEN www.uni-due.de WS 24/25 5 Definition „Armut“ ▪ Der Armutsbegriff richtet sich zunächst immer auf einen Mangelzustand, es fehlt an etwas → Qualitatives Bestimmungsmerkmal: „woran?“, quantitatives Bestimmungsmerkmal: „ab wann?“ → Qualitätsunterscheidung in drei Bereiche: Unzureichender ökonomischer Standard, Einschränkung von „capabilities“, soziale Exklusion ▪ Absolute und relative Armut ▪ Weitere Konzepte wie Deprivation, Lebenslagen, Freiwillige Armut … www.uni-due.de WS 24/25 6 Absolute Armut „Als ‚absolut arm‘ gilt, wer ungeachtet des üblichen Lebensstandards der Gesellschaft längerfristig nicht für seine körperliche Selbsterhaltung sorgen kann und somit die physischen Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Wohnung nicht erfüllen kann.“ (SCHMID/WALLIMANN 1998, 23) - ROWTREE (1901): Studie zu Lebens- und Arbeitsbedingungen der unteren Einkommensschicht in York (UK): Primary und secondary poverty, gemessen am Überlebensstandard - Bezugspunkt: Rein physisches Überleben-Können (physische Subsistenz) www.uni-due.de WS 24/25 7 Relative Armut „Die ‚relative Armut‘ wird in Relation zu Merkmalen anderer Bevölkerungsgruppen innerhalb einer Gesellschaft festgelegt.“ (SCHMID/WALLIMANN 1998, 25) - Bezugspunkt steht in Relation zu anderen: Besitzt weniger als andere - Existenzminimum wird nicht als absolut determiniert (im Gegensatz zum Konzept der absoluten Armut) - Sozialpsychologische Begründung: Mensch als Gemeinschaftswesen, Bedürfnis nach Vergleich, bei „schlechterem Abschneiden“ in Relation zu anderen entsteht Gefühl der Unzufriedenheit - Relative Armut immer in korrelierendem Verhältnis zum Wohlstand der Bevölkerungsgruppe www.uni-due.de WS 24/25 8 Armut als Subkultur „Wer nur geringe Bildungschancen hat, ist für geringe Einkommen oder Arbeitslosigkeit disponiert. Wer ohne geregeltes Einkommen oder gänzlich ohne Arbeit ist, ist für schlechte Wohnorte und Lebensräume disponiert. Wer in widrigen Wohnverhältnissen lebt, ist stärker von sozialer Isolation bedroht. Und Schließlich: Wer sozial isoliert lebt, internalisiert die Lebensweisen der Armut als Werte und entwickelt somit eine eigene Subkultur der Armut“ (DIETZ 1997, 91) www.uni-due.de WS 24/25 9 Relative Deprivation „Von Armut ist die Rede, wenn Individuen über die notwendigen Grundlagen für die Art der Ernährung, für die Form der sozialen Teilnahme, für die Lebensbedingungen und die Lebensqualität nicht verfügen können, die in der entsprechenden Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt üblich oder zumindest weithin als notwendig anerkannt sind“ (DIETZ 1997, 98) Index: Ernährung, Kleidung, Haushaltsbedarf- und Einrichtungen, Wohnumgebung, Arbeitsbedingungen, Familie, Erholung, Erziehung, Gesundheit und Sozialerziehung www.uni-due.de WS 24/25 10 Lebenslagenkonzept Das Lebenslagenkonzept ist darin bestrebt, „die Gesamtheit der Bedingungen und Merkmale individueller und sozialer Wirklichkeit zu beschreiben“ (SCHMID/WALLIMANN 1998, 26) Ebenen: Versorgungs- und Einkommensspielraum Kontakt- und Kooperationsspielraum Lern- und Erfahrungsspielraum Muße- und Regenerationsspielraum Dispositions- und Partizipationsspielraum www.uni-due.de WS 24/25 11 Freiwillige Armut „Freiwillige Armut als Protest gegen eine materialistische Lebenseinstellung und ein umweltschädliches Wohlstandsmodell, als Zeichen der Solidarität mit den Armen und des Kampfes gegen unfreiwillige Armut, als Ausdruck völligen Vertrauens auf Gott oder als Weg zu mystischer Erfahrung“ (MÜLLER 2006, 52) www.uni-due.de WS 24/25 12 Multiple Deprivation www.uni-due.de WS 24/25 13 Armut und Behinderung? www.uni-due.de WS 24/25 14 Ursachen von Armut und Behinderung ▪ Umweltbedingungen und ökonomische Faktoren ▪ Soziale, kulturelle und gesellschaftliche Ursachen ▪ Mangelhafte (Aus-) Bildung www.uni-due.de WS 24/25 15 Ursachen von Armut und Behinderung ▪ Umweltbedingungen und ökonomische Faktoren - Einfluss von Umweltbedingungen, - Mangel an monetären Ressourcen, - Mangel an medizinische Versorgung, Mangel an Capabilites, denn „poverty must be seen as the deprivation of basic capabilities rather than merely as lowness of incomes, which is the standard criterion of identification of poverty” (SEN 2000, 87) www.uni-due.de WS 24/25 16 Ursachen von Armut und Behinderung ▪ Soziale, kulturelle und gesellschaftliche Ursachen - Geschlecht - Soziale Herkunft - Soziale Schicht und soziale Ungleichheit - Soziale Vererbung und soziale Mobilität www.uni-due.de WS 24/25 17 Ursachen von Armut und Behinderung ▪ (Aus-)Bildung und Beruf www.uni-due.de WS 24/25 18 Behinderung und Migration Behinderung und Migration ▪ Konzept der Widerfahrnis: „(…) das jeder Erfahrung und Handlung als Ingredienz beigemischt ist, und dies umso mehr, je einschneidender die Erfahrungen sind und je stärker sie uns verwandeln. (…) Von dieser Normalform des Leidens (…) unterscheidet sich eine Steigerungsform, wo uns nicht nur etwas entgegenkommt, sondern uns überkommt, uns mitreißt oder lähmt derart, daß etwas mit uns geschieht, was unsere Eigentätigkeit ausschaltet“ (Waldenfels, 1998, zitiert nach FALKENSTÖRFER/ GASMI, 2019, 33). www.uni-due.de WS 24/25 20 Behinderung und Migration Referat? Lesen Sie den Text: Migration und Behinderung als Widerfahrnisse und ihr Einfluss auf die Lebenswelten von Familien (FALKENSTÖRFER, S./ GASMI, J., 2019). Aufgabe: Beachten Sie insbesondere die Fallbeispiele und erörtern Sie die Schwierigkeiten, denen Menschen mit doppelten Widerfahrnissen (Migration und Behinderung) begegnen. Stellen Sie darüber hinaus dar, wie diese Familien den Schwierigkeiten begegnen. www.uni-due.de WS 24/25 21 Behinderung und Flucht Behinderung und Flucht - Keine Datenlage! - Strukturelle Unterversorgung und Menschrechtsverletzung „Hilfsmittel hatte Hisham keine. Zu Terminen wurde er im Kinderwagen der kleinen Schwester geschoben, obwohl er dort fehlgelagert war. (…) Hygienehilfsmittel (Windeln) sind (…) bewilligt worden, des Weiteren auch die Physiotherapie und ein Schlucktraining durch eine Logopädin. Alle weiteren Hilfsmittel wurden abgelehnt. So kommt es, dass Hisham bis heute noch keinen Rollstuhl und keine Lagerungshilfe hat. Der inzwischen 15-jähringe Hisham wird immer noch im Kinderwagen geschoben. Der Bedarf an sich ist unstrittig“ (Eisenhardt, 2014; zitiert nach KÖBSELL, 69). www.uni-due.de WS 24/25 23 Behinderung und Flucht Referat? Lesen Sie den Text: „‚Disabled asylum seekers? … They don’t really exist‘ Zur Unsichtbarkeit behinderter Flüchtlinge im Hilfesystem und im behindertenpolitischen Diskurs“ (KÖBSELL, 2019). Aufgabe: Beachten Sie insbesondere die Fallbeispiele und erläutern Sie, wie flüchtende Menschen mit Behinderung unsichtbar gemacht werden. Erläutern Sie außerdem mögliche Wege zur Sichtbarmachung. www.uni-due.de WS 24/25 24 Weitere Ideen für Referate ▪ Themen aus den Vorlesungsinhalten: ▪ Weitere passende Themenfelder Behinderung und Behinderung und - Armut, - Arbeit - Flucht, - Wohnen - Migration, - Familie (kurzer Abriss in 6. Vorlesung ) - Freizeit, - Altern - Separation, Integration, Inklusion - Frühförderung und Prävention (z.B. Schulsysteme, Arbeitsmarkt…), - Leichte Sprache - Einstellungen, Verhalten, - … Stigmatisierung - Sozialrecht - … www.uni-due.de WS 24/25 25 Literatur ANNEN, K. (1998): Der Arme in der modernen Gesellschaft: Eine verhaltenstheoretische Analyse im Rahmen eines erweiterten „Rational Choice“. Dissertation, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. FALKENSTÖRFER, S./ GASMI, J. (2019): Migration und Behinderung als Widerfahrnisse und ihr Einfluss auf die Lebenswelten von Familien. In: Westphal, M./ Wansing, G. (Hrsg.): Migration, Flucht und Behinderung. Herausforderungen für Politik, Bildung und psychosoziale Dienste Wiesbaden: VS, 27-41. KÖBSELL, S. (2019): ‚Disabled asylum seekers? … They don’t really exist‘. Zur Unsichtbarkeit behinderter Flüchtlinge im Hilfesystem und im behindertenpolitischen Diskurs. In: Westphal, M./ Wansing, G. (Hrsg.): Migration, Flucht und Behinderung. Herausforderungen für Politik, Bildung und psychosoziale Dienste Wiesbaden: VS, 63-80. MÜLLER, J. (2006): „Kultur der Armut“ – Mythos oder Wirklichkeit? Armutsbekämpfung zwischen lokaler Kultur und globaler Politik: In: Wallacher, Johannes/Kiefer, Mathias: Globalisierung und Armut: Wie realistisch sind die Millenniums- Entwicklungsziele der Vereinten Nationen? Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 37-74. SCHMID, S./WALLIMANN, I. (1998): Armut: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“. Wege zur soziokulturellen Existenzsicherung. Bern: Verlag Paul Haupt. SEN, A. (2000): Development as freedom. New York: Alfred A. Knopf. WAGLE, U. (2002): Rethinking poverty: definition and measurement. In: International Social Science Journal, 54, 155- 165. www.uni-due.de WS 24/25 26 Behinderung und Arbeit und Freizeit Freizeitbegriff ▪ Komplementär zur Arbeitszeit ▪ Freizeit eng verbunden mit Freiheit: Zeit der Freiheit (Rousseau 1760) ▪ Pädagogische Konzepte wie „Freispiel“, „Freistunde“, „Freiarbeit“ ▪ Zwei Hauptrichtungen: Freizeit ist… …von der Arbeitswelt bestimmt, …Freizeit ist ein eigenständiger Lebensbereich. www.uni-due.de WS 24/25 28 Verhältnis Arbeit - Freizeit Freizeit ist… …von der Arbeitswelt bestimmt, …Freizeit ist ein eigenständiger Lebensbereich. Was ist, wenn Mensch aufgrund von Behinderung keiner (regelmäßigen) Erwerbstätigkeit nachgeht? 1. Komplementärtheorie: Freizeit nur in Bezug auf Arbeit sinnvoll 2. Kontrasttheorie: Freizeit in dem Maße autonom, wie Arbeit selbst funktionalisiert ist 3. Verschmelzungstheorie: Freizeit kann emanzipatorisch von Arbeit befreien www.uni-due.de WS 24/25 29 Universalität des positiven Freizeitbegriffes Determinationszeit Obligationszeit Dispositionszeit - Fremdbestimmt - Gebundene Zeit - Freie Zeit - Nicht freiwillig - Benötigt für - Selbstbestimmbar - Bsp: Arbeit, Krankheit zweckbestimmte - Bsp.: Urlaub, Hobby, Tätigkeiten Kneipe - Bsp.: Schlafen, Essen, Studieren Fremdbestimmt Selbstbestimmt Was bedeutet das nun für MmB? www.uni-due.de WS 23/24 vgl. CLOERKES 2007, 311 30 Freizeit aus sonderpädagogischer Sicht ▪ „jene freie Zeit, über die das Individuum frei verfügen soll und in der es selbst und eigene Initiativen verwirklichen kann“ ▪ Subjektivität, Spontanität, Zufall, Erholung, Unterhaltung, Intimität, (schützende) Privatheit, Spiel, Geselligkeit, Hobby, ästhetische Kulturbetätigung, Lebensfreude und Freiheit vgl. Theunissen, zitiert nach CLOERKES 2007 www.uni-due.de WS 24/25 31 Definition Positiver Freizeitbegriff, der nicht mehr in Abhängigkeit von Arbeit verstanden wird, sondern als „freie Zeit, die durch Wahlmöglichkeiten, bewußte [SIC] Eigenentscheidungen und soziales Handeln charakterisiert ist.“ (Opaschowski 1990, zitiert nach CLOERKES 2007, 310) „Spaltung der menschlichen Existenz in Arbeit und Freizeit tendenziell aufzuheben und zu einem ganzheitlichen Lebenskonzept zurückzu- finden.“ (Opaschowski 1994, zitiert nach CLOERKES 2007, 311) Lebenszeit unterteilt in: 1. frei verfügbare, einteilbare und selbstbestimmte Dispositionszeit (Selbstbestimmung) 2. verpflichtende, bindende und verbindliche Obligationszeit (Zweckbestimmung) 3. Festgelegte, fremdbestimmte und abhängige Determinationszeit (Fremdbestimmung) www.uni-due.de WS 24/25 32 Freizeitbedürfnisse und Behinderung Bedürfnisse Bedürfnis nach… Rekreation Erholung, Ruhe, Wohlbefinden, Sexualität Kompensation Ausgleich, Ablenkung, Vergnügung Edukation Kennen lernen, Weiter- und Umlernen Welche möglichen Kontemplation Einschränkungen Selbsterfahrung, Selbstfindung Kommunikation und Mitteilung, sozialen Beziehungen, Geselligkeit Benachteiligungen Integration Zusammensein, Gemeinschaftsbezug, sozialer Stabilität sehen Sie für Partizipation MmB? Beteiligung, Mitbestimmung, Engagement Enkulturation kreativer Entfaltung, VGL.produktiver CLOERKES 2007,Betätigung, 313 Teilnahme am kulturellen Leben www.uni-due.de WS 24/25 33 vgl. CLOERKES 2007, 313 Bedürfnisse Bedürfnis nach… Einschränkungen u. Benachteiligungen Rekreation Erholung, Ruhe, Wohlbefinden, Sexualität - Abhängigkeit von anderen Menschen Einschränkungen und Benachteiligungen - Ausleben sexuellerfür MmB Bedürfnisse Kompensation Ausgleich, Ablenkung, Vergnügung - Mangelnde Mobilität durch nicht-behindertengerechte Umwelt - Ungenügende Freizeitangebote Edukation Kennen lernen, Weiter- und Umlernen - Geringe Auswahl an Bildungseinrichtungen - Eingeschränkte Berufswahl Kontemplation Selbsterfahrung, Selbstfindung - Abhängigkeit von zugeteilten Pflegepersonen, Bevormundung - Isolation von Menschen mit B. unter „ihresgleichen“ Kommunikation Mitteilung, sozialen Beziehungen, Geselligkeit - Rückgang des Kommunikationsbedürfnisses durch Frustration und „unverstanden fühlen“ - Eingeschränkte Erreichbarkeit und Auswahl von Kommunikationspartnern Integration Zusammensein, Gemeinschaftsbezug, sozialer - Wechsel der Bezugspersonen oder Bezugsgruppen ohne Berücksichtigung Stabilität der persönlichen Interessen - Diskriminierung und Isolierung in der Gesellschaft Partizipation Beteiligung, Mitbestimmung, Engagement - Fremdbestimmung durch andere Personen und Institutionen - Entscheidungen werden von Stellvertretern getroffen Enkulturation kreativer Entfaltung, produktiver Betätigung, - Möglichkeiten kreativerVund produktiver GL. C Freizeitgestaltung LOERKES 2007, 313 müssen erst Teilnahme am kulturellen Leben geschaffen werden - Kulturelle Angebote sind häufig nicht behindertengerecht und nur schwer www.uni-due.de WS 23/24 erreichbar 34 vgl. CLOERKEs 2007, 313 (Plausible) Zusammenhänge zwischen Behinderung und Freizeitverhalten ▪ Art und Schweregrad der Behinderung ▪ Zeitpunkt des Erwerbs der Behinderung Multifaktorieller ▪ Sichtbarkeit der Behinderung Wirkungs- ▪ Prognose des Verlaufs der Behinderung zusammenhang ▪ Rehabilitative Möglichkeiten (bisher nicht empirisch ▪ Schulbildung abgesichert!) ▪ Berufsausbildung ▪ Berufstätigkeit ▪ Sozio-ökonomische Verhältnisse der Ursprungsfamilie bzw. eigenes Vermögen und Einkommen ▪ Soziales Netzwerk ▪ Ökosystemische Verhältnisse ▪ Ausmaß an subjektiv erlebten sozialen Vorurteilen und Stigmatisierungen CLOERKES 2007 www.uni-due.de WS 24/25 35 SGB IX Freizeitassistenz § 78 SGB IX Assistenzleistungen (1) Zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltages einschließlich der Tagesstrukturierung werden Leistungen für Assistenz erbracht. Sie umfassen insbesondere Leistungen für die allgemeinen Erledigungen des Alltags wie die Haushaltsführung, die Gestaltung sozialer Beziehungen, die persönliche Lebensplanung, die Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben, die Freizeitgestaltung einschließlich sportlicher Aktivitäten sowie die Sicherstellung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen. Sie beinhalten die Verständigung mit der Umwelt in diesen Bereichen https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbix/78.html www.uni-due.de WS 24/25 36 Literatur CLOERKES, G. (2007): Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. 3., neu bearb. und erw. Aufl. Heidelberg: Winter (Edition S). FALKENSTÖRFER, S./ GASMI, J. (2019): Migration und Behinderung als Widerfahrnisse und ihr Einfluss auf die Lebenswelten von Familien. In: Westphal, M./ Wansing, G. (Hrsg.): Migration, Flucht und Behinderung. Herausforderungen für Politik, Bildung und psychosoziale Dienste Wiesbaden: VS, 27-41. KÖBSELL, S. (2019): ‚Disabled asylum seekers? … They don’t really exist‘. Zur Unsichtbarkeit behinderter Flüchtlinge im Hilfesystem und im behindertenpolitischen Diskurs. In: Westphal, M./ Wansing, G. (Hrsg.): Migration, Flucht und Behinderung. Herausforderungen für Politik, Bildung und psychosoziale Dienste Wiesbaden: VS, 63-80. MÜLLER, J. (2006): „Kultur der Armut“ – Mythos oder Wirklichkeit? Armutsbekämpfung zwischen lokaler Kultur und globaler Politik: In: Wallacher, Johannes/Kiefer, Mathias: Globalisierung und Armut: Wie realistisch sind die Millenniums- Entwicklungsziele der Vereinten Nationen? Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 37-74. SCHMID, S./WALLIMANN, I. (1998): Armut: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“. Wege zur soziokulturellen Existenzsicherung. Bern: Verlag Paul Haupt. TRESCHER, H. (2016): „Freizeit als Fenster zur Inklusion: Konstruktion von Teilhabe und Ausschluss für erwachsene, institutionalisiert lebende Menschen mit ‚geistiger Behinderung‘“: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN), Vol.85 (2), 98-111. www.uni-due.de WS 24/25 37 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 38 Einführung in die Heil- und Sonderpädagogik Sitzung 2: Geschichte, Begriffsklärung & Ziele der Heil-/Sonderpädagogik Dozentin: Dr. Katharina Böhm Ort: R14 R02 B07 (kleiner Hörsaal) Zeit: 18:00-19:30 Uhr Was erwartet Sie in der heutigen Vorlesung? 1. Historischer Abriss 2. Begriffsklärung 3. Ziele der Sonderpädagogik 2 Ein Blick zurück in die Geschichte der Heil-/Sonderpädagogik Lernziele Sie kennen zentrale Inhalte bzgl. der Geschichte der Heil-/ Sonderpädagogik aus folgenden Epochen: ▪ Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen ▪ Zeit des Nationalsozialismus ▪ Von der Nachkriegszeit bis heute 4 (HK) (SE) (KME) (GG) (ESE) (SQ) (LE) https://ingakramer.de/ 5 Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen ▪ Heilpädagogik: entsteht in Bezug auf vorwiegend körperlich bedingte Behinderungen (z.B. Gehörlosigkeit, Blindheit, schwerwiegende kognitive & motorische Beeinträchtigungen) ▪ Zunächst: Nebeneinander der verschiedenen „Einzeldisziplinen“ 6 Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen Hören ▪ Zeitalter der Aufklärung: Pädagogischer Optimismus ▪ 1770: Erste „Taubstummenschule“ in Paris (Priester Charles Michel de l’Epée), Systems aus Gesten ▪ Fast zeitgleich: Jakob Rodriguez Pereira begründet alternativen Kommunikationsweg (Anbahnung der Lautsprache durch Fingeralphabet) ▪ Methodenstreit: Gebärdensprache vs. Lautbildung ▪ 1778: Gründung der ersten deutschen Gehörlosenschule (Leipzig, Samuel Heinicke als Vertreter eines lautsprachlichen Unterrichts) ▪ Ende 19. / Anfang 20. Jhd.: Trennung von Gehörlosen- & Schwerhörigenpädagogik 7 Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen https://www.zdf.de/dokumentation/37-grad/37-du-sollst-hoeren-100.html 8 Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen Sehen ▪ 1784: Erste Blindenschule in Paris (Valentin Haüys, haptische Erfassung von Buchstaben) ▪ 1825: Entwicklung der Braille-Schrift (durch Louis Braille) ▪ 1842: Schreibmaschine mit Braille-Schrift ▪ Anfang 20. Jhd.: Allmähliche Lösung der Sehbehindertenpädagogik aus der Blindenpädagogik 9 https://pikas- mi.dzlm.de/pikasmifiles/uploads/Foerderschwerpunkte/Sehen/foerderschwerpunk te_sehen_umwelteinfluesse_brailleschrift_und_mathematikschrift_3.png 10 Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen https://www.youtube.com/watch?v=GeZQwB_gFp8 11 Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen Körperliche Beeinträchtigungen ▪ 1816: Orthopädische Anstalt (Johann G. Heine, Würzburg) medizinisch orientiert, Behandlung mit Geräten & Hilfsmitteln, insbesondere Kindern der Oberschicht vorbehalten ▪ 1832: Erste Schule für körperbehinderte Kinder („Krüppelschule“ von Johann Nepomuk Edler von Kurz in München) 12 Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen Verhalten ▪ 1769: Erziehungsversuch armer & verwahrloster Kinder auf „Gut Neuhof“ in Schweiz (Johann H. Pestalozzi) ▪ 1800: Jean Itard (Taubstummenlehrer & Arzt in Paris) betreut „Victor, das Wildkind von Aveyron“ ▪ Grundannahme: Ursache des verwilderten Verhaltens liegt in pädagogischer und sozialer Vernachlässigung ▪ Anfang des 19. Jhd. in Deutschland: Erste Heimerziehungsprojekte für verwahrloste Kinder (Kriege & zunehmende Industrialisierung) 13 Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen https://www.youtube.com/watch?v=WQ8Ei722sK4 14 Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen Kognitive Einschränkungen (geistige Behinderung) ▪ 1. Hälfte 19. Jhd.: Anstalten für „Kretine, Blödsinnige oder Idioten“ ▪ 1816: Gotthard Guggenmoos gründet erste „Kretinenschule“ (Hallein bei Salzburg), neben „Taubstummen“ auch Kinder mit geistigen Einschränkungen ▪ 1820: Lehrer Traugott Weise verfasst eine „Betrachtung über geistesschwache Kinder […]“ (betont Heterogenität & Bildungsauftrag) ▪ Staatlicherseits: keine Übernahme der Verantwortung für Menschen mit geistigen Behinderungen 15 Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen Kognitive Einschränkungen (geistige Behinderung) ▪ 1841: Arzt Johann J. Guggenbühl gründet eine Heilanstalt für „Kretinen und blödsinnige Kinder“ (Schweiz), Ziel: Kretinismus heilen Verfehlt seine hoch gesteckten Ziele (dadurch: Entwertung seiner ambitionierten Arbeit) ▪ 1846: Erstes Lehrbuch über Behandlung der „Idiotie“ (Édouard Séguin, Leiter einer „Idiotenschule“ in Paris), entwickelte didaktische Material zur Sinnesförderung / Erwerb von Schreib-, Lese- und Rechenfähigkeiten 60 Jahre später von Maria Montessori aufgegriffen & weiterentwickelt (Montessori-Pädagogik) 16 Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen Kognitive Einschränkungen (Lernbehinderung) ▪ 2. Hälfte des 19. Jhd.: Kinder mit Lernstörungen rücken in den Blick der Pädagogik („schwachbefähigte Kinder“) ▪ 1865: Gründung der „Gesellschaft zur Förderung der Schwach- und Blödsinnigenbildung“ (Kern & Stötzner); spezifische Klassen für „schwachbegabte Kinder“, die allmählich durch die „Hilfsschulen“ ersetzt wurde 17 Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen Kognitive Einschränkungen (Lernbehinderung) ▪ Ziel der Hilfsschule: „denjenigen Schülern Hilfe anzubieten, die den stetig steigenden Leistungsanforderungen der Volksschule nicht mehr nachkamen“ (Bundschuh, 2010, S. 24) ▪ „Entlastung“ der Volksschulen (allgemeine Schulpflicht im 19. Jhd.) ▪ Massiver Ausbau des Hilfsschulwesens 18 Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen Sprachliche Beeinträchtigungen ▪ Anfang 20. Jhd.: Erste pädagogische Initiativen & Klassen für Kinder mit Sprachproblemen an Hilfsschulen ▪ Adolf Kußmaul & Albert Gutzmann (Mediziner): Verfassen Abhandlungen zur Behandlung des Stotterns (Gründungsväter der Sprachheilpädagogik) ▪ 1905: Erste Sprachheilschulen (Hamburg & Berlin) 19 Frühe pädagogische Ansätze und erste Institutionen Heilpädagogik als Wissenschaft ▪ 1861: Einführung des Begriffs Heilpädagogik (Georgens & Deinhardt, Wien) ▪ Schrift „Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten“ (Heilpädagogik als pädagogische Teildisziplin mit Verbindungen zur Medizin) ▪ Grundideen u.a.: Bildung für alle (einschl. Menschen mit Behinderung), Individualisierung der pädagogischen Maßnahmen 20 Zeit des Nationalsozialismus „dunkelstes Kapitel in der Geschichte der Betreuung von Menschen mit Behinderung“ (Biewer, 2017, 24) ▪ Immer schwierigere Bedingungen für Menschen mit Behinderungen mit Beginn des 20. Jhd. ▪ Zeit des Nationalsozialismus: Erfolge und Errungenschaften der Heilpädagogik werden vollständig zunichte gemacht 21 Zeit des Nationalsozialismus Zwangssterilisationen ▪ Nach Machtergreifung der Nazis 1933: „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (Zwangssterilisationen bei Erbkrankheiten) ▪ ca. 350.000 Zwangssterilisationen (davon: 200.000 an Insassen der Heil- und Pflegeanstalten) ▪ Nur geringer Widerstand aus den Reihen der Hilfsschullehrkräfte: Statt Erziehung und Bildung war es nun die Aufgabe, an der „Ausmerzung kranker Erbgänge“ mitzuwirken 22 Zeit des Nationalsozialismus Eugenik ▪ Eugenik: „Erbhygiene“ (Pflege des Erbgutes, Vermeidung der Weitergabe von Schädigungen) ▪ Veränderungen des Sprachgebrauchs: z.B. „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (Binding & Hoche, 1920) mit Ziel der Pflege arischen Erbgutes ▪ Eugenisches Gedankengut: führte allmählich zur Euthanasie 23 Zeit des Nationalsozialismus Euthanasie ▪ ab 1939: Euthanasie als „großangelegtes staatliches Mordprogramm“ (Biewer, 2017, S. 25), neben psychisch Kranken v.a. Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung ▪ 1939: „Aktion T4“ ▪ Ziel: Beseitigung der Insassen der Heil- und Pflegeanstalten ▪ Umbau von Heimen zu Tötungsanstalten 24 Zeit des Nationalsozialismus Euthanasie ▪ 1941: Aktion T4 wird von der „wilden Euthanasie“ abgelöst (Tötung unter Geheimhaltung und Verschleierung) ▪ 1942: Erlass an die Einrichtungen schreibt unterschiedliche Verpflegung für bestimmte Insassen vor (Tod durch Hunger oder Entkräftung) ▪ Unrühmliche Rolle der Hilfsschullehrkräfte: Überwiegend Unterstützung der Machenschaften des NS-Regimes 25 Nachkriegszeit ▪ Unzureichende Aufarbeitung & weitgehende Tabuisierung der Gräueltaten in der Nazi-Zeit ▪ BRD: Übernahme des Paragraphen 11 des Reichsschulpflichtgesetzes (Schulbefreiung der Bildungsunfähigen) in die Schulgesetze der Bundesländer Keine Schulpflicht für Kinder mit geistigen Behinderungen bis Mitte der 1950er-Jahre 26 Nachkriegszeit Aufbau des Sonderschulwesens ▪ 1960: „Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens“ (KMK) (noch keine eigene Schule für Kinder mit geistiger Behinderung) ▪ Legitimation und Funktion der Sonderschulen: Recht auf Bildung & Erziehung von Kindern mit Behinderung, Achtung der Menschenwürde behinderter Menschen ▪ Erst im Laufe der 1960er-Jahre (durch Elterninitiative): Erste Sonderklassen, dann auch Sonderschulen für Kinder mit geistigen Behinderungen 27 Nachkriegszeit bis heute Entwicklung der Heilpädagogik als akademisches Fach ▪ Seit 1931: erstmals Etablierung einer akademischen Heilpädagogik als wissenschaftliches Fach an Universitäten im deutschsprachigen Raum (Schweiz) ▪ Wichtige Vertreter: Heinrich Hanselmann, Paul Moor ▪ V.a. in Wien als sehr stark medizinisch geprägtes Fach (Hans Asperger) ▪ 1947: HU Berlin erstes Studium der Sonderpädagogik 28 Nachkriegszeit Entwicklung der Heil-/Sonderpädagogik als akademisches Fach ▪ BRD: Sonderschullehrerausbildung zunächst an Pädagogischen Hochschulen (PH), später auch an Universitäten wird sukzessive ausgebaut ▪ Allmähliche Ausdifferenzierung der Lehrstühle nach Fachgebieten bzw. Förderschwerpunkten 29 Nachkriegszeit bis heute Ausbau des Sonderschulwesens in Deutschland ▪ ab den 1980er-Jahren: Paradigmenwechsel ▪ Übergang zum „integrationspädagogischen“ Ansatz (Eberwein 1995) ▪ Ziel: gemeinsame Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderungen ▪ 1994: KMK-Empfehlungen (KMK = Kultusministerkonferenz) ▪ Wechsel von institutionsbezogener Förderung zu einer personenbezogenen Förderung: „Sonderschulbedürftigkeit“ wird ersetzt durch „Sonderpädagogischen Förderbedarf“ Förderung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf als „Aufgabe aller Schularten“ 30 Begriffsklärung Lernziele Sie können Unterschiede zwischen den folgenden Begrifflichkeiten benennen: ▪ Heilpädagogik ▪ Sonderpädagogik ▪ Behindertenpädagogik ▪ Rehabilitationspädagogik 32 Begriffsklärung Heilpädagogik ▪ Älteste Bezeichnung des Fachgebiets im deutschsprachigen Raum ▪ „Theorie und Praxis der Erziehung unter erschwerten personalen und sozialen Bedingungen“ (Klein et al., 1999, S. 7) ▪ Paul Moor: Heilpädagogik ist nichts anderes als Pädagogik – Pädagogik unter erschwerten Bedingungen 33 Begriffsklärung Begriff „Heilpädagogik“ Vorteile: + „kindorientierte Pädagogik“ mit einem Menschenbild, das „jedes Kind in seiner Eigenart und Einzigartigkeit akzeptiert und ernst nimmt“ (Bundschuh, 2010, S. 37) + ganzheitliche Sichtweise des Menschen und seiner Welt, inklusive der Beziehungs- und Erziehungsverhältnisse (Bundschuh, 2010) Nachteile: - Assoziation zu „heilen“ (begriffliche Nähe zur Medizin, wird von einigen pädagogischen Vertretern abgelehnt) 34 Begriffsklärung Heilpädagogik ▪ Seit 1960 in BRD: Zunehmende begriffliche Trennung von „Sonderpädagogik“ (schulisch) und „Heilpädagogik“ (außerschulisch) Ausbildungsstand Heilpädagogik (Deutschland): sechssemestriges Studium (v.a. an Fachhochschulen), Weiterbildung für Erzieher*innen (Dauer: 1,5 bis 4 Jahren) ▪ Österreich/Schweiz: keine Unterscheidung (schulische & außerschulische Handlungsfelder) Schweiz: Studium an der Hochschule für Heilpädagogik (BA/MA) für eine Tätigkeit im schulischen oder im außerschulischen Bereich 35 Begriffsklärung Heilpädagogik Dennoch findet sich der Begriff der „Heilpädagogik“ noch sehr häufig auch in schulischen Kontexten, z.B.: https://www.dgs-ev.de/ 36 Begriffsklärung Sonderpädagogik ▪ Aktuell in Deutschland am häufigsten verwendeter Begriff, wenn es um schulische Handlungsfelder geht ▪ Definition: „meint jenen Bereich von Erziehung und Erziehungswissenschaft, der sich um die Verbesserung von erschwerten Situationen und um die Behebung besonderer Gefährdungen und Benachteiligungen in allen Lebensaltern bemüht“ (Bundschuh, 2010, S. 33) ▪ Spezifizierung der allgemeinen Pädagogik, da eine normale Erziehung nicht ausreicht (Bleidick, 1969) 37 Begriffsklärung Sonderpädagogik ▪ Seit 1960er-Jahren: Begriff „Sonderschulpädagogik“ in Zusammenhang mit dem Ausbau des Sonderschulwesens in Deutschland ▪ Seit Abkehr vom Ausbau des Sonderschulwesens & stärkeren integrativen/inklusiven Tendenzen: Wird Bezeichnung „Sonderpädagogik“ noch der Disziplin gerecht? ▪ Abwägung: + Besondere Aufmerksamkeit gegenüber einem Menschen mit besonderen Bedürfnissen beim Lernen - Sonderpädagogik als „Absonderungspädagogik“ (Entscheidung für einen besonderen Förderort kann ggf. auch stigmatisierende Wirkung haben) 38 Begriffsklärung Behindertenpädagogik ▪ Begriff der 1970er-Jahre: „Pädagogik der Behinderten“ (Bleidick, 1972) ▪ Versuch eines verbindenden Begriffs für Heil- & Sonderpädagogik ▪ Folge: Entstehung von Bezeichnungen für Fachdisziplinen (z.B. „Lernbehinderung“, „Sprachbehinderung“ etc.) ▪ Kritik, z.B.: Tipp zur Vertiefung mit Beispielen: https://www.youtube.com/watch?v=cHCPuj5uD4c https://www.bizeps.or.at/woche/07-woche-2005/ 39 Begriffsklärung Rehabilitationspädagogik ▪ Bezeichnung zunächst auf Ostdeutschland begrenzt (heute auch in Westdeutschland vertreten) ▪ Nach der Wende: an einigen Universitäten beibehalten (z.B. HU Berlin: Institut für Rehabilitationspädagogik) ▪ Begriff „Rehabilitationswissenschaften“: deutlich weiter gefasst Umfasst Problemlagen über die gesamte Lebensspanne, über den schulischen Bereich hinaus 40 Begriffsklärung Rehabilitationspädagogik ▪ Definition nach Roth (1992, S. 524): Maßnahmen der (Wieder-)Eingliederung von Menschen mit Behinderungen („Ziel sozialer und beruflicher Eingliederung, höchstmöglicher Lebensqualität, Lebenstüchtigkeit und Erwerbsfähigkeit und die Hilfe zur Selbsthilfe“) ▪ Aktuell auch im Westen zunehmend verbreitet, z.B. Fakultät für Rehabilitationswissenschaften, TU Dortmund Department für Heilpädagogik und Rehabilitation, Uni Köln 41 Aufgabe zur Diskussion Bitte diskutieren Sie mit einem Partner / einer Partnerin: ▪ Welchen Zugang zum jeweiligen Adressatenkreis drücken die Begriffe „Heilpädagogik“, „Sonderpädagogik“, „Behindertenpädagogik“ und „Rehabilitationspädagogik“ aus? ▪ Welchen Begriff würden Sie zur Bezeichnung des Fachgebiets bevorzugen? (Ggf. auch einen ganz anderen Begriff?) Begründen Sie Ihre Antwort mit Blick auf die Geschichte des Fachgebiets und aktuellen Herausforderungen & Aufgaben im Schulsystem. 42 Literatur Historischer Abriss und Begriffsklärung vertiefend nachzulesen bei: Biewer, G. (2017). Grundlage der Heilpädagogik und Inklusiven Pädagogik (3., überarb. u. erw. Auflage). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. → S. 13-35 (Kapitel 1, siehe Moodle) 43 Ziele der Sonderpädagogik Lernziele Sie können die Ziele sonderpädagogischer Unterstützung benennen und anhand von Beispielen konkretisieren. 45 Ziele sonderpädagogischer Unterstützung Sonderpädagogische Unterstützung vermittelt zwischen den individuellen Fähigkeiten und Ressourcen eines Menschen und den Anforderungen, die seitens der Schule, anderen Bildungsinstitutionen oder der Arbeitswelt an den Menschen gestellt werden. Lern-/Arbeits- soziales verhalten Umfeld Mögliche „Lernbarrieren“ kognitive finanzielle (Schulische) Fähigkeiten Mensch Ressourcen Anforderungen emotionale/ Sonderpädagogische soziale … Fähigkeiten Unterstützung 46 Ziele sonderpädagogischer Unterstützung Differenzierung Stärken Abbau von der (schulischen) individueller Lernbarrieren Anforderungen Kompetenzen (Inklusion) Lern-/Arbeits- soziales verhalten Umfeld Mögliche „Lernbarrieren“ kognitive finanzielle (Schulische) Fähigkeiten Mensch Ressourcen Anforderungen emotionale/ soziale … Fähigkeiten 47 Ziele sonderpädagogischer Unterstützung Beispiel: Wie könnten sonderpädagogische Maßnahmen zu diesen Zielsetzungen aussehen? Abbau von Lernbarrieren Stärken individueller Kompetenzen Differenzierung der (schulischen) Anforderungen https://www.grundschulpaedagogik.uni-bremen.de/archiv/traxler+karikatur+gleichheit+freiheit.pdf 48 Aufgabe bis zur nächsten Sitzung Sonderpädagogik Bitte lesen Sie sich das Leitbild des Verbands für Sonderpädagogik (vds) zum Berufsbild von Sonderpädagog*innen in inklusiven Kontexten vollständig durch und beantworten Sie die folgende Frage zusammenfassend in Stichpunkten: Was sind die Aufgabenfelder, die Sie als angehende Sonderpädagogin / angehender Sonderpädagoge speziell in inklusiven Kontexten erwarten? Quelle: https://www.verband-sonderpaedagogik.de/wp- content/uploads/2021/12/2019_Berufsbild_Sonderpaedagogen_im_inklusiven_Kontext_2020.pdf 49 Offene Fragen 50 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Einführung in die Heil- und Sonderpädagogik Sitzung 3: Aufgabenfelder der Sonderpädagogik Dozentin: Dr. Katharina Böhm Ort: R14 R02 B07 (kleiner Hörsaal) Zeit: 18:00-19:30 Uhr Was erwartet Sie in der heutigen Vorlesung? Aufgabenfelder der Sonderpädagogik Theoretischer Input Interaktiver Teil 2 Aufgabenfelder der Sonderpädagogik Lernziele Sie können zentrale Aufgabenfelder der Sonderpädagogik benennen und erläutern. Sie können die unterschiedliche Gewichtung dieser Aufgaben nach institutionellem Kontext aufzeigen. 4 Aufgabenfelder der Sonderpädagogik Bildung und Diagnostik Prävention Erziehung Rehabilitation (Förderung, Unterricht Beratung Therapie) Kooperation 5 Bildung und Erziehung als übergeordnete Ziele ▪ Bildung = „Aneignung der Welt“ (Biewer, 2017, S. 81) ▪ Voraussetzung für Bildungsprozesse: „Bildsamkeit“ des Menschen Menschen mit schweren Behinderungen: Bildsamkeit lange Zeit abgesprochen, Bildung als zentrales Ziel erst seit ca. 20 Jahren anerkannt Mensch verfügt über Arsenal an Kräften, das erzieherisch geweckt werden kann/soll ▪ Erziehung = „Entwicklung von Haltungen“ (Biewer, 2017, S. 81) (Biewer, 2017) 6 Aufgabenfelder der Sonderpädagogik Bildung und Diagnostik Prävention Erziehung Rehabilitation (Förderung, Unterricht Beratung Therapie) Kooperation 7 Diagnostik ▪ „Feststellung der Rahmenbedingungen“ (Biewer, 2017, S. 85) ▪ „In heilpädagogischen Kontexten wird unter Diagnostik meist die Gesamtheit der Verfahren und Theorien verstanden, mit denen Verhalten und psychische Prozesse sowohl von Personen wie von Gruppen erforscht werden können.“ (Bundschuh, 2007, S. 48; Hervorheb. von Böhm) ▪ Förderdiagnostik (als Gegenentwicklung von Selektionsdiagnostik): Untersucht nicht nur den Entwicklungsstand eines Kindes, sondern auch die Umweltbedingungen (z.B. Kind-Umfeld-Analyse) Leitet Empfehlungen für Fördermaßnahmen ab (Biewer, 2017) 8 Aufgabenfelder der Sonderpädagogik Bildung und Diagnostik Prävention Erziehung Rehabilitation (Förderung, Unterricht Beratung Therapie) Kooperation 9 Prävention ▪ Prävention = Vorbeugung ▪ Ziel: Gesundheit erhalten und dem Entstehen von Krankheit, Behinderung oder Beeinträchtigungen des Wohlbefindens entgegenwirken ▪ Unterscheidung: Primäre P

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