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This document introduces the subject of economic sociology, defining its scope and key concepts. It explores different perspectives on what constitutes 'economic' activity and how societal factors influence economic phenomena. The text outlines the subject matter and examines the social aspects of economic activity.

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15 1 Einführung...

15 1 Einführung Das einführende Kapitel stellt zunächst die möglichen Bestimmungen des Gegen- standsbereiches Wirtschaft vor (> 1.1). Dann skizziert es die herkömmlichen und die gegenwärtigen Selbstverständnisse von Wirtschaftssoziologie (> 1.2) und präsentiert ihre wissenschaftlichen Werkzeuge (> 1.3). Auf dieser Grundlage diskutiert es schließ- lich die Erwartungen, mit denen sich die Disziplin mit Blick auf Aufklärung, Politik und Prognosen konfrontiert sieht (> 1.4). Die Leitfrage des Kapitels lautet also »Was ist und wozu Wirtschaftssoziologie?«. wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Januar 8, 2025 um 19:36:45 (UTC) heruntergeladen. Wirtschaft: - Realitätsbereich - Problemstruktur von Knappheit & Vorsorge 1.1 Was ist Wirtschaft? Gegenstandsbereiche Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. Wirtschaftssoziologie wendet soziologische Konzepte auf wirtschaftliche Phänomene an (Swedberg 1987: 62). Im weitesten Sinne kann man Wirtschaftssoziologie als Wis- Wirtschaftssoziologie, 9783825251444, 2018 senschaft der Beziehungen zwischen gesellschaftlichen und ökonomischen Phänome- nen definieren (Trigilia 2002: 1). Zu klären ist dann, was man unter »ökonomisch« und dem vielgestaltigen Phänomenkomplex »Wirtschaft« verstehen soll. Um daraus einen wissenschaftlich handhabbaren Gegenstandsbereich zu machen, bietet es sich an, Wirtschaft als Realitätsbereich, als Problemstruktur, als Handlungstyp, als Grund- funktion oder als Teilsystem der Gesellschaft zu beschreiben. Im ersten Abgrenzungsversuch definiert man einen Realitätsbereichh Wirtschaft in einer Gesellschaft dadurch, dass man bestimmte Organisationen, Institutionen, Hand- lungen und Prozesse als »wirtschaftlich« versteht, etwa weil sie das Leben materiell sicherstellen sollen, und dadurch zugleich von anderen abgrenzt. In modernen Gesell- schaften zählen dazu z. B. private und öffentliche Unternehmen, Märkte, Wirtschafts- regionen, Zentralbank, Kartellbehörde, Welthandelsorganisation, Gewerkschaften, Arbeitgeber- und Branchenverbände, Konsumentinnen, Buchführung, Geld, Gewer- befreiheit, Arbeitsmarkt oder Vertragsrecht. Mit dieser sektoralen und funktionalen (Produktion, Konsum, Verteilung) Abgrenzung definiert man einen materialen Begriff von Wirtschaft. In der Regel bildet sich ein gesellschaftlich langfristig stabiler Kern dessen heraus, was als »Wirtschaft« betrachtet und behandelt wird. So gesehen ist »Wirtschaft« eine kollektiv geteilte Vorstellung (soziale Repräsentation), die den darunter zusammenge- fassten Phänomenen einen gemeinsamen »ökonomischen« Sinn zuschreibt, etwa den der Wohlstandsproduktion, des Einkommenserwerbs oder der Rationalisierung. Die- ser Sinn ist nicht objektiv gegeben, sondern er entsteht erst, wie Max Weber (1864– 1920) zeigt, wenn ein Phänomen eine spezifische Kulturbedeutung erhält, durch die man es als wesentlich ökonomisch interpretiert und nicht oder nur nachrangig als religiös, künstlerisch oder familiär einordnet (Weber 1973a/1922: 161–163). 16 1 Einführung Zugleich verändern sich im Laufe der Zeit Inhalt und Umfang von »Wirtschaft«. Solche Änderungen werden im öffentlichen Diskurs teils als »natürlich« interpretiert und hingenommen, etwa wenn sie aus anscheinend selbstlaufenden Marktprozessen resultieren, teils als »problematisch« bewertet und politisch kontrovers diskutiert. Bei- spiele sind die »Privatisierung« und »Ökonomisierung« von kommunalen Einrichtun- gen wie Kindertagesstätten oder erzieherische Konzepte, die Jugendliche zum mög- lichst rational-berechnenden Handeln bei der privaten Altersvorsorge anhalten sollen (> 5.1.3). Andererseits zeigen wirtschaftssoziologische Studien auch die Widerstands- fähigkeit sozialer Beziehungen gegenüber ökonomischer Rationalisierung und Mone- tarisierung (Zelizer 1997; > 3.4). wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Januar 8, 2025 um 19:36:45 (UTC) heruntergeladen. 1.1.1 Knappheit und Vorsorge Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. Ein zweiter Ansatz grenzt »Wirtschaft« durch die sozial und subjektiv definierte und interpretierte Problemstrukturr von Knappheit und Vorsorge von anderen gesellschaft- Wirtschaftssoziologie, 9783825251444, 2018 lichen Bereichen ab (Ź Abbildung 2). Nicht zweckrationales Handeln, sondern der »spezifisch ökonomische Sachverhalt« Knappheit samt dem »wirtschaftlichen Sach- verhalt« »subjektiv erkannte Notwendigkeit der wirtschaftlichen Vorsorge« dient Max Weber zur Abgrenzung von Wirtschaft (vgl. Weber 1980/1921: 31–36, 199–201, Swedberg 2010: 32–37). Als Knappheit definiert er die Relation zwischen einem oder mehreren Bedürfnissen und der subjektiven Einschätzung des Handelnden, dass die für diese Bedürfnisbefriedigung verfügbaren Mittel und Handlungsmöglichkeiten knapp sind. Wirtschaften heißt für ihn deshalb immer auch, zwischen unterschiedli- chen Bedürfnissen oder Zielen zu wählen und nicht nur zwischen Mitteln, mit denen man diese erreichen kann (Ź Begriffe 3). Aus der Knappheit resultiert »die (keines- wegs immer durchgreifende) Tendenz nach Rationalisierungg des wirtschaftlichen Handelns« (Weber 1958/1923: 2; > 2.1.3, 5.1.3). Soweit Weber die Knappheitsrela- tion als zentrales Merkmal heranzieht, verwendet er einen formalen Begriff von Wirt- schaft; er arbeitet aber auch mit dem materialen Wirtschaftsbegriff. Weber macht zugleich den temporalen Aspekt stark, nämlich dass es um Vorsorge für zukünftige Bedürfnisbefriedigung geht. Niklas Luhmann (1927–1998), Begrün- der der soziologischen Systemtheorie, sieht die »eigentliche Funktion« der Wirtschaft »in der Erzeugung und Regulierung von Knappheiten zur Entproblematisierung künftiger Bedürfnisbefriedigung. Das Bezugsproblem der Wirtschaft ist […] die je gegenwärtige Zukunft« (Luhmann 1989a: 65). Es gibt keine »natürliche« Knappheit. Von Wirtschaft(en) spricht Weber dann, wenn subjektiv wahrgenommenee Knappheit und Vorsorgeaufgabe ein für die Versor- gung vorsorgendes Verhalten wie Arbeiten, Produzieren, Investieren oder Sparen aus- löst, das sich subjektiv an der Knappheitsrelation orientiert, sei es auf traditionale oder rational-kalkulierende Weise. Erst durch den Sinn, den Individuen ihren Inter- 1.1 Was ist Wirtschaft? Gegenstandsbereiche 17 aktionen und sozialen Beziehungen, einem Prozess oder einem Objekt zuschreiben, werden diese als »wirtschaftlich« ausgezeichnet, erkennbar und verstehbar sowie zugleich von z. B. »rechtlich« oder »technisch« unterschieden (Ź Methoden 1). Um unterschiedliche wirtschaftlichee Umgangsweisen mit Knappheit zu vergleichen, for- muliert Weber typische Regeln des »rationalen Wirtschaftens«; dies ist für ihn keine Tautologie (> 2.1.4, 3.1). Nach Weber ist wirtschaftliches Handeln dann soziales Handeln, wenn es sich aus der Sicht der Handelnden auf das Verhalten anderer bezieht und in seinem Ablauf daran orientiert (Weber 1980/1921: 1; > 2.1). Soziales Handeln bezeichnet also eine subjektive soziale Bezugnahme, die insofern zunächst formal und inhaltlich offen bleibt, als sie z. B. aus egoistischen, altruistischen oder wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Januar 8, 2025 um 19:36:45 (UTC) heruntergeladen. anderen Motiven entspringen kann. Mit Weber kann man – nach dem subjektiven Sinn des Handelns – Haushalten als Wirtschaften, um den eigenen Bedarf zu decken, von Erwerben als Agieren, um Gewinn zu erzielen, unterscheiden (Ź Abbildung 1). Wirtschaften als Erwerben för- Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. Wirtschaftssoziologie, 9783825251444, 2018 Abbildung 1: Haushalten und Erwerben nach Max Weber Grundtyp Haushalt(en) Grundtyp Erwerb(en) (im Erwerbsbetrieb) allgemeines Ziel kontinuierliche Verwendung kontinuierlicher Einsatz von und Beschaffung von Gütern Gütern zwecks Einkommens- zur Eigenversorgung: erwerb: Bedarfsdeckung Gewinnerzielung dynamisches Ziel Vermögensbildung zwecks bes- Kapitalbildung zwecks Rentabili- serer Versorgung und Wohlstand tät und Kapitalvermehrung allgemeines primär wirtschaftlich orientiertes zweckrationale, d. h. planvolle Wirtschaften Vorsorgen für Mittel zur Versor- wirtschaftlich orientierte Verfü- gung der Haushaltsmitglieder gung über Güter zwecks (Geld-) Erwerb rationales Haushaltsplan: vorgesehene Kapitalrechnung: Schätzung Wirtschaften Deckung der absehbaren Be- oder Kalkulation von erwart- dürfnisse durch erwartetes Ein- barem Gewinn oder Verlust einer kommen (mittels Bedarfstausch geplanten Maßnahme oder Erwerbsarbeit) wirtschaftliche Produktion oder Tausch von Produktion zwecks (Markt-) Tätigkeit Gütern zur Eigenversorgung Tausch zwecks Erwerb zwecks Rentabilität Ende der Tätigkeit durch Konsum durch Verkauf Quelle: Eig. Darstellung auf der Grundlage von Weber 1980/1921: 28, 44–54, 60–64; vgl. Swedberg 2010: 22–24. 18 1 Einführung dert eine Orientierung auf materielles Wachstum, sofern man sich darauf konzen- triert, die Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse nicht nur zu bewirtschaften, son- dern auch zu vermehren, oder Mittel für vermehrte Bedürfnisse zu beschaffen. Bedürfnisse und Mittel sind gesellschaftlich geprägt oder geschaffen, Verteilung und Nutzung der Mittel folgen gesellschaftlichen Regeln, Knappheit wird also sozial kon- stituiert – und kontinuiert, auch indem Bedürfnisse fortlaufend produziert werden (> 3.4, 5.2). Der französische Klassiker der Wirtschaftssoziologie Gabriel Tarde (1843–1904) zeigt, dass sich Knappheit als gesellschaftlich konstruierter Zustand lau- fend durch die »rivalisierende Imitation« reproduziere, die bewirke, dass »die Akteure immer ausgerechnet das für knapp halten und deswegen haben wollen, was andere wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Januar 8, 2025 um 19:36:45 (UTC) heruntergeladen. bereits haben als knapp bezeichnen« (Baecker 2006: 27). Die Funktion der Knappheitsbearbeitung Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. Ähnlich wie Weber betont auch der systemtheoretische Ansatz von Niklas Luhmann die Aspekte von Knappheit und Vorsorge, schreibt ihre Bearbeitung aber als Funktion Wirtschaftssoziologie, 9783825251444, 2018 dem Wirtschaftssystem zu. Luhmann definiert Wirtschaft als ein Funktionssystem der modernen Gesellschaft neben anderen wie Politik, Recht, Wissenschaft oder Massen- medien. Für ihn erfüllt die Wirtschaft die Funktion, gegenwärtige Knappheiten von Gütern und Geld so zu erzeugen und zu regulieren, dass man zukünftige Bedürfnisbe- friedigungg sicherstellen kann (Luhmann 1989a: 65; > 3.4). Das Vorsorgebedürfnis entsteht daraus, dass man seine Bedürfnisse nicht individuell isoliert, sondern in einem sozialen Kontext definiert und befriedigt, in dem jeder den anderen stimuliert und stört: »Jeder muss, weil auch andere interessiert sind und interferieren werden, langfris- tig vorsorgen, und dieses Vorsorgen macht alle Güter knapp, denn jeder möchte für seine Zukunft reservieren, was ein anderer schon gegenwärtig braucht« (S. 64). Auch in dieser Perspektive ist Knappheit sozial konstituiert. Luhmann zeigt, dass auf der Systemebene Knappheit erst durch individuelle, exklusive Zugriffe auf Güter entsteht – etwa für die Güterproduktion zwecks Minderung von Knappheit; durch ihren Zugriff produzieren die einen zugleich Knappheit für alle anderen, weil dadurch für sie ein eigener Zugriff ausgeschlossen ist (Knappheitsparadox; S. 178–182). Das zentrale Problem ist nicht Knappheit als (formale) Beziehung zwischen Zwecken und Mitteln, sondern die »Identität von Knappheitsreduktion und Knappheitssteigerung« (Baecker 2006: 26). Knappheit wird aber nicht nur durch Handlung bearbeitet, son- dern auch von Dritten erlebt und geduldet, weil der Zugreifende zahlt und die Zah- lungg den Beobachter motiviert, nach eigener Zahlungsfähigkeit zwecks späteren Zugriffs auf Knappes zu streben (Luhmann 1989a: 69, 252). Das unterstellt aller- dings, dass es keine absolute Knappheit gibt und man mit materialen oder ökologi- schen Totalverlusten von Ressourcen nicht rechnen muss. In der Geldwirtschaft tritt neben die Güterknappheit die künstliche Knappheit von Geld (Luhmann 1989a: 197–200; > 3.4.4). Nach Luhmann orientiert sich wirt- 1.1 Was ist Wirtschaft? Gegenstandsbereiche 19 schaftliches Handeln an Geldzahlungen, und das Wirtschaftssystem besteht aus immer wieder neuen Zahlungen. Wirtschaftliches Handeln fasst er als eine spezifische Form sozialen Handelns, die sich dadurch als »wirtschaftlich« auszeichnet, dass man mithilfe des Mediums Geld in Form von Zahlungen kommuniziert. Der Kernbegriff Kommunikation tritt bei Luhmann an die Stelle des Handlungsbegriffs und Institu- tionenbegriffs (> 1.3). Das Funktionssystem Wirtschaft entsteht und besteht durch Geldzahlungen; die Gründe dafür liegen aber in seiner Umwelt, etwa in Bedürfnissen oder im Profitstreben der Akteure. Der dritte Ansatz versucht »Wirtschaft« mittels eines besonderen Handlungstyps abzugrenzen (> 2.1.2, 2.1.3). Danach umfasst Wirtschaft alles planvoll-kalkulierende, wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Januar 8, 2025 um 19:36:45 (UTC) heruntergeladen. auf Maximierung oder Optimierung zielende und im weitesten Sinn eigennützige Handeln von Akteurinnen und dessen Hervorbringungen wie Unternehmen und Produktionsanlagen, Güter und Dienstleistungen, allgemeiner Organisationen und Institutionen. Wirtschaft ist dann das Feld, in dem individuelle Akteure »ökono- Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. misch« handeln, d. h. zweckrational prüfen, welche Alternative die beste ist und diese auch wählen, sei es im Haushalt, im Unternehmen oder auf Märkten (instrumentelles Wirtschaftssoziologie, 9783825251444, 2018 Rationalhandeln). Man kann dieses Handeln als ein Lösungsmuster für das Problem der Knappheit auffassen, insoweit die Handelnden darin den Sinn dessen sehen, was sie tun, unterlassen oder dulden (Webers Begriff von Handeln als subjektiv sinnorien- tiertess Verhalten). Wählen muss man aber nicht nur in der Knappheit (z. B. das spar- samste Mittel), sondern auch im Überfluss (z. B. ein Mittel aus den beliebig vielen Mitteln) (vgl. Polanyi 1992/1957: 33–34). Wenn man auf diese Weise wirtschaftliches Handeln – enger als bei Weber – als den Typus des zweckrationalen Handelns definiert, ohne weiter festzulegen, worauf sich diese Zweckrationalität bezieht, kann man es nicht nur auf »die Wirtschaft« ein- grenzen. Vielmehr kommt dieser Handlungstyp dann in beliebigen Bereichen der Gesellschaft vor, also z. B. in Politik, Religion, Erziehung usw. Damit ist der dritte Abgrenzungsversuch gescheitert, da er das Feld oder System Wirtschaft nicht von allen anderen unterscheiden kann. Denn dieser formalee Begriff von Wirtschaft umfasst allee Arten von Handlungen, die auf eine optimale Allokation knapper Ressourcen zielen, also darauf, mit verfügbaren Mitteln ein bestmögliches Ergebnis (Wirtschaft- lichkeitsprinzip in Form des Maximalprinzips) oder ein definiertes Ziel mit möglichst wenig Mitteln zu erreichen (Minimalprinzip). Dann aber wäre »Wirtschaft« überall (vgl. Weber 1980/1921: 199). Man nennt diese zweckrationale Perspektive auch formale l Rationalität, weil sie sich ganz auf die quantitativ ausgedrückte Relation von Zweck und Mitteln konzentriert und dabei die Zwecke und die Mittel nicht hinterfragt (> 3.1). Die reinste Form for- maler Rationalität ist die Geldrechnung, bei der man die jeweilige Zweck-Mittel- Relation ausschließlich monetär berechnet (Weber 1980/1921: 45; > 3.4.1). Die Unterscheidung, welche Kosten in dieses formale Zweck-Mittel-Kalkül einge- hen und welche nicht und wer welche Kosten wieweit und in welcher Form tragen 20 1 Einführung soll, erfolgt nach gesellschaftlichen Zurechnungs- und Haftungsregeln. Beispiele sind etwa die Anerkennung oder Nichtanerkennung von Berufskrankheiten und daraus folgende Entschädigungs- oder Versorgungsansprüche, die von den Betreibern zu kompensierenden potenziellen Schäden und die daraus resultierende Höhe von Ver- sicherungsprämien für Reaktorunfälle oder die Folgen des Klimawandels. Erst diese gesellschaftlichen Unterscheidungen und Abgrenzungen ermöglichen überhaupt ein ökonomisches Zweck-Mittel-Kalkül. Deshalb ist rationales wirtschaftliches Handeln kein naturgegebenes Phänomen, sondern von Anfang an gesellschaftlich konstituiert. Wenn man sämtliches menschliche Handeln als zweckrational interpretiert, wird in diesem Sinne »wirtschaftliches« Handeln zum universalen und letztlich einzigen wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Januar 8, 2025 um 19:36:45 (UTC) heruntergeladen. Handlungstyp (> 1.3.2). Dann verliert der »wirtschaftliche« oder »ökonomische« Handlungstyp jedoch seine Unterscheidungskraft für »Wirtschaft«, da er beispiels- weise als auch für »Politik« typisch zu betrachten wäre. Ebenso kann man das Knapp- heitsproblem verallgemeinern und etwa in der Politik auf Wählerstimmen, öffentliche Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. Aufmerksamkeit oder Machtressourcen beziehen. Die Universalisierung des wirt- schaftlich-zweckrationalen Handlungstyps gehört zu den Kernannahmen der Ratio- Wirtschaftssoziologie, 9783825251444, 2018 nal-Choice-Theorien, die in den Sozialwissenschaften und auch in der Wirtschaftsso- ziologie stark verbreitet sind (> 2.1.4). Normen und Regeln einer Gesellschaft begrenzen und steuern individuelles wirt- schaftliches Handeln. So kann man beispielsweise auf dem Markt viele Dienstleistun- gen von Privaten gegen Geldzahlungen kaufen, während dies in der Familie in den meisten Fällen als nicht legitim gilt. Risikolebensversicherungen für Kinder waren in den Vereinigten Staaten am Ende des 19. Jahrhunderts zugleich stark nachgefragt und politisch und moralisch hoch umstritten (Zelizer 2005). Andererseits können sich Muster rationalen Denkens und Handelns im Zuge lang- fristiger gesellschaftlicher Prozesse in mehreren Sphären der Gesellschaft wie Politik, Wirtschaft oder Recht ausbreiten. Max Weber diagnostiziert eine umfassende Ratio- nalisierungg aller Lebensbereiche, indem sich etwa Rechtsstaat, Bürokratisierung, Spe- zialisierung, Versachlichung, Verwissenschaftlichung, rationale Rechnungs- und kapi- talistische Unternehmensführung, Marktförmigkeit und bürokratischer Staat verbreiten (Weber 2006/1920; Kaesler 2006: 49–51). Enger fasst Jürgen Habermas (geb. 1929) das Eindringen des rationalen wirtschaftlichen Handlungstyps aus dem Wirtschaftssystem in das Privatleben, das sich so zunehmend monetären und markt- orientierten Erwägungen unterwerfe und einseitig rationalisiere, als Kolonialisierung der Lebenswelt auf (Habermas 1981: 171–294; Habermas 1984: 562–567). 1.1 Was ist Wirtschaft? Gegenstandsbereiche 21 Polanyi: materieller Begriff von WR --> materielle Reproduktion als Grundfunktion einer Gesellschaft 1.1.2 Materielle Reproduktion der Gesellschaft Im Anschluss an Karl Polanyi (1886–1964) kann man vom formalen einen materialen Begriff von Wirtschaft unterscheiden (vgl. zum Folgenden Polanyi 1992/1957). Der von Polanyi bevorzugte materiale Begriff von Wirtschaft umfasst die materielle Repro- duktion als Grundfunktion einer jeden Gesellschaft. Durch diese beschafft und sichert sie sich die Güter und Dienstleistungen, die sie in einer konkreten historischen Situ- ation als notwendig und angemessen betrachtet, um ihre Mitglieder zu versorgen (Ź Abbildung 2). Der Aspekt der gesellschaftlichen Grundfunktion begründet den vierten Abgrenzungsversuch von Wirtschaft neben Realitätsbereich, Knappheit und wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Januar 8, 2025 um 19:36:45 (UTC) heruntergeladen. Handlungstyp. Polanyi fasst Wirtschaft damit als einen kollektiven Prozess (Siche- rung der gesellschaftlichen Reproduktion), während Weber sie – zunächst! – über eine individuelle Sinnzuschreibung begründet (Vorsorge für künftige Bedürfnisse). Moderne, funktional ausdifferenzierte Gesellschaften gewährleisten ihre materielle Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. Reproduktion, indem sie ein gesondertes Teilsystem Wirtschaft entwickeln. Wirtschaft bezieht sich dann auf das Produzieren, Verteilen und Tauschen von Wirtschaftssoziologie, 9783825251444, 2018 Gütern und Dienstleistungen, das die Mitglieder einer Gesellschaft nach bestimm- ten Regeln und mit bestimmten Zielen betreiben. In diesem Sinne denkt Polanyi Wirtschaft als einen gesellschaftlich eingerichteten Prozess, der in einer Gesellschaft bestimmte Strukturen entstehen lässt, mit denen sie den Austausch zwischen den Menschen und ihrer natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt so organisiert, dass man die Mittel zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse produzieren kann. Wirtschaft wird als ein institutionalisierter, das heißt von relativ stabilen Mustern, Regeln und Vorstellungen gelenkter, Interaktionsprozess zwischen Mensch und Abbildung 2: Knappheit, Reproduktion und Institution als Kern von »Wirtschaft« Problembearbeitung: Problem: Wirtschaft Institution Knappheit (formal) wirtschaftliches Handeln individuelle Regelbildung als Wahlentscheidung über und Organisieren von Regeln die Allokation von Ressour- zwecks ökonomischer Opti- cen zwecks Bedarfsdeckung mierung oder Erwerb Reproduktion (material) Wirtschaft als Arbeit, Aneig- gesellschaftlich institutiona- nung und Austausch zwi- lisierter Prozess der Bedürf- f schen Menschen und mit nisbefriedigung der Natur Quelle: Eigene Darstellung. 22 1 Einführung Natur aufgefasst, und wirtschaftliches Handeln ist deshalb Handeln im Rahmen von Institutionen (> 2.2). Neben Institutionen prägen Organisationen wie Unterneh- men, Verbände oder Behörden die materielle Produktion moderner Gesellschaften (> 2.2.4, 4.1). Eine Gesellschaft kann ihre materielle Produktion samt deren Verteilungg in Form von Reziprozität, Redistribution oder (Markt-)Tausch institutionell integrieren und ihrer Wirtschaft so Stabilität zu verleihen suchen (vgl. Polanyi 1992/1957). Wirt- schaften gewinnen ihre spezifische Gestalt, Einheit und Stabilität, indem sie diese drei Integrationsformen kombinieren. Dabei kann jeweils eine Form dominieren, wäh- rend die anderen beiden sie unterstützen. wurde mit IP-Adresse 131.130.169.005 aus dem Netz der UB Wien am Januar 8, 2025 um 19:36:45 (UTC) heruntergeladen. Reziprozitätt bezeichnet Bewegungen von Gütern und Werten zwischen sich ent- sprechenden Punkten gleichgeordneter sozialer Gruppierungen. Sie setzt Strukturen sozialer Symmetrie wie Verwandtschaft, Nachbarschaft, Berufsgruppen oder Religi- onsgemeinschaften voraus, in denen sich reziproke Einstellungen hinsichtlich räum- Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig. lich, zeitlich oder sachlich definierter Beziehungen ausbilden. Redistribution dagegen meint einen Integrationstyp, bei dem sich ein Zentrum die Wirtschaftssoziologie, 9783825251444, 2018 gesellschaftlich produzierten Güter und Werte aneignet und von dort aus in die Gesellschaft zurückverteilt. Hier liegt die Allokation der Güter zentral in einer Hand, die sie auf der Basis von Gewohnheit, Gesetz oder Ad-hoc-Entscheidungen vollzieht. Es herrscht nicht – eher lokal verstandene – Symmetrie, sondern ein Zentralitätsprin- zip, das zentrale Strukturen voraussetzt. Beim (Markt-)Tauschh finden wechselseitige Bewegungen von Gütern und Werten zwischen deren Besitzern im Rahmen eines Marktsystems statt. Institutionell setzt die Integration durch Tausch ein System preisbildender und miteinander verbundener Märkte voraus, das in der Lage ist, Wertgleichheiten zu definieren. Ein System von Wertgleichheiten (Tauschraten) entsteht entweder durch gesetzte oder durch ausgehan- delte Preise; nur letztere ermöglichen die Integration durch Markttausch. Marktinstitu- tionen umfassen Mehrheiten von Besitzern, die eine Nachfragemenge und/oder eine Angebotsmenge bilden. Tausch kann man aber nicht mit Markt gleichsetzen (> 4.2). Denk-Pause 1 Welche Bedeutung haben Geld und Zahlungen in den drei Polanyi’schen Integrationsformen Reziprozität, Redistribution und Markttausch? Ŷ Setzen diese drei Formen der materiellen Reproduktion die Existenz von Knappheit voraus? Ŷ Wovon hängt es ab, welche Form in einem gesellschaftlichen Bereich oder für einen Typ von wirtschaftlichen Aktivitäten vor- herrscht? Was die institutionalisierte materielle Reproduktion einer Gesellschaft in der Wirt-

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