Empirische Bildungsforschung PDF
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Universität Mannheim
Cornelia Gräsel
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This document provides an overview of empirical educational research, touching on its history, key subject areas, and the question of whether it constitutes a distinct discipline. It explores the concept's connection to philosophical approaches to education and its relationship with the social sciences. The text emphasizes the problem-oriented, interdisciplinary nature, and the use of empirical research methods within this field.
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Was ist Empirische Bildungsforschung? Cornelia Gräsel Zusammenfassung Der Aufsatz grenzt ein, was unter Empirischer Bildungsforschung verstanden wird, und stellt aktuelle Fragen und Gegenstandsbereiche vor. Die Geschichte der Empiri- schen Bildungsforschung, die bis zum Beginn des 20....
Was ist Empirische Bildungsforschung? Cornelia Gräsel Zusammenfassung Der Aufsatz grenzt ein, was unter Empirischer Bildungsforschung verstanden wird, und stellt aktuelle Fragen und Gegenstandsbereiche vor. Die Geschichte der Empiri- schen Bildungsforschung, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreicht, wird ebenso behandelt wie die Frage, ob die Empirische Bildungsforschung eine eigenstän- dige Disziplin ist. 1 Einleitung Der Begriff Bildungsforschung sorgt immer wieder für Missverständnisse: Personen mit geisteswissenschaftlichem Hintergrund verbinden mit Bildung eher den klassischen deut- schen Bildungsbegriff der Philosophie und der philosophisch orientierten Bildungstheo- rie, wie er vor allem im 18. Jahrhundert entfaltet wurde. Diesem Verständnis folgend würde sich „Bildungsforschung“ beispielsweise mit der Entwicklung zu Urteilsfähigkeit und Reflexivität befassen (Tenorth 2003). Andere geisteswissenschaftliche Bildungskon- zeptionen betonen stärker die Entwicklung eines Selbst- und Weltverständnisses durch die Begegnung mit verschiedenen kulturellen Traditionen. Dieses klassische Verständnis von Bildung, das für die Allgemeine Erziehungswissenschaft konstitutiv ist und in enger Ver- bindung zur Persönlichkeitsentwicklung steht, ist nicht der Gegenstand der Empirischen Bildungsforschung. Sie verfolgt einen engeren und an den Sozialwissenschaften orientier- ten Bildungsbegriff. C. Gräsel (*) Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 3 H. Reinders et al. (Hrsg.), Empirische Bildungsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-27277-7_1 4 C. Gräsel cc Die Empirische Bildungsforschung untersucht die Bildungsrealität in einer Gesell- schaft, wobei der Schwerpunkt auf der institutionalisierten Bildung liegt. Bildungsfor- schung fragt im Kern, wie Bildungsprozesse verlaufen, wer welche Qualifikationen und Kompetenzen im Bildungssystem erwirbt, wovon dieser Qualifikations- und Kompetenz erwerb abhängig ist und welche Auswirkungen er hat. Zu einer Definition von Bildungsforschung kann man immer noch auf die des Deut- schen Bildungsrates zurückgreifen: cc Definition des Deutschen Bildungsrats von 1974 „Man kann Bildungsforschung in einem weiteren und engeren Sinne auslegen. Im engeren Sinne hat es sie als Unterrichts- forschung schon immer gegeben. Im weiteren Sinn kann sie sich auf das gesamte Bil- dungswesen und seine Reform im Kontext von Staat und Gesellschaft beziehen, ein- schließlich der außerschulischen Bildungsprozesse. Wie weit oder eng aber auch die Grenzen der Bildungsforschung gezogen werden, es sollte nur dann von Bildungsfor- schung gesprochen werden, wenn die zu lösende Aufgabe, die Gegenstand der Forschung ist, theoretisch oder empirisch auf Bildungsprozesse (Lehr-, Lern-, Sozialisations- und Erziehungsprozesse), deren organisatorische und ökonomische Voraussetzungen oder Re- form bezogen ist“ (Deutscher Bildungsrat 1974, S. 23). Aufbauend auf dieser Definition haben sich drei zentrale Merkmale der Bildungsfor- schung herauskristallisiert, die bis heute Gültigkeit haben: Problemorientierung: Die zentrale Aufgabe der Bildungsforschung wurde und wird darin gesehen, wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, die zu einer Analyse und zur Verbesserung des Bildungswesens beitragen. Bildungsforschung sollte rationale Begründungen für bildungspraktische und -politische Entscheidungen anbieten und zwar für die Ebene des Gesamtsystems (z. B. Schulformen, Übergänge, Curricula), der einzelnen Institution (z. B. Schulentwicklung, Schulleitung) und des Lernens von Indi- viduen (z. B. Unterrichtsqualität). Neben der Schule sollten auch andere Bereiche be- rücksichtigt werden, etwa Hochschulen oder der Weiterbildungsbereich. Interdisziplinarität: Auch die Interdisziplinarität der Bildungsforschung war bereits in der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates (1974) ein wichtiges Thema: „Viele Auf- gaben, die der Bildungsforschung gestellt sind, können nicht von einer Disziplin, son- dern nur interdisziplinär gelöst werden“ (S. 16). Die Bildungsforschung entnimmt aus verschiedenen Disziplinen theoretische und methodische Anregungen, bezieht sie auf ihren Forschungsstand und entwickelt sie weiter. Verwendung empirischer Forschungsmethoden: Wie bereits im Namen ausgedrückt, werden die Erkenntnisse mittels empirischer Forschungsmethoden gewonnen. Ein Großteil der Empirischen Bildungsforschung geht dabei quantitativ vor und orientiert sich an den Standards der empirischen Sozialwissenschaften, z. B. der Psychologie oder der Soziologie. Quantitativ-empirische Forschungsmethoden bedeuten einen Zu- Was ist Empirische Bildungsforschung? 5 gang zur Realität über die Durchführung von Messoperationen (vergleichbar dem Wie- gen oder der Längenbestimmung im Alltag), die anschließend mathematisch-statistisch ausgewertet werden. Die Methoden der Empirischen Bildungsforschung umfassen auch qualitative Forschungsmethoden (vgl. Kap. III-7), also die Erhebung und interpre- tative Auswertung nicht-standardisierter Daten (z. B. bei Interviews, in Beobachtungen). Für eine genauere Charakterisierung der Empirischen Bildungsforschung sollen im nächs- ten Abschnitt einige aktuelle Fragestellungen und Gegenstandsbereiche vorgestellt wer- den, bevor ein Blick in die noch junge Geschichte dieses Forschungsfelds geworfen wird. 2 Aktuelle Fragestellungen und Gegenstandsbereiche der Empirischen Bildungsforschung Die Empirische Bildungsforschung befindet sich derzeit in einer deutlichen Expansions- phase. In den letzten Jahren ist die Zahl der Forschungsprojekte, die sich empirisch mit dem Bildungssystem befasst, rapide angewachsen (Zedler und Döbert 2010; Spinath 2014). Auch in der Öffentlichkeit wird die Bildungsforschung stärker wahrgenommen. In den aktuellen bildungspolitischen Debatten, beispielsweise zur Verlängerung der Grund- schulzeit oder zur Ausweitung des vorschulischen Lernens, werden Ergebnisse der Bil- dungsforschung als Argumente verwendet bzw. die Stellungnahmen entsprechender Wis- senschaftler eingeholt. Dieses Lehrbuch versucht, einen möglichst breiten Überblick über die Fragestellungen und Gegenstandsbereiche der Empirischen Bildungsforschung zu geben. Im Folgenden werden zusammenfassend „thematische Haupttrends“ betrachtet. Eine Kernthese dabei lautet: Empirische Bildungsforschung umfasst weitaus mehr als die internationalen und nationalen Leistungsvergleiche, mit denen sie in der Öffentlichkeit gleichgesetzt wird. Aber weil diesen Leistungsvergleichen für die Entwicklung der Bil- dungsforschung große Bedeutung zukommt, sollen sie im Folgenden kurz darge- stellt werden. Internationale und nationale Leistungsvergleiche In der Öffentlichkeit ist vor allem die PISA-Studie (Programme for International Student Assessment), im Jahr 2000 von der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) gestartet, mit Bil- dungsforschung assoziiert. Alle drei Jahre werden seither in vielen Ländern durch eine re- präsentative Stichprobe unter 15-jährigen Schülern Testleistungen in drei zentralen Berei- chen erfasst: Leseverständnis (literacy), Mathematik und Naturwissenschaften. In jeder Erhebungswelle wird einer dieser Bereiche ausführlicher berücksichtigt. Darüber hinaus werden Schüler- und Schulfragebogen verwendet, um Informationen über Elternhäuser, Schulen, Unterricht und motivational-emotionale Merkmale der Schüler zu erhalten (Bau- mert et al. 2001; Prenzel et al. 2007). Auf diese Weise entsteht erstmalig in Deutschland ein umfassendes Querschnittsbild über den Status quo des Bildungssystems, dessen Befunde eine empirisch orientierte Diskussion über die Qualität von Bildungsprozessen ermöglichen. 6 C. Gräsel Die PISA-Debatte Die ersten PISA-Ergebnisse aus der Erhebung im Jahr 2000 haben in Deutschland eine breite Debatte um die Leistungsfähigkeit des Schulsystems ausgelöst. Es zeigte sich, dass die Leistungen der 15-jährigen Schüler im internationalen Vergleich lediglich in einem unteren Mittelfeld platziert sind, und der Anteil der SchülerInnen mit sehr geringen Lese- kompetenzen und geringen Kompetenzen in Naturwissenschaften und Mathematik er- schreckend hoch war (Baumert et al. 2001). Angesichts der Bedeutung von Qualifikationen in einer modernen Gesellschaft war dies ein alarmierendes Ergebnis, das nicht nur zahlreiche weitere Studien nach sich zog, sondern auch weitreichende bildungspolitische Konsequenzen hatte. In der Öffentlichkeit erfährt vor allem ‚das Ranking‘ Aufmerksamkeit, wobei dem Ab- schneiden Deutschlands natürlich besonderer Stellenwert zugemessen wird. Für die Debatten innerhalb der Bildungsforschung und für die Weiterentwicklung die- ses Forschungsfelds bieten die internationalen Vergleichsstudien weitaus mehr als ein Ranking: Sie geben Hinweise darauf, welche Personengruppen im Bildungssystem bevor- zugt bzw. benachteiligt werden. Zudem können sie aufgrund ihrer umfassenden Stichpro- ben Informationen über Teilpopulationen geben, z. B. über Jungen vs. Mädchen oder SchülerInnen mit Migrationshintergrund. Neben PISA wurden und werden weitere Ver- gleichsstudien durchgeführt, die auf andere Altersgruppen fokussieren, z. B. IGLU, die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (international: PIRLS, Progress in Interna- tional Reading Literacy Study), die die Kompetenzen von Kindern am Ende der Grund- schulzeit untersucht (Bos et al. 2007, 2003). Auch TIMSS (Trends in International Mathe- matics and Science Study) untersucht Viertklässler. In dieser Studie wird der Schwerpunkt allerdings – wie der Name bereits zum Ausdruck bringt – auf Mathematik und Naturwis- senschaften gelegt (Bos et al. 2008a). Für die genaue Analyse von Einflussbedingungen in Bezug auf Leistungen sind die querschnittlich angelegten Leistungsvergleiche allerdings alleine nicht ausreichend. Um zu erfahren, welche Rolle beispielsweise die Unterrichts- qualität, das Schulklima oder Unterstützung der Eltern dafür spielen, dass Schüler be- stimmte Kompetenzen erwerben, sind zusätzlich längsschnittlich angelegte Studien er- forderlich. Im Rahmen von PISA und TIMSS wurden in der Vergangenheit auch die deutschen Bundesländer miteinander verglichen (Baumert et al. 2003; Bos et al. 2008b; Prenzel et al. 2008). Diese Studien wiesen auf erhebliche Unterschiede im Bildungsniveau zwischen den Bundesländern hin. Dies soll an den Daten aus PISA 2006 zu den Naturwissenschaf- ten erläutert werden. Der Abstand zwischen den Schülern aus jenen Ländern, die den höchsten Kompetenzwert erreichten, und den Schülern der Länder, die in Deutschland das Schlusslicht darstellen, beträgt ca. 50 Punkte, was in etwa als Lernzuwachs von zwei Schuljahren interpretiert werden kann (Prenzel et al. 2008). Die nationalen Vergleiche werden seit 2010 in einer neuen Form durchgeführt. Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, das an der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelt ist, hat nun den Auftrag, die Leistungen der SchülerInnen der Bundesländer zu vergleichen und dafür die Was ist Empirische Bildungsforschung? 7 nun gültigen Bildungsstandards als Grundlage heranzuziehen (Köller et al. 2010; vgl. Kap. IV-3). Soziale Selektivität des Bildungswesens. Vor allem in der soziologisch orientierten Bil- dungsforschung war und ist die Chancengerechtigkeit und die soziale Selektivität des Bil- dungssystems ein wichtiges Thema (Allmendinger et al. 2010). In zahlreichen Studien – in jüngerer Zeit in der PISA-Studie und den nachfolgenden internationalen Leistungsverglei- chen – wurde die hohe soziale Selektivität des deutschen Bildungswesens empirisch nach- gewiesen (Baumert et al. 2001; Bos et al. 2003). 2.1 Soziale Herkunft und Bildungserfolg SchülerInnen aus Familien mit besserem sozio-ökonomischem Hintergrund haben – auch bei gleicher Leistung – eine vielfach höhere Chance, eine höhere Schulform zu besuchen und einen höheren Bildungsabschluss zu erzielen als SchülerInnen aus Familien mit gerin- gem sozio-ökonomischem Status. Aber nicht nur für das Erlangen von Bildungszertifika- ten spielt die soziale Herkunft der Kinder und Jugendlichen eine große Rolle, sondern auch für den Kompetenzerwerb: SchülerInnen aus besser gestellten Familien erreichen höhere Kompetenzniveaus. Insgesamt gibt es deutliche Hinweise darauf, dass sich Bil- dung – und damit auch berufliche Positionen und gesellschaftlicher Status – in Deutsch- land in einem starken Maße sozial vererbt und dass das Schulsystem die unterschiedlich leistungsfähigen familiären Sozialisations- und Lernumwelten nicht kompensieren kann. Eine wichtige Ursache für die sozialen Disparitäten sind die Schnittstellen im Bildungs- system, insbesondere der Übergang von der Grund- in die weiterführenden Schulen. Dem- entsprechend wurden in den letzten Jahren zahlreiche Studien durchgeführt, die die Ein- flussfaktoren für die soziale Selektion an dieser Nahtstelle untersuchten, z. B. die Bildungsaspiration der Eltern oder die Entscheidungen der Lehrer (Baumert et al. 2010; Ditton und Krüsken 2006; Ditton 2007). 2.2 Weitere Themen der Bildungsforschung Bildungspanel – Längsschnittstudien Die internationalen Vergleichsstudien erfassen in der Regel die Kompetenzen einer bestimmten Zielgruppe (SchülerInnen der 4. Klasse oder 15-Jährige) zu einem Zeitpunkt. Damit können sie keine Aussagen über Bildungspro- zesse und -verläufe machen. Um gesichertes Wissen über die längsschnittliche Entwick- lung des Kompetenzerwerbs zu erhalten, wurde in Deutschland das ‚Nationale Bildungs- panel‘ begonnen (Blossfeld et al. 2009). Die längsschnittliche Anlage erlaubt vor allem Analysen zur Frage, welche schulischen (Unterrichts- und Schulqualität) und außerschu- lischen Einflüsse den Kompetenzerwerb beeinflussen. Diese Fragestellung kann auf der Basis bisher vorliegender Datensätze nur unzureichend beantwortet werden. Das Bil- dungspanel untersucht die Kompetenzentwicklung nicht nur im Kindergarten und im all- 8 C. Gräsel gemeinbildenden Schulsystem, sondern auch in der beruflichen Ausbildung, im Studium und nach Verlassen des Bildungssystems. Unterrichtsqualität – Förderung von Kompetenzen Ein übereinstimmendes Ergebnis der Empirischen Bildungsforschung ist die Bedeutung von Merkmalen des Unterrichts für die Kompetenzentwicklung der SchülerInnen. Der Teil der Bildungsforschung, der sich mit der Verbesserung der Unterrichtsqualität auseinandersetzt, wird als ‚Lehr-Lern- Forschung‘ oder als Unterrichtsforschung bezeichnet (vgl. Kap. VII-1). In dieser For- schungsrichtung werden nicht nur Unterrichtskonzeptionen oder Trainings entwickelt, sondern auch Forschungsarbeiten zu der Frage durchgeführt, wie sich Innovationen, die auf eine Verbesserung des Unterrichts abzielen, in der Praxis realisieren und verbreiten lassen (Gräsel 2010). Ein wichtiges Ergebnis der Unterrichtsforschung ist die Bedeutung des Inhaltsbereichs, also der Domäne. Wie Lernprozesse verlaufen und wie sie durch die Gestaltung von Unterricht unterstützt werden können, ist allgemein schwer zu sagen. Es kommt stark darauf an, welcher Inhalt – beispielsweise der Satz des Pythagoras oder der ACI im Lateinischen – gelernt werden soll. Daher werden die Projekte der Unterrichtsfor- schung in der Regel durch interdisziplinäre Teams bearbeitet, und den Fachdidaktiken kommt eine große Rolle zu (Prenzel und Allolio-Näcke 2006). Forschung zu Kompetenzen des pädagogischen Personals Wie der Unterricht im schu- lischen Alltag gestaltet wird, hängt entscheidend von den LehrerInnen – insbesondere von ihren professionellen Kompetenzen – ab. Ein in den letzten Jahren zunehmend wichtiges Thema, mit dem die deutsche Bildungsforschung gut an die internationale Diskussion anschließen kann, ist die Lehrerforschung. Zur Frage, welche Merkmale einen ‚guten Lehrer‘ ausmachen, gibt es zahlreiche Alltagsmeinungen, die mehr oder weniger gut fun- diert sind. Es ist ein großes Anliegen der Bildungsforschung, diese Frage basierend auf empirischer Evidenz zu beantworten (Baumert und Kunter 2006). Welche Eigenschaften, welche Kompetenzen, haben LehrerInnen, deren SchülerInnen viel lernen oder besonders motiviert sind? Diese Frage kann ebenso empirisch analysiert werden wie die Frage, wel- che Lernumgebungen bzw. Studiengänge besonders geeignet sind, um LehrerInnen ent- sprechend auszubilden. Außerschulische Bildungsinstitutionen Die Empirische Bildungsforschung hat in Deutschland bislang einen Fokus auf der Schule als zentraler Bildungsinstitution. Erst in den letzten Jahren gibt es Bemühungen, auch außerschulische Institutionen zum Gegen- stand empirischer Forschung werden zu lassen, z. B. die Weiterbildung (Kuper und Schra- der 2013) oder die Hochschulen. Was ist Empirische Bildungsforschung? 9 Weiterentwicklung der Forschungsmethoden Ein zentrales Anliegen der Empirischen Bildungsforschung ist ein hoher forschungsmethodischer Standard. Dieser Qualitätsan- spruch an die Forschung sowie spezifische methodische Anforderungen, die in der Bil- dungsforschung bestehen, führen zu einer intensiven Weiterentwicklung der Erhebungs- und Analyseverfahren (vgl. Kap. III). Ein Beispiel für die Besonderheiten der Bildungsforschung sind so genannte ‚genestete Daten‘: SchülerInnen befinden sich in (festen) Klassen, diese wiederum in bestimmten Schulen. Diese nicht-zufällige und feste Zuordnung von SchülerInnen zu bestimmten Strukturen erfordert spezielle Auswertungs- methoden (hierarchisch-lineare Modelle), die in anderen empirischen Sozialwissenschaf- ten nicht zwingend erforderlich sind. In vielen empirischen Studien der Bildungsforschung ist die Kompetenzmessung ein zentraler Bestandteil. Dementsprechend befasst sich die Forschung mit methodischen Fragen zur Kompetenzmessung, z. B. damit, wie geeignete Aufgaben konstruiert werden (Papier-und-Bleistift, computerbasiert usw.) oder mit wel- chen statistischen Verfahren Items zu Skalen zusammengefasst werden können, um Kom- petenzniveaus abzubilden (Hartig et al. 2008). 3 Geschichte der Empirischen Bildungsforschung Manchmal wird Empirische Bildungsforschung als neue Entwicklung bezeichnet. Dies ist insofern richtig, als sie im Kanon der Wissenschaften erst seit wenigen Jahren auffällig platziert ist und breit wahrgenommen wird. Eine empirisch ausgerichtete Forschung der ‚Bildungstatsachen‘ ist aber keineswegs eine Neuigkeit: Als ‚Nischenwissenschaft‘ gibt es sie schon seit über hundert Jahren. Im folgenden Abschnitt wird die Entwicklung in Deutschland in groben Zügen nachgezeichnet. 3.1 Die Empirische Pädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Vorläufer der Empirischen Bildungsforschung Eine wichtige historische Wurzel für die Entwicklung der Empirischen Bildungsforschung stellen jene Forscher dar, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts pädagogische Themen, vor- wiegend Schulthemen, mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden bearbeiteten. Hier kann Aloys Fischer erwähnt werden, der den Lehrstuhl für Empirische Pädagogik und Pädagogische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München begründete und dessen Arbeitsschwerpunkte vor allem die Lehrerbildung und die berufliche Bil- dung waren. cc MERKSATZ Zu den Vorläufern einer Empirischen Bildungsforschung zählen vor allem die empirischen bzw. experimentellen Pädagogen (Drewek 2010; Krapp et al. 2001). 10 C. Gräsel Ernst Meumann ist hier wohl der wissenschaftlich profilierteste und bekannteste Vertreter. Ferner kann Wilhelm August Lay genannt werden. In seiner Darstellung zur Empirischen Pädagogik arbeitet Drewek (2010) heraus, wie sie vergeblich versuchte, sich zwischen den sich ebenfalls etablierenden Wissenschaften Psychologie und Pädagogik zu entwickeln. Dabei hat auch eine Rolle gespielt, dass Philo- sophie, Pädagogik und Psychologie um Stellen und Ressourcen in den Universitäten kon- kurrierten. Aber auch wissenschaftstheoretisch befand sich die Empirische Pädagogik in einer schwierigen ‚Zwischenposition‘. Während sich die Psychologie in der Weiterfüh- rung der Arbeiten von Wilhelm Wundt experimentell-naturwissenschaftlich orientierte, verlief die Verwissenschaftlichung der Pädagogik mit der Philosophie als Leitdisziplin. Schon damals ergab sich ein Gegensatz zwischen einem philosophisch und institutionenfern ausgerichteten Bildungsbegriff der ‚klassischen‘ Pädagogik und der Orientierung an pä dagogischen Sachverhalten bei den empirischen Pädagogen. Man kann überspitzt sagen, dass sich die Empirische bzw. Experimentelle Pädagogik zwischen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und der empirischen Psychologie zu etablieren versuchte – und von beiden Seiten ausgegrenzt wurde. Auf der einen Seite be- fürchteten die Pädagogen eine Verengung ihrer bildungstheoretischen Grundlagen auf ‚Er- ziehungstechnik‘ für angehende Lehrer, die letztlich die noch junge disziplinäre Selbst- ständigkeit der Pädagogik gefährden könnte. Auf der anderen Seite befürchtete die Psychologie, dass eine zu starke Anwendungsorientierung die ebenfalls junge Disziplin negativ beeinflussen und ihre Grundlagenorientierung in Frage stellen könnte. Zudem stand der wissenschaftliche Anspruch der Experimentellen Pädagogik, insbesondere Meu- manns Arbeiten zur Begabung, in einem Spannungsverhältnis zur hierarchischen Struktur des Schulsystems im Kaiserreich und der darin stattfindenden sozialen Selektion. Bis zum Ersten Weltkrieg konnte die Empirische Pädagogik dennoch ausgebaut werden. Doch die Situation an Universitäten und im Bildungssystem insgesamt, nicht zuletzt die Heraus- lösung der praktischen ‚Oberlehrerausbildung‘ in eine eigenständige zweite Ausbildungs- phase, vergleichbar dem heutigen Referendariat, führte dazu, dass die an der Schule orien- tierte Richtung an Bedeutung verlor (Drewek 2010). 3.2 Die Entwicklung der Bildungsforschung in den 1960er-Jahren als Reaktion auf Probleme im Bildungssystem Die Ausrichtung der Pädagogik an der geisteswissenschaftlichen Disziplin bleibt bis in die 1960er-Jahre bestehen und ändert sich erst mit der Forderung nach der „realistischen Wende“ der Pädagogik von Heinrich Roth (1962). In dieser Zeit beginnt man, die realen Verhältnisse im Bildungswesen zu analysieren und sich dazu erfahrungswissenschaftli- cher Methoden zu bedienen. Die Proklamation einer notwendigen empirischen Wende kann man im Kontext mit der kritischen Betrachtung der Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems sehen. Ge- Was ist Empirische Bildungsforschung? 11 org Pichts (1964) viel beachtete Texte zur „Bildungskatastrophe“ legten die Mängel offen. Ein weitaus zu geringer Anteil an höheren Bildungsabschlüssen deutscher SchülerInnen, geringe Studierendenzahlen (insbesondere in den Naturwissenschaften), ein sich abzeich- nender eklatanter Mangel an qualifizierten LehrerInnen – die Liste der Defizite klingt aus den Diskussionen der vergangenen Jahre hoch vertraut. Eine wichtige Begründung einer weitreichenden Reform des Bildungswesens war schon bei Picht vorwiegend ökonomisch orientiert und von der Angst getrieben, dass Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung im internationalen Vergleich zurückfallen könne. Die internationale Konkurrenz und die Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums er- forderten ein leistungsfähiges Bildungssystem und eine deutliche Anhebung der Qualifi- kationen bei der jungen Generation, insbesondere in den naturwissenschaftlich-technischen Feldern. Diese Veränderungen werden als Bildungsexpansion bezeichnet. cc MERKSATZ Eine zweite Begründung für die Bildungsreform stellt die Erhöhung der Chancengleichheit im Bildungssystem dar, also die zumindest stärkere Berücksich- tigung der leistungsabhängigen Auslese und ein Eindämmen der sozialen Unter- schiede, die bestimmte Gruppen benachteiligt (vgl. Kap. X). Dieser Anspruch wird besonders prominent im Buch „Bildung als Bürgerrecht“ von Ralf Dahrendorf (1965) ausgedrückt. Die Kritik am Bildungswesen führt insgesamt zu weitreichenden Veränderungen im Bildungssystem, insbesondere der Bildungsexpansion. Sie geht auch mit dem Aufbau einer nun auch so genannten Bildungsforschung einher, die sich mit den realen Bildungsprozessen und -ergebnissen befasst (Fend 1990). Sehr bedeut- sam für die Entwicklung der Bildungsforschung ist in den 60er-Jahren des 20. Jahrhun- derts die Gründung von Forschungsinstituten, insbesondere die Gründungen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin (1963) und des (Leibniz-)Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften (1966). Während an außeruniversitären Insti- tuten begonnen wird, die Bildungswirklichkeit erfahrungswissenschaftlich zu erforschen, bleibt die universitäre pädagogische Forschung mehrheitlich nicht-empirisch. Das fortbestehende Spannungsverhältnis zwischen Empirischer Bildungsforschung und Pädagogik (Fend 1990) spiegelt sich auch auf der Ebene der Fachgesellschaften wi- der. Die „Arbeitsgruppe Empirisch Pädagogischer Forschung“ (AEPF) wird 1965 mit nur 17 Mitgliedern als eigene Vereinigung mit dem Ziel gegründet, für ein empirisch- analytisches Arbeiten im Bildungsbereich einzutreten. 1969 bindet sich die AEPF zwar an die „Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“ (DGfE). Sie hat aber bis heute ein eigenständiges Aufnahmeverfahren. In den Forschungsinstituten genauso wie in der AEPF als Fachgesellschaft entwickelt sich seit den 1960er-Jahren ein interdisziplinäres Verständnis von Bildungsforschung.Theoretisch und methodisch orientiert man sich eher an Psychologie, Soziologie und Ökonomie als an der Erziehungswissenschaft. Die Bildungsforschung befasste sich in den 1970er-Jahren dementsprechend mit der empirisch gestützten Bewertung – also der Evaluation – dieser Veränderungen (Fend 1982). Ein weiteres wichtiges Thema sind empirische Studien zur sozialen Selektivität des 12 C. Gräsel Bildungssystems und zur Bildungsbeteiligung. In dieser Zeit nimmt der Anteil der Arbei- ten der Empirischen Bildungsforschung an Universitäten stetig zu (Zedler und Döbert 2010). Den größten Anteil daran hat die Schul- und Unterrichtsforschung, die seit den 1980er-Jahren stark expandiert. Zuwächse erzielt ferner die Forschung zu Bildungspla- nung, also jenen Arbeiten, die sich mit der Nachfrage und dem Angebot von institutiona- lisierter Bildung befassen. Ein weiteres Thema von Bedeutung ist die größere Autonomie der einzelnen Schule, beispielsweise bei der Personalauswahl oder bei der Gestaltung von Förderangeboten, was zu einem deutlichen Aufschwung der Schulentwicklungsforschung führt. Nach der Wiedervereinigung ist schließlich der Vergleich der Bildungssysteme von Ost und West ein wichtiges Thema. Demgegenüber sinkt der Anteil der empirischen Pro- jekte, die sich mit Fragen der Sozialisation und der Jugendhilfe befassen. cc MERKSATZ Die 1970er-Jahre sind von Veränderungen im Bildungssystem und von den Experimenten zu neuen Schulmodellen (z. B. Gesamtschulen, Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe, neue Lehrpläne) geprägt (Fend 1990). Im Zusammen- hang damit kommt es zu einer ersten Expansion der Bildungsforschung. Allerdings kann sie an den Universitäten noch nicht in größerem Umfang verankert werden. 3.3 Die Entwicklung der Bildungsforschung seit der Jahrtausendwende Hinsichtlich der Teilnahme an internationalen Leistungsvergleichen war Deutschland bis Ende der 1990er-Jahre zurückhaltend. Man vertraute in die Leistungsfähigkeit des deut- schen Schulsystems, ohne sich auf empirische Evidenz zu stützen. Bereits die TIMS- Studie zeigte Ende der 1990er-Jahre, dass sich deutsche SchülerInnen mit ihren Kompe- tenzen sowohl in der Mittel- als auch in der Oberstufe im internationalen Vergleich bestenfalls in einem Mittelfeld bewegten (Baumert et al. 2000). Die Studie wurde aber in der Öffentlichkeit nicht so breit rezipiert und kommentiert wie die PISA-Studie zu Beginn des Jahrtausends (siehe oben). Das dort nachdrücklich belegte schlechte Abschneiden der SchülerInnen am Ende der Sekundarstufe I und die ebenfalls klare Evidenz für eine hohe soziale Selektivität des Bildungssystems ergab ein ähnliches Bild wie zu den Zeiten der ‚Bildungskatastrophe‘ in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Diesmal war die Befund- lage aber noch eindeutiger, weil nicht nur die formalen Zertifikate, z. B. erreichte Schul- abschlüsse, als Indikator für die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems verwendet und international verglichen wurden, sondern die Kompetenzen der SchülerInnen in den drei grundlegenden Bereichen Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften gemes- sen wurden. Diese Studien waren ein Anstoß dafür, die Empirische Bildungsforschung stärker auszubauen. Seit der Jahrtausendwende ist ein deutlicher Zuwachs an Forschungsprojekten zu kon- statieren, die der Empirischen Bildungsforschung zugerechnet werden (Zedler und Döbert 2010). Beispielsweise legte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 2001 eine För- Was ist Empirische Bildungsforschung? 13 derinitiative „Empirische Bildungsforschung“ auf (Prenzel 2005). Von der DFG gefördert sind ebenfalls die beiden Schwerpunktprogramme „Bildungsqualität von Schule“ (BI- QUA, von 1999–2006) und „Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergeb- nisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen“ (seit 2007). Ferner hat das Bundesmi- nisterium für Bildung und Forschung (BMBF) ein „Rahmenprogramm Empirische Bildungsforschung“ aufgelegt, das seit 2009 verschiedene Förderschwerpunkte ausweist. Auch das Nationale Bildungspanel (neps) war ursprünglich ein Projekt dieses Rahmen- programms; mittlerweile hat es die Struktur eines eigenen Forschungsinstituts in Bamberg (Lifbi – Leibniz-Institut für Bildungsverläufe). Diese Programme sollten dabei nicht nur konkrete Forschungsvorhaben fördern, son- dern verfolgten auch das Ziel der strukturellen Förderung der Bildungsforschung. Sie sollte durch eine gezielte Unterstützung der Qualifikation des wissenschaftlichen Nach- wuchses, durch eine Unterstützung der Internationalisierung und eine stärkere Vernetzung die Rahmenbedingungen erhalten, die für eine nachhaltige Entwicklung dieses For- schungsfelds erforderlich sind. Aber nicht nur auf der Bundes-, auch auf der Ebene einzel- ner Bundesländer gibt es eine Vielzahl von Projektförderungen für empirische Bildungs- forscher. Dementsprechend findet sich auch ein rapider Anstieg von Publikationen und Publikationsorganen (z. B. neu gegründete Zeitschriften, Hand- und Lehrbücher). Diese Entwicklung hat auch Konsequenzen auf der Ebene der personellen Ressourcen. Allein in den Jahren zwischen 2003 bis 2006 wurden 34 Professuren für Empirische Bildungs-, Schul- und Unterrichtsforschung an den Universitäten ausgeschrieben und besetzt (Krüger et al. 2008, S. 107). Überspitzt kann man sagen, dass die Empirische Bildungsforschung drei Anläufe brauchte, um sich an den Universitäten zu etablieren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts scheiterte sie als Empirische Pädagogik. Seit den 1960er-Jahren entwickelte sie sich vor allem an außeruniversitären Forschungsinstituten. An Universitäten wurden nur wenige Professuren bzw. Institute mit diesem Arbeitsschwerpunkt eingerichtet. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann sie sich – mit einer deutlichen Unterstützung der Bildungspoli- tik und der Wissenschaftsadministration – breiter etablieren. Auf der Basis der derzeitigen Entwicklung ist anzunehmen, dass es sich bei der Empi- rischen Bildungsforschung nicht um eine Modeerscheinung handelt. International hat sich eine evidence-based education durchgesetzt, also eine Gestaltung von Bildungssystemen und -institutionen, die sich an Ergebnissen empirischer Forschungen orientiert. Von diesen Entwicklungen wird auch die deutsche Bildungsforschung in den nächsten Jahren beein- flusst werden. Zudem kann die empirische Bildungsforschung auch in grundlagentheore- tischer Hinsicht weitere wichtige Anstöße zu den Entwicklungs-, Sozialisations- und Lernprozessen von Menschen geben. Generell bestehen für die Empirische Bildungsforschung positive Entwicklungsmög- lichkeiten. Allerdings können auch einige problematische Aspekte dieses Forschungsfelds ausgemacht werden. Die starke Anwendungsorientierung und der Anspruch, einen Beitrag zur Verbesserung des Bildungssystems zu leisten, bringt eine besondere Nähe zur Bil- dungsadministration mit sich. Ferner geht dies mit einer starken Fokussierung auf die 14 C. Gräsel Messung von Kompetenzen bzw. auf die Umsetzung einer Output-Orientierung im Bil- dungssystem einher, die mit dem Stichwort Ökonomisierung der Bildung ebenfalls kri- tisch zu betrachten ist. In Zukunft wird eine wichtige Aufgabe der Bildungsforschung darin bestehen, das Verhältnis zwischen wissenschafts- und erkenntnisorientierter Ent- wicklung und dem Bedürfnis nach Steuerungswissen durch die Abnehmer zu reflektieren und sich dazu zu positionieren. Ein zweiter kritischer Aspekt ist die starke Fokussierung auf das deutsche Bildungswesen bzw. auf Themen, die in den deutschsprachigen Ländern von besonderer Bedeutung sind. Es wäre eine wichtige Entwicklungsaufgabe für diese Forschungsrichtung, sich in Zukunft stärker zu internationalisieren. 4 Der Charakter der Empirischen Bildungsforschung: For- schungsfeld oder Disziplin? Seit den 1970er-Jahren und der ersten Wachstumsphase wird thematisiert, ob Empirische Bildungsforschung eine Teildisziplin der Erziehungswissenschaft, ein interdisziplinäres Feld oder eine eigene Disziplin ist. Betrachtet man, in welchen Instituten und Fachbereichen Empirische Bildungsforsche- rInnen an den Universitäten arbeiten, dann könnte dies zur These verleiten, die Empirische Bildungsforschung sei eine Teildisziplin der Erziehungswissenschaft. Viele entsprechende Professuren zählen an Universitäten zu den erziehungswissenschaftlichen Fachbereichen bzw. Instituten und haben häufig Stellen inne, die dieser Disziplin zugehören. Die in der Bildungsforschung verwendeten Theorien sind jedoch in der Regel keine genuin erzie- hungswissenschaftlichen, sondern vorrangig in der Psychologie oder in der Soziologie, aber auch in anderen Disziplinen beheimatet. Hinsichtlich der verwendeten Forschungs- methoden hat die Bildungsforschung ihre Impulse ebenfalls aus verschiedenen Sozialwis- senschaften erhalten. Das Aufschließen an die Standards empirischer Forschung in diesen Wissenschaften ist den prominenten Vertretern der Bildungsforschung von jeher ein zen trales Anliegen. Zu diesen theoretischen und methodologischen Differenzen kommen jene beiden Punkte, die das Verhältnis zwischen Bildungsforschung und Erziehungswissen- schaft von jeher spannungsreich hielten: die Unterschiede im zugrunde liegenden Bil- dungsbegriff und die Auseinandersetzung um Ressourcen, die für Forschung im Bildungs- und Erziehungsbereich zur Verfügung stehen. Insgesamt kann aufgrund der theoretischen, methodischen und normativen Unterschiede – man vergleiche die lang anhaltende Debatte um die unterschiedlichen Bildungsbegriffe – nicht sinnvoll von einer Empirischen Bil- dungsforschung als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft gesprochen werden. In der Empirischen Bildungsforschung selbst besteht insgesamt eher das Selbstver- ständnis eines interdisziplinären Arbeitsfelds (Prenzel 2005). Diese Position lässt sich be- reits in den grundlegenden Dokumenten des Deutschen Bildungsrats (1974) finden. Be- reits damals wurden die Erziehungswissenschaft, die Psychologie, die Soziologie und die Ökonomie als zentrale Referenzdisziplinen genannt. Die Besonderheiten des interdiszi plinären Arbeitsfeldes der Empirischen Bildungsforschung ergeben sich in dieser Sicht- Was ist Empirische Bildungsforschung? 15 weise durch ihren Gegenstandsbereich – „die Voraussetzungen, Prozesse und Ergebnisse von Bildung über die Lebensspanne, innerhalb und außerhalb von (Bildungs-)Institutio- nen“ (Prenzel 2005, S. 12). Weil die Bildungsforschung interdisziplinäre Kooperation vo- raussetzt, könnte es sinnvoll sein, die Rahmenbedingungen für eine problembezogene Zusammenarbeit zwischen den einschlägigen Disziplinen zu verbessern – z. B. durch Zen- tren für Empirische Bildungsforschung (Prenzel 2005). Dieses interdisziplinäre Verständ- nis der Empirischen Bildungsforschung verfolgt auch die Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung, die im Jahr 2012 gegründet wurde. Ihre Anliegen sind die Förderung des Austauschs der verschiedenen Disziplinen und die Förderung dieses interdisziplinären Forschungsfelds. Abschließend soll ein Ausblick auf die weitere Entwicklung gewagt werden. Es ist er- kennbar, dass die Empirische Bildungsforschung verschiedene Elemente entwickelt, die gemeinhin das Kennzeichen eigenständiger Disziplinen sind. Dazu gehören zunächst die wachsende Anzahl an Professuren mit entsprechender Denomination und die zahlreichen Forschungen, die explizit als ‚Empirische Bildungsforschung‘ gekennzeichnet sind. Dazu gehört ferner die Entwicklung eines eigenständigen Methodenrepertoires. Natürlich greift die Empirische Bildungsforschung auf das allgemeine Repertoire empirischer Erhebungs- und Auswertungsverfahren zurück und orientiert sich an den dort bestehenden Standards. Aber für die empirische Erforschung von Bildungsprozessen und -ergebnissen wurden in den letzten Jahren einige Aspekte weiterentwickelt bzw. haben sich eigenständige Stan- dards etabliert. Schließlich lässt sich ein zunehmend disziplinärer Gehalt der Empirischen Bildungsforschung auch daran erkennen, dass sie eigene Hand- und Lehrbücher entwickelt. Weiterführende Literatur Fend, H. (1990). Bilanz der empirischen Bildungsforschung. Zeitschrift für Pädagogik, 36, 687–710. Mandl, H. & Kopp, B. (2006). Impulse für die Bildungsforschung. Stand und Perspektiven. Berlin: Akademie-Verlag. Tippelt, R. & Schmidt, B. (Hrsg.). (2010). Handbuch Bildungsforschung (S. 23–45). Wiesbaden: VS Verlag. Literatur Allmendinger, J., Ebner, C. & Nikolai, R. (2010). Soziologische Bildungsforschung. In R. Tippelt & B. 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