Die Entwicklung der EU zwischen Zentrifugal- und Zentripetalkräften (PDF)

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Jürgen Kalb

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Europäische Union Zentrifugal- und Zentripetalkräfte EU-Politik Politikwissenschaft

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Dieser Artikel analysiert die Entwicklung der EU zwischen Zentrifugal- und Zentripetalkräften. Der Autor beleuchtet verschiedene Faktoren, die sowohl die Integration als auch die Fragmentierung der EU beeinflussen. Er erörtert die Attraktivität der EU und diskutiert Herausforderungen wie Brexit und Flüchtlingsströme.

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DIE ZUKUNFT DER EU: RÜCKBAU ODER VERTIEFUNG? 1. Die Entwicklung der EU zwischen Zentrifugal- und Zentripetalkräften JÜRGEN KALB B rexit und Flüchtlingsströme, europa- weiter Aufstieg der Rechts-Populisten...

DIE ZUKUNFT DER EU: RÜCKBAU ODER VERTIEFUNG? 1. Die Entwicklung der EU zwischen Zentrifugal- und Zentripetalkräften JÜRGEN KALB B rexit und Flüchtlingsströme, europa- weiter Aufstieg der Rechts-Populisten und horrende Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen Mitgliedstaaten der EU, Wirt- schafts-, Staatsschulden und Bankenkrise: Noch nie in ihrer Geschichte war die EU sol- chen Zentrifugalkräften ausgesetzt wie zurzeit. Kaum jemand glaubt noch an das bisherige »Weiter so!«. Kann sich die kri- sengeschüttelte EU in den nächsten Jahren wiederum neu aufstellen oder gar neu er- finden? Reicht das derzeitige »Europäische Mehrebenensystem« zur Problemlösung aus? Zweifel sind derzeit vor allem in den Medien en vogue, auch wenn die Geschichte der EU von Anfang an immer auch eine Kri- sengeschichte war. Die Attraktivität der EU Noch 2012 erhielt die EU den Friedensnobel- preis. Bei der Preisverleihung begründete Abb. 2 »Unser gemeinsames Haus Europa« © Klaus Stuttmann, 15.9.2016 das norwegische Nobelkomitee seine Ent- 3 scheidung mit der »stabilisierenden Rolle der EU bei der Umwandlung den größeren Markt das Wirtschaftswachstum beschleunigen Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem Kontinent des Frie- und damit den Wohlstand der EU-Bürger steigern. Ziel der EWG dens«. Die größte Errungenschaft der EU sei »ihr erfolgreicher Kampf war die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, in dem sich Wa- für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte.« ren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte frei bewegen Seit den Römischen Verträgen hatte sich die Europäische Wirt- konnten. Durch die Euratom sollte eine gemeinsame Entwicklung schaftsgemeinschaft (EWG, 1957 unterzeichnet) von ursprünglich zur friedlichen Nutzung der Atomenergie stattfinden. EGKS, EWG sechs auf zunächst neun (Norderweiterung, 1973) vergrößert. und Euratom hatten zunächst jeweils eine eigene Kommission Eine gezielte wirtschaftliche Verflechtung, zunächst im Bereich und einen eigenen Rat. Mit dem sogenannten Fusionsvertrag Kohle und Stahl (Vorläufer der EWG: EGKS, Montanunion, 1951), wurden diese Institutionen 1967 jedoch zusammengelegt und sollte militärische Konflikte für die Zukunft verhindern und durch nun als Organe der Europäischen Gemeinschaften (EG) bezeich- net. In den 1980er Jahren folgten Griechenland (1981), Portugal und Spanien (beide 1986) als Neumitglieder. Diese Staaten hatten teils schon seit lan- gem eine Annäherung an die Europäischen Gemeinschaf- ten gesucht, waren jedoch wegen ihrer autoritären Re- gierungen nicht zugelassen worden. Erst nach erfolgrei- chen Demokratisierungspro- zessen konnten sie beitre- ten. Das Ende der Ost-West-Kon- frontation und die damit im Zusammenhang stehende Wiedervereinigung Deutsch- lands führten zu weiteren In- Abb. 1 Die Zukunft der Europäischen Union: Trend; »Würden Sie sagen, dass Sie die Zukunft der EU sehr optimistisch, ziem- tegrationsschritten: lich optimistisch, ziemlich pessimistisch oder sehr pessimistisch sehen?© Eurostat (2016): Standard-Eurobarometer 86, Die öffentliche Am 7. Februar 1992 wurde der Meinung in der Europäischen Union, Herbst 2016, S. 19 Vertrag von Maastricht zur D&E Heft 73 · 2017 D i e E n t w i c k l u n g d e r E U z w i s c h e n Z e n t r i f u g a l- u n d Z e n t r i p e t a l k r ä f t e n due73_inhalt.indd 3 21.03.17 13:35 JÜRGEN KALB Blockade europäischer Ent- scheidungsprozesse entge- genzuwirken. Integrations- willige Mitgliedstaaten konn- ten nun in einzelnen Bereichen tiefergehende Ei- nigungsschritte vollziehen, auch wenn sich die übrigen EU-Staaten nicht beteiligten: Als Vorbild dienten hierfür das Schengener Abkommen und die Währungsunion. Al- lerdings stieß dieses Konzept eines »Europas der verschie- denen Geschwindigkeiten« auch auf Kritik, da es die EU zu spalten drohe. Ein weiterer Problempunkt war die Ar- beitseffizienz der Europäi- schen Kommission: Stellten bis 2004 einzelne Mitglied- staaten noch zwei Kommis- sare, wurde deren Anzahl nach der Osterweiterung auf einen Kommissar pro Land reduziert – dennoch wuchs die Kommission von neun Mitgliedern 1952 bis auf 27 Mitglieder 2007 und schließ- lich 28 an. 2001 beschlossen daher die Staats- und Regierungschefs der EU die Einberufung eines Europäischen Konvents, der einen neuen Grundvertrag 4 ausarbeiten sollte, mit dem Abb 3 Grundpfeiler der EU: Der Vertrag von Maastricht, 1992 © dpa, Infografik die Entscheidungsverfahren der EU effizienter und zu- Gründung der Europäischen Union (EU) unterschrieben. In dem gleich demokratischer werden sollten. Im Oktober 2004 wurde Vertrag wurde zum einen die Gründung einer Wirtschafts- und dieser Verfassungsvertrag in Rom unterzeichnet. Er sah unter an- Währungsunion beschlossen, die später zur Einführung des Euro derem eine Auflösung der EG und die Übertragung ihrer Rechts- führte; zum anderen beschlossen die Mitgliedstaaten eine engere persönlichkeit an die EU, eine Ausweitung der Mehrheitsentschei- Koordinierung in der Außen- und Sicherheitspolitik und im Be- dungen, eine Verkleinerung der Kommission sowie eine bessere reich Inneres und Justiz. Zugleich wurde die EWG in Europäische Koordinierung der Gemeinsamen Außenpolitik vor. Die Ratifika- Gemeinschaft (EG) umbenannt, da sie nun auch Zuständigkeiten tion des Verfassungsvertrags scheiterte jedoch, da ihn Franzosen in anderen Politikbereichen als der Wirtschaft erhielt (etwa in der und Niederländer in einem Referendum ablehnten. Stattdessen Umwelt- und Verbraucherschutzpolitik). erarbeitete daher eine Regierungskonferenz im Jahr 2007 den Durch das Ende des Ost-West-Konfliktes geriet auch die Überwin- Vertrag von Lissabon, der die wesentlichen Inhalte des Verfas- dung der politischen Spaltung Europas in den Blickpunkt der EU. sungsvertrages übernahm. Am 1. Dezember 2009 trat der Vertrag Schon zuvor war sie durch mehrere Erweiterungsrunden von von Lissabon in Kraft. sechs auf fünfzehn Mitglieder angewachsen; nun sollten auch die Wesentliches Ziel des Vertrags von Lissabon (ebenso wie des ge- mittel- und osteuropäischen Länder Teil der Union werden. Hier- scheiterten Verfassungsvertrags) war eine Reform des politischen für legten die EU-Mitgliedstaaten 1993 die sogenannten »Kopen- Systems der EU. Dabei sollten einerseits die internen Koordinati- hagener Beitrittskriterien« fest, mit denen Demokratie, Markt- onsmechanismen ausgebaut und die Vetomöglichkeiten einzel- wirtschaft, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und die bür- ner Mitgliedstaaten reduziert werden, um die EU nach der Oster- gerlichen Grundfreiheiten als Grundwerte der Union definiert weiterung 2004 handlungsfähig zu halten; andererseits sollten wurden. 2004 und 2007 kam es schließlich zu den beiden Oster- die Rechte des Europäischen Parlaments gestärkt werden, um die weiterungen, bei denen zwölf neue Mitglieder in die EU aufge- demokratische Legitimation der EU zu erhöhen. Der Lissaboner nommen wurden. 2015 trat schließlich Kroatien bei. Vertrag sollte zudem die EU fit für die Aufnahme weitere Mitglied- Durch die Erweiterungsrunden drohte allerdings die politische staaten machen. Handlungsfähigkeit der EU zunehmend eingeschränkt zu werden: Nach Art. 49 EU-Vertrag kann jeder europäische Staat, der die Erste Anpassungsreformen gab es Agrarsektor, bei der regiona- Werte der EU achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, die EU- len Strukturförderung und bei der Modifizierung des Briten- Mitgliedschaft beantragen. Nach gängigem Verständnis ist die rabatts. Im Hinblick auf das Institutionengefüge waren sie je- Bezeichnung »europäisch« dabei im weiten Sinn zu verstehen und doch nur teilweise erfolgreich: Die Veto-Möglichkeiten für ein- schließt etwa auch die geographisch in Asien liegenden Mitglie- zelne Mitgliedstaaten hätten eine Vielzahl von Entscheidungen der des Europarats ein. Der Beitritt kann jedoch nur dann vollzo- blockieren können. Mit der Einführung des Verfahrens der ver- gen werden, wenn die sogenannten Kopenhagener Kriterien er- stärkten Zusammenarbeit durch die Verträge von Amsterdam füllt sind. Um diese Bedingungen zu erfüllen, gewährt die EU den und Nizza wurde eine Möglichkeit entwickelt, um einer solchen Beitrittskandidaten sowohl beratende als auch finanzielle Hilfen. D i e E n t w i c k l u n g d e r E U z w i s c h e n Z e n t r i f u g a l- u n d Z e n t r i p e t a l k r ä f t e n D&E Heft 73 · 2017 due73_inhalt.indd 4 21.03.17 13:35 Im Rahmen von Beitrittspartnerschaften wird so auf die Angleichung an EU-Standards hingearbeitet. Den Abschluss eines Beitritts- verfahrens bildet ein Beitrittsvertrag, der von allen EU-Mitgliedstaaten, dem Beitrittskan- didaten und dem Europäischen Parlament ratifiziert werden muss. Grundsätzlich wird in der Fachterminologie zwischen »Beitritts- kandidaten« und »potenziellen Beitrittskan- didaten« unterschieden. Aktuell gibt es fünf Beitrittskandidaten. Seit 2005 wird mit der Türkei verhandelt. Im Dezember 2005 wurde Mazedonien der Status eines Beitrittskandi- daten zuerkannt, wobei der Termin für den Beginn der Verhandlungen noch offen ist. Montenegro wurde im Dezember 2010, ge- nau zwei Jahre nach der Antragstellung eben- falls zum offiziellen Kandidaten ernannt. Al- banien und Serbien reichten im April bzw. Dezember 2009 ihre Beitrittsanträge ein. Serbien wurde am 1. März 2012 formal als Bei- trittskandidat anerkannt und Albanien am 24. Juni 2014. Ein weiteres potenzielles Be- werberland auf dem westlichen Balkan ist Abb 4 »Freiheit!« Die EU nach dem Brexit © Gerhard Mester, 2016 Bosnien und Herzegowina, das am 15. Feb- ruar 2016 formell den Beitritt beantragte. Eine Sonderrolle nimmt ropäischen Binnenmarkt. Europafeindliche Strömungen paarten der Kosovo ein, dessen Unabhängigkeit nur von 23 der 28 EU-Mit- sich mit fremdenfeindlichen Kampagnen, was insbesondere die gliedstaaten anerkannt wird. Befürworter der Aufnahme betonen rund 800.000 polnischen Migranten zu spüren bekamen, die seit insbesondere für die Balkanstaaten die friedensstiftende und – der Osterweiterung im Jahre 2004 im Rahmen der »vier Freiheiten sichernde Funktion einer solchen Integration. des Binnenmarktes« nach Großbritannien emigriert waren. Allerdings scheinen derzeit die Chancen der Beitrittskandidaten, Trotz der entgegengesetzten Position der ansonsten mächtigen zeitnah in die EU aufgenommen zu werden, sehr gering. Nach der multikulturellen Londoner City, dem führenden Finanzplatz Euro- Volksabstimmung in Großbritannien vom 23. Juni 2016 droht für pas, verfingen die Argumente des rechtspopulistischen Lagers einige Beobachter sogar eher eine Austrittswelle, nicht nur, weil insbesondere bei jenen Gruppen der Bevölkerung, die sich vom in vielen Mitgliedstaaten starke rechtspopulistische Strömungen Globalisierungsprozess »abgehängt« fühlen, so dass gerade die Volksabstimmungen anstreben. ärmeren, sozial benachteiligten und schlechter ausgebildeten 5 Schichten für den Brexit gestimmt haben. Nicht nur das gegen- sätzliche Wahlverhalten auf dem Land und in den Städten, auch Welche Zentrifugalkräfte bedrohen aktuell die geografische Verteilung der Brexit-Stimmen, also die Häufung den Zusammenhalt der EU? dieser Stimmen in den Midlands und in Teilen von Wales – unter anderem in den verwüsteten Industrielandschaften, die wirt- (1) Der »Brexit« schaftlich nicht wieder auf die Beine gekommen sind –, sprechen für die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen des Brexits. Die Das politische Bewusstsein einer globalen Großmacht, die im Wahrnehmung der drastisch gewachsenen sozialen Ungleichheit 20. Jahrhundert zweimal siegreich war, aber weltpolitisch im Ab- und das Gefühl der Ohnmacht, dass die eigenen Interessen auf stieg begriffen ist, war stets ein anderes als das des europäischen der politischen Ebene nicht mehr repräsentiert werden, schaffen Kontinents. Das spiegelte sich schon im Blick Churchills wider, den Motivationshintergrund für die Mobilisierung gegen Fremde, der 1946 in seiner Zürcher Europa-Rede, als er das britische Em- die Abkehr von Europa sowie den Hass auf Brüssel. pire in der Rolle des wohlwollenden Paten eines Vereinigten West- europas gesehen hatte – aber eben nicht als dessen Teil. Aber auch die politischen Eliten von Thatcher über Blair bis Cameron (2) Zunahme der Flüchtlingsströme in die EU seit 2015 dachten gar nicht daran, sich von einem distanzierten Blick auf und der Aufstieg des Rechtspopulismus das Festland zu verabschieden. Stets wurde »Brüssel« als Ursache für ökonomische Miseren und Überbürokratisierung gegeiselt. Antieuropäische und rechtspopulistische Stimmungen zeigten Angebliche nationale Interessen standen stets im Widerspruch sich aber keineswegs nur auf den britischen Inseln. 2015 versuch- zur Politik der Europäischen Union. Legendär wurde etwa Marga- ten insgesamt mehr als eine Million Personen die Einwanderung rete Thatchers Satz »I want my money back«, mit dem sie den so- über das Mittelmeer in die EU. Rund 900.000 kamen in Griechen- genannten Britenrabatt in der EU durchsetzte. Gegenüber der land an, 150.000 Flüchtlinge landeten nach Schätzungen des UN- Union wurden auch im »Remain-Lager« regelrechte Angstkam- HCR in Italien. Heribert Prantl sprach in der Süddeutschen Zei- pagnen (Habermas, 2016) geschürt. Dabei verfochten die Bri- tung bereits im August 2015 von einem »Jahrhundert-Problem« ten auch unter dem Labour-Premier Tony Blair stets eine entschie- (Prantl, 2016). Dabei erwiesen sich die europäischen Staaten und den marktliberale Vorstellung von der EU, die zwar eine Er- die Europäische Union bei der Begrenzung und Koordinierung der weiterung befürwortete, aber keinesfalls an eine Vertiefung hin Flüchtlingsbewegung nach Europa tatsächlich oft als hilflos und zu einer politischen Union dachte: Kein Beitritt zum Schengen- überfordert. Angela Merkels Entscheidung vom 4. September Abkommen, kein Beitritt zum Euro und der damit verbundenen 2015, den an der österreichisch-ungarischen Grenze und in Buda- Wirtschafts- und Währungsunion. Im Brexit-Lager machte sich pest festsitzenden Flüchtlingen vor allem aus Syrien und Afgha- zudem zunehmend Fremdenfeindlichkeit breit, die Weigerung zur nistan die Einreise nach Deutschland ohne Registrierung durch Aufnahme von Flüchtlingen über die Balkanroute und Forderun- Ungarn und damit entgegen dem Dublin-Abkommen zu gestat- gen nach Einschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit im eu- ten, fand nicht nur großes positives Echo in den Medien innerhalb D&E Heft 73 · 2017 D i e E n t w i c k l u n g d e r E U z w i s c h e n Z e n t r i f u g a l- u n d Z e n t r i p e t a l k r ä f t e n due73_inhalt.indd 5 21.03.17 13:35 JÜRGEN KALB viel mehr Kompetenzen als früher, um mitzu- machen: habituell, intellektuell und sprach- lich. Und wer nicht mitkommt, der ist raus aus dem politischen Prozess. »Und diese Verlie- rer erinnern sich jetzt, wie »wunderbar das war«, als scheinbar politische Partizipation noch mit dem Wahlkreuz ging, als Alternativen noch einfach schienen. Volksabstimmungen wie das Brexit-Re- ferendum suggerieren ihnen: Du bist wieder dabei! Du musst auch gar nicht so viel wissen und können, um dabei zu sein: Du machst einfach ein Kreuz auf dem Stimmzettel. Sogar bisherige Nichtwähler werden von rechtspopulistischen Strömungen europaweit wieder an die Wahlurne gelockt.« (ebenda) Dazu kam die globale Finanzkrise, die mit bei der Immobilienkrise in den USA begann und sehr schnell deutlich machte, wie eng global agierende Groß- und Schattenbanken eine in den 90er Jahren begonnene Deregulierung der internationalen Bankenaufsicht ausge- nutzt hatten. In den Folgejahren wuchs sich diese Finanz- und Bankenkrise global zur Weltwirtschaftskrise aus, die sich historisch nur mit der Weltwirtschaftskrise der Jahre Abb. 5 »Gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik: Warnung an die IAA (Internationale 1929ff vergleichen lässt. Auch und gerade in Automobilausstellung)« © Heiko Sakurai, 18.9.2015 der Europäischen Union reagierten die Mit- gliedstaaten durchweg mit Bankenrettungs- Deutschlands. Es ging sehr schnell nicht nur darum, Menschen zu aktionen in Milliardenhöhe sowie keynesianisch motivierten Kon- retten und würdig zu behandeln, die Schutz vor Krieg und Verfol- jukturstützungsprogrammen. Eine horrende Staatsverschuldung gung in den Nachbarländern Syriens oder eben in der Europäi- war die unmittelbare Folge, die insbesondere in den struktur- und schen Union suchen, kurz die europäische Wertegemeinschaft exportschwachen südlichen Mitgliedstaaten enorme Defizite bei solidarisch umzusetzen. Es ging auch sehr schnell darum, eine der Refinanzierung, d. h. der Steuererhebung offenbarten. Insbe- politische Gemeinschaft zu retten, die ihren Gemeinsinn so gut sondere in Griechenland weitete sich dies zu einer massiven politi- wie verloren zu haben scheint. Die Bilder applaudierender Men- schen Krise aus, die insbesondere in den deutschen Medien als 6 schen am Münchner Hauptbahnhof im Zeichen einer »Willkom- sogenannten »Euro-Krise« diskutiert wurde. menskultur« und jene von Stacheldrahtzäunen zuerst an der un- Zur Rettung der »PIGS-Staaten« (Portugal, Italien, Griechenland garisch-serbischen Grenze passten emotional nicht zusammen. und Spanien) empfahl die Europäische Union auf deutschen und Aussagen aus Osteuropa, wenn überhaupt, dann nur Christen, nordeuropäischen Druck schließlich eine Austeritäts- und Spar- nicht aber Muslimen Schutz gewähren zu wollen, erzeugen im politik mit wachsender Aufsicht der nationalen Haushalte im Rah- liberal geprägten Westen des Kontinents, vor allem in Deutsch- men eines »Europäischen Semesters«, was zwar zur Kooperation land, oftmals für Fassungslosigkeit. Zunehmend zeichnet sich ab, mit dem IMF führte, aber auch zur deutlichen Delegitimierung der dass Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei eine Allianz bil- Kreditkonditionen und zu nationalen politischen Krisen. den, die trotz parteipolitischer Unterschiede funktioniert. Die Dabei offenbarte diese Entwicklung nunmehr überdeutlich, dass sogenannten Visegrád- Staaten bilden einen Kern unter den ehe- sich der durch die Globalisierung seit langem im Gang befindliche maligen Ostblockstaaten. Die »Migrationskrise« hat sie erst rich- Prozess der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich nicht nur tig zusammengeschweißt. zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch innerhalb der Ge- Wenn Politiker aus den Visegrád-Staaten von »Sicherheit« reden, sellschaften drastisch verschärft hatte. Insbesondere die auf EU- dann meinen sie vor allem »Schutz vor Migranten«. und Banken-Kredite angewiesenen Mitgliedstaaten setzten die Dabei ist der Aufstieg nationalkonservativer, rechtspopulistischer geforderten Sparmaßnahmen in ihren öffentlichen Haushalten sowie rechtsradikaler Bewegungen keineswegs nur ein osteuro- durch dramatische Kürzungen im Sozial- und Bildungsetat um, päisches Phänomen. Längst haben sie Gründungsmitglieder der der im europäischen Mehrebenensystem nach wie vor Gegen- EWG wie Frankreich, die Niederlande und Deutschland erfasst, stand der nationalen Haushalte geblieben ist. Gleichzeitig unter- wenn ihre parlamentarischen Vertretungen bislang auch noch boten sich viele Mitgliedstaaten in einer Strategie der »flat-tax« nicht in den nationalen Regierungen sitzen. für international agierende Industrie- und Handelsunternehmen, was die Haushaltslage weiter verschärfte. Zudem setzte der boo- mende asiatische Exportmarkt, »Werkbank der Globalisierung«, (3) Folgen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise insbesondere den PIGS-Staaten und deren Industrien zu. 2007ff Neben enormen Leistungsbilanzdefiziten zeigte und zeigt sich die ganze Dramatik der Situation in einer horrend gestiegenen Die Globalisierung und der Freihandel machen zwar viele reich. Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen Mitgliedstaaten, die zum Aber zahlreiche Menschen verloren auch die gewohnte soziale Si- Teil weit über 50 Prozent eines Jahrgangs betrifft. Schon ist die cherheit bzw. rutschten in prekäre Beschäftigungsverhältnisse Rede von einer »Lost generation«, die sich naturgemäß zu einer ab. Zudem ist in allen europäischen Staaten eine Ablösung von gesellschaftlichen und politischen Krise auszuwachsen zeigt. »Government« durch »Governance« zu beobachten (Münkler, Nicht nur in Griechenland, Spanien und Italien sind die traditio- 2016). Es ist nicht mehr nur eine Regierung, die Politik macht, nellen Volksparteien erodiert und neue links- oder rechtspopulis- sondern ein riesiges und für viele undurchschaubares Netzwerk tische Bewegungen ersetzt worden. Mit am besorgniserregenden von Akteuren: Unternehmen, Lobbyisten, Parteien und Nichtre- ist dabei der Aufstieg des rechtsradikalen »Front National« im gierungsorganisationen. Als Bürgerin und Bürger braucht man EWG-Gründungsstaat Frankreich. D i e E n t w i c k l u n g d e r E U z w i s c h e n Z e n t r i f u g a l- u n d Z e n t r i p e t a l k r ä f t e n D&E Heft 73 · 2017 due73_inhalt.indd 6 21.03.17 13:35 (4) Delegitimierung des Institutionengefüges der EU Der gescheiterte Verfassungsvertrag der EU (2004) versuchte ebenso wie der bis heute gültige Lissaboner Vertrag (2009) der EU die Gemeinschaft auf die Aufnahme weiterer Mitglieder, damals vor allem aus dem ehe- maligen »Ostblock«, vorzubereiten und die EU handlungsfähig zu gestalten. Der zu Be- ginn dieses Beitrags dargestellte Prozess der europäischen Einigung hatte ja bereits ge- zeigt, wie kompliziert es war und ist, aus ei- nem Staatenbund, (Charles de Gaulle: »Ein Europa der Vaterländer«), eine wachsende Vergemeinschaftung, aber nach Ansicht vie- ler Mitgliedstaaten noch lange keinen »Bun- desstaat« herzustellen. Europäische Födera- listen scheinen nach wie vor eine Minderheit in der EU darzustellen. Bemühungen der EU um die Herausbildung einer europäischen Identität (Kalb in: Bergmann, 2016) scheinen bis heute eher von bescheidenem Erfolg ge- Abb 6 »Europäische Visionen« © Thomas Plaßmann, 2016 prägt, wenn es auch laut Eurobarometerum- fragen bei rund der Hälfte der Unionsbürge- durch die Europäische Bürgerinitiative gestärkt, d. h. hierfür müs- rinnen und -bürger immerhin zu einer multiplen Identität sen in zwölf Monaten insgesamt eine Million gültige Unterstüt- (»sowohl nationale als auch europäische Identität«, Fuchs, 2013) zungsbekundungen in einem Viertel aller EU-Mitgliedstaaten ge- geführt hat. sammelt werden. Allerdings können die Unionsbürger damit auch Der Konstanzer Politikwissenschaftler Sven Jochem beschreibt in nur bewirken, dass sich die Europäische Kommission mit einem seinem Beitrag »Die Europäische Union und das Demokratiedefizit. Wer bestimmten Thema befasst. hat in der EU das Sagen?« die Komplexität der Entscheidungsfin- Die politische Partizipation der Bürgerinnen und Bürger ist damit dung in der EU sowie die Schwierigkeiten bei einer möglichen Re- auf europäischer Ebene intransparenter, wenn nicht gar ohn- form. mächtiger als dies auf nationaler Ebene bereits der Fall ist. Für grundlegende Veränderungen und die Aufnahme neuer Mit- Wenig Beachtung findet in der Öffentlichkeit zudem der zweite glieder ist nach wie vor das Einstimmigkeitsprinzip im Europäi- Gesetzgeber auf europäischer Ebene, der Rat der Europäischen schen Rat, also dem Rat der (noch) 28 Staats- und Regierungs- Union, also der jeweilige Rat der 28 nationalen Fachminister, der 7 chefs, nötig. Andererseits wurden die Rechte des Europäischen ebenso wie das Europäische Parlament alle Verordnungen und Parlaments seit 2009 deutlich gestärkt, so dass nahezu keine Ent- Richtlinien ratifizieren muss, bevor sie dann durch die nationalen scheidung in der EU mehr ohne sein Zutun getätigt werden kann. Parlamente in nationales Gesetz umgesetzt werden können. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass eine Wahlbeteiligung bei Eine Reform dieses Institutionengeflechts (König, 2016: »Wider Europawahlen von zuletzt 43 Prozent (2014) einen deutlichen den Kuhhandel«) oder gar eine Demokratisierung scheinen hier Schatten auf die Legitimation dieser zudem von den Medien in dringend erforderlich, wenngleich auch aufgrund der unter- Europa wenig beachteten Institution wirft. schiedlichen Interessenlage der Mitgliedstaaten eher unwahr- Wenn von »Brüssel« die Rede ist, denken viele in erster Linie an scheinlich. Prinzipiell mögliche Mehrheitsentscheidungen, bei die Europäische Kommission und ihre 28 Kommissare. Nach wie denen einzelne Mitgliedstaaten überstimmt werden könnten, vor stellt jedes EU-Mitglied – trotz gegenteiliger Reformverspre- sind nach wie vor die Ausnahme. chungen – einen eigenen Vertreter mit eigenem nationalen Profi- lierungsbestreben. Überregulierung durch Brüssel ist demgemäß der mantraartig wiederholte Vorwurf. Noch gravierender scheint Wer sind nun aber die Zentripetalkräfte, der Vorwurf der allenfall indirekten demokratischen Legitimie- die die EU zusammenhalten? rung der Kommission. Ihre Wahl und Kontrolle durch das Europä- ische Parlament ist nur eine mittelbare, auch wenn 2014 verspro- Traditionell war das EU-Projekt bisher ein klassisches Elitenpro- chen und umgesetzt wurde, dass der Kommissionspräsident der jekt. Volksbefragungen direkt nach dem Zweiten Weltkrieg hät- Spitzenkandidat einer der großen europäischen Parteien sein ten sicher wohl nicht unmittelbar zur EGKS, zur »Europäischen soll, wird das Amt doch durch den Europäischen Rat vorgeschla- Gemeinschaft für Kohle und Stahl« geführt. Wollten die Vertreter gen und die einzelnen Kommissare gemäß den nationalen partei- Westdeutschlands, der Bundesrepublik Deutschland, möglichst politischen Machtverhältnissen besetzt. Faktisch ist deshalb rasch in die westliche Staatengemeinschaft integriert werden, so stets eine Große Koalition der Europäischen Volkspartei sowie ging es den restlichen fünf Gründerstaaten insbesondere um eine der Sozialdemokraten bzw. Sozialisten Europas in der Kommis- Kontrolle kriegswichtiger westdeutscher Kohle- und Stahlpro- sion im Amt. Die Opposition im EP findet deshalb bislang wenig duktion. Dazu kam der Wunsch nach einer Solidargemeinschaft Beachtung bzw. wird für viele von den auch im EP vertretenen EU- gegen die Sowjetunion und ihre nach 1945 unterdrückten Satelli- Kritkiern und Rechtspopulisten besetzt. tenstaaten im sogenannten »Ostblock«. Dazu kommt, dass die Kommission nach wie vor das alleinige Ge- Mit dem ökonomischen Wiedererstarken der Bundesrepublik setztesinitiativrecht besitzt, aber auch noch die Vertragstreue der wuchs zudem der Wunsch der ökonomischen Eliten nach einem Mitgliedstaaten überwachen soll. Thomas König (2016) spricht gemeinsamen Markt, der schließlich im Europäischen Binnen- hier von einer »Doppelfunktion (…) als Agendasetzer und Über- markt mit seinen vier Grundfreiheiten und schließlich in der Wirt- wacher europäischer Regeln«, was zu »erheblichen Verwerfun- schafts- und Währungsunion, der Gründung der Eurozone, seinen gen« führen müsse, gerade im Bewusstsein der EU-Bürgerinnen vorläufigen Abschluss fand. Geprägt waren diese Prozesse durch und -Bürger. Deren unmittelbare Mitwirkungsrechte wurden zwar eine Vielzahl von Gipfeltreffen der jeweiligen Staats- und Regie- D&E Heft 73 · 2017 D i e E n t w i c k l u n g d e r E U z w i s c h e n Z e n t r i f u g a l- u n d Z e n t r i p e t a l k r ä f t e n due73_inhalt.indd 7 21.03.17 13:35 JÜRGEN KALB weist. Hier drohen der EU mittelfristig enorme Legiti- mationsprobleme. Im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nord-Irland setzt sich auch nach der Brexit-Volksabstim- mung die Diskussion um den Austritt in neuer Härte fort. Der Journalist Udo Seiwert- Fauti zeigt auf, welche Wi- derstände die schottische Regionalregierung London hier entgegenbringt. Und der französische Professor Emi- liano Grossmann zeigt, wie fragil die Stimmungslage ge- rade im Wahlkampf in Frank- reich mit seinem Präsidial- system geworden ist. Der rechtsextreme »Front natio- nal«, so wird befürchtet, scheint zur stärksten Partei – zumindest im ersten Durch- gang der Wahlen – zu wer- den. Abb 7 »Das gemeinsame Haus EUROPA« © Gerhard Mester, 28.11.2016 Aber auch die Entwicklungen in den Visegrád-Staaten ge- rungschefs, aber auch dem von der Öffentlichkeit wenig beachte- ben Anlass zur Sorge. Beschränkungen der Verfassungsgerichts- ten beständigen Lobbyismus transnational agierender global barkeit und der Pressefreiheit beunruhigen die EU-Instanzen in Players, die sich z. B. im ERT, dem »European Round Table of In- Brüssel und Straßburg ebenso wie die Weigerung dieser Staaten, dustrialists« (»Europäischer Runder Tisch Industrieller«), ei- ihnen zugewiesene Flüchtlingskontingente aufzunehmen. Dabei ner Lobbyorganisation von rund 50 Wirtschaftsführern großer stellt sich hier die Frage, ob die EU überhaupt rechtlich und poli- europäischer multinationaler Unternehmen mit Sitz in Brüssel tisch in der Lage ist, Sanktionen gegenüber z. B. Ungarn und zusammengeschlossen haben. Ziele des Forums war uns ist das Polen durchzusetzen. Und schon taucht wieder die Frage auf, ob 8 Entwickeln langfristiger wirtschaftsfreundlicher Strategien und sich eine weitere Integration bzw. Vertiefung nicht auf ein Kern- die Organisation von Treffen mit Mitgliedern der Europäischen europa beschränken müsse, ein Europa der »zwei Geschwindig- Kommission, einzelnen Kommissaren oder dem Kommissions- keiten« also nur die Lösung sein könne. Ich selbst habe mich die- präsidenten, um die Richtung des Integrationsprozesses inner- ser Thematik in meinem Beitrag, Jürgen Kalb: »Die Visegrád-Gruppe halb der EU zu gestalten. und die Zukunft der EU: Kerneuropa als Alternative?« gewidmet. Spätestens mit den Widrigkeiten bei der Ratifizierung des Lissa- Eine weitere Diskussion schwelt gerade unter der Oberfläche der boner Vertrags, den vorausgegangenen Volksabstimmungen öffentlichen Aufmerksamkeit, zumindest in Deutschland: Insbe- über den Verfassungsvertrag, der Staatsschuldenkrise sowie dem sondere im Süden Europas droht eine »lost generation«, eine Brexit scheint das europäische Projekt an seine Legitimations- Generation von jungen Menschen, die von Europa und seiner Po- grenzen zu geraten, auch wenn zunehmend zivilgesellschaftli- litikzutiefst enttäuscht sind, die an das Aufstiegs- und Wohl- che Organisationen aus dem Umweltschutz und Verbraucher- standsversprechen der EU nicht mehr glauben können und wol- schutz und die europäischen Gewerkschaften sich unüberhörbar len, die Mobilität nur noch als notwenige Zwangsmigration, als für eine europäische Einigung und die Demokratisierung Europas »Brain train« in die florierenden Metropolen Nord- und Mitteleu- eingesetzen. Zahlreiche Begegnungsprogramme der EU haben ropas, erleben. zudem zum kulturellen und sozialen Austausch beigetragen, wo- Allenthalben macht sich hier auch noch Fremdenfeindlichkeit bei vielleicht die Erasmus-Programme die bekanntesten sind. breit, eine Abwehrhaltung gegenüber der Arbeitnehmerfreizügig- Nach wie vor scheint europaweit nicht nur den ökonomischen Eli- keit, die längst nicht nur Großbritannien erfasst hat. ten überdeutlich, dass im globalen Wettbewerb nur ein geeintes, Europäische Sonntagsreden und Hochglanzbroschüren werden den Nationalstaat überwindendes Europa den Herausforderun- der Sachlage schon lange nicht mehr gerecht. Wie in West- gen durch Nordamerika und Asien Paroli bieten kann. Ein Zurück deutschland nach 1945 muss innerhalb der EU auch das soziale zu einem romantisch verklärten sowie nachträglich idealisierten Aufstiegsversprechen wieder eingelöst werden. Bildungsoffen- Nationalstaat scheint noch immer höchstens einer Minderheit als siven müssen ebenso wie die ökologische Schonung des dicht erstrebenswertes und realistisches Ziel. besiedelten europäischen Raumes zur gesamteuropäischen Auf- Aber nicht nur in den USA und Großbritannien äußern sich zuneh- gabe erklärt und umgesetzt werden. Dabei kann dies durchaus in mend jene Stimmen, die sich für eine Renaissance des Protek- nationaler und regionaler Verantwortung im Rahmen des europä- tionismus, vor allem aber der Einschränkung der Personenfrei- ischen Mehrebensystems geschehen. zügigkeit einsetzen. Der Pforzheimer Professor Dirk Wentzel Dies bedeutet aber auch, dass die Ressourcen zur Verfügung ste- untersucht in seinem Beitrag »Quo vadis EU? Ökonomische Pers- hen müssen, d. h. die bislang vor allem profitierenden transnatio- pektiven Europas« deshalb die Risiken der Abschottung vom nalen Unternehmen und Exportnationen wie die Bundesrepublik Weltmarkt, während der Tübinger Professor Hans-Jürgen Bieling Deutschland im Sinne der Stabilität und Nachhaltigkeit deutlich in seinem Beitrag »Die Europäische Union im Globalisierungspro- umdenken müssen. Hierfür wäre aber noch viel Überzeugungs- zess« insbesondere auf die Disparitäten innerhalb der EU sowie in arbeit zu leisten. Umfragen vor den anstehenden Bundestags- ihrem Verhältnis etwa zu den Staaten der sog. Dritten Welt hin- wahlen zeigen, dass eine Mehrheit der Bundesbürger z. B. einen Schuldennachlass für Griechenland strikt ablehnt. D i e E n t w i c k l u n g d e r E U z w i s c h e n Z e n t r i f u g a l- u n d Z e n t r i p e t a l k r ä f t e n D&E Heft 73 · 2017 due73_inhalt.indd 8 21.03.17 13:35 Abb 8 Politische Prioritäten der Europäischen Union: »Was ist Ihre Meinung zu den folgenden Vorschlägen. Bitte sagen Sie mir für jeden Vorschlag, ob Sie dafür oder dagegen sind?« © Eurostat (2016): Standard-Eurobarometer 86, Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, Herbst 2016, S. 24 Auch an den Schulen muss noch viel getan werden, um für ein eu- Kalb, Jürgen (2016): Bricht die Europäische Union auseinander? S. 4–11, in: ropäisches Problembewusstsein zu werben, um dafür zu werben, Außerschulische Bildung. Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwach- transnationale effektive, legitimierte europäische Strukturen zu senenbildung. 4/2016 schaffen, die an eine partizipationsbereite Bürgergesellschaft an- König, Thomas (2016): Wider den Kuhhandel. Süddeutsche Zeitung, knüpfen. Studienreisen wie die des Theodor-Heuss-Gymnasiums 11.7.2016, S. 2 9 Esslingen unter der Leitung von Hans Gaffal und Jürgen Roos leis- ten hier Vorbildliches: »Studienfahrt nach Brüssel: »Lernort Brüssel – Möller, Almut (2016): Kontinent der Verzagten. Was können wir gegen Europa (be-)greifen.« Die Schülerinnen und Schüler kommen nach die Fliehkräfte in der EU tun? In: Internationale Politik, Ausgabe 2, solchen Studienfahrten mit anderen Augen zurück als sie hin- März-April 2016, S. 8–15 gefahren sind. Mit dem »Parlamentarium« in Brüssel hat die EU Münkler, Herfried (2016): Aufstand einer deprimierten Mittelschicht. eine höchst interessante Bildungsstätte geschaffen. Interview mit Herfried Münkler in der Stuttgarter Zeitung, 9. 7.2016, S. 47 Orbán, Viktor (2016): Bist du gegen den Frieden? Frankfurter Allgemeine Literaturhinweise Zeitung vom 11.7.2016, S. 6 Prantl, Heribert (2015): Das Jahrhundert-Problem. In: Süddeutsche Bergmann, Jan (Hrsg.) (2016): Handlexikon der Europäischen Union. Zeitung, 17.8.2015, S. 4 6. Auflage. Baden-Baden Nomos-Verlag. 2016 Schmidt, Oliver H. (2016): Das Endspiel um die Zukunft der Europäischen Bieling, Hans-Jürgen/ Schieren, Stefan (2017): This time is different. Die Union. The European, 21.6. 2016 Besonderheiten der aktuellen Krise der EU, in: Politikum 1/2017, S. 4–13, Wochenschau-Verlag Tauber, André, (u. a.) (2016): Nach dem Brexit. Vier Szenarien für die Zukunft der EU. In: Die Welt vom 26.6.2016 Fischer, Joschka (2016): Europa ist mehr als nur ein Markt, Süddeutsche Zeitung vom 2.3.2016, S. 2 Wiedemann, Johannes (2016): Deutsche setzen nach dem Brexit auf mehr Europa. Die Welt vom 7.7.2016 Fuchs, Dieter (2013): Probleme bei der Herausbildung einer europäischen Identität, in: Deutschland & Europa, S. 8–17, D&E Ausgabe 66: Erweiterungs- Wingert, Lutz (2016): Rückbau und Umbau der EU! Interview mit Lutz und Austrittsdiskussionen in der EU. 2013. Wingert in: Frankfurter Rundschau vom 19.7.2016 Göler, Daniel (2016): Die EU ist kompliziert – und muss es auch bleiben!, Ziedler, Christopher (2015): Europa der Einzelgänger. Stuttgarter Zeitung Der Tagesspiegel, 9.7.2016 vom 21.9.2015, S. 1 Görlach, Alexander (2016): Europa braucht bessere Bürger. In: Die Zeit, 5.8.2016 Habermas, Jürgen (2016): Die Spieler treten ab. Kerneuropa als Rettung. Gespräch mit Jürgen Habermas in: Die Zeit, 9.7.2016 Kalb, Jürgen (2016): Identität, europäische. In: Bergmann, Jan (Hrsg.): Hand- lexikon der Europäischen Union. 6. Auflage. Vgl. oben S. 534 D&E Heft 73 · 2017 D i e E n t w i c k l u n g d e r E U z w i s c h e n Z e n t r i f u g a l- u n d Z e n t r i p e t a l k r ä f t e n due73_inhalt.indd 9 21.03.17 13:35 JÜRGEN KALB MATERIALIEN M1 Markus Grabitz: »Der EU droht ein Schicksalsjahr«, 17. 1. 2017, Stuttgarter Zeitung, S. 2 Ende März steht der EU ein runder Geburts- tag ins Haus. Am 25. März 1957 unterzeichne- ten Deutschland, Frankreich, Italien und die Beneluxstaaten die Römischen Verträge – der Anfang der Gemeinschaft. Nach Feiern ist der- zeit aber keinem in Brüssel zumute, denn 2017 könnte zum Schicksalsjahr der Gemeinschaft werden. (…) Die erste Herausforderung des Jahres ist es, die Macht zwischen Kommission und Parla- ment neu auszubalancieren, wenn Martin Schulz (SPD) nach Berlin wechselt. Der lang- jährige Parlamentspräsident hatte eine kaum M 2 Unterzeichnung der Römischen Verträge, 25. März 1957 (Begründung der Europäischen Wirt- zu überschätzende Bedeutung im Brüsseler schaftsgemeinschaft EWG und der Europäischen Atomgemeinschaft EURATOM; Gründerstaaten Betrieb: Er war so etwas wie der inoffizielle waren Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Vize von Kommissionspräsident Jean-Claude © picture alliance, akg-images Juncker. Die beiden verbindet eine tiefe poli- tische Freundschaft. Erst Schulz’ Einfluss in den Fraktionen verschaffte wichtigen Gesetzgebungsanliegen Der Pakt mit der Türkei, der den Zustrom von Bürgerkriegsflücht- der Kommission Mehrheiten im Parlament. (…) Die informelle lingen eingedämmt hat, steht auf dünnem Eis. Der türkische große Koalition im Haus ist schon jetzt über den Machtkampf um Machthaber Erdogan ist unberechenbar, auch der Strom illegaler seine Nachfolge zerbrochen. Dem Haus – ein Drittel der Abgeord- Einwanderung über die zentrale Mittelmeerroute lässt sich nicht neten vertritt extreme politische Positionen – droht Zerstritten- kontrollieren. Schlimmer als die Unsicherheit wiegt die Zerstrit- heit und Arbeitsunfähigkeit. (…) tenheit der Europäer: Sie können sich nicht auf ein gemeinsames Ende März will London den Antrag zum EU-Austritt stellen. Dann Handeln in der Flüchtlingskrise einigen. Österreich, Ungarn, Dä- gehen binnen weniger Wochen die Scheidungsverhandlungen nemark und Polen sind nicht bereit, sich an den Beschluss aller los. Viel Geld steht auf dem Spiel. London ist Nettozahler: EU-Länder vom September 2015 zu halten und besonders belaste- Schrumpft der EU-Haushalt, wenn die Briten raus sind? Oder müs- ten Ländern wie Griechenland und Italien Flüchtlinge abzuneh- 10 sen die anderen Länder mehr Geld zuschießen? Die Gefahr ist men. Malta, das im ersten Halbjahr die Geschäfte der EU führt, groß, dass die Wirtschaft in ganz Europa leidet, wenn der Binnen- will den Streit bis zum Sommer beilegen. Ein Kompromiss könnte markt kleiner wird. Gelingt es Theresa May, der britischen Regie- sein, dass Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen, im Gegenzug rungschefin, Brüssel auszubooten und ein Freihandelsabkom- mit Geld und Personal der EU-Grenzschutzagentur Frontex unter men mit US-Präsident Donald Trump abzuschließen? die Arme greifen. Ein Risiko der Verhandlungen, die im Oktober 2018 abgeschlossen Darüber hinaus bleibt viel zu tun: Eine systematische Ein- und sein sollen, ist, dass sich die EU der 27 von den Briten auseinan- Ausreisekontrolle soll aufgebaut werden, damit Reisende mit derdividieren lässt. Polen ist bereits vorgeprescht, versucht, Son- Nicht-EU-Pässen überhaupt erst ausfindig gemacht werden kön- derbedingungen für die Auswanderer ins Vereinigte Königreich nen. Neue Regeln für die Verteilung von neu ankommenden auszuhandeln. Dazu der psychische Schock: Das Dogma der »ever Flüchtlingen sind notwendig, die Nachfolge für das Dublin-Ab- closer union« (deutsch: immer enger werdende Gemeinschaft) kommen muss gefunden werden. (…) gilt nicht mehr. Die Sorge ist groß, dass in anderen EU-Mitglieds- Die Eurozone scheitert immer wieder damit, selbst aufgestellte ländern Austrittsreferenden angezettelt werden. (…) Regeln für Haushaltsdisziplin und Stabilität gegenüber den Mit- In den Niederlanden wird im März gewählt, in Frankreich im Mai, gliedsländern durchzusetzen. Jüngstes Beispiel ist die Rettung im September in Deutschland. In allen drei Gründungsländern der italienischen Krisenbank »Monte dei Paschi« durch den Staat, der EU sind die Feinde der europäischen Integration erstarkt. Der obwohl dies eigentlich nach den neuen Statuten verboten ist. Die Rechtspopulist Geert Wilders führt in den Umfragen, die Rechts- Verschuldung in Italien und Frankreich hat eine besorgniserre- extreme Marine Le Pen ebenso. Und in Deutschland belegt die gende Höhe erreicht. Rechtsaußentruppe der AfD seit Monaten bei Umfragen den drit- Auch der Fall Griechenland wird im ersten Halbjahr noch Aufre- ten Rang nach Union und SPD. In Brüssel ist man sich einig: Sollte gung verursachen: Der Internationale Währungsfonds hält die der Front National die nächste französische Regierung anführen, Schuldentragfähigkeit des Landes für überschritten und dringt ist die EU zumindest gelähmt, womöglich kaputt. Ohne den auf Schuldenerleichterung. Andernfalls droht er mit Rückzug. Un- deutsch-französischen Motor funktioniert die EU aber nicht. Und ter den Gläubigern ist dazu an erster Stelle Deutschland nicht be- es ist undenkbar, dass Angela Merkel oder ihr Nachfolger mit Le reit. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) müsste für derar- Pen eine Basis für eine Zusammenarbeit findet. Marine Le Pen, tige Maßnahmen einen Beschluss des Bundestags einholen. Er die Abgeordnete im Europaparlament ist, kündigt bei jeder Gele- will dies unbedingt vor der Bundestagswahl im Herbst vermeiden, genheit an, dass sie die EU zerstören möchte. So ungünstig die um der AfD keine Munition zu liefern. Auch in der Union hätte er Ausgangslage vor den Wahlen in den Niederlanden und Frank- Mühe, unpopuläre Schuldenerleichterungen für Griechenland reich auf den ersten Blick erscheint, die Rechtsaußenpolitiker ha- durchzusetzen. ben kaum eine Perspektive auf die Macht in Haag und an der © Markus Grabitz: »Der EU droht ein Schicksalsjahr«, 17. 1. 2017, Stuttgarter Zeitung, S. 2 Seine. Keine Partei ist bereit, mit ihnen zu koalieren und ihr die absolute Mehrheit der Sitze für die Regierungsbildung zu ver- schaffen. Damit gibt es begründet Hoffnung, dass den rechten Populisten der Durchmarsch misslingt. (…) D i e E n t w i c k l u n g d e r E U z w i s c h e n Z e n t r i f u g a l- u n d Z e n t r i p e t a l k r ä f t e n D&E Heft 73 · 2017 due73_inhalt.indd 10 21.03.17 13:35 M3 Hilke Lorenz: »Das Dafür ist das neue Dagegen«, StZ 18./19.2.2017, S. 3 Natürlich Ist die Demokratie und damit die Lebensform der offenen Gesellschaft mit al- len Freiheiten und Chancen in Gefahr? »Das Unmögliche wird möglich«, sagt der Frank- furter Rechtsanwalt Daniel Röder – und meint die Wahl Donald Trumps. »Noch nie war die Demokratie so gefährdet wie jetzt«, sagt in Berlin der Soziologie-Professor Ha- rald Welzer. Er hat das Werden des National- sozialismus erforscht und denkt nun in der Stiftung Future Zwei über Zukunftsfähigkeit nach. Im Moment wäre Harald Welzer jedoch schon froh, die Gegenwart hätte Bestand. Was also tun? Es ist an der Zeit, einmal für etwas zu sein, statt immer nur dagegen, und das auch zu zeigen, sagen beide unabhängig voneinan- der. Röder und Welzer sind nicht die Einzigen im Land, die glauben, es sei nötig, für die de- M 4 Kundgebungsteilnehmer stehen mit Europafahne und einem Transparent »Pulse of Europe« am mokratischen Errungenschaften und Selbst- 29.1.2017 auf dem Goetheplatz in Frankfurt am Main. Die europafreundliche Bewegung »Pulse of verständlichkeiten einzutreten. Demokratie Europe« hält in deutschen Städten jeden Sonntag Kundgebungen ab und warnt vor «Schicksals- nur von der Zuschauertribüne zu erleben, das wahlen» in Europa. © Andreas Arnold, dpa war einmal. Röder hat in Frankfurt im No- vember 2016 mit einer Handvoll Freunden die noch junge Initiative #PulseofEurope gegründet, Welzer zusam- Die Wahl Donald Trumps hat ihr Leben auf den Kopf gestellt. men mit anderen in Berlin den Freundeskreis Offene Gesellschaft. Noch nie vorher sind sie zum Demonstrieren gegangen – ge- Die einen setzen auf das sichtbare Zeichen der Kundgebung, die schweige denn haben sie selbst eine Demonstration organisiert anderen auf Diskussionen und Gesprächskreise zur Stärkung des oder gar angemeldet oder eine Bühne für eine Kundgebung auf- demokratischen Bewusstseins und des gesellschaftlichen Zusam- gebaut. Aber die Zeiten sind ja auch andere. (…) menhalts. Auch in Berlin wollen sich Harald Welzer (58) und Andre Wilkens In Frankfurt, wo #PulseofEurope seinen Ursprung hat, gehen sie (53), zwei der Mitgründer der Initiative Die offene Gesellschaft am Sonntag um 14 Uhr wieder auf die Straße. Sie wollen den Puls- nicht mehr von deren Gegnern die Themen vorgeben lassen. Auch 11 schlag Europas wieder spürbar machen. (…) Und nicht nur dort. sie sind der Überzeugung, dass das Dagegensein viel zu viel Mittlerweile tun es ihnen Menschen in zehn Städten gleich. Auch Kräfte binde. Der neue Geist lasse sich vielleicht mit dem Slogan Karlsruhe, Freiburg, Köln, Amsterdam, Berlin, Celle, Hamburg, »Das Dafür ist das neue Dagegen« beschreiben, frotzeln sie – und Heidelberg, Kassel, München machen mit – und wahrscheinlich werden wieder ernst: »Die Vorstellung, dass alle Leute wütend bald auch Stuttgart. sind und sich den ganzen Tag bedroht fühlen, muss mal aus den Die Wahlen in den Niederlanden (…) stehen ihnen ebenso vor Köpfen raus«, sagt Welzer. Bewusst haben sie die Schrift des Phi- Augen wie die in Frankreich. Und damit der mögliche Sieg der losophen Karl Popper von den »Feinden der offenen Gesellschaft« Rechtspopulisten und Nationalisten. Die Demonstranten treibt aufgegriffen. Aber genauso bewusst konzentriert sich ihre Arbeit die Sorge um, dass Europa dann wieder ein Stückchen weiter brö- auf die Anhänger des Lebens demokratischer Selbstverständlich- ckeln könnte. »Bleibt bei uns Europäern« werden sie den Nieder- keiten. ländern wieder zurufen. »Wir wollen den proeuropäischen Politi- Etwa 2.000 Freunde hat die Initiative, die wie #PulseofEurope da- kern Mut machen«, sagt Röders Mitkämpfer Jens Pätzold. ran arbeitet, sich als Verein zu konstituieren. Im Moment werden #PulseofEurope setzt auf den emotionalen Kern der europäi- sie von der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt. Aber ähnlich wie schen Idee und nicht auf die Bürokratiedebatte, die für viele EU- die Frankfurter leben sie trotz eines kleinen Büros organisato- Zweifler in den Vordergrund getreten ist. Europa sei das größte risch von der Hand in den Mund. »Für mich war es eine Stern- Friedensprojekt der Nachkriegszeit, sagt Daniel Röder. Die Men- stunde der Demokratie, als im Spätsommer 2015 ein ganzes Volk schen in Frankfurt sind bereit, sich an diesem Gedanken zu berau- so reagiert hat, wie es sich ein Gemeinschaftskundelehrer ge- schen. »Wir sind eine Pro-Bewegung, eine solidarische Bürgerbe- wünscht hätte«, sagt Welzer und beschreibt den Moment, als ihm wegung“, sagt Röder. In seiner Stimme liegen Begeisterung und klar wurde, dass dieses positive Gefühl bewahrt werden müsse. Wehmut zugleich: Es gehe um »ein Europa, in dem die Achtung Als die Flüchtlinge in großer Zahl kamen, hätten die Menschen der Menschenwürde, die Rechtsstaatlichkeit, freiheitliches Den- gezeigt, dass sie aus der deutschen Geschichte gelernt hätten. ken und Handeln, Toleranz und Respekt selbstverständliche »Es war ihnen wichtig, auf der richtigen Seite zu stehen«, sagt er. Grundlage des Gemeinwesens sind«. Schon die Entscheidung der Demokratie stärken heißt für ihn auch, Menschen in Gesprächen Briten für den Brexit war ein Einschnitt. Die Wahl Donald Trumps in ihrer Haltung zu stärken. »Wenn die gesellschaftliche Span- erst recht. nung größer wird, ist das nicht die Stunde der Eliten, das ist die Bis zu diesem Tag, dem 8. November vergangenen Jahres, waren Stunde der Bürgergesellschaft.« die Röders eine ganz normale Familie. Vater, Mutter, Sohn und © Hilke Lorenz: »Das Dafür ist das neue Dagegen«, Stuttgarter Zeitung, 18./19.2.2017, S. 3 Tochter. Die Eltern beide Juristen, beide Mitte 40. Daniel Röder ist als Wirtschaftsrechtler Mitinhaber einer Kanzlei in Frankfurt, Sa- bine Röder hat sich auf Mediation spezialisiert. Der Tag führte ihnen vor Augen, dass es an der Zeit sei, Europa und die Demo- kratie nicht mehr länger von der Zuschauertribüne zu beobach- ten. (…) D&E Heft 73 · 2017 D i e E n t w i c k l u n g d e r E U z w i s c h e n Z e n t r i f u g a l- u n d Z e n t r i p e t a l k r ä f t e n due73_inhalt.indd 11 21.03.17 13:35 JÜRGEN KALB M5 Sven Astheimer: »Europas soziale Kluft«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.12.2016, S. 17 Die von Vizekanzler Sigmar Gabriel angestoßene Debatte über die deutschen Kinder- geldzahlungen für EU-Auslän- der hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Wer in Deutschland arbeite, solle für seine im Heimatland lebenden Kinder auch nur Leistungen in der dort üblichen Höhe erhalten, forderte der Vizekanzler (…) und bewies mit der Forderung nach einer Indexierung des Kindergelds abermals sein Gespür für öffentlichkeits- wirksame Themen. Auch wenn die Erfolgsaussichten von vornherein gering waren, entfaltete der Vorstoß eine derartige Eigendynamik, dass sich auch der anfangs – man- M 6 »Sozialtourismus?« © Schwarwel, picture alliance,:dieKLEINERT.de gels Erfolgsaussichten – noch zögerliche Finanzminister Wolfgang Schäuble schließlich dem Begehren seines sozialde- dant. Bedingt also ein funktionierender Binnenmarkt von Hel- mokratischen Kabinettskollegen anschloss. sinki bis Faro auch irgendwann die Vergemeinschaftung der Die umgehende Abfuhr aus Brüssel mit dem Verweis auf gelten- Sozialpolitik? Die Gründerväter der Union und ihrer Vorläufer ha- des Recht dürfte wohlkalkuliert gewesen sein. Denn Gabriel ging ben diese Frage verneint, und bis heute fällt die Gestaltung der es darum, in der Debatte um mögliche Fehlanreize für Armutszu- Sicherungssysteme in die Zuständigkeit der Nationalstaaten. wanderung einen Punkt zu machen: Die 192 Euro je Kind, die vom Es existieren aber auch Forderungen, den Zentrifugalkräften in 12 1. Januar an gezahlt werden, sind etwa in Mittel- und Osteuropa der Union ein soziales Europa als einendes Element entgegenzu- eine Menge wert und rufen Schlepper auf den Plan, die durch or- setzen. Denn noch immer haben sich vor allem die Mittelmeerlän- ganisierte Einwanderung in die Sozialsysteme staatliche Leistun- der in der Eurozone nicht von den Folgen der Finanzkrise erholt. In gen abkassieren. Die Zahl der betreffenden Fälle ist innerhalb ei- Griechenland, Spanien, Portugal und Italien sind viele, vor allem nes knappen Jahres sprunghaft gestiegen, den Staat hat das bis junge Menschen vergeblich auf der Suche nach Arbeit. Die 2013 November fast eine halbe Milliarde Euro gekostet. Für den Vor- mit viel Bohei eingeführte Jugendgarantie für einen Praktikums- wahlkämpfer Gabriel ist dieses Thema den zähen Kampf mit der oder Ausbildungsplatz ist ein Versuch einer koordinierten Politik Kommission wert. der Mitgliedstaaten – mit bislang mäßigem Erfolg. Im Falle der Kindergeldzahlungen geht es »nur« um die Änderung Noch weiter geht der erste Entwurf für eine europäische Säule so- einer bestehenden Regelung – und dennoch schlagen die Wellen zialer Rechte, die Kommissionspräsident Juncker zu Beginn des hoch. Welche politische Sprengkraft das Thema Sozialleistungen Jahres vorgelegt hat. Nachvollziehbarerweise stehen deutsche in der Europäischen Union birgt, hat zuletzt vor allem das Brexit- Sozialversicherungsträger diesem Sammelsurium aus zwanzig Votum der Briten gezeigt. Die Zuwanderung – auch in Sozialsys- Politikempfehlungen skeptisch bis ablehnend gegenüber und teme – spielte dabei eine entscheidende Rolle. vermuten allein schon durch die Namensgebung einen drohen- Die Spannung entsteht durch die unterschiedlichen Typen von den Eingriff in ihre Kompetenzen. Eine echte Harmonisierung Wohlfahrtsstaaten unter dem Dach der EU und das enorme Ge- oder gar Vergemeinschaftung der äußerst unterschiedlichen Ren- fälle unter den jeweils gewährten Schutzleistungen: vom vor- ten- oder Gesundheitssysteme innerhalb der EU scheint aller- nehmlich steuerfinanzierten skandinavischen Modell mit seiner dings auf absehbare Zeit unmöglich. hohen Umverteilungskomponente über den stärker auf Beiträgen Auch wenn die Kritiker den vorliegenden Juncker-Vorschlägen für basierenden Sozialstaat bismarckscher Prägung in Deutschland eine Sozialunion deshalb kaum inhaltliche Bedeutung beimessen, oder Österreich bis hin zu den jungen Demokratien Mittel- und gilt der alte Satz: Wehret den Anfängen! Denn ist die soziale Säule Osteuropas, die ihren Bürgern oft nur eine rudimentäre Absiche- einmal errichtet, dürften im Haus Europa rasch die Bestrebungen rung bieten (können) gegen die sozialen Lebensrisiken wie Ar- wachsen, auf dieses Fundament draufzusatteln. Ein schleichender beitslosigkeit oder Krankheit. Ausbau der Sozialunion jedoch birgt unüberschaubare Risiken Aktuelle Daten der europäischen Statistikbehörde zeigen, wie ge- und könnte schnell in eine Transferunion münden. Nach dem waltig das Gefälle ist: Demnach geben Dänemark, die Nieder- Steuerzahler darf jedoch nicht auch noch der Beitragszahler in die lande und Österreich, je Kopf gerechnet, am meisten aus für den Haftung genommen werden für unterlassene Strukturreformen Sozialschutz ihrer Bürger. Es folgen Frankreich und Deutschland, in anderen Mitgliedsländern. deren Ausgaben noch um 30 Prozent über dem EU-Durchschnitt © Sven Astheimer: »Europas soziale Kluft«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.12.2016, liegen. Am anderen Ende der Skala rangieren Rumänien, Bulga- S. 17 rien und Lettland, deren Aufwand den Mittelwert um volle 70 Pro- zent unterschreitet. Diese enorme Kluft wirft die alte Frage auf, ob es eine ökonomi- sche Integration Europas geben kann ohne ein politisches Pen- D i e E n t w i c k l u n g d e r E U z w i s c h e n Z e n t r i f u g a l- u n d Z e n t r i p e t a l k r ä f t e n D&E Heft 73 · 2017 due73_inhalt.indd 12 21.03.17 13:35 M7 Paul Vorreiter: »Lust auf Europa machen«, Deutschlandfunk, 23.1.2017 Die Die EU steht im Jahr 2017 vor vielen Herausforderun- gen. Vor allem das Erstarken von Populisten macht ihr zu schaffen. Proeuropäische Gruppen wollen das Image der Europäischen Union auf- polieren. Unklar ist, ob der neue Parlamentspräsi- dent Antonio Tajani sie dabei unterstützt. »Ja, ich glaube, die Föderalisten die einzigen sind, die eine klare Vorstellung von der Europäischen Einigung besitzen. Alle anderen fuchteln herum und fummeln he- rum und haben keine Idee, wie es weitergeht und wo es hingehen soll«, sagt Jo Leinen in seinem Brüsseler Büro. Der SPD-Eu- M 8 »Eben erst im Bau!« © Gerhard Mester, 28.11.2016 ropaparlamentarier ist Mit- glied der proeuropäischen Spinelli-Gruppe. Sie argumentiert, dass in Zeiten der Globalisie- nicht, warum das Roaming in wenigen Monaten abgeschafft wird. Der rung Nationalstaaten zu schwach seien, um die großen Probleme Grund, warum sie sich einfach so ein Ticket in den Urlaub nach Spanien zu lösen. Das ist genau das Gegenteil der rechtspopulistischen oder Griechenland buchen können, ist, dass wir die Grenzen abgeschafft Sichtweise, die da lautet: Die EU lasse sich von Staaten wie der haben. Das sind konkrete Beispiele, die das Bewusstsein derjenigen Bürger Türkei vorführen, und: Erst seit kleine Länder entlang der Balkan- stärken könnten, die nicht komplett gegen Europa sind, aber nicht wissen, Route im Alleingang entschieden haben, Grenzen hochzuziehen, wie sehr Europa ihren Alltag verbessert.« seien deutlich weniger Flüchtlinge gekommen. Eine starke Europäische Union strahlt nicht alleine durch ihre Po- Wozu dann noch die EU? In drei anstehenden Wahlen – in den Nie- litik. Die Institutionen brauchen auch ein Gesicht. Das Europapar- derlanden, Frankreich, und Deutschland könnten EU-Gegner mit lament ist mit Martin Schulz sichtbarer geworden. Antonio Tajani, 13 diesen Argumenten punkten: Jo Leinen hält das für gefährlich: der Nachfolger, will moderativer auftreten und die politische Ar- »Es kann schiefgehen und wenn natürlich ein Gründungsland der Europä- beit den Fraktionen überlassen. Bei seiner Wahl in Straßburg ist ischen Union auf die antieuropäische Ebene kommt, dann droht Unge- der konservative Politiker womöglich auch von Europakritikern mach und dann haben wir noch ein größeres Unglück, als wir es bereits und Nationalisten gewählt worden. Ob Tajani auch die Proeuro- mit dem Brexit hatten. Werden die proeuropäischen Kräfte in den Nieder- päer überzeugen kann? (…) landen und Frankreich gewinnen, dann hat man wieder Ruhe für eine ge- Die österreichische Grünen-Politikerin und Parlamentsvizepräsi- wisse Zeit und dann kann man die EU wieder konsolidieren.« (…) dentin Ulrike Lunacek unterstützt ebenso die Spinelli-Gruppe Nach Beruhigung sieht es aber erst mal nicht aus: Die rechtspo- und vergibt an Tajani keine Vorschusslorbeeren: pulistische »Partei für die Freiheit« des Islamkritikers Geert Wil- »Er kann nicht gleichzeitig ein Präsident für Le Pen und für die Grünen ders kann laut Umfragen die Parlamentswahl in den Niederlan- sein, das geht sich nicht aus. Aber im Sinne von seine eigene Vergangenheit den gewinnen. Und in Frankreich gilt die rechtsextreme Marine Le ablegen: Er war Sprecher von Berlusconi, er war Industriekommissar zu Pen als Favoritin bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl. Zeiten, als der Abgasskandal schon gebrodelt hat, wenn er wirklich ein Ob sich der proeuropäische unabhängige Kandidat Emmanuel geschätzter Präsident werden will, dann muss er mit dieser Vergangenheit Macron durchsetzen kann – das ist noch nicht absehbar. brechen. Er will sehr wohl zeigen, dass er was kann, aber ob er es wagt, mit »There is this Europe, that we would like to improve, but we are not even denen, die ihn gewählt haben auch manchmal zu brechen, das kann ich at the point of improving it. We are at the point of keeping it the way it is noch nicht sagen. Ich hoffe, er wird es tun.« in preventing it from going backwords.« © Paul Vorreiter: »Lust auf Europa machen«, Deutschlandfunk, 23.1.2017 Brüssel, Hauptversammlung bei den Jeunes Européens Féderalis- tes, JEF, den jungen föderalistischen Europäern. Ophélie Omnes, eine 26-jährige Juristin mit dunkelrotem Sweater und Armreifen kündigt vor etwa zwanzig Gleichaltrigen an, was dieses Jahr an- steht: Aktionen und Überzeugungsarbeit, damit die Europäische Union nicht weiter demontiert werde, eine tiefere Integration sei momentan nicht das Thema. Ein Defensivspiel, also. (…) Die Jugendorganisation plant eine Demo zur Feier des 60. Jahres- tags der Römischen Verträge, dem Grundstein für die Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Mit Aktionen wie »#Don’t touch my schengen« setzt sich JEF dafür ein, dass die Grenzen innerhalb der EU offen bleiben, kurzum: Sie versucht, die wesentlichen Er- rungenschaften der Union zu verteidigen. Ophélie Omnes bedau- ert, dass sie in Vergessenheit geraten sind: »Man muss langfristig denken. Wir müssen zumindest hervorheben, dass das, was bisher aufgebaut wurde, gut für die Menschen ist. Viele wissen D&E Heft 73 · 2017 D i e E n t w i c k l u n g d e r E U z w i s c h e n Z e n t r i f u g a l- u n d Z e n t r i p e t a l k r ä f t e n due73_inhalt.indd 13 21.03.17 13:35

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