Arzneimittelinduzierte psychische Störungen PDF

Summary

This document discusses drug-induced mental health disorders. It categorizes these disorders and details the factors that contribute to their development. The document delves into the classification of adverse drug reactions and the management of such reactions.

Full Transcript

## **Arzneimittelindizierte Störungen im ICD-10 und ICD-11** - keine spezifische Kategorie für arzneimittelinduzierte psychische Störungen im ICD - **Kodierung auf Syndromebene als FOX bzw. 6E6:** - z.B. F06.3 / 6E62, organisch affektive Störung - **zusätzlich Kodierung der Ätiologie:** (mit jew...

## **Arzneimittelindizierte Störungen im ICD-10 und ICD-11** - keine spezifische Kategorie für arzneimittelinduzierte psychische Störungen im ICD - **Kodierung auf Syndromebene als FOX bzw. 6E6:** - z.B. F06.3 / 6E62, organisch affektive Störung - **zusätzlich Kodierung der Ätiologie:** (mit jeweils eigenen Codes) - Komplikationen durch Arzneimittel oder Drogen bei therapeutischer Anwendung - Vergiftungen durch Arzneimittel, Drogen und biologisch aktive Substanzen (Codes T36-T50 verweisen auf verschiedene Substanzgruppen) - Akzidentelle Vergiftung (beinhaltet Arzneimittel) - Absichtliche Selbstbeschädigung ## **Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW)** - **Definition:** Schädliche und unbeabsichtigte Reaktionen, die durch ein Arzneimittel trotz dessen bestimmungsgemäßen Gebrauchs im (ggf. für den Patienten angepassten) therapeutischen Dosisbereich auftreten. - **relevante Arzneimittelnebenwirkungen treten bei ca. 5% der medikamentös behandelten Patienten auf** - 3-6% aller stationären Patientenaufnahmen sind auf Nebenwirkungen zurückzuführen - seit 1998 sind alle Ärzt*innen in Deutschland über ihre Berufsordnung verpflichtet, unerwünschte Arzneimittelwirkungen (auch Verdachtsfälle) zu melden ## **2. Ätiologie unerwünschter Arzneimittelwirkungen** ## **Klassifikation psychischer UAW** Zwei Gruppen: - **psychische Nebenwirkungen, die sich unmittelbar aus der Hauptwirkung eines Wirkstoffs ergeben** - Hauptwirkung ist mit der Nebenwirkung verwandt * **Antipsychotika → mesolimbischer D-Rezeptor-Antagonismus → Anhedonie** * **Parkinsonmittel → mesolimbischer D-Rezeptor-Agonismus → Spielsucht** - **psychische Nebenwirkungen als Folge einer von der Hauptwirkung unabhängigen psychotropen Eigenwirkung eines Wirkstoffs** - Hauptwirkung nicht mit der Nebenwirkung verwandt * **psychoseauslösende Wirkung der Kortikosteroide** * **depressiogene Wirkung von Interferonen kann Depressionen und folgend Suizidalität auslösen** - bei Hepatitis C eingesetzt ## **Voraussetzungen psychischer UAW** - wenn die Bluthirnschranke durchbrochen wird - **ZNS-Gängigkeit des Wirkstoffs ist Voraussetzung für direkte psychotrope Effekte** - **ZNS-Gängigkeit entsteht durch:** - **hohe Lipophilie des Wirkstoffs** - **Nutzung von Transportern** (Arzneimittel nutzen dieselben Transporter, wie Aminosäuren, dadurch durch die BHS) - **Schrankendefekte** (durch höheres Lebensalter, entzündliche Prozesse, Durchblutungsstörungen, ...) - **BHS** ist fettig, Durchlässigkeit bei fettfreundlichen Medikamenten ## **Risikofaktoren für das Auftreten psychischer UAW** - **Eigenschaften des Patienten:** - höheres Lebensalter - Multimorbidität - reduzierte Elimination (Leber, Niere, Gene) - komorbide psychische Störung - Vorgeschichte einer arzneimittel-induzierten psychischen Störung - Störung der Blut-Hirn-Schranke - **Eigenschaften der Therapie:** - psychotrope Wirkung der Medikation - hohe Dosis - schnelle Aufdosierung - Polypharmazie mit mehreren psychotropen Wirkstoffen (additiv oder synergistische Effekte) - Polypharmazie mit pharmakokinetischen Interaktionen (reduzierte Elimination) ## **3. „Kritische" Arzneimittel** ## **Psychische UAW durch Psychopharmaka** - psychische Symptome durch Psychopharmaka können lassen sich in drei Kategorien einteilen: - **Symptom ist Teil der erwünschten psychotropen Hauptwirkung, kann jedoch im Laufe einer Therapie zunehmend unerwünscht sein** - z.B. dämpfende Wirkung vieler Antipsychotika - **Symptom gehört zum Nebenwirkungsprofil der Substanz** - z.B. Unruhe bei SSRI - **Symptom tritt nach der Beendigung der Therapie auf** - z.B. Verstimmung nach Absetzen einer antidepressiven Pharmakotherapie - in allen Kategorien können transiente und persistente Symptome auftreten ## **Auslöser von Depression gemäß arznei-telegramm®** - zu unterscheiden von bereits vorliegender Depression und dem Verstärken der vorliegenden Depression!!! - **Depression:** 973 Einträge quer durch alle Wirkstoffgruppen, davon: - 31 × sehr häufig, 275 × häufig, 140 × gelegentlich (Σ 446) - **betroffene Indikationsgruppen:** (sehr häufig, häufig) | Stoffgruppe | Treffer | Beispiele | |----------------------|--------|----------------------------------------------------------------------------------| | Tumortherapeutika | 44 | Carmustin, Exemestan | | Geschlechtshormone | 32 | Ethinylestradiol, Etonorgestrel | | Virostatika | 30 | Aciclovir, Emtricitabin | | Immuntherapeutika | 28 | Interferon a, Natalizumab, Tacrolimus | | Neuro-/Psychopharmaka | 69 | Antidepressiva: Mirtazapin, Antikonvulsiva: Topiramat, Antipsychotika: Haloperidol, Parkinsonmittel: Bromocriptin, Psychostimulantien: Methylphenidat | ## **4. Diagnose arzneimittelinduzierter psychischer Störungen** ## **Probleme bei der Diagnosestellung** - Prävalenz der arzneimittelindizierter psychischer Störungen nicht bekannt - wenige systematische epidemiologische Untersuchungen - **unzureichende Kenntnis bzgl. möglicher Verursachung psychischer Störungen durch Arzneimittel bei den Beteiligten** - verordnende Mediziner - Patient*innen - klinische Psychologen, Psychiater*innen, Psychotherapeut*innen - **Klassifizierung der Art des Medikationseffektes schwierig** - ätiologisch beteiligt ja/nein? - Vulnerabilität, Stress, aufrechterhaltender Faktor? ## **Plausibilitätsprüfung: Medikation und Symptom** - **Naranjo Skala: Instrument zur Bewertung möglicher Nebenwirkungen** | QUESTION | YES | NO | DON'T KNOW | |--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------|-----|----|-------------| | Are there previous conclusion reports on this reaction? | 1 | 0 | 0 | | Did the adverse event appear after the suspect drug was administered? | 2 | -1 | 0 | | Did the ADR improve when the drug was discontinued or a specific antagonist was administered? | 1 | 0 | 0 | | Did the ADR reappear when drug was readministered? | 2 | -1 | 0 | | Are there alternate causes [other than the drug] that could solely have caused the reaction? | -1 | 2 | 0 | | Did the reaction reappear when a placebo was given? | -1 | 1 | 0 | | Was the drug detected in the blood [or other fluids] in a concentration known to be toxic? | 1 | 0 | 0 | | Was the reaction more severe when the dose was increased, or less severe when the dose was decreased? | 1 | 0 | 0 | | Did the patient have a similar reaction to the same or similar drugs in any previous exposure? | 1 | 0 | 0 | | Was the adverse event confirmed by objective evidence? | 1 | 0 | 0 | - **Einordnung der Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs zwischen Symptom und Arzneimittel anhand von 10 Fragen** - **zur Beantwortung der ersten Frage Literaturrecherche notwendig** - **Scoring:** > 9 = definite ADR; 5-8 = probable ADR; 1-4 = possible ADR; 0 = doubtful ADR - **KEY:** ADR = adverse drug reaction ## **5. Management von arzneimittelinduzierten psychischen Störungen** ## **Umgang mit arzneimittelinduzierten psychischen Störungen** - Das Entstehen einer Krankheit/Störung vermeiden, "synonym" für Prävention - **Primärprävention:** Risikopatient*innen identifizieren; Wirkstoffe nach Verträglichkeit selektieren, vorsichtig eindosieren, Polypharmazie vermeiden - **Früherkennung** = Zunahme der Beschwerden - **Detektion:** bei neu aufgetretenen psychischen Symptomen oder Exazerbation der bekannten Symptome, an Möglichkeit einer Substanzinduktion denken - **Medikationsreview** unter besonderer Berücksichtigung von Wirkstoffen, die zeitlich kurz vor Onset des Symptoms/Syndroms eingesetzt wurden; bei Polypharmazie auch an Interaktionen denken - **Therapie:** falls tragbar, verdächtiges Arzneimittel absetzen, Dosis reduzieren; ggf. Substitution durch verträglicheres Präparat (in Absprache mit Verordner*in) - **Beobachtungsperiode** von mindestens vier Wochen zur Einschätzung des Zusammenhangs - **Psychotherapie und/oder Pharmakotherapie** bei Persistenz der Symptomatik beginnen - **Sekundärprävention:** Edukation des Patienten; falls Kausalität wahrscheinlich ist, Wirkstoff bzw. verwandte Substanzen in der Zukunft meiden; Patient*innen bei zukünftigen Arzneimitteltherapien als Risikogruppe betrachten ## **6. Fallbeispiel** - Herr M., 48 Jahre, Diagnosen: rezidivierende depressive Störung und arterieller Hypertonus - unter Psychotherapie und Pharmakotherapie (Venlafaxin) weitgehende, aber nicht vollständige Remission der depressiven Symptome - persistierend störende Antriebsschwäche, Erschöpfbarkeit und Müdigkeit trotz Motivation, nachhaltig durchgeführtem Aktivitätsaufbau und maximaler Dosis von Venlafaxin - wegen Hypertonus zusätzlich Metoprolol und Hydrochlorothiazid - **Arzneimittelnebenwirkung möglich?** - Müdigkeit ist in der Fachinformation sowohl als Nebenwirkung von Metoprolol als auch von Hydrochlorothiazid gelistet - **Kontaktaufnahme mit Hausarzt** ► Umstellung von Metoprolol auf Ramipril, darunter prompte Besserung ## **Achtung: Problem der Häufigkeitsangaben in Fachinformationen** - Angaben v.a. für ältere Arzneimittel oft nicht placeboadjustiert, Frequenzen bestimmter Nebenwirkungen durch Risiko der Population erklärbar - **Beispiel: Betablocker / Depression; Risiko wird in den Fachinformationen meist als gelegentlich oder häufig angegeben** | Study or Subgroup | Data unpublished | BetaBlocker | Placebo | Weight | Odds Ratio | Odds Ratio | 95% CI | 95% CI | |------------------------|--------------------|-------------|---------|--------|-----------|-----------|-------------|-------------| | Fielding, JF 1981 | no | 6/142 | 1/37 | 0.8% | 0.31 | 0.32 | (0.03-1.18) | (0.02-1.13) | | Frishman, WH 1994 | no | 28/268 | 3/37 | 0.3% | 0.32 | 0.5 | (0.02-1.13) | (0.02-1.13) | | Deedwania, PC 2005 | no | 117/1354 | 4/1990 | 2.7% | 0.45 | 0.47 | (0.14-1.45) | (0.03-1.01) | | Krum, H 1995 | yes | 7/100 | 1/33 | 0.5% | 0.47 | 0.04 | (0.03-1.01) | (0.03-1.01) | | Pradalier, A 1989 | no | 2/42 | 2/26 | 1.1% | 0.53 | 0.08 | (0.08-3.49) | (0.08-3.49) | | Diener, HC 2003 | yes | 23/125 | 3/22 | 3.2% | 0.66 | 0.64 | (0.23-1.90) | (0.23-1.90) | | Dransfield, MT 2019 | no | 19/1156 | 7 | 0.7% | 1 | 1 | (0.40-1.13) | (0.40-1.13) | | BEST 2001 | no | 3/253 | 18.4% | 0.72 | 0.72 | 0.75 | (0.56-0.92) | (0.27-2.11) | | Tchivileva, IE 2020 | no | 9/143 | 0.7% | 0.90 | 0.90 | 0.95 | (0.08-10.58)| (0.54-1.67) | | Goldstein, S 1999 | no | 39/264 | 7.3% | 0.98 | 0.98 | 0.98 | (0.52-1.86) | (0.52-1.86) | | TOMHR 1991 | no | 158/1354 | 0.8% | 1 | 1 | 1 | (0.10-9.71) | (0.10-9.71) | | Packer, M 2001 | yes | 9/99 | 0.4% | 1 | 1 | 1 | (0.04-24.71)| (0.04-24.71)| | Weber, MA 2006 | yes | 1/19 | 23.1% | 1.04 | 1.04 | 1.09 | (0.91-1.18) | (0.07-18.15)| | Neutel, JM 2010 | no | 41/213 | 0.5% | 1.09 | 1.09 | 1.11 | (0.04-27.85)| (0.04-27.85)| | BHAT 1982 | no | 19/1133 | 2.0% | 1.22 | 1.22 | 1.48 | (0.31-4.85) | (0.06-36.48)| | Andersson, PG 1983 | no | 1/34 | 0.4% | 1.48 | 1.48 | 1.71 | (0.06-36.48)| (0.33-8.86) | | Moleur, P 1988 | no | 1/86 | 0.4% | 1.71 | 1.71 | 1.73 | (0.21-14.55)| (0.21-14.55)| | Sturm, B 2000 | yes | 5/51 | 0.5% | 1.94 | 1.94 | 2.04 | (0.11-33.68)| (0.08-50.66)| | Lewin, A 2013 | yes | 1/290 | 5.1% | 2.68 | 2.68 | 2.94 | (1.19-6.03) | (0.12-73.93)| | Sotalol Studies 4,5,9A, 14 | yes | 5/415 | 2.1% | 3.17 | 3.17 | 3.86 | (0.83-12.10) | (0.14-104.65)| | GSK-105517/022 | yes | 6/404 | 0.4% | 4.04 | 4.04 | 4.77 | (0.45-36.15) | (1.41-16.05) | | Manrique, C 2009 | no | 8/1811 | 0.5% | 9.94 | 9.94 | 13.48 | (0.52-190.60)| (0.76-240.38)| | Capone, P 1985 | no | 1/119 | 0.8% | 13.48 | 13.48 | 1 | (0.76-240.38)| (0.83-1.25) | | Perez-Stable, EJ 1995 | no | 22/156 | 2.5% | 1 | 1 | 1 | (0.83-1.25) | (0.83-1.25) | | Svetkey, LP 1988 | no | 1/51 | 0.4% | 1 | 1 | 1 | (0.83-1.25) | (0.83-1.25) | | Silberstein, SD 2012 | no | 9/96 | 0.4% | 1 | 1 | 1 | (0.83-1.25) | (0.83-1.25) | | Wisenbaugh, T 1993 | no | 1/11 | 0.4% | 1 | 1 | 1 | (0.83-1.25) | (0.83-1.25) | | TMTRG 1985 | no | 4/2877 | 0.8% | 1 | 1 | 1 | (0.83-1.25) | (0.83-1.25) | | Julian, DG 1982 | no | 21/873 | 3/583 | 2.5% | 1 | 1 | (0.83-1.25) | (0.83-1.25) | | Metoprolol trial S-933 | yes | 4/42 | 0.5% | 1 | 1 | 1 | (0.83-1.25) | (0.83-1.25) | | Hansteen, V 1982 | no | 6/278 | 0.5% | 1 | 1 | 1 | (0.83-1.25) | (0.83-1.25) | | Total events | | 1091/15735 | 1083/12599 | 100.0% | 1.02 | 1 | (0.83-1.25) | (0.83-1.25) | - **im Placebovergleich aber kein erhöhtes Risiko (Riemer et al., 2021)** - **Heterogeneity:** Tau² = 0.04; Chi² = 38.58, df = 30 (P = 0.14); I² = 22% - **Test for overall effect:** Z = 0.15 (P = 0.88)

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