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This document provides an overview of scientific foundations. It explores the definition, boundaries, characteristics, and requirements of science. It also discusses the concept of science as a quest for truth, distinguishing it from everyday knowledge, and outlining key concepts in scientific language and empirical research.

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2 Wissenschaftliche Grundlagen Überblick Empirische Wissenschaft Forschung Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Definition Qualitativ Abgrenzung Merkmale Quantitativ Ansprüche Begrifflichkeiten In der heutigen Wissensgesellschaft wird täglich mit steigender Geschwindigkeit neues Wissen produziert – teilweise wird sogar von einem exponentiellen Wachs- tum des Wissens und seiner Verdopplung alle 20 Jahre gesprochen. Was bedeu- tet, dass vergangenen Generationen nur ein Bruchteil des heutigen Wissens zur Verfügung gestanden hätte. Viele dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse mögen zwar nur für einen auserwählten Kreis von Fachleuten interessant sein, einige Er- gebnisse setzen sich jedoch auch im Alltag fort, wie etwa zahlreiche medizinische Innovationen. Unter einer Wissenschaft erfolgt die Sammlung dieser Erkenntnisse. zulässig. Im Folgenden werden zentrale Merkmale einer Wissenschaft thematisiert, um die Frage zu beantworten: „Was macht eine Wissenschaft aus?“. Dazu werden im Fol- genden die Wissenschaft als Wahrheitssuche, die Merkmale und Ansprüche einer Wissenschaft, eine Abgrenzung zum Alltagswissen, wichtige Begriffe in der Spra- che der Wissenschaft sowie Grundlagen zur empirischen Forschung erläutert. 30 Kapitel 2 Wissenschaftliche Grundlagen 2.1 Wissenschaft als Suche nach der Wahrheit Eine wissenschaftliche absolute Wahrheit ist nicht oder nur in seltenen Fällen, wie z. B. Fragen der Logik erreichbar. Die Subjektivität des Individuums muss immer berücksichtigt werden. Theoretische Ansätze finden sich zu dieser Betrachtungs- weise im „Konstruktivismus“. Nach Watzlawick (1986, S. 115) handelt es sich beim Konstruktivismus um eine „Untersuchung der Art und Weise, wie wir Menschen unsere eigenen Wirklichkeiten erschaffen“. Allgemein geht diese Theorie davon aus, dass ein erkannter Sachverhalt vom Betrachter selbst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert wird. Nach einer radikalen Form des Konstruktivismus be- Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht deutet dies, dass jeder Einzelne sich seine Wirklichkeit im eigenen Kopf „konstru- iert“. Der Schall eines fallenden Baumes wird so z. B. erst durch das Hören zum Geräusch. Für eine gemeinsame „Konstruktionsweise“ bei mehreren Individuen sprechen allerdings eine Menge von Faktoren wie z. B. der geteilte Sprachgebrauch, allgemeine gleichförmige methodische Vorgehensweisen. Beispiel „Schelling bzw. Focal Points“: Der spätere Nobelpreisträger Thomas Schelling hatte als Studierender einen Treffpunkt mit einem Freund verpasst und ihn später nur mit Glück gefunden. Dies motivierte ihn zu einer Diskussions- runde mit Studienkollegen, die sich der Frage widmeten, wo man zusammentreffen könnte, ohne vorher einen Treffpunkt ausgemacht zu haben – eine Umfrage, die Schelling später, als Hoch- schulprofessor, auch seinen Studenten stellte: „Wo würden Sie hingehen, um jemanden in New York zu treffen, ohne vorher eine Zeit und einen Treffpunkt vereinbart zu haben?“ Die Meisten antworteten: „Um Punkt zwölf Uhr zum Informationstisch des Hauptbahnhofs“. Schelling zeigte damit, dass Menschen im Kommunikationsprozess und vergleichbaren kulturellen Hintergrund häufig ein gemeinsames Vorverständnis von einer Situation haben, das zur Problemlösung bei- trägt. Diese vergleichbaren Grundansätze nannte Schelling (1976, S. 117) „focal points“. Eigene Erfahrungen Übergang von eigener Wahrnehmung und eigener Interpretationsleistung zur „objektivierten“, wissen- schaftlichen Realität. Vorhandenes Datenmaterial (Sekundärdaten) Prozess des wissenschaftlichen Arbeitens. Je strikter eine Orientierung an Kriterien der Wissen- Eigene Datensammlung schaftlichkeit erfolgt, desto aussagekräftiger. (Primärdaten) zulässig. Ein Hindernis zur „absoluten Wahrheit“ besteht aufgrund der Selbskonstruktion, nur eine Annäherung ist möglich. Wahrheit Abb. 2.1: Schranke zur absoluten Wahrheit 2.2 Merkmale einer Wissenschaft 31 Eine absolute Wahrheit ist in der wissenschaftlichen Forschung nicht zu erreichen (vgl. Abb. 2.1). Basierend auf eigenen Erfahrungen kann man sich durch ein Lite- raturstudium und eigene Erhebungen jedoch der Wahrheit annähern. Die eigenen Erfahrungen werden in Folge dessen objektiviert. 2.2 Merkmale einer Wissenschaft Merkmale einer Wissenschaft beschreiben Kriterien, die alle wissenschaftlichen Disziplinen gemein haben (vgl. Abb. 2.2). Welche Kriterien müssen erfüllt sein, Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht damit von einer Wissenschaft gesprochen wird? Merkmale einer Wissenschaft Erfahrungs- Erkenntnis- Methodik Diskussion Konvention objekt objekt Systematik Abb. 2.2: Merkmale einer Wissenschaft 2.2.1 Erfahrungs- und Erkenntnisobjekte Jede Wissenschaft besitzt Erfahrungsobjekte, d. h. einen zentralen Gegenstand bzw. übergreifendes Themengebiet, das als Realitätsausschnitt analysiert wird. Die- ser Ausschnitt wird auf bestimmte Weise thematisiert, womit das Spezifische einer Wissenschaft ausgedrückt wird (Erkenntnisobjekt). Beispiel: Erfahrungsobjekte der Betriebswirtschaftslehre sind beispielsweise Unternehmen bzw. Organi- sationen sowie darin handelnde Individuen. Erkenntnisobjekte sind die wirtschaftlichen Hand- lungen bzw. Entscheidungen, die dort getroffen werden und deren zugrunde liegende Regeln. Durch überlieferte Literatur und Forschungen auf dem jeweiligen Gebiet wird ein geordnetes und begründetes Wissen gebildet. 2.2.2 Methodik und Systematik zulässig. Zur Analyse des Erfahrungsobjektes werden methodische Vorgehensweisen einge- setzt, z. B. experimentelle oder statistische Untersuchungen. In einen systematisch geplanten Prozess soll neues Wissen abgeleitet oder bestehendes Wissen fundiert werden. 32 Kapitel 2 Wissenschaftliche Grundlagen 2.2.3 Diskussion Die gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse werden diskutiert. Dies kann in Fachzeitschriften, Büchern, in Vorträgen auf Tagungen oder Konferenzen von stat- ten gehen. Durch die Diskussion soll ein weiterer wissenschaftlicher Fortschritt, aber auch eine Prüfung der Forschungsergebnisse erfolgen. Bachelor- und Semi- nararbeiten werden meist in kleinerem Kreise vorgestellt. 2.2.4 Konvention In jeder Wissenschaft haben sich bestimmte Sprach- und Verhaltensgewohnheiten Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht etabliert, auf die sich Forscher im geschichtlichen Verlauf ihrer Wissenschaft geei- nigt haben. Vor allem die Fachsprache ist für Außenstehende in der Regel schwer verständlich. Zur Fachsprache gehören Fachbegriffe und Fremdwörter (Fachvoka- bular), die entweder außerhalb des Fachgebietes sehr ungebräuchlich sind oder im Alltag eine andere Bedeutung haben. Man spricht auch von „Fachjargon“ oder abwertend von „Fachchinesisch“. Beispiel: Fachbegriffe Wer weiß als Nicht-Mediziner, was man unter Abdomen (Erklärung: Bauch, Bauchregion) oder „Mongolenfleck“ (Traupe & Hamm 2006, S. 13) (Erklärung: Pigmentfleck in der Kreuzbeingegend, der sich etwa ab dem vierten Lebensjahr zurückbildet) versteht? 2.3 Ansprüche an eine Wissenschaft Um wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen, müssen bestimmte Kriterien er- füllt sein. Durch die Kennzeichnung dieser Kriterien lässt sich die Frage „Wie muss Wissenschaft beschaffen sein?“ leicht beantworten (vgl. Abb. 2.3). Ansprüche an die Wissenschaft Objektiv Präzise Zuverlässig Vollständig Ehrlich Ethisch zulässig. Abb. 2.3: Ansprüche an Wissenschaftlichkeit 2.3 Ansprüche an eine Wissenschaft 33 2.3.1 Objektiv Objektivität bedeutet, dass der Forschende eine möglichst neutrale und analysie- rende Position zur wissenschaftlichen Thematik einnimmt. Die Forschung bzw. Er- kenntnisgewinnung sollte auch für Dritte nachvollziehbar sein, um die Meinung des Verfassers prüfen zu können. Wenn z. B. eine eigene empirische Untersuchung erhoben wurde, müssen die methodischen Schritte und die Interpretation der Ergeb- nisse für unbeteiligte Dritte einsehbar sein. Nicht nur bei reinen Literaturarbeiten, sondern allgemein bei wissenschaftlichen Arbeiten müssen die zugrundeliegenden Quellen angegeben werden, um bei Bedarf als Leser in diesen Quellen nachlesen zu können. Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht 2.3.2 Präzise Die gewonnenen wissenschaftlichen Resultate sollten eindeutig und damit ver- ständlich für den Fachleser sein, d. h. wissenschaftliche Fachbegriffe müssen defi- niert sein, Abkürzungen klar sein. Aus diesem Grunde existieren z. B. ein Abkür- zungsverzeichnis oder auch ein Glossar in einer wissenschaftlichen Arbeit. Des Weiteren muss der untersuchte Gegenstand genau umrissen sein. 2.3.3 Zuverlässig (Reliabel) Das Kriterium der Reliabilität spricht die exakte Messung der Forschungsergeb- nisse an, d. h. wenn bei wiederholten Untersuchungen mit demselben Instrument die gleichen Ergebnisse erreicht werden. Um dies zu gewährleisten, kann etwa ein Test denselben Versuchspersonen zu zwei verschiedenen Zeitpunkten vorgelegt werden. Diese Anforderung ist gerade bei Seminararbeiten und Bachelorarbeiten schwer im vollen Umfang zu erfüllen. Dazu müsste jeweils eine Situation geschaf- fen werden, in der alle möglichen Einflussfaktoren auf den Untersuchungsgegen- stand derart kontrolliert oder gar konstant gehalten werden können, dass keine unkontrollierten Einflüsse des Untersuchers, der Untersuchungssituationen und der Reaktionen des Untersuchten auftritt. 2.3.4 Vollständig Informationsgrundlagen zur wissenschaftlichen Arbeit müssen umfangreich dar- gelegt werden, d. h. welche Forschungen auf dem Gebiet bereits geschehen und welche Schlussfolgerungen daraus geschlossen worden sind usw. Dieses Kriterium zulässig. kann nicht immer gänzlich erfüllt werden, da schwerlich alle wissenschaftlichen Arbeiten auf der ganzen Welt recherchiert werden können. Nichts desto trotz müs- sen die wesentlichen Arbeiten möglichst vollständig erfasst werden. Je später die wissenschaftliche Arbeit im Studienleben angesiedelt ist, desto wichtiger wird dieses Kriterium. 34 Kapitel 2 Wissenschaftliche Grundlagen 2.3.5 Ehrlich und redlich Der Autor muss seine Quellen, aus denen Erkenntnisse, Argumente und Anregungen gewonnen wurden, offenlegen. Nur so lässt sich der Innovationsgehalt einer wis- senschaftlichen Arbeit prüfen. Downloading oder das Scanning von Textvorlagen gehören aber leider bei einigen Studierenden zu üblichen Arbeitstechniken. Er- gebnis daraus ist ein wissenschaftlich uninteressantes Werk, das einen Betrugs- sachverhalt begründet und somit die mit der Arbeit abgegebenen eidesstattlichen Erklärung („Selbstständigkeit der Arbeit“) bricht (vgl. Kap. 7.1.6). Beispiel: Betrug durch erfundene / abgeänderte Forschungsergebnisse Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Der in Forschungskreisen hochangesehene Sozialpsychologe Diederik Stapel gab zu, dass er Daten verändert und Forschung gefälscht hatte – allerdings nicht ganz freiwillig. Der Verdacht wurde von drei Mitarbeitern geweckt, die sich einem anderen Professor anvertrauten. Letzterer informierte den Rektor der Universität an der Stapel arbeitete. Bei 25 Veröffentlichungen konnten Untersu- chungskommissionen Manipulation nachweisen, in 30 Fällen waren Daten darüberhinaus völlig frei erfunden. Neben dem Verlust seiner wissenschaftlichen Karriere musste Stapel trotz eines umfassenden Geständnisses einige Wochen gemeinnützige Arbeit leisten (Rauner 2014). Die wissenschaftliche Redlichkeit kann durch Konkurrenz unter Forschern und deren Narzissmus für eigene wissenschaftliche Studienergebnisse eingeschränkt werden. Gerne werden gerade innovative Forschungsergebnisse von anderen For- schern abgelehnt, weil diese nicht konform mit der eigenen Meinung sind. Ein solches Vorgehen bremst den gesamten Forschungsprozess. Beispiel: Konkurrenz unter medizinischen Forschern Ein Streitfall mit weitgehender Wirkung stellten die Forschungsergebnisse von Semmelweis dar (Zankl 2012): Dem Mediziner fiel um das Jahr 1845 auf, dass in zwei benachbarten Abteilungen für Geburtshilfe in Wien ein sehr unterschiedlicher Prozentsatz von Kindbettfieberfällen auftrat. Die Analyse von Semmelweis offenbarte, dass die durch Obduktionen und Sezierübungen verun- reinigten Hände der Ärzte und Medizinstudierenden den Schwangeren den Tod brachten. Eine ausreichende Desinfektion wurde schlicht unterlassen: Hygiene galt als Zeitverschwendung und in Fachkreisen inkompatibel mit geltenden Theorien über Krankheitsursachen. Semmelweis ver- ordnete darauf vor jeder geburtshilflichen Untersuchung ein gezieltes Händewaschen mit wäss- riger Chlorkalklösung. Als Resultat dieser Maßnahme konnte die Infektionsrate in kurzer Zeit stark reduziert werden, was die Korrektheit seiner Vermutungen belegte. In der Fachwelt wur- den seine Erkenntnisse jedoch zurückgewiesen. Erst Jahre später wurden die für das Kindbett- fieber verantwortlichen Eiterbakterien gefunden. Darauf kamen die wissenschaftlichen Gegner von Semmelweis nicht umhin, seine Analyse anzuerkennen, da eine Desinfektion der Hände die zulässig. Bakterien abtötet. 2.4 Wissenschaftliches Wissen versus Alltagswissen 35 2.3.6 Ethisch korrekt Wissenschaftliche Forschungen sollten sich an allgemeinen ethischen Standards orientieren, z. B. der Menschlichkeit, der Würde von Individuen oder der Erhaltung der Umwelt. Dieser Anspruch steht in enger Verbindung zur Objektivität sowie zur Ehrlich- und Redlichkeit. Allgemein hat jeder Forschende die Verantwortung für das eigene Handeln. An zahlreichen Hochschulen besteht zudem eine Ethik- kommission, die umfangreichere Forschungsprojekte hinsichtlich ethischer Fragen prüft und über die Zulässigkeit von kritischen Studien mit Personen und Tieren so- wie Untersuchungen mit personen- oder organisationsbezogenen Daten entschei- det. Betroffen können etwa Projekte sein, in denen Probanden aufgrund von Ge- Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht schlecht, Ethnie, Religion, sexueller Orientierungen oder politischer Einstellungen diskriminiert werden könnten. Beispiel: Medizinische Forschung Bei medizinischen Studien sollten etwa nicht unnötige Schmerzen für die Patienten in Kauf ge- nommen werden, nur um ein optimales Forschungsergebnis zu erzielen. Ebenso stellt „Informed Consent“ (Einwilligung nach erfolgter Aufklärung) eine allgemein anerkannte ethische Voraus- setzung für die Durchführung von Forschung am Menschen dar (Fässler & Biller-Andorno 2010). Einschränkungen dieses Grundsatzes können jedoch z. B. in mangelnder Einwilligungsfähigkeit mancher Patientengruppen (wie z. B. von Kleinkindern) liegen. 2.4 Wissenschaftliches Wissen versus Alltagswissen Wissenschaftswissen ist nicht gleich Alltagswissen (vgl. Tab. 2.1). Zwar helfen er- fahrene Handlungsanleitungen den Individuen, ihren Alltag befriedigend zu struk- turieren und zu bewältigen. Allerdings reichen individuelle Alltagstheorien nicht zur Bewältigung unübersichtlicherer Handlungssituationen, kollektive Alltagstheo- rien tragen zudem nicht hinreichend zur Lösung gesellschaftlicher Aufgaben bei. Wissenschaftliches Arbeiten hingegen ist auf das Finden von Alternativen zur Lösung von komplexen Problemsituationen angelegt. Merkmale des wissenschaft- lichen Prozesses sind dabei ein methodisches Vorgehen, eine Theoriebildung usw. Es ist jedoch zu bemerken, dass alltagsförmige Erkenntnis und wissenschaftliche Erkenntnis keine gegenseitigen Pole darstellen, da beide aufeinander einwirken. So bildet etwa die Alltagssprache die Grundlage für die wissenschaftliche Sprache. Zudem kann wissenschaftliches Wissen in Alltagswissen übergehen. zulässig. Beispiel: Erkenntnisse aus der Ernährungswissenschaft Viele Vitamine kann der menschliche Körper nicht selbst produzieren. Deswegen müssen sie über die Nahrung eingenommen werden. Durch die Einnahme von Vitamintabletten sollte nicht nur die Krebsrate gesenkt, sondern auch eine positive Wirkung auf das Herz-Kreislauf-System und viele andere Effekte erzielt werden. Eine Studie von Lee, Folsom, Harnack, Halliwell & Jacobs 36 Kapitel 2 Wissenschaftliche Grundlagen (2004) beweist z. B. die negative Wirkung von Vitamin C-Konzentraten – zumindest was Zucker- kranke angeht. 281 der 1923 Diabetikerinnen, die an der Untersuchung teilgenommen hatten, starben während der 15-jährigen Studiendauer durch Herztod. Durch weitere Studien hat sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass Vitamintabletten den positiven Nutzeffekt von Obst und Gemüse nicht oder nur eingeschränkt imitieren können, da sie nur einen beschränkten Anteil ihrer wirksamen Substanzen aufweisen. Eine komplette Frucht ist aus diesem Grund wir- kungsvoller als die Summe all ihrer Inhaltstoffe. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse werden durch die Medien weitergegeben und somit zu Alltagswissen. Tab. 2.1: Unterscheidung von Alltags- und wissenschaftlichem Wissen Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Alltagswissen Wissenschaftliches Wissen Entstehung des Durch Erfahrungen (Lebenserfah- Kommt auf Grundlage von nachvoll- Wissens rungen, learning by doing usw.) ziehbaren Studien zustande, Ergeb- nisse sind transparent Objektivität des Direkte Verknüpfung von Wissen und Trennung von Wissen und Person; Wissens Person; Wissen ist für Individuum hilf- Wissen ist intersubjektiv, d. h. spiegelt reich; subjektiv geprägt. mehr als die Werte und Interessen des Forschers wider. Weitergabe bzw. Mündlich überlieferte Alltagssprache Wissenschaftssprache mit sprach- Vermittlung des und Handlungsroutinen. Veröffentli- lichen Eigenheiten und Spezifika- Wissens chung, z. B. in Zeitungen. tionen. Veröffentlichung als Bücher oder Aufsätze in Fachjournals. 2.5 Begriffe in der Wissenschaft Die Wissenschaft ist geprägt von Fachbegriffen und wissenschaftlichen Vorgehens- weisen. Die folgenden Ausführungen dienen dazu, diese Welt zu erschließen und Begriffe wie Theorie, Hypothesen und Gesetze greifbar zu machen und mit Beispie- len zu unterlegen. Merke: Alle Begriffe, die in der Theorie, Hypothesen oder Gesetzen enthalten sind und deren Bedeutung nicht zweifelsfrei feststeht, müssen definiert werden. Dies kann z. B. in einem Glossar geschehen. zulässig. 2.5.1 Hypothesen Wissenschaftliche Hypothesen sind Annahmen über reale Sachverhalte in Form von Konditionalsätzen. Sie leisten eine Erklärung über einen Sachverhalt, wodurch sie sich von einer Prognose unterscheidet, die keine erklärende Funktion besitzt. Hypothesen 2.5 Begriffe in der Wissenschaft 37 weisen über den Einzelfall hinaus, d. h. sie sind generalisierbar, sind durch Erfahrungsdaten widerlegbar, man spricht hier auch von Falsifizier- barkeit, haben einen empirischen Gehalt, d. h. sie sind empirisch untersuchbar. Insbesondere die Falsifizierbarkeit von Hypothesen basiert auf Gedanken von Karl Popper (2005), der erstmalig im Jahre 1934 in seinem Buch „Logik der Forschung“ diese Fehlbarkeitstheorie beschrieb. Er forderte von jeder wissenschaftlichen Hy- pothese und Theorie, dass sie falsifizierbar sei. Popper führte das Kriterium der Fal- sifizierbarkeit ein, um wissenschaftliche Aussagen von anderen, metaphysischen Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht oder pseudowissenschaftlichen zu differenzieren. Neben dieser zentralen Forde- rung sind folgende Punkte bei der Formulierung von Hypothesen zu beachten: Eine Hypothese enthält mindestens zwei semantisch gehaltvolle Begriffe, die durch den logi- schen Operator wie „wenn-dann“ oder „je-desto“ verbunden sein können. muss Geltungsbedingungen enthalten. muss widerspruchsfrei sein. Beispiel für die Formulierung einer Hypothese: 1. Schritt: Annahme über einen realen Sachverhalt: „Mädchen erzielen bessere Noten in Klas- senarbeiten als Jungen.“ 2. Schritt: Hypothese formulieren: „Wenn ein Individuum ein Mädchen ist, dann erzielt sie in einer Klassenarbeit eine bessere Note als ein Individuum, das ein Junge ist“. 3. Schritt: Eingrenzung der Hypothese: „Wenn ein weibliches Individuum im Alter von 6 – 14 Jahren eine gemeinsame Prüfung mit einem männlichen Individuum im gleichen Alter schreibt, dann erzielt sie eine bessere Note in der Prüfung“. Fazit: Diese Aussage ist erstens empirisch untersuchbar, z. B. durch Untersuchungen in verschiedenen Schultypen, besitzt zweitens Allgemeingültigkeit für Individuen im Alter zwischen 6 – 14 und ist drittens falsifizierbar, z. B. durch einen Jungen, der ein besseres Prüfungsergebnis als ein Mädchen erzielt. Das Formulieren von Hypothesen ist nicht einfach, hier werden zahlreiche logische Fehler gemacht. Folgende Erläuterungen mögen beim Ableiten von Hypothesen helfen. Keine Hypothesen sind zulässig. a) „Kann-Sätze“ „Kann-Sätze“ sind nicht falsifizierbar und laufen dadurch einem wesentlichen Kri- terium einer Hypothese zu wider. 38 Kapitel 2 Wissenschaftliche Grundlagen Beispiel: „Nur intensives Lernen zwei Wochen vor einer Prüfung kann zu besseren Prüfungsergebnissen führen“. Fazit: Dieser Satz ist nicht falsifizierbar, weil jedes Ereignis, also sowohl ein besseres Prüfungs- ergebnis als auch ein schlechterer Ausgang mit dem Kann-Satz übereinstimmt. b) Tautologien Tautologie bezeichnet eine wiederholende Häufung gleichbedeutender Wörter der- Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht selben Wortart (Sätze, die einen Sachverhalt doppelt wiedergeben), z. B. „eine Bio- grafie über sein Leben“. Solche Sätze sind nicht falsifizierbar. Beispiel: „Wenn Manager ihre finanzielle Vergütung steigern, dann verdienen sie mehr Geld.“ c) „Es gibt-Sätze“ „Es gibt-Sätze“ können keine Hypothesen sein, weil sie nicht allgemeingültig sind und praktisch nicht falsifizierbar sind. Beispiel: „Es gibt männliche Individuen, die niemals arbeiten“. Fazit: Interpretiert man diesen Satz und seinen Sinn, dann ergibt sich nichts anderes als: Männliche Individuen arbeiten zwar (prinzipiell schon), es gibt aber mindestens einen Mann, der niemals arbeitet. Erstens erhebt dieser Satz keinen Anspruch auf Allgemein- gültigkeit, zweitens ist er praktisch nicht falsifizierbar, denn man müsste bei allen Männern dieser Erde beweisen können, dass sie niemals arbeiten. Je nach Form der wissenschaftlichen Arbeit wird mehr oder weniger mit Hypothe- sen gearbeitet. Empirische Forschungen sind vor allem von Hypothesen geleitet, was auch die Erkundung von der Hypothese zugrunde liegenden Sachverhalten beinhaltet. Das kann eine Hausarbeit oder Projektarbeit normalerweise nicht leis- ten. Hier können so genannte Arbeitshypothesen formuliert werden, die auch sub- jektive Vermutungen beinhalten und damit Grundlage für (Vor-)Untersuchungen und weiterführende Forschungen sind. Eine Forschungshypothese hingegen resul- tiert aus intensiven Recherchen. Dissertationsarbeiten, aber auch schon Master- zulässig. oder auch Bachelorarbeiten können aufgrund des längeren Bearbeitungszeitraums solches leisten. 2.5 Begriffe in der Wissenschaft 39 2.5.2 Gesetz Gesetze sind prinzipiell mit Hypothesen gleichzusetzen. Jedoch wird der Begriff „Gesetz“ vor allem dann verwendet, wenn sich eine Aussage in der Realität schon „bewährt“ hat. Ein naturwissenschaftliches Gesetz ist beispielsweise eine experi- mentell überprüfte Hypothese. Beispiel aus der Volkswirtschaftslehre „Das Ertragsgesetz“: Nach Turgot führt nicht jede Erhöhung des Einsatzes eines Produktionsfaktors zu einer gleich hohen Zunahme des Ertrags (Voss 2014). Im Gegenteil, die Steigerung eines Produktionsfaktors führt unter der Bedingung, dass alle anderen Produktionsbedingungen gleich bleiben, zwar zu- Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht nächst zu einer Ertragserhöhung. Diese fällt jedoch mit jeder weiteren Erhöhung des Produk- tionsfaktors von Mal zu Mal geringer aus und wird ab einem bestimmten Zeitpunkt sogar gleich Null oder negativ. Auf einen Fall konkretisiert: Durch eine kontinuierliche Steigerung der Arbeits- kräfte auf einem Acker (bei sonst gleich bleibenden Ressourcen / Bedingungen, also z. B. gleich- bleibender Fläche) wächst die Erntegeschwindigkeit zunächst stetig an. Ab einer bestimmten Anzahl nimmt sie ab, da sich die Arbeiter auf den „Füßen rumstehen“. Das Gesetz lässt sich auch auf den Gebrauch von Düngemitteln usw. übertragen. 2.5.3 Theorie Je nach wissenschaftstheoretischem Standpunkt wird das Wort „Theorie“ unter- schiedlich beschrieben. Allgemein kann man eine Theorie als ein grundlegendes Ideengebilde oder gedanklicher Entwurf eines Sachverhaltes sehen. Damit bietet sie einen (spezifischen) Ausschnitt aus der Realität. Eine Theorie entsteht im Er- kenntnisprozess nach Sichtung des Stands der Forschung. Sie enthält in der Regel Hypothesen und Gesetze über den Gegenstandsbereich (vgl. Abb. 2.4), d. h. Hypo- thesen und Gesetze gehen in Theorien ein. Durch die Untersuchung ihrer zugrun- deliegenden Hypothesen kann eine Theorie daher widerlegt werden. Hypothese 1 Hypothese 2 Gesetz 1 Gesetz 2 Theorie zulässig. Abb. 2.4: Zusammenhang zwischen Hypothese, Gesetz und Theorie 40 Kapitel 2 Wissenschaftliche Grundlagen Beispiel: Theorie der Reaktanz nach Brehm (1966) Reaktanz ist mit Einengung der eigenen Handlungsfreiheit verbunden. Reaktanzverhalten tritt allgemein auf, wenn äußere Einflussversuche zur Änderung oder Prüfung von Einstellungen er- folgen, Barrieren (erschweren es, einen bestimmten Zustand zu erreichen) errichtet werden oder ein Zwang zur Auswahl zwischen verschiedenen Alternativen besteht. Reaktanz ist also die Moti- vation zur Wiederherstellung der verlorenen Freiheitsräume. Z. B. Eltern sagen in der Erziehung Jugendlicher gerne den Satz „Bier trinken ist nichts für dich, das ist nur etwas für Erwachsene“. Die Aussage führt in vielen Fällen zu einem „jetzt will ich es aber doch trinken“. Veröffentlichte Theorien werden oft als Quellen zitiert und fließen somit direkt in Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht andere wissenschaftliche Arbeiten ein. Selbst hergeleitet werden Theorien eher in wissenschaftlichen Arbeiten höherer Stufen wie Doktorarbeiten. 2.5.4 Werturteil Ein Werturteil beinhaltet als Form einer persönlichen Einstellung eine Stellung- nahme eines Individuums bezüglich eines mehr oder minder genau bestimmten Objekts mit einer positiven oder negativen Note (Brühl 2017). Es ist meist mit einer ausdrücklichen Erwartung bzw. einer Aufforderung an Dritte verbunden, die be- kundete Wertung zu teilen bzw. zu bestätigen. Beispiel für Werturteile: „Die Sozialhilfesätze sind einfach zu hoch.“ „Die Regierung versagt wieder in allen Punkten.“ „Mädchen werden in der Schule doch immer bevorzugt.“ Wissenschaft sollte Werturteile ausschließen (vgl. Kap. 2.3.1), da diese nicht überprüf- bar sind – sie drücken persönliche Meinungen aus und können deswegen weder wahr noch falsch sein. Teilweise wird auch die Meinung vertreten, dass Werturteile auch in der Forschung bestehen können, aber als solche kenntlich gemacht werden müssen. Eins ist allerdings zu bedenken: Wissenschaftliche Forschung besitzt immer einen Wertanteil, da aus einer unendlichen Menge denkbarer Fragen einige vom For- scher ausgewählt und damit Bearbeitungsgegenstand werden. Eine solche Wertung ist allerdings unvermeidlich – sie muss allerdings im Forschungsprozess transpa- rent gemacht werden. Es gilt, möglichst vorurteilsfrei an die ausgewählten wissen- schaftlichen Fragestellungen heranzugehen. zulässig. 2.6 Empirische Forschung Eine empirische Untersuchung ist „a system for collecting information from or about people to describe, compare, or explain knowledge, attitudes and behavior“ 2.6 Empirische Forschung 41 (Fink 2003, S. 1). Sie startet nicht einfach mit dem Einsatz einer Erhebungsme- thode, eine Untersuchung ist vielmehr „a system“ und besteht aus mehreren Pla- nungs- und Durchführungsschritten. Diese Schritte orientieren sich nicht zuletzt daran, welche Bearbeitungsmöglichkeiten ein wissenschaftliches Thema zulässt, innerhalb welcher Forschungsrichtung (qualitative und quantitative Forschung) man seine Forschungsarbeit basierend darauf entwickelt, welche Ziele durch die empirische Untersuchung erreicht werden sollen und welche Daten dafür erhoben werden müssen. Im Folgenden werden qualitative und quantitative Forschungs- ansätze in ihren Grundzügen beschrieben. Dabei wird problematisiert, für welche Forschungsfragen welcher Weg gangbar ist und welche Schritte die Planung und Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Durchführung der Untersuchung zu beinhalten hat. Qualitative und quantitative Forschung gehen mit einem vollständig verschiedenen Verständnis an empirische Studien heran und stellen andere Ansprüche an die der Forschung zugrundeliegende Theorie, die Qualität der Daten, den Aufbau und das Resultat einer Analyse. 2.6.1 Qualitative Forschung Bei qualitativer Forschung steht das „Verstehen“ und „Deuten“ wissenschaftlicher Zusammenhänge im Mittelpunkt, weshalb ein Forschungsdesign offen, flexibel und umfassend angelegt ist. Der Untersuchungsprozess ist eher als eine Form der Kom- munikation und der Interaktion zwischen dem Forscher und dem zu Erforschenden zu interpretieren. Durch den Prozess entstehen ununterbrochen neue Fragen, die wiederum an den Forschungsgegenstand herangetragen werden, um weitere Ein- sichten abzuleiten. Daraus folgt, dass das Forschungsfeld noch zu erkunden oder tiefer zu hinterfragen ist. Es ist ein explorativer Ansatz, der eine grundsätzliche Erkundung einer Thematik unterstützen soll. Die Forschung ist also eher „hypothe- sensuchend“ und versucht schrittweise eine Theoriebildung und -weiterentwick- lung („rolling hypothesis“). Im Rahmen des Forschungsvorgehens wird oft eine kleinere Stichprobe mit einer „typischen“, gezielten Stichprobenauswahl („theore- tical sampling“) gewählt. In der qualitativen Forschung existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Forschungs- techniken und -methoden. An dieser Stelle werden lediglich drei Varianten exempla- risch erläutert, um den Charakter der qualitativen Forschung zu veranschaulichen. Narratives Interview zulässig. Diese Methode weist einen hohen Grad an Hörerorientierung auf und wird vor- nehmlich im Zusammenhang mit biografischen Fragestellungen angewandt. Die gebrauchte Eingangsfrage ist schlicht eine Erzählaufforderung. Sein Einsatzgebiet findet diese Form des Interviews bei explorativen Fragestellungen, vor allem wenn es um schwer erfragbare subjektive Sinnstrukturen geht. 42 Kapitel 2 Wissenschaftliche Grundlagen Leitfadeninterview Das Interview wird mit Rückgriff auf einen mehr oder weniger strukturierten Leitfa- den (teilstandardisiertes, standardisiertes Leitfadeninterview) geführt. Die Proban- den können dabei je nach Offenheitsgrad das Gespräch selbst steuern oder durch den Interviewer gelenkt werden. Bei der offeneren Version muss der Interviewer nur darauf achten, dass alle anvisierten Themen im Gespräch behandelt werden. Focus Groups Es ist eine moderierte Form der Gruppendiskussion zu einem festgelegten The- Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht ma, bei der in der Regel 6-12 Teilnehmer vorhanden sind. In Gruppendiskussionen werden nicht nur Fakten, sondern im Diskussionsprozess die dahinterliegenden Einstellungen, Erwartungen und Motive sichtbar. Durch die Gruppendynamik kön- nen auch stark emotional gefärbte Äußerungen entstehen und starke Reaktion und Gegenreaktion der Teilnehmer zustande kommen. Gruppendiskussionen sind spe- ziell zur Analyse von komplexen Verhaltensweisen und den zugrunde liegenden Motiven brauchbar, da erforscht werden kann, wie unterschiedliche Individuen die gleichen Situationen angehen und lösen. 2.6.2 Quantitative Forschung Bei der quantitativen Forschung steht das standardisierte, strukturierte „Messen“ festgelegter Inhalte im Vordergrund der Erhebung, um Hypothesen zu prüfen. Ver- halten wird durch Modelle und Zusammenhänge möglichst exakt beschrieben. Hierbei wird eine große, repräsentative Stichprobe („statistical sampling“) gewählt. Abb. 2.5 illustriert den charakteristischen Prozess einer quantitativen Studie. Theorie 1 – Studium der theoretischen Grundlagen Hypothesenbildung 2 – Formulierung von falsifizierbaren Hypothesen Methoden- und Stichprobenauswahl 3 – zur Untersuchung zweckmäßiger Bestimmung Datenerhebung 4 – Durchführung der Untersuchung zulässig. Auswertung und statistische Prüfung 5 – Anwendung statistischer Methoden zur Hypothesenprüfung Abb. 2.5: Prozess einer quantitativen Studie Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Atteslander (2010) 2.6 Empirische Forschung 43 In der quantitativen Forschung bestehen ebenso wie in der qualitativen Forschung unterschiedliche Forschungstechniken und -methoden. Es existieren jedoch drei zentrale Erhebungsmethoden, die sich immer wieder in anderen Varianten in der quantitativen Forschung zeigen (vgl. Abb. 2.6). Erhebungsmethoden quantitativer Forschung Beobachtung Befragung Experiment Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht Abb. 2.6: Methoden quantitativer Forschung 2.6.2.1 Befragung Quantitative Befragungen werden anhand eines fix vorgegebenen Frageschemas ausgeführt, d. h. Fragen und Antworten sind festgelegt und dürfen nicht verän- dert werden, um eine Vergleichbarkeit der Daten zu gewährleisten. Ziel ist dabei, exakte Aussagen über die Verteilung der abgefragten Eigenschaften innerhalb des Samples zu erhalten. Um allgemeingültige Aussagen treffen zu können, muss eine möglichst große und repräsentative Stichprobe befragt werden. Im Wesentlichen sind die schriftliche und mündliche Befragung zu differenzieren (vgl. Abb. 2.7). mündliche Befragung z.B. schriftliche Befragung z.B. telefonisch durchgeführte Online-Fragebögen standardisierte Interviews postalische Briefbefragung standardisierte Face to Face Interviews Abb. 2.7: Beispiele für mündliche und schriftliche Befragung 2.6.2.2 Beobachtung Bei einer Beobachtung erfolgt ein spezifischer Zugang zu sozialen Phänomenen, bei dem Daten über die Untersuchungsobjekte nicht durch deren direkte Angaben zulässig. entstehen, sondern indirekt durch den Forscher oder durch von ihm angewiesene Personen erhoben werden. Im Rahmen der Beobachtung werden Verhaltensweisen, Vorgänge oder Ereignisse in Bezug auf bestimmte Situationen aufgezeichnet, wie z. B. das Kauf- und Verkaufsverhalten, die Reaktion auf Reize durch physiologische Messung psychischer Variablen (Pulsschlag, Hautwiderstand, Pupillenweite) oder der Blickregistrierung zur Analyse von Aufmerksamkeitswirkungen. Zur Aufzeich- 44 Kapitel 2 Wissenschaftliche Grundlagen nung der Gegebenheiten bestehen standardisierte Codierschemata. Darin werden die Aufzeichnungen des beobachtenden Individuums eingetragen. Vor dem Studi- enbeginn muss also eindeutig definiert sein, was beobachtet werden soll, d. h. was im Hinblick auf die Forschungsfragestellung zu kategorisieren ist. Varianten der Beobachtung werden in der folgenden Tabelle illustriert. Tab. 2.2: Klassifizierung unterschiedlicher Beobachtungsformen Arten der Beobachtung Beschreibung verdeckte Beobachtung beobachtete Personen wissen nicht, dass sie beobachtet werden Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 193.5.58.254 aus dem Netz der USEB FH Ostschweiz Rapperswil am 01.11.2019 um 09:51 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht offene Beobachtung beobachtete Individuen wissen, dass sie beobachtet werden, es kommt aber zu keinem Kontakt mit dem Beobachter strukturierte Beobach- Beobachtung liegt ein ausführliches Beobachtungsschema zugrunde tung unstrukturierte Beobach- Beobachtung liegt kein ausführliches Beobachtungsschema zugrunde tung (eher qualitative Erfassung) Feldbeobachtung Verhalten wird in einem natürlichen Umfeld beobachtet Laborbeobachtung Verhalten wird in einer standardisierten Situation erhoben Selbstbeobachtung Selbstaufzeichnung, d. h. Beobachtungsziel und -zweck sind bekannt (eher kritisch in quantitativer Forschung) Fremdbeobachtung Fremdaufzeichnung, d. h. Beobachtungsziel und -zweck sind unbekannt 2.6.2.3 Experiment Ein Experiment ist ein kontrollierter, wiederholbarer Versuch zwecks Messung von Ursache-Wirkungs-Beziehungen unter vorher festgelegten Umweltbedingungen. Damit handelt es sich um keine selbstständige Methode, sondern um eine Kom- bination aus Befragung und Beobachtung. Einsatzgebiete finden sich vor allem in den Naturwissenschaften, aber auch in den Sozialwissenschaften. In der Öffent- lichkeit haben vor allem einige psychologische Experimente einen hohen Bekannt- heitsgrad erlangt. Beispiel: Stanford Prison Experiment Das Experiment wurde im Jahr 1971 vom amerikanischen Psychologen Philip Zimbardo an der Stanford University durchgeführt, wobei ein umgebauter Flur im Keller der Universität als Gefängnis diente. Studienziel war die Erkundung des menschlichen Verhaltens im Rahmen eines Rollenspiels (Zimbardo 2016; Kühl 2005): Es wurden 24 freiwillige Probanden zufällig in zulässig. die Gruppen „Gefangene“ oder „Wärter“ aufgeteilt, die sie zwei Wochen einnehmen sollten. Die Gefangenen mussten vorab Dokumente unterschreiben, in denen sie eine Einschränkung ihrer Grundrechte während des Experimentes in Kauf nahmen. Einige Wärter nutzen bereits nach kurzer Dauer ihre Machtposition aus und leiteten drastische Maßnahmen gegen Gefange- ne ein. Die Repressionen führten zu einem Gefangenenaufstand, der niedergeschlagen wurde. 2.6 Empirische Forschung 45 Die Sanktionen gegenüber den Häftlingen wurden darauf immer härter, wie z. B. Ausziehen der Kleidung mit anschließendem Abspritzen mit einem Feuerlöscher. Bevor die erste Versuchswoche abgelaufen war, musste das auf zwei Wochen terminierte Experiment abgebrochen werden. In modifizierter Form bildet das „Stanford Prison Experiment“ die Grundlage für einen Roman und mehrere Verfilmungen. Im Fokus eines Experimentes steht das Beobachtungsobjekt, dessen Eigenschaften in Form von formulierten Hypothesen getestet werden. Der Test kann unter künst- lichen (Laborexperiment) oder natürlichen (Feldexperiment)

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