Lernmodul Wissenschaftliche Grundlagen PDF
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Viola Hartung-Beck, Andrej König, Jessica Klinowski, Mareike Schneider, Annika Troitzsch
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This document provides a module on scientific fundamentals. It introduces the difference between everyday knowledge and scientific knowledge, and discusses the role of science in social work. It includes a definition of theory. The document is aimed as study material or learning module for students.
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Modul: Wissenschaftliche Grundlagen Autor: Viola Hartung-Beck, Andrej König, Jessica Klinowski, Mareike Schneider, Annika Troitzsch Copyright: This work is licensed under a Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 License....
Modul: Wissenschaftliche Grundlagen Autor: Viola Hartung-Beck, Andrej König, Jessica Klinowski, Mareike Schneider, Annika Troitzsch Copyright: This work is licensed under a Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 License. Vertiefungswissen anzeigen Alltagswissen und wissenschaftliches Wissen Oder: Warum ist "Wissenschaft" für die Soziale Arbeit wichtig? Mit dem Beginn des Studiums an einer Hochschule stellen sich dir sehr viele Fragen. Neben pragmatischen Fragen, Wie erstelle ich meinen Stundenplan? oder Wie melde ich mich zur Prüfung an?, fragst du dich wahrscheinlich: Was ist "Wissenschaft"? Brauche ich "Wissenschaft" wirklich? Welchen Nutzen hat "Wissenschaft" für mich und andere? Diese Fragen zu Beginn deines Studiums enthalten sicherlich eine grundsätz- liche Sinnfrage, d.h. welchen Sinn hat eine Beschäftigung mit Wissenschaft - also mit Theorien und Literatur - für meine spätere Berufspraxis als Sozialar- beiter:in. Das Video "Warum ist Wissenschaft für die Soziale Arbeit wichtig?" soll dir den Bezug von Wissenschaft und Sozialer Arbeit aufzeigen und verdeutlichen, warum es gut investierte Zeit ist wissenschaftliche Grundlagen und empiri- sche Forschungsmethoden als Sozialarbeiter:in zu beherrschen. Video "Warum ist Wissenschaft für die Soziale Arbeit wichtig?" von OTUWI-Projektteam (@FHDortmund), CC-BY-SA 4.0. Um die Frage zum Sinn von Wissenschaft für Ihr Studium zu vertiefen, gehen wir auf den nächsten Seiten auf die Unterscheidung zwischen Alltags- wissen und wissenschaftlichen Wissen genauer ein und zeigen dir, welche Bedeutung Wissenschaft für die Beantwortung von praxisrelevanten Fra- gestellungen hat. Alltagswissen Menschliches Handeln gründet sich auf Annahmen, die über unsere alltägliche Wahrnehmung, d. h. durch unsere persönlichen Erfahrungen oder auch die Erfah- rungen anderer, gewonnen wurden. Im Alltag spielen deshalb sogenannte Alltagstheorien oder sogenanntes Alltagswissen eine wichtige Rolle. Definition Theorie Eine Theorie ist eine aus menschlichen Denkleistungen hervorgegangene Wissenseinheit bzw. ein Aussagesystem, in der Aussagen über eine Beziehung und über (Wechsel-)Wirkungen von "Tatsachen" getroffen werden. Eine Theorie fasst die Gesamtheit des gewonnenen Wissens aus Überlegungen, Berechnungen, Be- obachtungen und Experimenten zusammen und stellt die derzeit beste Annäherung eines Faches an einen Ausschnitt der Wirklichkeit dar. Mit einer Theorie wird versucht, einen Sachverhalt oder gesellschaftliche Zusammenhänge zu erklären, zu beschreiben oder vorherzusagen. Eine Theorie muss logisch konsis- tent, widerspruchslos und informativ sein. Auszug aus: Glossar, Begriff "Theorie", LLZ, CC BY SA 4.0. Bearbeitet durch OTUWI – einzelne Passagen gekürzt, Hervorhebungen ergänzt. Darstellung "Weiche" von OTUWI-Projektteam (@FHDortmund), CC-BY- SA 4.0. Wir müssen ständig Antworten auf praktische Fragen finden, z. B. "Welchen Bus nehme ich am besten zur Hochschule?" In unserem Alltag entscheiden wir uns meistens auf Grundlage unserer individuel- len Erfahrungen: z. B. der Bus der Linie 1 kommt „immer“ zu spät, deshalb nehme ich lieber die U-/S-Bahn (obwohl diese statistisch gesehen vielleicht viel häufiger zu spät kommt als der Bus). Alltagstheorien sind damit häufig geprägt von subjektiven Verzerrungen, da die angewandten Beobachtungssysteme nur eine geringe Systematik aufweisen. Was eine Person wahrnimmt und wie sie es bewertet, hängt stark von ihrer Umwelt ab. Solche Überzeugungen lassen sich damit nicht einfach auf das Denken, Wahr- nehmen und Handeln anderer Personen übertragen. Alltagstheorien können keine Generalisierbarkeit beanspruchen, da sie auf Einzelereignissen beruhen. Alltags- theorien erleichtern es uns dennoch, im Alltag Entscheidungen zu treffen und unsere Sicht auf die Welt zu strukturieren. Alltagstheorien entstehen durch persönliche Erfahrungen in Gesprächen, mit Hilfe von individuellen Beobachtungen oder durch gemeinsame Erlebnisse in Gruppen. Soziale Kontakte üben einen großen Einfluss auf die Herausbildung von subjektiven Überzeugungen, Wertvorstellungen und Meinungen aus. Alltagserfahrungen werden eher zufällig gemacht und sind unsystematisch; Meinungsbildung geschieht vor diesem Hintergrund in der Regel eher unreflektiert. Wissenschaftliches Wissen Genauso wie Menschen im Alltag stellen sich auch Wissenschaftler:innen Fragen zu Alltagsproblemen. Wissenschaft wird deshalb auch als eine problemlösende Die Anomietheorie ist ein Beispiel für eine wissenschaftliche Theo- Tätigkeit beschrieben. Denn Wissenschaft produziert Erkenntnisse (Wissen) mit rie, die sich mit der Frage beschäftigt, warum und wie abweichendes dem Ziel, begründete Aussagen über einen Objektbereich (Theorie) zu formulie- menschliches Verhalten entsteht. ren. Wissenschaft kann also Antworten auf Probleme in der Praxis anbieten, in- dem sie wissenschaftliches Wissen produziert. Anomietheorie Ursprünglich von Durkheim (1897) formuliert, entwickelte Mer- ton (1938) laut Dunkake (2010) mit der Anomietheorie eine der ältesten und einflussreichsten Theorien abweichenden Verhal- tens. Merton gehe davon aus, dass Kriminalität durch die Diffe- renz zwischen legitim anerkannten kulturellen Zielen einer Ge- sellschaft (z. B. Konsum) und der (ungleichen) Verteilung der Mittel zur Erreichung dieser Ziele (z. B. Geld) entsteht. Men- schen könnten dabei auf fünf verschiedene Weisen auf die Anomie reagieren, wobei eine davon kriminelle Handlungen beinhalte (Dunkake, 2010, S. 205 f.). Wissenschaft unterscheidet sich demnach von unserem Alltagshandeln und unseren Alltagsbeobachtungen in der Art, wie sie Antworten auf diese Fragen findet: eindeutig und klar systematisch und kontrolliert nachvollziehbar und überprüfbar verallgemeinerbar und generalisierbar Eindeutig und klar definierte Begriffe Nachvollziehbare und überprüfbare Ergebnisse Im Gegensatz zum Alltagswissen verwendet die Wissenschaft eindeutige und Außerdem müssen die Ergebnisse bzw. Antworten auf die Problem-/Fragestel- klar definierte Begriffe, da ein und dasselbe Wort verschiedene Bedeutungen lung nachvollziehbar und überprüfbar sein. Denn es muss für Dritte erkennbar haben und dementsprechend sehr unterschiedlich verstanden werden kann. sein, wie in einer wissenschaftlichen Arbeit Ergebnisse produziert werden. Beispiel Beispiel Schaut man sich Dunkakes (2010) Forschung zum Einfluss der Anhand Dunkakes (2010) Forschung lässt sich zeigen, dass Familie auf das Schulschwänzen an, erscheint der Kernbegriffe Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit z. B. über die exakte der Familie auf den ersten Blick eindeutig. Wir wollen nun auf- Nennung der verwendeten Quellen und der genauen Erklärung zeigen, dass von uns als selbstverständlich verwendete Begriffe des angewandten methodischen Vorgehens erreicht werden unterschiedlich verstanden werden können. So kann man Fa- kann. Denn die Erkenntnisse ihrer Studie, d. h. die Antworten milie z. B. definieren als auf ihre eingangs formulierte Problem-/Fragestellung, sollen für andere Forscher:innen und Leser:innen nachvollziehbar und „eine auf Dauer angelegte Verbindung von Mann und überprüfbar sein. Forschungsarbeiten sollten zudem bei glei- Frau mit chem methodischen Vorgehen zu ähnlichen bzw. vergleichba- gemeinsamer Haushaltsführung und ren Ergebnissen kommen. Wissenschaftler:innen sind deshalb mindestens einem eigenen (oder adoptierten) Kind“ (Hill verpflichtet, ihr methodisches Vorgehen sehr genau zu erklären & Kopp, 2006, zitiert nach Dunkake, 2010, S. 49) und offenzulegen. In dieser Definition würden jedoch homosexuelle Paare oder Alleinerziehende nicht unter die Definitionskriterien fallen. De- finiert man Familie über ihre „Reproduktions- und Sozialisationsfunktion […], die Generationendifferenzierung (Urgroßeltern / Großel- tern / Eltern / Kind(er)) und ein spezifisches Kooperations- und Solidaritätsver- hältnis zwischen ihren Mitgliedern, aus dem heraus die Rollendefinitionen festgelegt sind“ (Nave-Herz, 2006, zi- tiert nach Dunkake, 2010, S. 49), werden die vorher ausgeschlossenen Formen wieder einge- schlossen. Je nach Definition von „Familie“ können somit be- stimmte Familienformen in der Forschung berücksichtigt wer- den oder nicht. Systematisches und kontrolliertes Vorgehen Verallgemeinerungen und Generalisierungen Im Gegensatz zu alltäglichem Handeln geht die Wissenschaft systematisch und Eine Methodik, die auf Systematik und Kontrolle beruht, ermöglicht es Wissen- kontrolliert vor. Dabei greift sie auf unterschiedliche wissenschaftliche Metho- schaftler:innen Verallgemeinerungen bzw. Generalisierungen ihrer Erkenntnisse den zurück. Das methodische Vorgehen zeichnet sich vor allem über eine syste- vorzunehmen. Verallgemeinerungen bzw. Generalisierungen sind das Ziel wis- matische Beschreibung und Umsetzung aus. Dafür stehen verschiedene Metho- senschaftlicher Arbeit, denn Erkenntnisse sollen in der Regel über den Einzelfall den zur Verfügung. In den Sozialwissenschaften sind das häufig empirische Me- hinausreichen (Ebster & Stalzer, 2017, S. 21 f.). Verallgemeinerungen, wie man thoden wie qualitative und quantitative Verfahren, z. B. Experimente oder Feld- sie aus den Naturwissenschaften kennt, sind in den Sozialwissenschaften nur forschung. Im OTUWI-Lernmodul "Empirische Forschung" werden diese Metho- bedingt möglich (ebd.). den detailliert erklärt. Verweis Studie Dunkake (2010) Beispiel Dunkake, I. (2010). Der Einfluss der Familie auf das Schulschwän- zen. Dissertation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaf- In Bezug auf Dunkakes (2010) Forschung zeigt sich, dass Syste- ten. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92298-0 matik und Kontrolle mit Hilfe verschiedener theoretischer Er- klärungsansätze für das Schulschwänzen, wie der Anomietheo- Wenn du über den VPN-Client angemeldet bist, kannst du das rie, hergestellt wird. Hier geht sie auf aktuell relevante Theorien Buch hier über den Springer-Link herunterladen. abweichenden Verhaltens ein. Ihre Forschungserkenntnisse sind damit nicht willkürlich oder aufgrund von alltäglichen An- nahmen, z. B. durch die individuelle Meinung der Autorin, zu- stande gekommen, sondern es konnte eine differenzierte Ant- wort auf die Frage nach dem Einfluss der Familie auf das Schul- schwänzen gegeben werden. Wissenschaftliches Wissen vs. Alltagswissen Zusammenfassend haben wir die wichtigsten Merkmale von Wissenschaft - also wissenschaftliche Methoden, Theorien und wissenschaftliches Wissen - den wichtigesten Merkmalen von Alltag - also alltäglichen Wahrnehmungen, Alltagstheorien und Alltagswissen - in der Tabelle gegenübergestellt. Wissenschaft - Wissenschaftliche Methoden, Theorien und wissen- Alltag - Alltägliche Wahrnehmungen, Alltagstheorien und Alltagswis- schaftliches Wissen sen Eindeutige und klar definierte Begriffe Individuelle Begriffszuschreibungen, die unterschiedliche Bedeutungen haben können Systematisch und kontrolliert Unsystematisch und unreflektiert Verallgemeinerbarkeit bzw. Generalisierbarkeit Unzulässige Verallgemeinerungen bzw. Generalisierungen Nachvollziehbar und überprüfbar Kaum nachvollziehbar und überprüfbar Wissenschaftliches Verständnis von "Wahrheit" Oder: Legt Wissenschaft fest, was Wahrheit ist? Aufgrund der hohen Bedeutung, die der Wissenschaft durch die Gesellschaft zugesprochen wird, kommen viele Menschen zu der Ansicht, dass Wahrheit und Wissenschaft eng zusammengehören: Tatsächlich handelt es sich bei wissenschaftlichem Wissen oder wissenschaftlichen Theorien aber eher um ei- ne Suche nach Wahrheit oder einer Annäherung an Wahrheit. Denn eine absolute Wahrheit ist in der Wis- senschaft nicht erreichbar (bis auf seltene Fälle wie z. B. in Fragen der Logik). Das liegt daran, dass der sub- jektive Standpunkt des Individuums, das versucht, eine Wahrheit zu definieren, immer mitberücksichtigt wer- den muss (Voss, 2020, S. 30). Und dieser subjektive Standpunkt ist immer abhängig vom jeweiligen soziohis- torischen Hintergrund, dem Wertesystem, dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Weltbild, den gemachten Erfahrungen und den möglichen empirischen Zugängen. Wissenschaft kann als Suche oder Annäherung an die Wahrheit verstanden werden! Darstellung "Der subjektive Standpunkt" von OTUWI- Projektteam (@FHDortmund), CC-BY-SA 4.0. Was als wahr gesehen wird, verändert sich somit stetig. An diesem wissenschaftlichen Verständnis von Wahrheit wird deutlich, dass wissenschaftliche Erkenntnis nicht immer dem Alltagskonzept von Wahrheit entspricht: eine endgültige Wahrheit kann es in der Wissenschaft nicht geben, da neue Erkenntnisse immer in Relation zum gegenwärtigen historischen Kontext und auch zu den bisherigen Erkenntnissen und Modellen des Forschungsgebiets stehen. Erkenntnisgewinn als Ziel von Wissenschaft Jedoch können wissenschaftliche Aussagen getroffen werden, die vorläufig als wahr angenommen werden (Voss, 2020, S. 31). So wird zum Beispiel in der wissen- schaftlichen Denkrichtung (Wissenschaftstheorie) des Kritischen Rationalismus davon ausgegangen, dass man sich durch wissenschaftliche Forschung der Wahrheit immer weiter annähern kann. Mit der philosophischen Frage, was Wahrheit ist, möchten wir uns an dieser Stelle nicht weiter befassen. Wenn du dich für diese Frage interessierst, kannst du jedoch unter den folgenden externen Links detaillierter in diesen Diskurs einsteigen: Der Begriff: Wahrheit im ILIAS-Kurs (Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Video: "Was ist eigentlich Wahrheit?" aus der Mediathek von 3sat aus der Rubrik Philosophisches Kopfkino (2:57 min) Anstatt die Suche nach der Wahrheit als Ziel der Wissenschaft festzulegen, ist somit vielmehr der Erkenntnisgewinn als Ziel von Wissenschaft zu benennen. Mit Er- kenntnis ist hierbei begründetes Wissen gemeint, dass sich von Glauben, Meinungen oder Vermutungen dadurch unterscheidet, dass es auf begründeten Aussagen beruht, die durch Daten abgesichert sind oder sich durch logische Argumente stützen lassen (Stock, Schneider & Peper, 2018, S. 18 f.). Es geht somit beim wissen- schaftlichen Erkenntnisgewinn um die systematische Generierung von Wissen über die Realität. Informationen über die Realität werden durch wissenschaftliche Me- thoden gesammelt, systematisiert und analysiert. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse erfüllen zudem eine Funktion innerhalb der Gesellschaft: Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn kann dazu beitragen, gesell- schaftliche Probleme zu bearbeiten und zu lösen. Wissenschafts- und Erkenntnistheorie Für die Frage, wie wissenschaftliche Erkenntnisse (wissenschaftliches Wissen) gewonnen werden, ist es notwendig einen kleinen Streifzug durch verschiedene Vorstel- lungen wissenschaftlichen Denkes vorzunehmen. Bevor du dich aber mit diesen verschiedenen Denkrichtungen auseinandersetzen kannst, werden zwei zentrale Kon- zepte (Wissenschafts- und Erkenntnistheorie) vorgestellt, die die Unterschiede zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Denkrichtungen erklären. Die Wissenschaftstheorie ist die Wissenschaft von der Wissenschaft. Hier werden Fragen nach dem Ob und Wie, mit Methoden der Wissenschaft die Reali- tät erfasst werden kann, beantwortet. Darstellung "Annäherung an Abbildung der Realität" von OTUWI- Es werden Aussagen formuliert, u. a. über die Einteilung der Wissenschaften, über die Voraus- Projektteam (@FHDortmund), CC-BY-SA 4.0. setzungen sowie Ziele und Ergebnisse der einzelnen Wissenschaften. Die Wissenschaftstheorie untersucht dabei die Methoden und Sprachen, Begriffe und Strukturen, mit denen in der Wis- senschaft gearbeitet wird. Bei der Erkenntnistheorie handelt es sich um einen Bestandteil der Philosophie, die sich mit den Bedingungen und Formen der Erkenntnisgewinnung beschäftigt und sich mit der Frage auseinandersetzt, ob und wann Wissen als wahr bezeichnet werden kann (Diaz-Bone, 2015, S. 107). Ihr Nutzen für die Wissenschafttheorie liegt besonders darin, kritisch über wissenschaftliche Methoden, Ergebnisse und Zielsetzungen reflektieren zu können. Weiterhin setzt sie sich damit auseinander, ob und inwiefern gewonnene Erkenntnisse eine objektive Realität darstellen oder auch nur annähernd beschreiben kön- nen. Somit kann sie als Teilbereich der Erkenntnistheorie klassifiziert werden. Bevor du dich aber mit einer kleinen Auswahl verschiedener Wissenschaftstheorien (wissenschaftlicher Denkrichtungen), die die sozialwissenschaftliche Forschung prägen, auseinandersetzen kannst, werden auf der nächsten Seite zwei weitere zentrale Begriffe (Dedutkion/Induktion) eingeführt und erläu- tert. Prinzipien der Deduktion und Induktion Zur Erklärung, wie wissenschaftliche Erkenntnisse entstehen, werden in den Sozialwissenschaften u. a. die Prinzipien Deduktion und Induktion aus dem Teilgebiet der Wissenschaftslogik herangezogen. Hiermit können die notwendigen Schlussfolgerungen erklärt werden, auf welche Art und Weise aus der Realität Erkenntnisse für die Wissenschaft gewonnen werden können. Deduktion Deduktion wird definiert als Ableitung aus dem Allgemeinen (aus Regeln, Gesetzmäßigkeiten, Modellen, Theorien) auf das Besondere und Einzelne, sodass das Vorgehen durch die Sammlung bestehenden Wissens (Theorie) zu einem Thema, der Ableitung von Hypothesen und deren Überprüfung geprägt ist (Hussy, Schrei- er & Echterhoff, 2013, S. 7 f.). Induktion Bei der Induktion wird „von Einzelfällen auf das Allgemeine und Gesetzmäßige“ (ebd., S. 7) gefolgert, sodass das Vorgehen durch wiederholte Einzelbeobachtungen oder sorgfältige Einzelfallanalysen kennzeichnet ist. Es wird versucht, diese Beobachtungen bzw. Analysen „auf eine generelle Regel zu verallgemeinern“ (ebd.), d. h. am Ende werden aus den Beobachtungen Hypothesen aufgestellt. Definition Hypothese Hypothesen sind Annahmen und Erklärungen über reale Sachverhalte, die sich anhand folgender Merkmale beschreiben lassen. Hypothesen sind (Hussy et al., 2013, S. 31): präzise und widerspruchsfrei formuliert prinzipiell widerlegbar operationalisierbar begründbar Bei empirischen Untersuchungen sind hypothesenprüfende von hypothesengenerierenden Untersuchungen zu unterscheiden. Bei hypothesenprüfenden (de- duktiven) Verfahren werden Hypothesen aus der Theorie abgeleitet. Hypothesengenerierende (induktive) Verfahren leiten z. B. Hypothesen aus einer Beobach- tung ab. Bei zahlreicher Bestätigung können sie als Basis für die Entwicklung einer Theorie genutzt werden (ebd., S. 34 f.). Bei empirischen Untersuchungen sind hypothesenprüfende von hypothesengenerierenden Untersuchungen zu unterscheiden. Bei hypothesenprüfenden (de- duktiven) Verfahren werden Hypothesen aus der Theorie abgeleitet. Hypothesengenerierende (induktive) Verfahren leiten z. B. Hypothesen aus einer Beobach- tung ab. Bei zahlreicher Bestätigung können sie als Basis für die Erstellung einer Theorie genutzt werden (ebd.). Induktives Vorgehen eignet sich gut, um neue Phänomene zu analysieren. Aus dem induktiven Vorgehen kann jedoch keine zuverlässige Theorie entwickelt werden. Induktive Schlüsse besitzen einen vorläufigen Charakter und lassen sich weder begründen noch beweisen. Deduktives Vorgehen eignet sich hingegen gut, um bestehende Theorien zu überprüfen. Das deduktive Vorgehen hat den Nachteil, keine neuen Theorien hervorzubringen (ebd., S. 8 f.). In Bezug auf den Forschungsprozess spiegelt sich das jeweilige deduktive oder induktive Vorgehen in der Reihenfolge der einzelnen Forschungsschritte wider. Die Abbildung zeigt eine Wechselwirkung zwischen Deduktion und Induktion in der Forschungspraxis – beide Vorgehensweisen sind notwendige Bestandteile wissenschaftlicher Praxis: um neue Erkenntnisse gewinnen und diese überprü- fen zu können. Während das deduktive Vorgehen der Erkenntnisgewinnung insbe- sondere im Rahmen quantitativer Forschungen Anwendung findet, findet das induktive Vorgehen eher im Rahmen qualitativer For- schung Verwendung (ebd., S. 10). Bild aus: Modul: "Wissenschaftliche Forschungsmethoden" Kapitel: Einführung: Empirisch forschen, Seite: "Theorie vs. Empirie" von Justine Schöne und Luisa Kuck(@LLZ), CC BY-SA 4.0. Bearbeitet durch OTUWI – leicht abgeändert. Normatives vs. interpretatives Paradigma Du hast bereits gelernt, was Wissenschafts- und Er- kenntnistheorien sind sowie was die Prinzipien der Deduktion und Induktion aussagen. Im Video "Wissenschaftstheoretische Perspektiven auf Realität" wird dieses Wissen aufgegriffen und zwei grundlegende wissen- schaftliche Sichtweisen auf Realität (normatives und interpretati- ves Paradigma) vorgestellt, denen verschiedene wissenschaftliche Denkrichtungen zugeordnet werden. Video "Wissenschaftstheoretische Perspektiven auf Realität" von OTUWI-Projektteam (@FHDortmund), CC-BY-SA 4.0. Auf den folgenden Seiten des Moduls werden diese verschiedenen wissenschaftlichen Denkrichtungen (Wissenschaftstheorien) noch einmal aufgegriffen und genauer erläutert. Normatives Paradigma: Kritischer Rationalismus Der Kritische Rationalismus lässt sich ebenfalls dem normativen Paradigma zuordnen und stellt eine weitere Denkrichtung (Wissenschaftstheorie) dar. Hier wird auch von einer objektiven Realität ausgegangen, die jedoch von Forscher:innen nicht direkt objektiv erfasst werden kann. Stattdessen formulie- ren Forscher:innen Gesetzmäßigkeiten, die falsifizierbar sein müssen, um sich so schrittweise einer Erfassung der Realität anzunähern. Im Kritischen Rationalismus wird das Prinzip der Induktion und Verifikation kritisiert, also dass aus der Beob- achtung auf die Realität geschlossen wird und somit basierend auf empirischen Untersuchungen Theorien bzw. Thesen aufgestellt werden können. Karl Popper (1902–1994), auf den die Denkweise des Kritischen Rationalismus zurückzuführen ist, geht davon aus, dass unvoreingenommene Beobachtungen nicht möglich sind, da immer eine Theorie bzw. These benö- tigt wird, um zielgerichtete Beobachtungen zu machen (Schirmer, 2009, S. 39). Popper sieht deshalb eine de- duktive Vorgehensweise als Alternative an. Realität ist damit zwar objektiv und prinzipiell erkennbar, aber für Menschen nie vollständig objektiv abbild- bar, da jede:r einen subjektiven Blick auf die Realität hat (Schirmer, 2009, S. 37). Mit einer schrittweisen Annä- herung kann Realität dennoch erfasst werden, wenn diese nachvollziehbar, überprüfbar und kritisierbar ist Darstellung "Realität objektiv gegeben" von OTUWI- (Kromrey, Roose & Strübing, 2016, S. 46). Projektteam (@FHDortmund), CC-BY-SA 4.0. Darstellung "Popper - Kritischer Rationalismus" von Das Prinzip der Verifikation funktioniert aus der Perspektive des Kritischen Rationalismus nicht, da sich eine OTUWI-Projektteam (@FHDortmund), CC-BY-SA 4.0. Hypothese nie endgültig beweisen lässt. Beispiel Dieses Problem wird durch folgendes Beispiel deutlich: Ich kann eine Hypothese aufstellen (z. B. „Alle Schwäne sind weiß.“), dann 100 Beobachtungen machen, die alle meine Annah- me – alle Schwäne sind weiß – bestätigen. Es könnte sich aber herausstellen, dass meine 101. Beobachtung eine Ausnahme hervorbringt – einen schwarzen Schwan –, die ich aber aufgrund der nicht unendlich fortsetzbaren Beobachtungsreihe übersehe. Aus diesem Grund sieht Popper das Prinzip der Falsifikation als maßgebend an. Demnach sollen Hypothesen immer so formuliert werden, dass sie widerlegbar (falsifizierbar) wären. Werden sie durch Überprüfung wi- derlegt, müssen sie verworfen oder angepasst werden. Werden sie nicht widerlegt, werden sie als vorläufige Hypothesen beibehalten, jedoch immer unter dem Vorbehalt, dass sie noch verworfen werden könnten. End- gültig bestätigt (verifiziert) werden, können sie nicht. Wissen bleibt in dieser Denkweise also hypothetisch (Hillmann & Hartfiel, 1994, S. 874). Diese Position bestimmt noch heute viele Bereiche der Forschung. Auszug aus: Modul: "Wissenschaftliches Denken und Arbeiten", Seite "Wissen und Wissenschaft", von Sabine Treichel und Daniela Schmidt (@LLZ), CC BY-SA 4.0. Bearbeitet durch OTUWI – teilweise überar- beitet. Beispiel für eine Vorgehensweise aus der Denkrichtung des Kritischen Ratio- nalismus These: Je länger Klient:innen in einem Heim wohnen, desto ge- ringer ist ihre Lebensqualität. Falsifikation dieser These: Man erstellt einen Fragebogen, der die Lebensqualität abfragt und erhebt, wie lange Klient:innen in einem Heim wohnen (empirischer Teil). Bei der Auswertung der Studie kann die These dann entweder falsifiziert werden (wenn der Heimaufenthalt der Klient:innen keinen Einfluss auf die Le- bensqualität hat) oder die These wird beibehalten (wenn die untersuchten Klient:innen, die in einem Heim wohnen, tatsäch- lich eine geringere Lebensqualität haben als die, die nicht in ei- nem Heim wohnen). Interpretatives Paradigma: Konstruktivismus Der Konstruktivismus lässt sich ebenfalls dem interpretativen Paradigma zuordnen und ist eine weitere wissenschaftliche Denkweise (Wissenschaftstheo- rie). Hier wird ebenfalls nicht von einer objektiven Realität, sondern von vielfältigen subjektiven und konstruierten Wirklichkeiten ausgegangen. Die kon- krete Sicht auf die Welt erfolgt somit immer aus einer spezifischen subjektiven Perspektive, die u.a. von der individuellen Sozialisation und den eigenen Erfahrungen abhängt. Die wichtigsten Vertreter des Konstruktivismus, Alfred Schütz (1899–1959) und Paul Watzlawick (1921–2007), gehen auch nicht von einer objektiv vorhandenen Realität aus, sondern die Realität wird als konstruiert ver- standen. Hierbei beschränkt sich allerdings der Akt der Konstruktion nicht nur auf menschliche Interaktio- nen, sondern auch auf alle Zuschreibungen von Bedeutungen. Somit wird die Welt gesehen als „Gegenstand menschlicher Auseinandersetzung“ (Schirmer, 2009, S. 44), d. h. die Realität wird durch soziale Praktiken – Sprache, Normen und Institutionen – geformt und sie kann nicht unabhängig von diesen Konstruktionen be- stehen. Aus dieser Perspektive sind Realitäten vielfältig und konstruiert und immer in Zusammenhang von Biografie, Gesellschaft und Kultur zu interpretieren. In der Erfassung von Realität geht es deshalb nicht darum, allge- meingültige Gesetze zu entwickeln oder allgemeingültige Theorien aufzustellen, sondern verschiedene Kon- struktionen von Realitäten zu erfassen. Darstellung "Realität als subjektive Konstruktion" von OTUWI-Projektteam (@FHDortmund), CC-BY-SA 4.0. Darstellung "Watzlawick und Schütz - Konstruktivis- Diese Denkrichtung geht davon aus, dass Forscher:innen Realität nur durch ihre individuelle Perspektive mus" von OTUWI-Projektteam (@FHDortmund), CC-BY- wahrnehmen können. Ein vollständig objektiver, neutraler Blick ist hier nicht möglich. Umso wichtiger ist es SA 4.0. deshalb, den eigenen Standpunkt (z. B. den sozioökonomischen Status, den kulturellen Hintergrund, das For- schungsinteresse) transparent zu machen, zu reflektieren und mit anderen Standpunkten und Perspektiven zu vergleichen. Beispiel Im Alltag wird häufig deutlich, dass alle Menschen verschiedene Perspektiven auf Realität haben. Stelle dir vor, du gestaltest gemeinsam mit einer Kollegin eine Gruppenstunde für Mädchen mit Fluchtgeschichte. Du und deine Kollegin befinden sich im selben Raum und erleben die- selbe Situation, mit denselben Kindern. Wenn du jedoch nach der Gruppenstunde einer an- deren Person von der Situation erzählst, wird sich deine Erzählung wahrscheinlich von der deiner Kollegin unterscheiden. Warum? Weil du andere Erfahrungen mitbringst, vielleicht andere Konzepte von Erziehung, Bildung und Integration hast und andere Erlebnisse mit Kindern und ihren Persönlichkeit gemacht hast. Das Bild, dass du von dieser Situation hast, wird somit in deinem Kopf konstruiert und ist subjektiv.