Wandel des wissenschaftlichen Publizierens - PDF
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Humboldt-Universität zu Berlin
Niels Taubert, Peter Weingart
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Summary
Dieser Aufsatz analysiert den Wandel des wissenschaftlichen Publizierens. Er untersucht die Einflüsse von Digitalisierung, Ökonomisierung und anderen Faktoren auf das System der Wissenschaftskommunikation. Der Fokus liegt auf der Komplexität der Veränderungen und der möglichen Auswirkungen auf die wissenschaftliche Produktion und Prüfung neuer Wahrheitsansprüche.
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1 Wandel des wissenschaftlichen Publizierens – eine Heuristik zur Analyse rezenter Wandlungsprozesse Niels Taubert Peter Weingart Inhalt: 1. Einleitung 2. Funktionen des wissenschaftlichen Kommunikationssystems 3. Vier Strukturdynamiken als Quelle von Wandlungsprozessen 3.1 Di...
1 Wandel des wissenschaftlichen Publizierens – eine Heuristik zur Analyse rezenter Wandlungsprozesse Niels Taubert Peter Weingart Inhalt: 1. Einleitung 2. Funktionen des wissenschaftlichen Kommunikationssystems 3. Vier Strukturdynamiken als Quelle von Wandlungsprozessen 3.1 Digitalisierung 3.2 Ökonomisierung im Verlagswesen 3.3 Beobachtung des Kommunikationssystems anhand formaler Merkmale 3.4 Beobachtung des Wissenschaftssystems durch die Massenmedien 4. Derzeitige Strukturprobleme im wissenschaftlichen Kommunikationssystem 4.1 Bibliothekskrise und Open Access 4.2 Vielgestaltiges Größenwachstum 4.3 Vertrauen in publizierte Forschungsergebnisse 5. Schluss 6. Literatur 1. Einleitung Es ist augenfällig: Derzeit ist wissenschaftliches Publizieren sowohl in der Wissenschaft als auch in der Wissenschaftspolitik und in der allgemeinen Öffentlichkeit Gegenstand vielfältiger Diskussionen. Topoi sind die Krise der Institution ‚Bibliothek‘, die Rückwirkungen der Leistungsbewertung im Zusammenhang mit Forschungsevaluationen auf das Publikationsgeschehen und die digitale Publikation, die den einen als Heilsbringer und den anderen als Gefährdung des Fortschritts der Wissenschaft gilt. Es wird über Open Access, Impact-Faktoren und Peer Review gestritten, über den steigenden Anteil zurückgezogener Artikel sowie über den übergroßen Einfluss hoch-renommierter Journale wie Science, Nature, 2 Cell und PLoS geklagt. Angesichts dieser verzweigten Debatte mit ihren vielfältigen Themen, Problemstellungen und Positionen herrscht vor allem eines: Unübersichtlichkeit. Es drängt sich die Frage auf, ob die Diskussionen Ergebnis bloßer Koinzidenz sind, bedingt durch die Gleichzeitigkeit bestimmter Entwicklungen, oder ob die Thematisierung des wissenschaftlichen Publizierens zu vielen verschiedenen Gelegenheiten gemeinsame Ursachen hat. Zwei Aspekte der angesprochenen Debatten sind bemerkenswert: Erstens fokussieren die öffentlichen Diskussionen, wissenschaftspolitischen Einflussnahmen und die Beforschung des Phänomens lediglich auf einzelne Facetten und Teilaspekte. Dabei geraten die Breite der Wandlungsdynamik, die Vielfalt und die Verflechtung der verschiedenen Entwicklungen aus dem Blick. Zweitens wiederholt sich in weiten Teilen der Diskussion ein Motiv: Angesichts der Dynamik der Entwicklung ist sie häufig von der Sorge getragen, der Wandlungsprozess könnte auf das Publikationsgeschehen einwirken, sodass wissenschaftsinterne Prozesse der Mitteilung und Anerkennung von Forschungsergebnissen durch äußere Faktoren verzerrt werden. Es wird die Gefahr gesehen, wissenschaftliches Publizieren könne in ein Spannungsverhältnis zu dem Systemziel der Wissenschaft treten, nämlich der Produktion und Prüfung neuer Wahrheitsansprüche. Dieser Aufsatz zielt auf die Entwicklung einer analytischen Heuristik, die die Breite der Wandlungsdynamik in den Blick rückt und ihre Komplexität einfängt. Mit ihr sollen nicht nur die einzelnen Aspekte summarisch zusammengeführt werden, sondern es soll auch gezeigt werden, dass verschiedene Strukturdynamiken in wechselseitiger Abhängigkeit, Beeinflussung und Rückkopplung auf das Publikationsgeschehen einwirken und dort Veränderungen hervorrufen. Die Sorge um eine externe Beeinflussung der Wissenschaft wird aufgegriffen, aber analytisch gewendet: Es wird untersucht, ob und inwieweit das Publikationsgeschehen in der Wissenschaft durch die genannten externen Faktoren beeinflusst wird. In einem ersten Schritt werden die Grundbegriffe geklärt. Zur Analyse der derzeitigen Wandlungsprozesse ist es hilfreich, die begrifflichen Zuschnitte neu zu legen. Neben der Klärung der zentralen Begriffe ‚formales Kommunikationssystem‘, ‚Publikationsinfrastrukturen‘ und ‚Trägerorganisationen‘ geht es darum, das formale Kommunikationssystem mit Blick auf seine Funktionen für die Wissenschaft einzuordnen. In einem zweiten Abschnitt sollen die Strukturdynamiken beschrieben werden, die im wissenschaftlichen Kommunikationssystem für Unruhe sorgen und zu Veränderungen führen. 3 Dies sind die Digitalisierung des Publikationssystems (3.1), die Ökonomisierung in Teilen des wissenschaftlichen Verlagswesens (3.2), die zunehmende Beobachtung von Publikationsaktivitäten anhand formaler quantitativer Merkmale beziehungsweise bibliometrischer Indikatoren (3.3) und die Beobachtung des wissenschaftlichen Kommunikationssystems durch die Massenmedien (Medialisierung) (3.4). In einem dritten Schritt soll die Leistungsfähigkeit der entfalteten Perspektive demonstriert werden. Angesichts der Breite des Wandlungsprozesses kann es natürlich nicht darum gehen, ihn vollständig zu analysieren. Stattdessen wird anhand verschiedener Beispiele gezeigt, welche Auswirkungen die Überlagerung mehrerer der genannten Strukturdynamiken auf das wissenschaftliche Kommunikationssystem hat. Die Beispiele sind die Bibliothekskrise und der der darauf bezogene Wandel hin zum frei zugänglichen Publizieren (Open Access) (4.1), das vielgestaltige Mengenwachstum der Publikationen (4.2) sowie das Vertrauen in publizierte Forschungsergebnisse (4.3). 2. Funktionen des wissenschaftlichen Kommunikationssystems Wissenschaft ist ein kollektives Unterfangen und der in einem Fach oder Forschungsgebiet erreichte Stand des Wissens bildet das Ergebnis kollektiver Anstrengungen.1 Diesem Umstand entspringen die Anforderungen an den Austausch von Forschungsergebnissen, und dies in doppelter Weise. Erstens besteht ein Bedarf nach einer möglichst freien, ungehinderten Zirkulation und Ordnung von Forschungsergebnissen. Diese sind nötig, um Forschungslücken zu erkennen, innovative Forschungsfragen zu identifizieren, neu gewonnene Erkenntnisse nach erfolgreicher Durchführung der Forschung zu prüfen und der Fachgemeinschaft mitzuteilen. Der Kommunikationszusammenhang, der dies leistet – im Folgenden Kommunikationssystem genannt – gliedert sich dabei in zwei Teile: Ein Teil ist die informelle Kommunikation. Mit ihr werden Forschungsdesigns ausgearbeitet, Forschungsprozesse organisiert, Interpretationen von Forschungsergebnissen erwogen und verworfen sowie Wahrheitsansprüche entwickelt. Der andere Teil ist formal. In ihm werden Wahrheitsansprüche durch Fachkollegen förmlich geprüft (Peer Review), die dann gegebenenfalls in Form von Publikationen als Beiträge zum Fach innerhalb der Community 1 Siehe hierzu auch die Norm „Communism“ des von Robert K. Merton herausgearbeiteten wissenschaftlichen Ethos (Merton 1942, 121–124). 4 zirkulieren.2 Auf der Grundlage von Veröffentlichungen wird in der innerwissenschaftlichen Kommunikation zwischen „altem“ und „neuem“ Wissen unterschieden (Stichweh 1979, 96; Luhmann 1990, 220). Wahrheitsansprüche und Forschungsleistungen werden nicht nur sachlich und auch zeitlich evaluiert, sondern zudem in der Sozialdimensionen ihrem Urheber als Verdienst zugerechnet, der innerwissenschaftlich in Reputation übersetzt wird. Die Zuweisung von Reputation findet sowohl in der informellen Kommunikation statt, dort abzulesen in der Wertschätzung gegenüber verdienten Fachkollegen in Face-to-Face-Situationen, als auch im formalen Kommunikationssystem in Gestalt von Zitationen. Insbesondere diese institutionalisierte Form der Anerkennung ist die Grundlage für die Herausbildung einer ‚Sozialstruktur‘ in wissenschaftlichen Gemeinschaften, der Reputationshierarchie.3 Reputation und ihre jeweils fachspezifische Hierarchisierung hat die Funktion der Steuerung von Aufmerksamkeit4 in dem Sinn, dass sie die Mitglieder einer Fachgemeinschaft sowohl auf die relevanten Themen als auch auf die kompetentesten Fachkollegen hin orientiert. Sie fungiert als ‚Symptom für Wahrheit‘ und selektiert den Informationsfluss insofern vor, als durch sie die Chance der Wahrnehmung und damit wiederum der Bewertung durch die Mitglieder der Fachgemeinschaft erhöht wird (Luhmann 1970, 237). Das Vertrauen in die Verlässlichkeit der innerwissenschaftlichen Beurteilung und die Anerkennung der Reputationshierarchie bedingen und verstärken sich gegenseitig. Die Reputationshierarchie ist auch für die Vermittlung von wissenschaftlichem Wissen in die Gesellschaft insofern von zentraler Bedeutung, als es dem außerwissenschaftlichen Publikum die Orientierung erlaubt. Wollen Politik, Wirtschaft oder Medien sich der Dienste der Wissenschaft bedienen, orientieren sie sich ebenfalls an ihr. Die Welt der Wissenschaft 2 In der Literatur wird unterschieden zwischen der informellen Kommunikation innerhalb der Wissenschaft, worunter der private Austausch unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die interne Diskussion in Forschergruppen und ähnliche Formen des Austauschs fallen, und der formalen Kommunikation, verstanden als die öffentliche Mitteilung von Forschungsergebnissen in wissenschaftlichen Communities. Siehe zur Übersicht über verschiedene Formen der Wissenschaftskommunikation das Handbuch Forschungsfeld Wissenschaftskommunikation (Bonfadelli et al. 2016). Die Unterscheidung zwischen beiden Arten von Kommunikation ist nicht trennscharf. Grenzfälle bilden beispielsweise Vorträge auf Konferenzen (siehe z. B. Gravey und Griffith 1967, 1013). Siehe zu den Transformationsprozessen von Forschungsergebnissen auf ihrem Weg vom Labor in den Bereich der formalen Kommunikation Knorr- Cetina 1984, 175–209. 3 Diese Unterscheidung zwischen einer informellen und einer formellen Ebene spielt schon bei Hagstrom eine Rolle, der zwischen institutionalisierter Anerkennung in Form des Zitats und der persönlichen bzw. elementaren Anerkennung in Face-to-Face-Situationen unterscheidet (Hagstrom 1965, 23 f.). 4 Neben der Steuerung von Aufmerksamkeit ist Reputation auch als Motivationsmittel von Bedeutung (Luhmann 1970, 239). Diese Dimension spielt im hier interessierenden Zusammenhang eine nachgelagerte Rolle. 5 mit ihren hoch spezialisierten Fachsprachen ist ansonsten für Außenstehende, die nicht die gleichen langen Ausbildungs- und Sozialisationsprozesse durchlaufen haben, unzugänglich. Die Reputationshierarchie kommuniziert gewissermaßen die innerwissenschaftlichen Bedeutungszuschreibungen auch für Fachfremde und macht die Sozialstruktur zumindest in Teilen ‚von außen‘ verständlich und nachvollziehbar. Reputation kann so genutzt werden, um eine effiziente Verteilung der für das Operieren des Wissenschaftssystems erforderlichen materiellen Ressourcen vorzunehmen. Die doppelte Rolle der Zirkulation und Ordnung von Wahrheitsansprüchen und der Zuweisung von Reputation setzt voraus, dass das formale Kommunikationssystem über vier Unterfunktionen verfügt (Kircz und Roosendaal 1996, 107–108; Hagenhof et al. 2007, 8; Andermann und Degkwitz 2004, 8): - Registrierung bezeichnet die nachprüfbare Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem ein Beitrag eingereicht und veröffentlicht wurde. Sie ist sowohl entscheidend für die Rekonstruktion des Wissensfortschritts in einem Feld als auch für die Zuordnung der Priorität von Wahrheitsansprüchen zu einer oder mehreren Personen. - Zertifizierung bedeutet die Anerkennung eines Beitrags als Teil eines gemeinsamen Wissensstands, in der Regel durch Begutachtung. Erst mit der Zertifizierung gilt ein Beitrag als von der wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptiert, in den Wissensbestand aufgenommen und erst dann auch als reputationswürdig. - Verbreitung beschreibt die Herstellung von Reichweite innerhalb einer wissenschaftlichen (Kommunikations-)Gemeinschaft. Unzulängliche Verbreitung bedeutet den sachlich unbegründeten Ausschluss von der Informationszirkulation innerhalb der Wissenschaft und kann sowohl zu einer Behinderung weiterer Forschungsprozesse als auch zu einer Verzerrung der Anerkennung von Forschungsleistungen führen. - Archivierung bezeichnet die fortlaufende Stabilisierung des Wissensbestands, sodass zu einem mehr oder minder entfernt liegenden Zeitpunkt mit weiteren Forschungsaktivitäten an ihn angeschlossen werden kann. Zudem bildet Archivierung die Voraussetzung, die kumulativen Forschungsleistungen einer Einheit des Wissenschaftssystems (beispielsweise eines Wissenschaftlers, einer Forschungseinrichtung oder eines Forschungsprogramms) beurteilen zu können. Jede der vier Unterfunktionen ist Voraussetzung dafür, dass das formale Kommunikationssystem seine doppelte Rolle der Zirkulation und Verbreitung von 6 Informationen und der Reputationszuweisung ausüben kann. Das gerade beschriebene formale Kommunikationssystem mit seinen basalen Einheiten, den Publikationen, ist wichtiger Bestandteil des Wissenschaftssystems und verkoppelt zentrale Funktionen. Von daher überrascht es kaum, dass die Wissenschaftsforschung bei der Beschäftigung mit Kommunikationsprozessen der Wissenschaft einen Gegenstandszuschnitt gewählt hat, der sich auf ausschließlich wissenschaftsinterne Komponenten beschränkt. Dies hat sich in der Vergangenheit als außerordentlich produktiv erwiesen und ist für eine Vielzahl von Fragestellungen angemessen. Aus dieser Perspektive bleiben jedoch diejenigen Voraussetzungen auf der Ebene der Medientechnik und der Organisation ausgeklammert, die Registrierung, Zertifizierung, Verbreitung und Archivierung überhaupt erst ermöglichen. Insbesondere bei der Beschäftigung mit Wandlungsprozessen im Zusammenhang mit der digitalen Publikation wird sichtbar, dass die Art und Weise, wie die Funktionen des wissenschaftlichen Kommunikationssystems technisch und organisational realisiert werden, Konsequenzen für das System haben. Solche Zusammenhänge reichen aber über den traditionellen Zuschnitt des Gegenstands hinaus und sind in diesem Rahmen kaum zu beschreiben und zu untersuchen – die traditionelle Perspektive ist dafür zu eng. Daher wird hier eine Erweiterung um zwei Komponenten vorgenommen, die außerhalb der Wissenschaft liegen und die Voraussetzungen für die Erfüllung der gerade genannten Funktionen sind: (a) die Publikationsinfrastruktur und (b) die Trägerorganisationen.5 2.1 Publikationsinfrastruktur Der Begriff Publikationsinfrastruktur6 bezeichnet all diejenigen technischen Komponenten und Regeln ihrer Benutzung, die das formale wissenschaftliche Kommunikationssystem ermöglichen. Die Bestandteile der Publikationsinfrastruktur weisen demnach einen unmittelbaren Bezug zu mindestens einer der vier Funktionen auf. Richtet man den Blick auf die verschiedenen Arten von Komponenten, fallen als Bestandteile zuallererst die Publikationsmedien auf. Traditionell sind dies gedruckte Journale, Monografien, Sammelbände, Conference Proceedings und Besprechungsliteratur. In jüngerer 5 Siehe zu dieser Perspektiverweiterung ausführlicher Taubert 2016. 6 Ein konkurrierender Begriff dazu ist „Publikationssystem“. In der Literatur wird der Begriff in ähnlicher Weise wie hier „Publikationsinfrastruktur“ verwendet, da mit ihm eher technische Aspekte der Publikation, ihrer Produktion und ihrer Rezeption gemeint sind. Dies gilt sowohl für die wissenschaftspolitische (z. B. HRK 2002) als auch für die wissenschaftsreflexive Literatur (z. B. Hanekop und Wittke 2006, 202). Wir ziehen den Begriff Publikationsinfrastruktur vor, da er besser verständlich ist und die Integration einzelner technischer Komponenten zu einem funktionsfähigen Ganzen durch den Begriffsbestandteil ‚Infrastruktur‘ betont. 7 Vergangenheit sind weitere Publikationsmedien hinzugekommen. Dazu zählen neben Repositorien7 oder eDoc-Servern für Publikationen, Zeitschriftenbanken und Forschungsdaten-Repositorien auch digitale Plattformen wie beispielsweise ResearchGate und academia.edu, die neben dem Austausch von Forschungsergebnissen durch ihre Web- 2.0-Funktionalität zu einer Vernetzung wissenschaftlicher Gemeinschaften beitragen. Weitere technische Komponenten der Publikationsinfrastruktur dienen der Nutzung von Publikationsmedien: Hierunter fallen die in Bibliothekskatalogen verkörperten Systematiken, Abstract- und Fachdatenbanken, Suchmaschinen, Verzeichnisse und Zitationsdatenbanken, die das Auffinden und die Auswahl von sowie den Zugang zu Publikationen ermöglichen. Diese gerade genannten Bestandteile der Publikationsinfrastruktur erbringen für Wissenschaftler zunächst einmal Orientierungsleistungen. Sie können aber auch genutzt werden, um das wissenschaftliche Kommunikationssystem anhand formaler Merkmale zu beobachten. Die von den Datenbanken bereitgestellten Informationen können in mehr oder minder hoch aggregierter Form genutzt werden, um Erkenntnisse über Elemente des Wissenschaftssystems oder über das formale Kommunikationssystem insgesamt zu gewinnen.8 Auf zwei Eigenschaften der Publikationsinfrastruktur soll hingewiesen werden: Zum einen wird insbesondere in Phasen des Medienwandels deutlich, dass die Zusammensetzung der Publikationsinfrastruktur historisch variiert und von der Entwicklung der Medientechnik abhängig ist. Eindrücklich verdeutlicht wird dies derzeit durch die Entwicklungsschübe der digitalen Technologie. Zum anderen ist die Gestalt der Publikationsinfrastruktur immer auch beeinflusst von Faktoren und Entwicklungen innerhalb der Wissenschaft. So findet beispielsweise derzeit eine Veränderung der Wahrnehmung dessen statt, was als publikationswürdiges Forschungsergebnis gilt und in einigen Forschungsgebieten zählen Forschungsdaten bereits seit einiger Zeit dazu. Parallel zu dem sich wandelnden Verständnis entsteht eine Infrastruktur, die die Veröffentlichung von Forschungsdaten erlaubt und den veränderten Anforderungen Rechnung trägt.9 2.2 Trägerorganisationen 7 Eine Übersicht über die weltweite Repositorien-Landschaft bietet das Directory of Open Access Repositories (http://www.opendoar.org/), das für Deutschland 177 Repositorien nachweist (30.10.2015). 8 Die von diesen Beobachtungsmöglichkeiten ausgehenden Wirkungen auf das wissenschaftliche Kommunikationssystem werden unter 3.3 ausführlich beschrieben. 9 Siehe hierzu exemplarisch das Gesamtkonzept der Kommission „Zukunft der Informationsinfrastruktur“ (KII 2011). 8 Sowohl die Publikationsinfrastruktur insgesamt als auch die einzelnen technischen Komponenten sind bezüglich ihrer Entwicklung und Aufrechterhaltung ihrer Nutzbarkeit von der Leistung von Organisationen abhängig. Organisationen erhalten die Publikationsinfrastruktur aufrecht, stellen Ressourcen für den Betrieb bereit und gewährleisten, dass die Infrastruktur die entsprechenden Leistungen für das formale wissenschaftliche Kommunikationssystem erbringen kann. Der Begriff der Trägerorganisationen fasst dabei unterschiedliche Typen zusammen: Verlage produzieren allein oder häufig auch in Kooperation mit wissenschaftlichen Fachgesellschaften Publikationen. Oftmals halten diese auch die Namensrechte an Publikationsmedien, betreiben technische Komponenten wie Vertriebsplattformen10 und stellen Systeme zur Organisation des Begutachtungsprozesses bereit. In ihrer Operationsweise haben sie sowohl die Kommunikationsanforderungen der Wissenschaft als auch ökonomische Gesichtspunkte zu berücksichtigen.11 Bibliotheken sorgen traditionell für den Zugang zur Forschungsliteratur, indem sie Publikationen erwerben, sammeln, systematisieren und katalogisieren. Sie sind die wichtigsten Nachfrager nach wissenschaftlichen Publikationen, die sie mit öffentlichen Mitteln erwerben. Sie sorgen so für kontinuierliche Mittelzuflüsse an die Verlage und sind für die Finanzierung der Publikationsinfrastruktur von zentraler Bedeutung. Seit relativ kurzer Zeit treten Bibliotheken aber auch selbst als Betreiber von Publikationsmedien auf. Das geschieht an erster Stelle in Repositorien für Publikationen, in denen eine Kopie von an anderen Orten zugangsbeschränkten Publikationen abgelegt werden kann, um freie Zugänglichkeit herzustellen. Weitere wesentliche Organisationen sind die Redaktionen von Publikationsmedien, insbesondere von Journalen, in deren Verantwortungsbereich die Entscheidung über die Publikationswürdigkeit eingereichter Manuskripte fällt. Wie weiter unten noch gezeigt wird, haben die Art der Trägerorganisation und ihre Finanzierung großen Einfluss auf die Eigenschaften der von ihnen betriebenen Publikationsmedien. Die bisherigen Überlegungen zur Erweiterung des Gegenstandszuschnitts können wie folgt zusammengefasst werden. Im Unterschied zur klassischen Sichtweise der Wissenschaftsforschung beschränkt sich die hier eingenommene Perspektive nicht auf die 10 Die Plattformen SpringerLink, ScienceDirect (Elsevier) und Wiley Online Library sind bekannte Beispiele. 11 Entscheidungen in Verlagen finden daher im Kräfteverhältnis von wissenschaftlicher und ökonomischer Rationalität statt (Volkmann et al. 2014), wobei unterschiedliche Konstellation der beiden Arten von Rationalität anzutreffen sind (Schimank und Volkmann 2012, 177 f.). 9 wissenschaftsinternen Prozesse der Kommunikation. Der Gegenstand wird breiter als eine dreigliedrige Struktur gefasst, die sich vordergründig und nur auf den ersten Blick aus recht heterogenen Komponenten zusammensetzt: aus einer spezifischen Art von Kommunikation – der formalen Wissenschaftskommunikation –, einer technischen Infrastruktur sowie Trägerorganisationen. Den Gegenstand als eine Struktur zu verstehen, bietet sich daher nicht aufgrund der Gleichartigkeit der Komponenten an und auch nicht aufgrund des Umstands, dass sie in denselben Bereich des Sozialen fallen würden – im Gegenteil. Von einer dreigliedrigen Struktur wird hier gesprochen, weil die drei Komponenten durch ein Verhältnis der Ermöglichung aneinandergekoppelt sind. Wie oben festgestellt, sorgen die Trägerorganisationen für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Publikationsinfrastruktur, während diese ihrerseits Voraussetzung für das formale Kommunikationssystem mit seinen vier Funktionen ist. Ungeachtet ihrer Unterschiede handelt es sich bei allen drei Komponenten um soziale Phänomene, die einer soziologischen Analyse zugänglich sind: die Trägerorganisationen mit den für sie typischen Entscheidungskalkülen, die Publikationsinfrastruktur mit den in ihr geronnenen Handlungsvorgaben und mit ihr verbundenen Formen der Aneignung und das formale Kommunikationssystem der Wissenschaft mit seinen institutionalisierten Regeln. Die hier interessierenden Wandlungsprozesse beziehen sich auf alle drei Komponenten. Während die Ursache des Wandels primär einer der genannten Komponenten zugeordnet werden kann, sind Folgen und Nebenwirkungen häufig bei einer anderen Komponente zu beobachten. 3. Vier Strukturdynamiken als Quelle von Wandlungsprozessen Nach der Begriffsklärung und der Bestimmung des Gegenstands wird in diesem Abschnitt der Frage nachgegangen, welche Ursachen die eingangs beschriebene Wandlungsdynamik hat. In der notwendigerweise sequentiellen Beschreibung werden im Folgenden vier Strukturdynamiken dargestellt und zunächst isoliert voneinander beschrieben. Die Untersuchung dieser vier Faktoren bildet die Vorarbeit, um im Anschluss daran zeigen zu können, wie diese in einem komplexen Zusammenwirken zu spezifischen Strukturproblemen im wissenschaftlichen Kommunikationssystem führen. 10 3.1 Digitalisierung Als Digitalisierung werden Entwicklungen auf der Ebene der Publikationsinfrastrukturen bezeichnet, die auf Innovationen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien beruhen. Sie setzt spätestens zu Beginn der 1980er Jahre ein und sorgt für tiefgreifende Veränderungen. Ein Merkmal der Digitalisierung ist ihre Unabgeschlossenheit. Sie beginnt nicht etwa mit einem Ausgangszustand, der – analog zu einer Revolution – nach einer Phase dramatischen Wandels einen Zielzustand erreicht. Vielmehr folgt eine digitale Innovationswelle der nächsten und führt zu umfassendem und fortgesetztem Wandel. Beschränkt man sich an dieser Stelle auf die Betrachtung der Digitalisierung im formalen wissenschaftlichen Kommunikationssystem, ist zu konstatieren, dass sie den Produktionsprozess von Texten, die daraus hervorgehenden Publikationen sowie die Verbreitungswege und Rezeptionsweisen gleichermaßen verändert. Bereits die Verfügbarkeit eines Personal Computer am Arbeitsplatz des Wissenschaftlers hat dazu geführt, dass Forschungsergebnisse und Texte unmittelbar digital erfasst werden. Digitalität ist in zunehmendem Umfang eine native Eigenschaft von Texten und keine, die ihnen im Nachhinein verliehen wird. Durch das Internet werden weitere Transformationen ausgelöst. Hinsichtlich der Produktion von Publikationen verändert sich mit der Einführung von Online-Editorial-Management-Systemen die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und dem Verlag (Taubert 2012). Wurden bis vor nicht allzu langer Zeit Wissenschaftler per Brief und später per E-Mail zur Begutachtung eines Manuskripts eingeladen, führen Online- Editorial-Management-Systeme sämtliche am Produktionsprozess Beteiligten zusammen – und zwar sowohl die an der Begutachtung und an der Entscheidung über die Publikationswürdigkeit von Manuskripten beteiligten Wissenschaftler als auch die Beschäftigen in den Verlagen. Dies bildet die Grundlage für eine Reorganisation von Arbeitsprozessen, führt mit Blick auf die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Verlagen zu einer Verlagerung von Arbeitsschritten zu Lasten der Wissenschaftler, während innerhalb von Verlagen mit diesen Systemen die Voraussetzung für eine Internationalisierung der Arbeitsteilung geschaffen wird. Digitalisierung transformiert aber auch das Ergebnis des Produktionsprozesses, also die Publikationen und die Publikationsmedien. Neue und nicht mehr ganz so neue elektronische Publikationsmedien treten dabei zum Teil zu den traditionellen, gedruckten Formaten hinzu, lösen diese aber zum Teil auch ab. Ergänzenden Charakter haben dabei Pre- und Postprint- 11 Server und Zeitschriftendatenbanken mit retrodigitalisierten Publikationen. Verdrängungs- und Substitutionsverhältnisse lassen sich dagegen insbesondere bei der Umstellung von gedruckten Journalen auf elektronische Formate beobachten. Mit der Digitalisierung wandeln sich auch die Vertriebs- und Verbreitungswege: Die Bereitstellung von Publikationen findet im Fall der elektronischen Publikation in der Regel nicht mehr über einen lokal gepflegten Bibliotheksbestand statt, sondern über Datenbanken, die über das Internet globale Reichweite haben. Damit ist es zumindest von einem technischen Standpunkt aus betrachtet denkbar geworden, dass jeder Wissenschaftler zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort der Welt mit einer Verbindung zum Internet Zugang zu allen elektronischen Publikationen haben kann. Die Funktion der Bereitstellung von Publikationen verschiebt sich zumindest in Teilen weg von den Bibliotheken und hin zu den Verlagen. Im Zuge dieses Prozesses werden lokale Gegebenheiten allerdings nicht bedeutungslos. Für den Zugang zu Literatur ist es mit Fortschreiten der Digitalisierung weniger von Bedeutung, wie groß der Umfang der Literatursammlung vor Ort ist, als die Art und der Umfang von Lizenzen, die von einem bestimmten Ort aus den Zugriff auf Zeitschriften- und Publikationsdatenbanken erlauben. Die damit stattfindende Verknappung der technisch gegebenen Verbreitungsmöglichkeiten führt dazu, dass Wissenschaftler den mit der Digitalisierung entstandenen Möglichkeitsraum zur Selbstverbreitung von Publikationen nutzen. An die Stelle der Zirkulation von gedruckten Pre- und Postprints oder von Sonderdrucken per Post ist der Versand von elektronischen Publikationen per E-Mail und die Ablage einer Kopie der Publikation in einem Repositorium oder auf Web-2.0-Plattformen getreten. Schließlich transformiert sich im Zuge der Digitalisierung auch die Rezeption von Publikationen einschließlich der Suche, des Zugriffs und der Lektüre (Hanekop und Wittke 2007, 215; Hanekop 2014, 5). Einen Bedeutungsverlust erfahren Bibliotheken auch dadurch, dass für die Recherche nach Publikationen immer häufiger auf Suchmaschinen wie Google oder Google Scholar zurückgegriffen wird oder die Suche nach und der Zugriff auf Publikationen mittels fachspezifischer Repositorien stattfindet und bibliothekarische Nachweissysteme in geringer werdendem Umfang genutzt werden. Eine Rezeption findet nicht mehr nur auf Papier statt, sondern auch auf Tablets, E-Book-Readern und an Computerbildschirmen. Zudem werden Publikationen durch Text- und Dataminingverfahren ausgewertet. Dabei ist es eine spannende und weitgehend offene Frage, welche Einflüsse die mit der digitalen Publikation sich verändernden Rezeptionsweisen auf die Kreativität der Forschung und auf die Wissensentwicklung in den verschiedenen Forschungsfeldern und 12 Disziplinen haben. 3.2 Ökonomisierung im Verlagswesen Die zweite Strukturdynamik, die Ökonomisierung, bezeichnet Entwicklungen, die sich auf der Ebene der Trägerorganisationen der Publikationsinfrastruktur abspielen. Möglich werden diese durch eine bestimmte Eigenschaft von Publikationen. Betrachtet man sie aus ökonomischer Perspektive als Ware, die nach einem Prozess der Kommodifizierung12 von den Verlagen vorrangig an Bibliotheken verkauft werden, fällt eine Besonderheit ins Auge: Aufgrund der Anforderungen der wesentlichen Publikationsmedien, ausschließlich originäre Forschungsbeiträge zu veröffentlichen (und keine Forschungsergebnisse und Erkenntnisse, die bereits an einem anderen Ort publiziert wurden), sind Publikationen und Journale eine individuelle, einmalige Ware und nicht substituierbar. Ist ein Publikationsmedium nicht zugänglich, kann ein Wissenschaftler zwar auf andere Publikationen zurückgreifen – die in für ihn unzugänglichen Publikationen veröffentlichten Forschungsergebnisse bleiben ihm vorenthalten. Hieraus leitet sich auch der Anspruch von Bibliotheken nach vollumfänglicher Informationsversorgung entsprechend den Anforderungen von Wissenschaftlern der jeweiligen Einrichtung ab. Die praktische Konsequenz dieser Eigenschaft von Publikationen ist eine unelastische Nachfrage. Bei steigenden Preisen können Bibliotheken nicht auf günstigere Waren ausweichen, sondern müssen bis zur Erschöpfung ihrer finanziellen Spielräume an den Publikationsmedien festhalten, um ihrem Versorgungsauftrag gerecht zu werden. Ein weiteres Merkmal der Ökonomisierung ist ein Konzentrationsprozess, der zur Bildung einiger Großverlage geführt hat, die mittlerweile zwischen Finanzinvestoren gehandelt werden. Entsprechend orientieren sich diese Verlage stark an ökonomischen Kriterien wie dem Shareholder Value und der Erhöhung des Marktwerts des Verlags, damit es den Investoren möglich ist, den Verlag gewinnbringend weiterzuverkaufen. Größenwachstum der Verlage und der häufige Wechsel des Besitzers sind Ergebnisse dieses Prozesses. Ein Beispiel dafür ist der Elsevier Verlag, dessen Weg zu einem global operierenden Großverlag Mitte der 1980er Jahre begann. Nach dem Kauf der Pergamon Press (1991), durch den die Zahl der wissenschaftlichen Journale stark erhöht wurde, fusionierte Elsevier 1993 mit dem britischen Medienunternehmen Reed International zur Reed Elsevier Group 12 Siehe zur Kommodifizierung und De-Kommodifizierung in der Informationsversorgungskette das Modell von Hanekop und Wittke 2006, 203–204; 2013, 151. 13 plc. 1999 wurde Cell Press gekauft, im Jahr 2001 der Wissenschaftsverlag Harcourt. 2011 verfügte der Verlag über 1.250 Zeitschriften im Bereich Science, Technology and Health Science. 2009 erwirtschaftete Elsevier einen Profit von 1,1 Milliarden US-Dollar, 2010 eine Umsatzrendite von 36 %, im Jahr 2011 einen Umsatz von 2,058 Milliarden Pfund Sterling13, zuletzt 2013 eine Rendite von 39 %.14 In ähnlicher Weise verliefen auch die Konzentrationsprozesse im Fall von Wiley-VCH und Springer SBM.15 Die Konzentration im Bereich der wissenschaftlichen Journale hat dazu geführt, dass auf der Anbieterseite des Markts für wissenschaftliche Publikationen de facto ein Oligopol entstanden ist.16 Das gilt insbesondere für den Bereich der Verlage für Science, Technology und Medicine (STM). Im Bereich der geistes- und sozialwissenschaftlichen Journale sind die Verlage kleiner. Aber auch hier finden Transformationsprozesse in Richtung einer Vergrößerung der Verlage statt.17 3.3 Beobachtung des Kommunikationssystems anhand formaler Merkmale Eine dritte Quelle der Veränderungsdynamik sind Einrichtungen und Instrumente, die eine Beobachtung des wissenschaftlichen Kommunikationssystems anhand formaler Merkmale (wie die Anzahl von Publikationen und Zitationen) erlauben. Eine solche Beobachtungsmöglichkeit ist zuerst mit Zitationsdatenbanken wie dem Science Citation Index (SCI), dem Social Science Citation Index (SSCI) und dem Arts and Humanities Citation Index (AHCI) entstanden, das heißt, sie sind erst durch die Digitalisierung des Publikationsgeschehens ermöglicht worden. Zunächst sollten sie den Wissenschaftlern die Orientierung im Kommunikationssystem erleichtern. Schon früh wurde die Möglichkeit 13 Siehe Arnold und Cohn 2012 mit Verweisen. 14 Siehe http://poeticeconomics.blogspot.de/2014/03/elsevier-stm-publishing-profits-rise-to.html und http://www.reedelsevier.com/investorcentre/reports%202007/Documents/2013/reed_elsevier_ar_2013.pdf (30.10.2015). 15 Siehe hierzu den Beitrag von Niels Taubert in diesem Band. 16 Die Gesamtzahl wissenschaftlicher Journale wird derzeit in der Größenordnung von 28.100 Journalen geschätzt. Geht man von dieser Zahl aus, gehört ein Anteil von 40,5 % der Journale zu lediglich sechs Verlagshäusern (Ware und Mabe 2015, 45). Zu einem noch höheren Wert gelangt man, wenn man die Betrachtung auf die wichtigsten im Web of Science indexierten Journale beschränkt. Von diesen 10.900 Journalen, sind 50,1 % im Besitz eines der fünf größten Verlagshäuser (Morris 2007, 307). Diese Besitzverhältnisse haben einige Beobachter dazu veranlasst, von einem Oligopol zu sprechen. 17 Siehe hierzu beispielsweise das Ergebnis der Akquise vom Verlag Walter de Gruyter (http://www.degruyter.com/staticfiles/pdfs/1410_Fact_Sheet_Imprints_de.pdf, 30.10.2015) und den Aufkauf des Campus Verlags durch die Beltz Rübelmann Holding (Handelsblatt vom 06. Februar 2015. Siehe http://www.handelsblatt.com/unternehmen/it-medien/buecherbranche-beltz-schluckt-campus- verlag/11338350.html, 30.10.2015). 14 erkannt, diese Daten auch zur Analyse von Forschungsnetzwerken, ihrer historischen Entwicklung ebenso wie zur frühzeitigen Identifizierung ‚heißer‘ Forschungsgebiete und schließlich zur Bewertung von Forschungsleistung zu nutzen. Beobachtet und bewertet werden kann die Leistung unterschiedlicher Einheiten des Wissenschaftssystems wie Nationen, Organisationen, Forschergruppen oder Personen. Mit der Einführung von Publikationsdatenbanken und Forschungsinformationssystemen sowie mit der Verfügbarkeit automatischer Auswertungsinstrumente einerseits sowie regelmäßiger Evaluationen, Rankings und Ratings andererseits hat sich die Häufigkeit der Nutzung solcher Beobachtungsinstrumente erhöht. Mittlerweile bedienen sich neben der Wissenschaftspolitik und -verwaltung auch andere Akteure wie Verlage und Bibliotheken dieser Möglichkeiten. Zu Rückwirkungen auf das wissenschaftliche Kommunikationssystem kommt es durch eine zweite Entwicklung: Seit Anfang der 1990er Jahre hat in allen europäischen Ländern und den USA eine Umstellung in der Governance der Universitäten und Forschungseinrichtungen auf ‚New Public Management‘ (NPM) stattgefunden. Im Zuge dessen wurden Rankings und Evaluationen eingeführt, in deren Rahmen auch bibliometrische Indikatoren genutzt werden. Die anscheinende Unausweichlichkeit der Einführung dieser neuen Managementmethoden verdankt sich einer seit spätestens Ende der 1980er Jahre einsetzenden Vertrauenskrise in die Selbststeuerungsmechanismen der Wissenschaft. Einige Autoren sehen diese Krise viel allgemeiner als Vertrauenskrise gegenüber allen gesellschaftlichen Institutionen, die die Gesellschaft zu einer ‚Audit Society‘ (Power 1997) habe werden lassen, in der sich alle Institutionen dem Ruf nach Rechenschaftslegung, Transparenz, Effizienz und Marktorientierung ausgesetzt sehen. Die Methoden des NPM sind auch zum Mantra der Hochschulpolitik geworden. NPM reagiert auf die speziellen Legitimierungserwartungen der Politik gegenüber der Wissenschaft: Es soll der demokratischen Kontrolle seitens der Öffentlichkeit durch die Herstellung von Transparenz hinsichtlich der internen Praktiken dienen und die Effizienz durch Management, das heißt den sparsamen Umgang mit öffentlichen Mitteln gewährleisten (Weingart 2013). Da die spezifischen Leistungen der Wissenschaft vielfach von außen unzugänglich sind, bieten sich jene Prozesse zur Beobachtung an, die für die interne Reputationsverteilung 15 verantwortlich und zugleich quantifizierbar sind.18 Die Nutzung von Zitationsdatenbanken macht die weitgehend impliziten Vorgänge der innerwissenschaftlichen Reputationszuweisung von außen sichtbar und nachvollziehbar. Die Herstellung von Transparenz durch die Einführung der Leistungsindikatoren wird deshalb auch positiv bewertet. Die Instrumente, mit denen das wissenschaftliche Kommunikationssystem anhand formaler Merkmale beobachtet wird, werden weiterentwickelt und verfeinert, und ihre Anwendung hat sich in der jüngeren Vergangenheit intensiviert. Die Rezeption von Publikationen wird nicht mehr nur anhand von Zitationen gemessen, sondern auch in Form von Aktivitäten niedrigerer Schwelle. Unter der Bezeichnung Usage Based Metrics werden Rezeptionsaktivitäten wie Clicks, Downloads und das Setzen von Bookmarks zusammengefasst. Auch mit diesen Merkmalen soll der ‚Impact‘ oder die ‚Bedeutsamkeit‘ einer Publikation bestimmt werden.19 Die genannten Indikatoren werden nicht mehr nur im Kontext von Forschungsevaluationen genutzt, sondern auch bei Entscheidungen über die Ressourcenzuteilung in Forschungsorganisationen, bei der Besetzung von Stellen (insbesondere Professuren) und bei Entscheidungen über Drittmittelanträge. Zusätzliche Dynamik ergibt sich daraus, dass dieselben Großverlage, die diese Daten zu bibliometrischen Indikatoren verarbeiten und verbreiten, auch ihre fortgesetzte Produktion betreiben und kontrollieren. Daneben verwenden Verlage Metriken zur Bewerbung ihrer Produkte und Wissenschaftler zur Selbstdarstellung ihrer Leistungen. Da diese Daten geeignet sind, ein solches Selbstmarketing zu betreiben, erfreuen sie sich ungeachtet ihrer Fungibilität für Kontrollzwecke erheblicher Akzeptanz. 3.4 Beobachtung des Wissenschaftssystems durch die Massenmedien Auch der vierte Faktor, die Außenbeobachtung durch die Massenmedien, wirkt primär auf der Ebene des wissenschaftlichen Kommunikationssystems. Zunehmend werden wissenschaftliche Ergebnisse, aber auch Entwicklungen (und Fehlentwicklungen) im Wissenschaftssystem zum Thema massenmedialer Kommunikation gemacht. Im Unterschied zu den unter 3.3 beschriebenen Einflüssen handelt es sich also nicht um eine 18 Neben der Beobachtung des Publikationsgeschehens werden üblicherweise die eingeworbenen Forschungsgelder, zuweilen auch Einladungen zu renommierten Vorträgen oder die Zahl der Doktoranden als derartige Maße eingesetzt. 19 Siehe Brody et al. 2006; Bollen und van de Sompel 2008; Shephard 2007. Als neuere Entwicklung zu erwähnen ist auch das Angebot der Firma Altmetric, die für Artikel unter anderem die Anzahl der Erwähnungen auf Nachrichtenseiten, Social Media (Blogs, Facebook, Twitter) und auf Mendeley und CiteULike auswertet und sichtbar macht. 16 Beobachtung des Kommunikationssystems anhand formaler Merkmale, sondern vor allem um die Beobachtung von Inhalten und die Interpretation ihrer Relevanz für Gesellschaft und Politik. Wissenschaft hat als Gegenstand massenmedialer Berichterstattung besonders seit den 1990er Jahren in Deutschland einen Boom erlebt. Es wurden vielfältige Wissens- und Wissenschaftsmagazine aufgelegt, und zugleich haben die Massenmedien ihre wissenschaftsjournalistischen Redaktionen ausgebaut. Auch wenn sich diese Entwicklung inzwischen aufgrund der ökonomischen Krise der Printmedien wieder umgekehrt hat, haben zumindest Meldungen über wichtige Fortschritte in der Forschung, über die Ergebnisse von Rankings oder die Exzellenzinitiative nach wie vor einen Nachrichtenwert (Schäfer 2011). Dem entspricht auf Seiten der Politik die Erwartung, dass sich die Wissenschaft insgesamt, aber auch Universitäten, Forschungseinrichtungen und Wissenschaftler gleichermaßen der Öffentlichkeit gegenüber öffnen und über sich selbst berichten. Zum Teil wurden sogar spezifische Förderinstrumente eingeführt,20 die die Kommunikation mit der Öffentlichkeit fördern und belohnen. Die Implikation dieser wissenschaftspolitischen Erwartung für das wissenschaftliche Kommunikationssystem ist weitreichend: Ist das Publikum der ‚internen‘ fachlichen Kommunikation der Wissenschaft die jeweilige Fachgemeinschaft, so wird nun zusätzlich die allgemeine Öffentlichkeit zum Adressaten. Diese Entwicklung hat das Potenzial, dass es zu Konflikten zwischen den neuen Anforderungen und wissenschaftlichen Normen wie dem ‚organisierten Skeptizismus‘ (Merton 1942, 126) oder dem Gebot der Bescheidenheit kommt (Merton 1963, 250). Die Orientierung seitens der Wissenschaft auf die allgemeine Öffentlichkeit kann dabei von zwei Motiven angetrieben sein: Erstens durch die (aufklärende) Informierung der Öffentlichkeit: Dies wird auf der einen Seite durch den traditionellen Wissenschaftsjournalismus in der Rolle des ‚Übersetzers’ beziehungsweise früher in der des ‚Popularisierers’ geleistet. Diese Form des Wissenschaftsjournalismus, obgleich nicht vollkommen verschwunden, ist einer investigativen und kritischeren Berichterstattung gewichen (Blattmann et al. 2014). Im Prinzip schließt sie Berichte über Wissenschaftspolitik mit ein, auch wenn das noch immer vergleichsweise selten stattfindet. Auf der anderen Seite wird komplementär dazu eine teils aufklärerische, teils persuasive Wissenschaftskommunikation von der Wissenschaft selbst betrieben. Über Formate wie das ‚Public Understanding of Science‘ (PUS) oder ‚Public Engagement with Science and Technology‘ (PEST) wird versucht, das Interesse der Öffentlichkeit an Wissenschaft zu wecken. Die dieser Form der Kommunikation zugrunde 20 So z. B. das Programm „Agora“ des Schweizer National Fonds oder der Communicator-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 17 liegende (und widerlegte) Annahme ist, dass ein höherer Informationsstand in der Öffentlichkeit mit einem höheren Maß an Unterstützung einhergeht.21 Zweitens ist die Konkurrenz um Aufmerksamkeit zum Zweck der Eigenwerbung durch die Erwartung von Vorteilen im Verteilungskampf um öffentliche Mittel motiviert. In der Praxis sind beide Motive nicht klar voneinander geschieden, überlagern sich zum Teil, verstärken sich wechselseitig und bilden gerade deshalb eine besondere Konstellation: Die im Demokratiediskurs gebotene Öffentlichkeits- und Rechenschaftspflicht stützt die wissenschaftspolitisch gebotene werbende Konkurrenz um Aufmerksamkeit, ohne dass diese noch kritisch von aufklärender Kommunikation unterschieden würde. Folglich verwischen sich die Grenzen zwischen den entsprechenden Formaten der Kommunikation, zwischen ‚public relations‘, ‚marketing‘ und journalistischer Informierung der Öffentlichkeit. Das wird angesichts der erwähnten Krise der Printmedien besonders offensichtlich. Die Zahl vor allem von festangestellten Wissenschaftsjournalisten ist rückläufig, gleichzeitig steigt die Zahl der professionellen, auf persuasive Kommunikation (PR) spezialisierten Kommunikatoren. Eine nicht unerhebliche Zahl ausgebildeter Wissenschaftsjournalisten ist in den letzten Jahren in den Bereich der Wissenschafts-PR gewechselt, auf deren Berichte die Medien angewiesen sind. Redaktionell bearbeitete Berichterstattung wird durch Werbekommunikation ersetzt, die immer weniger als solche erkennbar ist.22 Auf die Problematik dieser Entwicklung haben 2014 die Akademien aufmerksam gemacht und dazu Empfehlungen formuliert (Nationale Akademie et al. 2014). Aufgrund der beschriebenen Verknüpfung von legitimatorischem Öffentlichkeitsmandat und verteilungspolitisch gebotenem Aufmerksamkeitsmanagement kommt es zur ‚Medialisierung' der Wissenschaft. Das bedeutet, dass die Orientierung der Wissenschaftler beziehungsweise der wissenschaftlichen Organisationen an den Relevanzkriterien der Massenmedien (Nachrichtenwert) in ein konflikthaftes Verhältnis zum Wahrheitscode der Wissenschaft treten kann (Weingart 2001, Kap. 6). Welche Auswirkungen die Medialisierung auf die Wissenschaft hat, ist umstritten, nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Auslegungen des Begriffs (Peters et al. 2013). Maßgebend ist die Unterscheidung zwischen Rückwirkungen auf die Darstellung von Wissenschaft, wie sie 21 Zur Fragwürdigkeit dieser Annahme und zur Entwicklung dieses Kommunikationstyps siehe Bauer 2007 und zu den Auswirkungen auf die Einstellungen der Öffentlichkeit gegenüber der Wissenschaft Bauer et al. 2012. 22 Zur Rolle und Entwicklung der medialen Selbstdarstellung der Hochschulen in Deutschland siehe Marcinkowski et al. 2013. Schätzungen der Zahl professioneller ‚Kommunikatoren‘, die die PR- Kommunikation an deutschen Universitäten und Forschungseinrichtungen betreiben, bewegen sich zwischen 800 und 1.000. 18 z. B. mit der beschriebenen PR-Kommunikation der Universitäten gegeben ist, und Rückwirkungen auf die Herstellung von Wissenschaft, also auf ihre Forschungsagenden und ihr Kommunikationsverhalten (Weingart et al. 2012). 4. Derzeitige Strukturprobleme des wissenschaftlichen Kommunikationssystems Die im letzten Abschnitt dargestellten vier Strukturdynamiken wirken nicht isoliert auf das wissenschaftliche Kommunikationssystem ein, sondern führen als komplexes Geflecht von teils gleichgerichteten und teils gegenläufigen Wirkungen und Rückwirkungen zu Veränderungen. Die Entwicklung eines angemessenen Verständnisses der gegenwärtigen Probleme und Herausforderungen im formalen wissenschaftlichen Kommunikationssystem setzt daher voraus, bei der Analyse mehrere der im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Faktoren in ihrem Zusammenwirken in den Blick zu nehmen. Die Leistungsfähigkeit der hier entwickelten Perspektive soll anhand von drei Strukturproblemen demonstriert werden. Als Beispiele dienen die Bibliothekskrise, die sich aus der Sicht der Betreiber als Finanzierungsproblem und aus der Sicht der Wissenschaft als Problem des Zugangs zu Literatur darstellt (4.1), das Größenwachstum des formalen Kommunikationssystems (4.2) und die Auswirkungen der Strukturdynamiken auf das Vertrauen in publizierte Forschungsergebnisse (4.3). 4.1 Bibliothekskrise und Open Access Ein Strukturproblem scheint dem ersten Anschein nach primär von der Ökonomisierung des Verlagswesens verursacht zu sein: Die oben beschriebene zunehmende Bedeutung ökonomischer Renditeziele bei wissenschaftlichen Großverlagen hat in Verbindung mit dem Merkmal der Nichtsubstituierbarkeit der Ware ‚Publikation‘ seit den 1980er Jahren zu einer Kostenexplosion auf Seiten der Bibliotheken geführt. Für den Zeitraum 1975–1995 werden Preissteigerungen für wissenschaftliche Zeitschriften zwischen 200 % und 300 % angegeben (European Commission 2006, 16), für 1986–2006 durchschnittliche Preissteigerungen von 5 bis 8 % pro Jahr (Kirchgässner 2008) berichtet. Danach liegen sie in ähnlicher Höhe, so im Jahr 2008 bei 9 bis 10 % und in den Jahren 2009 und 2010 bei je 7 bis 9 % (Boni 2010). Im selben Zeitraum sind die Bibliotheksbudgets nicht in einem ähnlichen Umfang gewachsen, sodass die Preissteigerungen nicht aufgefangen werden konnten. Daher waren und sind die 19 Bibliotheken zur Einschränkung ihrer Erwerbs- und Sammelaktivitäten gezwungen.23 An den gerade beschriebenen, der Bibliothekskrise zugrunde liegenden strukturellen Ursachen hat sich um Grundsatz wenig geändert; gewandelt hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten aber ihre Erscheinungsform. Um diese Veränderungen zu verstehen, muss ein zweiter Faktor – die Digitalisierung – mit in den Blick genommen werden. Auffälligste Entwicklung ist die seit den 1990er Jahren im Bereich von STM stattfindende Umstellung auf die elektronische Publikation. Sie ging mit der Hoffnung auf sinkende Preise einher, da wesentliche Arbeitsschritte wie die Herstellung gedruckter Exemplare und ihr Vertrieb entfielen. Tatsächlich hoben die Verlage aber die Preise bis zu 15 % pro Jahr an, mit dem Verweis auf die hohen Kosten der Entwicklung und Bereitstellung digitaler Produktions- und Vertriebsplattformen. Mit dem Wandel hin zur elektronischen Publikation veränderten sich zudem die Geschäftsmodelle der Wissenschaftsverlage in Richtung einer Diversifizierung des Produkts: Während zu Zeiten des Drucks die in einem Band versammelten Forschungsbeiträge die gewissermaßen ‚natürliche‘ Form der Ware ‚Publikation‘ darstellten, findet im Zeitalter der elektronischen Publikation eine Kommodifizierung in diversifizierten Formen statt. Kleinteiliger als im klassischen Subskriptionsmodell ist der Verkauf oder die Vermietung des Zugangs zu einzelnen PDFs, grober dagegen der Zugang zu großen Teilen oder gar zum Gesamtbestand der Zeitschriften eines Verlags über die entsprechende Vertriebsplattform. Gerade die letztgenannte Form der Kommodifizierung führt zu Veränderungen auf dem Markt: Der Vorteil des Erwerbs eines Zugriffs auf das Gesamtangebot des Verlags besteht für die Bibliotheken in den zum Teil erheblichen Preisnachlässen gegenüber dem Erwerb eines Zugriffs auf einzelne Zeitschriften, der Nachteil in einer geringeren Flexibilität, da sie sich verpflichten, Kündigungen auf einen bestimmten Prozentsatz zu beschränken. Für Großverlage ist ein solcher sogenannter ‚Bundle Deal‘ attraktiv, da sie auf diesem Weg große Teile des Bibliotheksetats binden können. Ein Effekt des Geschäftsmodells besteht darin, dass sich die Verlage in Abhängigkeit von der Größe ihres Portfolios unterschiedlich gut gegen Abbestellungen schützen können. Einsparungen treffen vor allem Verlage mit einem kleineren Angebot an Zeitschriften oder einem von Büchern und Sammelbänden dominierten Programm. Als Reaktion auf die Bibliothekskrise wurde und wird von Bibliotheken, Wissenschaftlern und wissenschaftsfördernden Organisationen ein leserseitig uneingeschränkter Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen gefordert, in denen Ergebnisse öffentlich finanzierter 23 Die Einschränkungen betreffen nicht nur die Journale, sondern haben sich auch auf den Bereich der Monografien und Sammelbände ausgeweitet (Kopp 2000). 20 Forschung veröffentlicht werden. Für die Realisierung eines solchen Open Access ist die Digitalisierung Voraussetzung. Dies zeigt sich bereits im Text der Budapest Declaration aus dem Jahr 2002, die für den Begriff Open Access prägend ist. In der einleitenden Passage heißt es: „An old tradition and a new technology have converged to make possible an unprecedented public good. The old tradition is the willingness of scientists and scholars to publish the fruits of their research in scholarly journals without payment, for the sake of inquiry and knowledge. The new technology is the internet. The public good they make possible is the world-wide electronic distribution of the peer-reviewed journal literature and completely free and unrestricted access to it by all scientists, scholars, teachers, students, and other curious minds.24 Zur Realisierung dieses Ziels werden in der Erklärung zwei Strategien vorgeschlagen, die seitdem auch verfolgt werden: zum einen die Herstellung der freien Zugänglichkeit und Nutzbarkeit bereits an zugangsbeschränkten Orten veröffentlichter Publikationen durch die Ablage einer elektronischen Kopie in einem Repositorium – hier wird von Green Open Access gesprochen – und zum anderen die Herstellung des freien Zugangs am originären Publikationsort, dem sogenannten Gold Open Access. Kostenlose Zugänglichkeit für den Leser ist in einem praktischen Sinne auf einem der beiden Wege nur dann zu realisieren, wenn eine Infrastruktur wie das Internet existiert, die die Herstellung von Kopien eines Textes und ihre weltweite Verbreitung zu vernachlässigbaren Kosten erlaubt. Zunächst schien es so, als würde sich die Forderung nach Open Access gegen die Interessen der arrivierten Wissenschaftsverlage richten. Sie wurde aber rasch von diesen aufgegriffen und unter ökonomischen Vorzeichen uminterpretiert. Der Forderung nach Open Access wird mit zwei Geschäftsmodellen entsprochen, die mit den Gewinnerwartungen der Verlage kompatibel sind: Ein Modell sieht vor, dass für alle Beiträge einer Zeitschrift Publikationsgebühren oder sogenannte Article Processing Charges (APC) erhoben werden.25 Sämtliche Beiträge einer Zeitschrift sind hier im Open Access frei zugänglich und das Journal finanziert sich vollständig über Publikationsgebühren. APCs werden bei der Annahme eines Artikels zur Publikation fällig und üblicherweise von den Forschungsorganisationen, die den 24 Siehe http://www.budapestopenaccessinitiative.org/read (30.10.2015). 25 Siehe zu diesem Modell ausführlicher Björk und Solomon 2014. 21 Autor beschäftigen, bezahlt.26 Ein zweites Modell beruht darauf, freie Zugänglichkeit optional anzubieten. Bei diesem Modell ist der Zugriff auf die Beiträge einer Zeitschrift generell kostenpflichtig. Ein Autor kann sich aber dazu entscheiden, den einzelnen von ihm verfassten Artikel gegen die Zahlung von APC frei zugänglich zu machen. Dieses optionale Modell steht besonders in der Kritik, da der Verdacht besteht, dass sich die Verlage ihre Leistungen zweifach bezahlen lassen – einmal auf der Seite der Autoren und einmal auf der Seite der Leser, weswegen auch von ‚double dipping‘ gesprochen wird. Zwar wird mit diesen Modellen das Problem des Zugangs zu Publikationen gelöst, die finanziellen Probleme, die durch überhöhte Preise den Kern der Bibliothekskrise ausmachen, werden durch diesen Finanzierungsweg jedoch nicht zwingend beseitigt. Die derzeitige Situation lässt sich wie folgt charakterisieren: Die Transformation in Richtung Open Access ist in einem größeren Umfang aber ur in einzelnen Wissenschaftsbereichen durch Green Open Access geglückt.27 Der Anteil der am originären Publikationsort leserseitig frei verfügbaren Publikationen liegt demgegenüber je nach Berechnungsgrundlage zwischen 9 und 16,9 %.28 Dies bedeutet nichts anderes, als dass das Subskriptionsmodell im Vergleich zur Finanzierung von Zeitschriften über Publikationsgebühren nach wie vor das bei weitem bedeutendere Modell ist. Mit den Repositorien, durch die Green Open Access realisiert wird, wurde eine zweite Publikationsebene geschaffen, mit der zwar die Zirkulation von Forschungsergebnissen in wissenschaftlichen Gemeinschaften (Informationsfunktion) unterstützt wird, die aber, was die Zertifizierung betrifft, auf die Begutachtung der Beiträge bei den originären Publikationsmedien angewiesen bleibt. Zudem sind die durch Repositorien zugänglich gemachten Versionen nur eingeschränkt verwendbar, da zum Teil die Paginierung fehlt und häufig Unklarheit darüber besteht, ob die dort abgelegte Version auch dem Wortlaut der Journalversion entspricht. Dies gilt insbesondere in Fächern, deren Zitationspraxis die 26 Dies geschieht über sogenannte Publikationsfonds. Siehe hierzu Arbeitsgruppe Open Access 2014. Eine Übersicht über die derzeitigen Mittelflüsse im deutschsprachigen Raum aus Publikationsfonds findet sich bei Pampel 2014. 27 Der Anteil an Green-Open-Access-Publikationen schwankt zwischen den Disziplinen erheblich. Das Schlusslicht stellt in einer Untersuchung im Publikationsjahrgang 2010 die Chemie mit einem Anteil von 9,3 % selbstarchivierter Publikationen dar, der größte Anteil findet sich in der Mathematik mit 40,8 %. Über alle Disziplinen hinweg betrachtet ist ein Gesamtanteil von 21,9 % im Green Open Access verfügbar (Gargouri et al. 2012, 8). 28 Die Untersuchung von Laakso und Björk berichtet für Publikationen aus dem Jahrgang 2011 einen Anteil von 9,0 % unmittelbar frei zugänglicher Publikationen in Gold Open Access Journals im Web of Knowledge und 11 % in der Zitationsdatenbank Scopus. Unter Berücksichtigung des Anteils an Artikeln, die mit einer Zeitverzögerung (einer sogenannten Moving Wall) frei zugänglich sind und des Anteils frei zugänglicher Artikel im Rahmen des optionalen Open-Access-Modells errechnet sich für das Web of Knowledge ein Gesamtanteil von 16,2 % Open-Access-Publikationen und für Scopus ein Anteil von 16,9 % (Laakso und Björk 2012, 6). 22 seitengenaue Referenzierung verlangt. Daher bleibt allen Anstrengungen zum Trotz die Abhängigkeit von den originären, in der Regel immer noch subskriptionspflichtigen Journalen bestehen. Die anhaltende Krisensituation hat eine Reihe von Reaktionen seitens der Wissenschaftler und Bibliotheken hervorgerufen. Am bekanntesten geworden ist der gegen den Elsevier Verlag gerichtete Boykott (Lin 2012), der 2012 von Mathematikern mit der Initiative ‚The cost of knowledge‘ initiiert wurde und dem sich fast 15.000 Wissenschaftler angeschlossen haben. Begründet wird der Protest mit dem Missverhältnis, das zwischen den von Wissenschaftlern erbrachten und für den Verlag kostenlosen Leistungen in Gestalt von eingereichten Manuskripten sowie editorischer Arbeit der Herausgeber und Gutachten der „Peers“ einerseits und den ungewöhnlich hohen Kosten der Zeitschriften und den dadurch erwirtschafteten Profiten andererseits besteht. Der Boykott richtet sich gegen Elsevier, da er den Initiatoren des Boykotts als ‚worst offender’ unter den Großverlagen gilt. Seitdem haben mehrere Universitäten, unter anderem auch deutsche (TU München, Universität Konstanz) mit der Kündigung von Abonnements auf die Preispolitik Elseviers reagiert. Im November 2014 hat die niederländische Vereinigung der Universitäten (VSNU) die laufenden Verhandlungen mit dem Verlag über die Erneuerung der Subskriptionen für 2015 und die Einführung von Open Access abgebrochen. Die Harvard University erließ bereits im April 2012 ein ‚Faculty Advisory Council Memorandum on Journal Pricing’, in dem es unter anderem heißt: We write to communicate an untenable situation facing the Harvard Library. Many large journal publishers have made the scholarly communication environment fiscally unsustainable and academically restrictive. This situation is exacerbated by efforts of certain publishers (called “providers”) to acquire, bundle, and increase the pricing on journals (Harvard University 2012). Die Universität forderte ihre Mitglieder unter anderem dazu auf, eigene Artikel entsprechend der Open-Access-Politik im universitätseigenen Repositorium (DASH) zu speichern, Artikel in Open-Access-Zeitschriften zu publizieren und den Ruf dieser Zeitschriften zu steigern, sich aus Editorial Boards von Zeitschriften zurückzuziehen, die sich der Open-Access-Politik widersetzen u.a.m. Ein erster Erfolg des Boykotts war Elseviers Verzicht auf die Unterstützung des ‚Research Works Act‘, einer Gesetzesinitiative im amerikanischen 23 Kongress, die Mandate zur Open-Access-Veröffentlichung staatlich geförderter Forschungsergebnisse verbieten sollte. „The bill was declared dead by its sponsors in Congress on the very same day” (Arnold und Cohn 2012, 832).29 Die Analyse der Bibliothekskrise mit ihrer sich im Zeitverlauf wandelnden Erscheinungsform gelingt nur, wenn die beiden Großdynamiken der Ökonomisierung und Digitalisierung mit ihren Verschränkungen betrachtet werden. Erst dann wird sichtbar, dass sowohl die zunehmend von ökonomischen Imperativen geprägten Großverlage als auch Wissenschaftler und Bibliotheken gleichermaßen die Möglichkeitsräume und das Entwicklungspotenzial der Digitalisierung in ihrem jeweiligen Sinne deuten und sich zunutze machen. Bislang scheinen die Großverlage in diesem Prozess in der Vorhand zu sein, wenngleich – das zeigt der Boykott ‚The cost of knowledge‘ – mit der Digitalisierung auch neue Vernetzungs- und Organisationsmöglichkeiten zur Interessenartikulation innerhalb wissenschaftlicher Gemeinschaften entstehen. 4.2 Vielgestaltiges Größenwachstum Das zweite Beispiel, an dem die Leistungsfähigkeit der hier entwickelten Analyseperspektive demonstriert werden soll, ist das Größenwachstum des wissenschaftlichen Kommunikationssystems. Die Klagen über ein solches Wachstum und insbesondere die Probleme, die daraus auf Seiten der Rezipienten entstehen, sind Begleiterscheinung der modernen Wissenschaft seit ihrem Entstehen. Das Wachstum der Wissenschaft im Allgemeinen und des Kommunikationssystems im Besonderen führt zu einer Verengung des Ausschnitts der jeweils rezipierten Publikationen, da die Aufmerksamkeit und die Lesezeit eines Wissenschaftlers begrenzt sind und nicht beliebig erweitert werden können. Mengenwachstum ist daher einer der treibenden Faktoren für die Spezialisierung der Wissenschaft, zunächst in Disziplinen und später in Spezialgebiete (‚specialties‘) mit einer der Tendenz nach zunehmenden Fokussierung auf immer kleinere Gegenstandsausschnitte und Forschungsbereiche. Seit diesem von Derek de Solla Price bereits 1963 beschriebenen exponentiellen Größenwachstum der Wissenschaft, also dem gleichgerichteten Anwachsen von Forschungsmitteln, Forschungseinrichtungen und der Anzahl an Wissenschaftlern, sind innerhalb des Kommunikationssystems weitere externe Faktoren wirksam, die das Größenwachstum zusätzlich beschleunigen. Sie haben unterschiedliche, teils 29 Die Entwicklung geht weiter. Anfang November 2015 zogen sich die sechs Herausgeber der Zeitschrift Lingua sowie das gesamte Editorial Board aus der Leitung der Zeitschrift zurück und kündigten die Gründung einer neuen Open-Access-Zeitschrift an (Ingram, http://fortune.com/2015/11/02/elsevier-mutiny/ 30.10.2015). 24 zusammenwirkende Ursachen und betreffen verschiedene Dimensionen des Kommunikationssystems. Die gemeinsame Klammer dieser Entwicklungen besteht darin, dass sie zusammen zu einem Strukturproblem führen, nämlich einer wachstumsbedingt zunehmenden Unübersichtlichkeit des Systems. Einer der externen Faktoren, die zum Wachstum beitragen, ist die Beobachtung des Kommunikationssystems anhand formaler Merkmale. Von Untersuchungen zu nicht- intendierten Folgen ist bekannt, dass Forschungsevaluationen unter bestimmten Umständen das Publikationsverhalten von Wissenschaftlern beeinflussen können (Espeland und Sauder 2007). Wenn die Anzahl an Publikationen (oder die eines bestimmten Typus von Publikationen) bei der Messung und Bewertung von Forschungsleistungen eine Rolle spielt und in Form eines Indikators unmittelbar mit Anreizen verknüpft wird – wie zum Beispiel durch die Zuweisung von (Dritt-)Mitteln – reagieren Wissenschaftler mit einer Anpassung ihrer Publikationsstrategie. Sie veröffentlichen Forschungsergebnisse in möglichst vielen Einzelpublikationen (‚Least Publishable Units‘), um so den Messvorgang zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Dieses strategische ‚Salami Slicing‘ führt zu einem inflationären Wachstum (Geuna und Martin 2003, 283; Bornmann und Daniel 2007) von Publikationen, ohne dass damit ein höherer Forschungsertrag verbunden wäre. Diese Art von Reaktionen hat Linda Butler bei der Einführung des Australian Research Evaluation System untersucht und einen Anstieg der Zahl der Publikationen festgestellt, allerdings nur in einem Segment von Zeitschriften von mittlerer Qualität. Wissenschaftler seien auf weniger prestigereiche Zeitschriften ausgewichen, um ihre Publikationszahlen zu erhöhen (Butler 2003, 41). Dieser Effekt lässt sich in allen Systemen beobachten, die rein quantitative Leistungsmaße eingeführt haben. Sie konstatiert: Increased publication output appears to be a common impact of PRFS, irrespective of the model used, and this has generated a great deal of attention. Much of the discussion is anecdotal, but it is the one impact on which there is considerable bibliometric analysis, accompanied by a belief that it is possible to demonstrate the causal effect of the assessment systems. The United Kingdom, Australia, Spain and Norway have been the focus of detailed studies (Butler 2010, 137). Nach neueren Berechnungen wächst das wissenschaftliche Publikationsvolumen jährlich um etwa 9 %, was einer Verdoppelung etwa alle 9 Jahre entspricht (Bornmann und Mutz 2014). 25 Wie groß hierbei der Anteil ist, der auf Forschungsevaluationen zurückzuführen ist, lässt sich auf der Grundlage der vorliegenden Befunde nicht bestimmen. Aber auch von der Ökonomisierung gehen wachstumsrelevante Effekte aus: Wissenschaftsverlage im Bereich von STM reagieren auf den Bedeutungsgewinn ihrer Journale unter anderem mit einer Vergrößerung des Umfangs der betreffenden Zeitschrift und der Steigerung der Frequenz ihres Erscheinens. Die Ökonomisierung, der die Großverlage unterliegen, führt aber auch zu einer Ausweitung des Einschlussbereichs des Kommunikationssystems in Richtung von weniger innovativen, relevanten und von der Qualität her nachgeordneten Beiträgen. Zwei Entwicklungen sind insbesondere hervorzuheben: Cascading Peer Review und Predatory-Open-Access-Journale. Cascading Peer Review30 bezeichnet die Weitergabe von abgelehnten Artikeln inklusive ihrer Gutachten von einem Journal zu einem anderen. Dieses bereits seit einigen Jahren praktizierte Verfahren folgt der Einsicht, dass in vielen Bereichen der Wissenschaft eine Reputations-Hierarchie unter den Journalen existiert und Autoren in ihrem Einreichungsverhalten dieser Hierarchie folgen. Kommt es zur Ablehnung eines Manuskripts, wird dieses häufig bei einem in der Hierarchie weiter unten stehenden Journal eingereicht. Dort werden die Manuskripte dann erneut begutachtet. Erklärte Ziele des Cascading sind zum einen, durch die Weitergabe von Gutachten die Kapazität von Gutachtern zu schonen und effizienter einzusetzen (Hames 2014, 10) und zum anderen, die Publikation eines Manuskripts zu beschleunigen. Hinsichtlich der Art der Organisation des Cascading Peer Review sind große Unterschiede anzutreffen. Das Verfahren kann sowohl innerhalb eines Verlags als auch zwischen Journalen unterschiedlicher Verlage organisiert sein.31 Weitere Unterschiede beziehen sich darauf, inwieweit die Weitergabe von Manuskripten einen Automatismus darstellt oder ein Zutun des Autors beziehungsweise Editors erfordert. Unter bestimmten Umständen kann Cascading Peer Review das Größenwachstum befeuern, denn das Verfahren nutzt nicht nur der Wissenschaft, sondern insbesondere auch den Großverlagen (Barroga 2013, 91). Die Weiterreichung von Manuskripten an Journale desselben Verlags ist ein probates Mittel, um einen möglichst großen Teil der Einreichungen an den Verlag zu binden und diese auch im Fall negativer Begutachtung im Verlagsprogramm publizieren zu können. Dazu wird zum Teil die Journal- 30 Die Bezeichnung ist nicht einheitlich. Zum Teil wird nicht das Gutachten, sondern das Manuskript in den Mittelpunkt gestellt und von ‚Automated Manuscript Transfer‘ gesprochen. 31 Siehe hierzu das Beispiel der International Neuroinformatics Coordinating Facility (INCF) in de Schutter 2007. 26 Kaskade mit wenig renommierten Journalen nach unten hin ausgebaut,32 und es wird dem Autor eines abgelehnten Manuskripts die Publikation in einem solchen Journal angeboten. Gerade bei der Finanzierung von Cascading Journals durch APCs bestehen Anreize, die Kriterien für die Annahme eines Artikels zur Publikation abzusenken. „However, publishers may be tempted to condone low-quality research that is unworthy of scientific investigation in return for an article that can be published in their cascade journals” (Barroga 2013, 91). Es liegt auf der Hand, dass das Wachstum des Kommunikationssystems davon abhängig ist, wie deutlich die Kriterien zur Annahme eines Artikels zur Publikation im Rahmen solcher Cascading-Systeme abgesenkt werden. Eine Zunahme der Publikationsmöglichkeiten am unteren Ende des Spektrums beachtenswerter Forschungsbeiträge findet auch durch die Gründung sogenannter Predatory- Open-Access-Journale statt, eine Entwicklung, die seit 2012 beschleunigt wurde (Butler 2013, 434). Predatory Publishers zielen auf die Ausbeutung der Publikationsgebühren im Rahmen des Gold-Open-Access-Modells ab (Beall 2010, 15).33 Sie finanzieren sich durch APCs, geben an, ein rigides Peer-Review-Verfahren zu praktizieren, publizieren die Beiträge tatsächlich aber häufig ohne eingehende Qualitätsprüfung und garantieren oft weder Auffindbarkeit noch langfristige Verfügbarkeit.34 Die Autoren sind dabei vermutlich nicht immer Opfer der Geschäftspraktiken, sondern mögen in den Journalen die Möglichkeit sehen, Forschungsergebnisse unterzubringen, die an anderen Orten nicht publizierbar sind. Schätzungen hinsichtlich des Umfangs dieses Phänomens gehen auseinander. Bealls Liste umfasste 2014 insgesamt 477 Verlage von Predatory Journals und 303 alleinstehende Journale.35 Während er davon ausgeht, dass 5–10 % aller Open-Access-Artikel inzwischen in solchen Journalen publiziert werden und den Ruf des Gold-Open-Access-Modells insgesamt gefährden, rechnet der Managing Director des Directory of Open Access Journals (DOAJ), 32 Dies zeigt sich an den Kriterien für die Annahme von Manuskripten. Gefordert wird bei solchen Mega- Journalen zwar die Einhaltung methodischer und formaler Standards, dagegen spielen Kriterien wie Neuartigkeit und Relevanz keine Rolle. Siehe beispielsweise für das Journal SpringerPlus eine Handreichung für Autoren unter: http://www.springerplus.com/sites/10283/download/A00834_SpringerPlus_authors.pdf (30.10.2015). 33 Siehe zur Definition von Predatory-Open-Access-Verlagen und -Journalen die Kriterien in Beall 2015. 34 Siehe dazu das Experiment von Bohannon: Er hat fingierte und offenkundig fehlerhafte Manuskripte bei Open-Access-Journalen eingereicht, die sich über Publikationsgebühren finanzieren. Von den 255 Journalen nahm eine Mehrheit von 157 Journalen die Manuskripte zur Publikation an. 106 Journale (oder 70 %) unterzogen die Manuskripte keiner Begutachtung und akzeptierten sie unmittelbar. Sowohl die unmittelbare Annahme zur Publikation als auch die Publikation nach Begutachtung lassen auf Defizite des Entscheidungsverfahrens bei den Journalen schließen. Die Auswahl der Journale fand auf der Grundlage des Directory of Open Access Journals statt (Bohannon 2013, 64), die dem Anspruch nach über ein „quality control system to guarantee the content“ verfügen sollen (siehe doaj.org/about, 30.10.2015). 35 Siehe http://scholarlyoa.com/2014/01/02/list-of-predatory-publishers-2014/ (30.10.2015). 27 Lars Bjørnshauge, mit einem Umfang von weniger als 1 % aller durch APCs finanzierten Artikel, die in einem Predatory-Open-Access-Journal erscheinen (Butler 2013, 435). Den Effekt, den diese Entwicklung im wissenschaftlichen Kommunikationssystem erzeugt, beschreibet Beall sehr eindrücklich: Finally, one of the negative impacts of these predatory Open-Access publishers will be the avalanche of journal articles they are creating. This abundance will make it harder for scholars to keep up with research in their fields, and it will cause online searches to be filled up with links to low-quality research (Beall 2010, 16). In den Geistes- und Sozialwissenschaften nimmt eine derartige Verwertung von Publikationen untergeordneter Qualität und Bedeutung eine andere Form an. Der durch Evaluierung und Leistungsmessungen hervorgerufene Druck auf Wissenschaftler, möglichst viel zu publizieren, hat im Zusammenspiel mit der zum Teil anzutreffenden opportunistischen Haltung von Verlagen, sichere Einkünfte aus Druckkostenzuschüssen mitzunehmen, zu einem Boom von Sammelbänden geführt (Hagner 2015, 176). Aufgrund des Verzichts auf Peer Review und durch eine „gleichermaßen von Konkurrenz und Affirmation getriebene soziale Netzwerkpraxis, die auf dem Prinzip des do ut des basiert, ist es für Herausgeber riskant, jenen Autoren, die sie sich selbst ausgesucht haben, zu sagen, dass ihre Texte nicht den qualitativen Ansprüchen genügen“ (Hagner 2015, 177).36 Um für Sammelbände Zugpferde zu gewinnen, die die Aufmerksamkeit der Community auf den Band insgesamt lenken, werden insbesondere renommierte Vertreter des Fachs eingeladen, Beiträge zu publizieren. Angesichts der Häufigkeit, mit der Publikationsmöglichkeiten angetragen werden, verwundert es dann kaum, dass Beiträge geliefert werden, die oft genug nicht mehr als ein Recycling bereits veröffentlichter Arbeiten sind. Als Folge davon leiden nicht nur die Qualität und die Kohärenz des einzelnen Sammelbandes, sondern die Reputation des Typs von Publikationsmedium insgesamt.37 In ähnlicher Weise und mit ähnlichen Problemen ist auch 36 Siehe zu den Dilemmata der Qualitätssicherung von Sammelbänden auch Kemp 2009, 1019–1020. 37 Allgemeine Qualitätsunterstellungen gegenüber dem Publikationsmedium ‚Sammelband‘ sind im Einzelfall nicht immer zutreffend, denn es gibt natürlich nach wie vor den sorgfältig konzipierten Sammelband, dessen Beiträge von den Herausgebern zum Teil unter Hinzuziehung externer Gutachter begutachtet und kommentiert werden. 28 das Handbuch behaftet, das besonders in den Sozialwissenschaften einen regelrechten Boom erlebt.38 Aber auch die mit der Digitalisierung entstandene Möglichkeit der Ablage von Publikationen in Repositorien führt zum Wachstum des Kommunikationssystems. Hier lassen sich zwei Effekte beobachten: Wenngleich die Betreiber von Repositorien häufig betonen, es gehe bei der Selbstarchivierung primär darum, Zugänglichkeit zu qualitativ hochwertigen, begutachteten Publikationen herzustellen, werden viele Repositorien auch als originärer Publikationsort genutzt, um graue Literatur oder Forschungsberichte zu veröffentlichen. Zudem führt die Ablage einer Publikation in einem Repositorium dazu, dass zwei oder gar mehrere digitale Versionen derselben Publikation in Umlauf kommen. Die Ursachen einer multiplen digitalen Verfügbarkeit können vielfältig sein. Es ist möglich, dass Autoren ihre Publikationen nicht nur in Repositorien, sondern auch in sozialen Netzwerken wie ResearchGate oder Academia.edu archivieren oder Ko-Autoren dieselbe Publikation unabhängig voneinander in verschiedenen Repositorien ablegen oder die Betreiber von Repositorien das Internet automatisch nach frei verfügbarem content durchsuchen und diesen aggregieren. Auch hier kann diese Form des Wachstums wiederum nur beschrieben, der Umfang aber nicht quantifiziert werden. Das hier nur qualitativ skizzierte Größenwachstum des Publikationsvolumens, dem kein entsprechender Zuwachs an Forschungsergebnissen gegenübersteht, wird durch das Zusammenwirken der Beobachtung des Kommunikationssystems anhand formaler Merkmale, der Ökonomisierung und der Digitalisierung verursacht. Bleibt man bei den Folgen für die Wissenschaft und klammert Fragen der Finanzierung des Systems durch öffentliche Mittel aus, wird deutlich, dass sich das Größenwachstum hinderlich auf die Funktionsfähigkeit des Systems auswirkt, und zwar vor allem auf der Seite der Leser: Bei der Recherche nach Literatur mithilfe von Suchmaschinen im Internet besteht das Problem nicht darin, thematisch passende Beiträge zu finden. Aufwändig und damit problematisch wird durch die Aufblähung des Kommunikationssystems vielmehr, die Treffer dahingehend auszuwählen, ob sich eine eingehende Beschäftigung mit dem Beitrag lohnt. Diese Selektions- und Bewertungsprobleme 38 Allein der Verlag Springer VS listet im Verlagsprogramm der Sozialwissenschaften 229 Bücher auf, die „Handbuch“ im Titel oder Untertitel führen (Abfrage vom 30.10.2015). Während „Handbuch“ suggeriert, das Buch würde den Stand in einem größeren Wissensgebiet zusammenfassen, deuten die folgenden Titel eine weit fortgeschrittene und kleinteilige Differenzierung des Zuschnitts an: „Handbuch Kulturpublikum“, „Handbuch Kriegstheorien“, „Handbuch Spitzenpolitikerinnen“, „Handbuch NGO-Kommunikation“, „Handbuch militärische Berufsethik“ (in zwei Bänden) und „Handbuch standardisierte Erhebungsverfahren in der Kommunikationswissenschaft“. Komplementär dazu darf das „Handbuch nicht standardisierter Methoden in der Kommunikationswissenschaft“ nicht fehlen. 29 dürften dabei insbesondere in Forschungsgebieten groß sein, die nicht über ein wohlgeordnetes Publikationssystem verfügen, mit einem klar erkennbaren Kern an Publikationsmedien, in denen sich die relevanten Forschungsergebnisse finden. Zum anderen wirft das Phänomen der verschiedenen Versionen eines Textes die Frage auf, ob auch andere als die am originären Publikationsort erschienenen Versionen rezipiert werden können oder ob diese in wesentlichen Punkten voneinander abweichen. Dies kann leicht der Fall sein, wenn beispielsweise eine Preprint-Version in einem Repositorium abgelegt wurde. Hier müsste sich der Rezipient spätestens bei der Zitation einer Publikation in einem eigenen Beitrag von der Textidentität der rezipierten und der am originären Publikationsort veröffentlichten Version versichern. Hinzu kommt, dass sämtliche der hier genannten Formen des Größenwachstums die innerwissenschaftlichen Mechanismen der Reputationszuordnung stören oder verzerren können. 4.3 Vertrauen in publizierte Forschungsergebnisse Unser letztes Beispiel dafür, wie sich das Zusammenwirken mehrerer der eingangs beschriebenen Strukturdynamiken auswirkt und zu spezifischen Strukturproblemen führt, ist das Vertrauen in mitgeteilte Forschungsergebnisse. Mit Vertrauen ist keineswegs ein in der Wissenschaft vorhandener naiver Glaube daran gemeint, dass immer sorgfältig und gemäß den Standards des Fachs geforscht wird, Wissenschaftler keinen Irrtümern aufsitzen oder gar Forschungsergebnisse fern jeder subjektiven Interpretation und ausschließlich sachlich dargestellt werden. Die hier gemeinte Vertrauensunterstellung ist vielmehr Ergebnis einer Operation, die im Grunde auf Misstrauen basiert. Diese anklingende Paradoxie der Misstrauensbasierung von Vertrauen in Forschungsergebnisse erklärt sich, wenn man den dafür verantwortlichen Mechanismus – das Begutachtungsverfahren – etwas näher betrachtet.39 Die wissenschaftliche Norm des organisierten Skeptizismus (Merton 1942, 126) begleitet Wahrheitsansprüche nämlich nicht gleichförmig von ihrem Entstehen in Forschungsprozessen über die Publikation bis hin zur Rezeption, sondern hat ihren primären Ort im Peer-Review-Verfahren. Im Zuge dieses Prozederes prüfen meist von einem Herausgeber ausgewählte Gutachter die Plausibilität der Forschungsergebnisse und die Einhaltung methodischer und argumentativer Standards. Freilich gilt bei einer solchen 39 Die Herstellung von Vertrauen bildet letztlich eine von der Qualitätssicherung des Begutachtungsverfahrens abgeleitete Funktion. In der Literatur wird das Peer-Review-Verfahren darüber hinaus noch mit mindestens zwei weiteren Aspekten in Verbindung gebracht: Mit der Kalibrierung von Lesezeit (Hirschauer 2004, 79) und dem Perspektivenabgleich zwischen Mitgliedern einer Community (Gläser 2006, 347). 30 Prüfung, dass sie nie vollständig und umfassend sein kann und auch der engagierteste Gutachter seine Arbeit schon allein aus praktischen Gründen ab einer gewissen Prüftiefe abbrechen muss.40 Im Ergebnis führt der institutionalisierte misstrauische Zweifel an der Richtigkeit der mitgeteilten Resultate bei den Rezipienten eines begutachteten Textes zu einer Asymmetrisierung der Möglichkeiten von Vertrauen und Misstrauen zugunsten der ersten Option. Dabei wirken nicht etwa die im Zuge der Begutachtung vorgebrachten sachlichen Gründe und Argumente vertrauensstiftend – diese bleiben bei klassischen, blinden Begutachtungsverfahren Redaktionsgeheimnis und nicht dem Autor, so doch meist dem Rezipienten nach der Publikation eines Beitrags in aller Regel vorenthalten. Vertrauen entspringt vielmehr der Tatsache, dass überhaupt ein Begutachtungsverfahren stattgefunden und der Beitrag es erfolgreich durchlaufen hat.41 Das durch das Verfahren erzeugte Vertrauen hat immer nur provisorischen Charakter. Im Zuge der Rezeption und durch weitere Forschung können Zweifel an der Richtigkeit eines erhobenen Wahrheitsanspruchs entstehen, die zu weiteren Nachprüfungen führen – die Revision der Asymmetrie ist die typische Folge von Inkonsistenzen. Trotz ihrer Vorläufigkeit ist die Präferenz zugunsten von Vertrauen in sozialer Hinsicht folgenreich. Sie ist eine der Bedingungen der Möglichkeit einer weitreichenden Arbeitsteilung innerhalb der Wissenschaft und Voraussetzung für eine Erhöhung der Kapazität des Gesamtsystems, da sich Wissenschaftler nicht mehr mit der Prüfung sämtlicher Voraussetzungen ihrer Forschungsarbeit aufhalten müssen. Sämtliche der unter Punkt 3 genannten Strukturdynamiken wirken auf die Konstituierung von Vertrauen ein, wobei sowohl vertrauenserodierende als auch vertrauensstärkende Effekte zu beobachten sind. Betrachtet man sie in ihrem Zusammenhang, finden sich Hinweise für die These, dass sich derzeit die Grundlage von Vertrauen wandelt. Eine Anzahl von vertrauenserodierenden Phänomenen wird mit der Beobachtung des Kommunikationssystems anhand formaler Merkmale und der unmittelbaren Umsetzung in Anreize in Verbindung gebracht. Es finden sich Anhaltspunkte dafür, dass die Verwendung von publikationsbasierten Indikatoren im Rahmen von Forschungsevaluationen, der 40 Insofern ist die Prüfung nicht vollständig von Misstrauen geleitet, sondern selbst in Teilen vertrauensbasiert. 41 In loser Anknüpfung an die Vorstellung von Luhmann, Quelle der Legitimität von Entscheidungen sei die Verfahrensförmigkeit ihres Zustandekommens im Sinne einer „Umstrukturierung des Erwartens durch den faktischen Kommunikationsprozeß, der nach Maßgabe rechtlicher Regelungen abläuft“ (Luhmann 1969, 37) und nicht etwa eine wie auch immer geartete inhaltliche Übereinstimmung mit dem Ergebnis der Entscheidung, ließe sich in Bezug auf Peer Review von der Herstellung eines vorläufigen ‚Vertrauens durch Verfahren‘ sprechen. 31 Leistungsorientierten Mittelvergabe, bei der Beantragung von Drittmitteln sowie im Rahmen von Berufungsverfahren zu einem Publikationsdruck und Reaktionsweisen von Wissenschaftlern führen, die insgesamt das Vertrauen in mitgeteilte Forschungsergebnisse belasten. Ein erstes hier relevantes Phänomen ist der publication bias, der insbesondere in der quantitativ-experimentellen Forschung der Medizin und Psychologie auftritt (Scargle 2000). Die dort vorhandene starke Orientierung am Journal Impact Factor und die Beobachtung, dass Versuchsergebnisse, die Evidenz für das Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen zwei Variablen beibringen, häufiger zitiert werden als solche, die keinen Zusammenhang nachweisen, führen bei Herausgebern von Journalen zur Neigung, positive Ergebnisse der Tendenz nach zu bevorzugen. Negative Ergebnisse, die ebenfalls einen Erkenntniswert haben, werden nicht in gleichem Umfang publiziert.42 Diese systematisch höheren Publikationschancen positiver Ergebnisse führen in der Literatur zu einer verzerrten Abbildung des Forschungsstands und belasten das Vertrauen in mitgeteilte Forschungsergebnisse: Not surprisingly, other scientists often cannot reproduce published findings, which undermines trust in research and wastes huge amounts of time and money. These practices also create a shaky knowledge base for science, preventing scholars from effectively building on prior research (Nyhan 2014). Während es sich bei dem ‚publication bias‘ eher um eine Erosion wissenschaftlicher Standards handelt, begünstigt der durch die Rolle bibliometrischer Indikatoren erzeugte Publikationsdruck das Auftreten von fragwürdigen, unerwünschten oder illegitimen Verhaltensweisen. So bieten Agenturen wissenschaftlichen Autoren Unterstützung dabei an, ihre Beiträge erfolgreich durch den Begutachtungsprozess zu manövrieren. Dieser Dienst beschränkt sich keineswegs nur auf die sprachliche Glättung eines Manuskripts im Zuge der Vorbereitung einer Einreichung. So versuchen einige Agenturen offenbar auch, den Begutachtungsprozess zu manipulieren, indem sie erfundene Gutachter vorschlagen und den Herausgebern Gutachten unterschieben. Bei einer Nachforschung von BioMedCentral wurden 42 Siehe zu dem Problem und denkbaren Lösungswegen Taubert und Schön 2014, 100–102. 32 43 Artikel identifiziert und widerrufen, bei denen Manipulationen im Begutachtungsverfahren nachgewiesen werden konnten.43 Dabei ist nicht nachzuvollziehen, ob die Agenturen eigenständig oder mit Wissen oder sogar im Auftrag der der Autoren gehandelt haben. Des Weiteren gibt es klare Fälle von Betrug und weichere Formen des wissenschaftlichen Fehlverhaltens, die mit dem Publikationsdruck und erodierendem Vertrauen in Verbindung gebracht werden können. Darunter fallen nicht nur die Manipulation von Daten, die Erfindung von Ergebnissen sowie ausgefeilte oder banalere Formen des Plagiats, sondern auch Praktiken wie z. B. die selektive Fallauswahl, die Ergänzung fehlender Messdaten mit ‚passenden‘ oder die Wahl ‚günstiger‘ Modellspezifikationen (Plümper 2014, 4). Durch Betrug erlangte Vorteile in der Konkurrenz um Reputation und damit um Karriereplätze versprechen großen materiellen Nutzen (Franzen et al. 2007) und erhöhen die Chance auf die Einwerbung von Drittmitteln. Es ist nicht gesichert, dass die Zahl der Betrugsfälle relativ zur Anzahl von Publikationen zugenommen hat. Gesichert ist jedoch, dass die Aufmerksamkeit für das Problem sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit gestiegen ist und damit auch das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der wissenschaftlichen Kontrollmechanismen beschädigt wird. Eine weitere Quelle der Vertrauenserosion ist in der zunehmenden Medialisierung zu sehen. Wie oben erwähnt, hat die Medialisierung sowohl eine legitimatorische als auch eine auf das Aufmerksamkeitsmanagement bezogene Funktion. Eine beobachtbare Folge ist die Kommunikation von Forschungsergebnissen direkt in die Massenmedien, unter Umgehung der regulären Peer-Review-Prozesse bzw. ihrer zeitlichen Verschiebung. Der vielleicht spektakulärste Fall war die über das Fernsehen verbreitete Nachricht von der Entdeckung der sogenannten ‚kalten Fusion‘ (Weingart 2001, 254–261). Erst nach mehreren Wochen gelang es der ‚scientific community‘, die vorgeblichen Ergebnisse der Experimente zu widerlegen, weil die genaue Versuchsanordnung nicht bekannt war. Dahinter steckt ein strukturelles Problem: Redaktionelle Entscheidungsprogramme der hochrangigen multidisziplinären Zeitschriften, die sowohl an wissenschaftlicher Qualität als auch an gesellschaftlicher Relevanz ausgerichtet sind (Stichwort: Durchbrüche), erzeugen konfligierende Erwartungen auf Seiten der Autoren, die dann verstärkt zu einer Überzeichnung ihrer Ergebnisse tendieren. In dem Maße, in dem medienöffentliche Sichtbarkeit zu einem Leistungsausweis wissenschaftlicher Forschung geworden ist, scheinen diese Konflikte zuzunehmen. 43 Siehe zu diesem Fall den Blogbeitrag von Elizabeth Moylan „Inappropriate manipulation of peer review“ vom 26.03.2015 unter http://blogs.biomedcentral.com/bmcblog/2015/03/26/manipulation-peer-review/ (30.10.2015). 33 Augenfällig ist die Zunahme der ex-post public scrutiny bei öffentlichkeitswirksamen Forschungsergebnissen, die Zeitschriften häufiger als bislang zur Korrektur herausgeberischer Entscheidungen im Sinne der Rücknahme von Publikationen veranlasst.44 Die Zunahme solcher retractions ist unter anderem Folge einer zunehmenden Orientierung der Forschung an massenmedialer Aufmerksamkeit und den durch sie generierten Konjunkturen und kann zu Imageverlusten der beteiligten Journale, der Forschungsinstitutionen oder ganzer Forschungsgebiete führen. Das bis hierhin gezeichnete Bild der Vertrauenserosion ist düster und von Pathologien geprägt. Ohne Berücksichtigung der Entwicklungen, die tendenziell vertrauensstärkend wirken und die vor allem mit der Digitalisierung verbunden sind, bleibt es aber unvollständig und einseitig. Vertrauensstärkende Effekte können dabei sowohl von Veränderungen des Begutachtungsprozesses als auch von Merkmalen der Publikation ausgehen. Bereits im dritten Abschnitt wurde bemerkt, dass die Digitalität eingereichter Manuskripte und sämtliche im Zuge des Begutachtungsprozesses erzeugten Dokumente zusammen mit der Vernetzung aller Beteiligten die Möglichkeit eröffnet, den Begutachtungsprozess grundlegend neu zu organisieren. Darin und in einem höheren Maß an Offenheit und Nachvollziehbarkeit des Prozesses scheinen Antworten auf die Herausforderungen der Vertrauenserosion zu liegen. Die derzeit erprobten Verfahrensinnovationen weisen in drei Richtungen: Eine erste Innovation bezieht sich auf den ‚publication bias‘ und bewegt sich nahe am traditionellen Verfahren wissenschaftlicher Kontrolle. Die Innovation besteht in einem Begutachtungsverfahren, bei dem an der anonymen Begutachtung festgehalten, diese aber in zwei Phasen getrennt wird. In einem ersten Schritt wird die Forschung registriert und das experimentelle Design begutachtet, wie es beispielsweise von der ‚American Economic Association‘ mit ihrer ‚RCT Registry‘ praktiziert wird.45 In einem zweiten Schritt wird nicht die Art der Ergebnisse, sondern ausschließlich die praktische Durchführung der Studie evaluiert. So soll der ‚bias‘ seitens der Herausgeber oder der Wissenschaftler selbst ausgeschlossen werden (Nyhan 2014). 44 Siehe die Zunahme der ‚retraction rates‘, die mit dem Journal Impact Faktor korrelieren. http://www.nature.com/news/why-high-profile-journals-have-more-retractions-1.15951; http://retractionwatch.com/category/by-journal/nature-retractions/ (30.10.2015). 45 Die Registry findet sich unter https://www.socialscienceregistry.org/ (30.10.2015). 34 Eine zweite Innovation besteht in den Bemühungen, die einer Publikation zugrunde liegenden Daten zu archivieren und offenzulegen.46 Bei der Archivierung geht es nicht nur um die Herstellung von Nachnutzbarkeit des Datensatzes im Kontext weitergehender Fragestellungen, sondern – mit Blick auf den Begutachtungsprozess und die weitere Rezeption – um eine Verbesserung der Nachvollziehbarkeit publizierter Forschungsergebnisse (Wissenschaftsrat 2012, 14). Auch die Verknüpfung mit Forschungsdaten kann als Ergänzung des traditionellen Verfahrens der Qualitätssicherung verstanden werden und bewegt sich dementsprechend nahe am klassischen Modell. Ein dritter Bereich von Innovationen sind alternative Verfahren, die an die Stelle des traditionellen Begutachtungsverfahrens getreten sind. Es handelt sich dabei um grundlegende Verfahrensinnovationen wie Open Peer Review, Public Peer Review, Post Publication Peer Review und Open Discussion, die sich zwar bei einzelnen Journalen oder Publikationsplattformen haben etablieren können, die aber zum derzeitigen Stand der Entwicklung keine Standardverfahren sind (Ware 2008, 18). Vorreiter sind hier die Zeitschriften British Medical Journal (BMJ) und Atmospheric Chemistry and Physics sowie die Publikationsplattformen Faculty of 1000 (F1000) und ScienceOpen. Es ist hier nicht der Ort, um die einzelnen Verfahren darzustellen und ihre Potenziale zu würdigen. Die Aufmerksamkeit soll vielmehr darauf gelenkt werden, dass gegenüber dem klassischen Begutachtungsverfahren neuartige Mechanismen der Begutachtung realisiert werden. Erstens zeichnen sich einige Verfahren durch eine Ausweitung des Kreises derjenigen aus, die an der Begutachtung mitwirken. Die Beteiligten werden nicht mehr durch den Herausgeber ausgewählt, sondern beteiligen sich qua Selbstselektion an dem Prozess. Zweitens wird das Redaktionsgeheimnis teils partiell, teils sogar vollständig aufgehoben, sodass die im Zuge der Begutachtung vorgebrachten Argumente geprüft werden können. Daneben kann zum Teil auch öffentlich nachvollzogen werden, wer am Entscheidungsprozess mitgewirkt hat. Drittens findet – beispielsweise mit dem ‚Post Publication Peer Review‘ – die Auszeichnung von Qualität nicht vor der Publikation eines Beitrags statt, sondern im Zuge der Rezeption nach dem Prinzip „publish then filter“ (Hunter 2012, 2). Ohne Frage sind nicht sämtliche Verfahren für jedes Journal und für jedes Forschungsgebiet gleichermaßen geeignet. Interessant sind diese Innovationen dennoch, weil sie sich durch ein höheres Maß an Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Qualitätsurteils auszeichnen. Kommt man auf die 46 Die Archivierung von Forschungsdaten und die Verknüpfung mit Publikationen werden in einzelnen Forschungsgebieten bereits seit geraumer Zeit praktiziert. Ein Beispiel ist hier die Astronomie, in der die SIMBAD-Datenbank (http://simbad.u-strasbg.fr/simbad/, 30.10.2015) astronomische Objekte mit bibliographischen Daten und Beobachtungsdaten