Psychodynamische Verfahren PDF
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M. Helle
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Dieses Dokument beschreibt verschiedene psychodynamische Verfahren, beginnend mit der Einleitung in die Psychoanalyse bis hin zu zentralen Säulen wie der Triebtheorie. Es beleuchtet historische Entwicklungen und verschiedene Strömungen innerhalb der Psychoanalyse, einschließlich der Kathartischen Verfahren und der Verführungstheorie. Der Text analysiert verschiedene Konzepte, die in der psychodynamischen Praxis relevant sind.
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Psychodynamische Verfahren 2 2.1 Einleitung Seit den Anfängen der Psychoanalyse, die ins Ende des 19. Jahrhunderts zurück- reichen, existiert eine Vielzahl von Weiterentwicklungen sowohl in der Theoriebil- du...
Psychodynamische Verfahren 2 2.1 Einleitung Seit den Anfängen der Psychoanalyse, die ins Ende des 19. Jahrhunderts zurück- reichen, existiert eine Vielzahl von Weiterentwicklungen sowohl in der Theoriebil- dung als auch im grundlegenden Therapieverständnis, die auch innerhalb der Psy- choanalyse zu heftigen Kontroversen führte. Heute lässt sich die Psychoanalyse als ein lockerer Verbund von unterschiedlichen Theoriefragmenten beschreiben, deren letzte Gemeinsamkeit die Bezugnahme auf Freud ist (vgl. Mertens 2010). Wäh- rend die eine Gruppe auf die Kraft der konfrontativen Deutung setzt (z. B. Otto Kernberg), betonen andere die korrigierende Beziehungserfahrung (Michael Ba- lint, Donald Winnicott) und wiederum andere die unbedingte Empathie (Heinz Ko- hut, Robert Stolorow). Auch wenn die Kontroversen noch nicht abgeklungen sind, scheinen sich diese unterschiedlichen Strömungen zunehmend zu konsolidieren. So kann heute von einem breiten Spektrum verschiedener psychodynamisch be- gründeter Ansätze gesprochen werden, die gerade vor dem Hintergrund der Vielfalt der existierenden Störungsbilder als gegenseitige Ergänzungen zu verstehen sind. Um im Rahmen dieser Übersicht die wichtigsten psychodynamischen Strömun- gen darzustellen, lohnt der Versuch, das jeweils unterschiedliche ätiologische und davon abgeleitete auch therapeutische Verständnis mit einer historischen Perspek- tive zu verknüpfen. Ein solches Vorgehen bietet sich auch deshalb an, da Freud selbst keinesfalls seine Theorie allein aufgrund theoretischer Überlegungen entwi- ckelt hat, sondern ständig von den Erfahrungen mit seinen Psychotherapiepatienten geleitet wurde, die ihn immer wieder aufs Neue dazu inspirierten, ursprüngliche © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 7 M. Helle, Psychotherapie, Basiswissen Psychologie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58712-6_2 8 2 Psychodynamische Verfahren Annahmen zu verwerfen, um neue zu konzipieren und so seine Theorie weiterzu- entwickeln. Ziel dieses Kapitels ist es u. a., die vier zentralen Säulen der psychody- namischen Therapie, nämlich die Triebtheorie, die Ich-Psychologie, die Objektbe- ziehungstheorie und die Selbstpsychologie darzustellen. In der heutigen Praxis der psychodynamischen Therapie schließen sich diese vier Orientierungen keinesfalls aus, sondern stellen wichtige sich ergänzende Perspektiven dar. Je nach vorliegen- dem Fall rückt mal die eine und mal die andere Orientierung in den Vordergrund. 2.2 Verführungstheorie – Traumatheorie – Das Kathartische Verfahren Bevor Freud im Jahre 1886 in der Veröffentlichung „Zur Ätiologie der Hysterie“ erstmals den Begriff „Psychoanalyse“ erwähnte, war er bereits zehn Jahre in seiner Privatpraxis als Neurologe tätig. Zunächst ging er von der Annahme aus, dass die psychischen Störungen seiner Patienten auf schwere, meist sexuelle Traumatisierungen in der Kindheit zurück- gingen, die nicht mehr erinnert werden konnten. Diese dramatischen Erlebnisse waren zwar vergessen, deren Wirkung aber, so die ätiologische Vorstellung, dau- erte in Form sehr unterschiedlicher Symptome wie etwa Ängste, Krampfanfälle und Lähmungen an. Eine Heilung konnte entsprechend dieser Annahme nur dann erreicht werden, wenn sich die Patienten wieder an ihre traumatischen Erlebnisse erinnern können. Hierfür übernahm Freud den bereits von Josef Breuer entwickel- ten therapeutischen Ansatz und nutzte die Hypnose – eine Technik, deren thera- peutischer Nutzen zu dieser Zeit (Ende des 20. Jh.) gerade erst entdeckt wurde. Im Zustand der Hypnose war es den Patienten möglich, das vergessene traumatische Erlebnis zu erinnern. Dies wurde von heftigen emotionalen Reaktionen begleitet, die Freud als Reinigung und Befreiung (griech.: Katharsis) von dem bis dahin un- terdrückten Affekt interpretierte. Aufgrund dieser Beobachtungen ging er zunächst davon aus, dass seine Patienten durch das Abreagieren des aus der Vergangenheit stammenden Affekts nun für immer geheilt seien. Diese erste von Freud verwen- dete therapeutische Behandlungsform ging unter dem Begriff „Kathartisches Ver- fahren“ in die Geschichte ein. Der Kerngedanke, der diesem Behandlungsansatz zugrunde liegt, ist die An- nahme, dass die Patienten reale Traumatisierungen in ihrer Kindheit erfahren ha- ben, die emotionale Bewältigung aber nicht erfolgen konnte, da diese Erfahrun- gen wegen ihrer zu hohen Intensität verdrängt werden mussten. Der zu diesem verdrängten Erlebnis gehörende Affekt suchte sich nun über die unterschiedlichen Symptome andere Wege, um zum Ausdruck gebracht zu werden. Der einzige Weg 2.2 Verführungstheorie – Traumatheorie – Das Kathartische Verfahren 9 der Heilung bestand darin, über die Hypnose zu diesem Ereignis zurückzukehren und dann im Zustand des Erinnerns die dazugehörigen Emotionen neu und voll- ständig zu durchleben. In diesem Sinne sah Freud das vorrangige therapeutische Ziel im Erinnern und Abreagieren (Freud 1914). In weiten Teilen zeigt die kathartische Behandlungsmethode deutliche Paralle- len zu der heute etablierten Traumatherapie, was letztlich auch nicht verwundert, da sowohl Freud als auch die heute praktizierenden Traumatherapeuten Patien- ten behandeln, die aufgrund dramatischer Erlebnisse, die emotional nicht adäquat verarbeitet werden konnten, psychische Störungen entwickelten. Sowohl in der Traumatherapie als auch in dem von Freud praktizierten Verfahren steht die Kon- frontation mit dem traumatischen Ereignis im Sinne einer Traumaexposition im Vordergrund. In der Folge machte Freud nun aber häufiger die Erfahrung, dass weder die Symptome durch Anwendung der kathartischen Behandlung für immer verschwan- den noch dass sich die von den Patienten berichteten frühen sexuellen Missbrauchs- erlebnisse alle so zugetragen haben konnten. Vielmehr schienen in vielen Fällen weniger die realen Erfahrungen, sondern eher Erlebnisse, die stark mit eigenen Fantasien durchmischt waren, die Ursache für die Entstehung von psychischen Störungen zu sein. So revidierte er seine erste ätiologische Vorstellung und vermu- tete nun, dass die Störung seltener in einem objektiv fassbaren traumatischen Er- eignis begründet war, sondern vielmehr auf als zu bedrohlich erlebte konflikthafte frühkindliche Fantasien und Wünsche zurückging. Dieser grundlegende Wechsel in der Ätiologievorstellung machte nun die Patienten, die vorher noch im Sinne der Verführungstheorie als Opfer der meist sexuellen Übergriffe verstanden wurden, zu vermeintlichen Tätern, die in ihren sexuellen Fantasien die Eltern verführen oder gar beseitigen wollten. So wurden von nun an Erzählungen von Patienten, die von sexuellen Missbrauchserfahrungen in ihrer Kindheit handelten, als sog. hysterische Lügen verstanden. Die Folgen dieses radikalen Wechsels waren dramatisch: Es kam nicht nur zu einer deutlichen Unterschätzung traumabedingter Störungen, sondern vor allem das Vorhandensein sexuellen Missbrauchs insbesondere in der Kindheit wurde sys- tematisch unterschätzt bzw. verleugnet, was Freud bis heute viel Kritik eingebracht hat. Es war vor allem Sandor Ferenczi (1873–1933), ein Schüler Freuds, der schon Anfang der 1930er-Jahren wiederholt auf diesen Missstand hingewiesen hat, in- dem er die vielen Patienten erwähnte, die von realen sexuellen Missbrauchserleb- nissen zu berichten wussten. Weder Freud noch seine Kollegen schenkten diesen Mitteilungen jedoch große Aufmerksamkeit (Ferenczi 1939). Als zentrale konfliktreiche entwicklungspsychologische Hürde, die nach Freuds Verständnis jeder Mensch zu nehmen hat, rückte mit diesem neuen Ätiologiever- 10 2 Psychodynamische Verfahren ständnis nun der ödipale Konflikt, der an späterer Stelle in diesem Kapitel ausführ- licher dargestellt werden wird, in den Mittelpunkt (vgl. Abschn. 2.3.1.3). Während Freud das störungsauslösende traumatische Ereignis im Sinne der Verführungstheorie zunächst ontogenetisch verortete, wurde es nun, mit der Kon- zipierung des ödipalen Konflikts, in die Phylogenese verlagert. Dieser Wechsel in den ätiologischen Vorstellungen zog konsequenterweise auch einen grundlegenden Wandel in der Behandlungstechnik nach sich und bedeutet gleichzeitig den Beginn der Psychoanalyse. 2.3 Die zentralen Säulen der psychodynamischen Verfahren 2.3.1 Triebtheorie Der Fokus war nun nicht mehr darauf ausgerichtet, die Patienten mit ihren ver- gessenen realen traumatischen Erlebnissen in Kontakt zu bringen, sondern viel- mehr sie an ihre frühen Fantasien und Vorstellungen, die den Patienten zum Teil zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens bewusst waren, heranzuführen. Es ging also nicht mehr, wie zuvor im kathartischen Verfahren, um ein Abreagieren eingeklemmter Affekte, sondern darum, tiefe, nicht bewusste und in der psychischen Verarbeitung überfordernde Vorstellungsinhalte zutage zu fördern. Um dieses Ziel zu erreichen, musste Freud sich von der bisher praktizierten Hypnose verabschieden, da sich nun die Patienten über die Technik der freien As- soziation aktiv an dem therapeutischen Geschehen beteiligen sollten. Die Aufgabe der Patienten war es, während sie auf der Couch lagen, dem Psychoanalytiker mög- lichst alles zu sagen, was ihnen gerade in den Sinn kam. So wurden die Patienten in einen Modus versetzt, der ihnen und auch dem Therapeuten einen Zugang zu den unbewussten Inhalten ermöglichte. Freud, der neben seiner psychotherapeutischen Tätigkeit auch immer um ein wissenschaftliches Verständnis bemüht war, richtete sein Interesse zunehmend auf die Phänomene unbewusster Prozesse, insbesondere auf den Vorgang der Verdrän- gung. Im Zuge dieser Beschäftigung entwickelte er im Jahre 1900 das sog. topo- grafische Modell, das auch unter dem Begriff „Eisbergmodell“ bekannt geworden ist (Freud 1900). So wie eine topografische Landkarte die Oberflächenstrukturen eines Gebietes aufzeigt, um z. B. Höhenunterschiede und Besonderheiten der Vegetation erkennbar zu machen, entwickelte Freud eine Topografie des Unbewussten, die im Folgenden näher beschrieben werden soll. 2.3 Die zentralen Säulen der psychodynamischen Verfahren 11 2.3.1.1 Das topografische Modell Dieses Modell lässt sich anhand einer kleinen Übung erklären: Hören Sie doch kurz auf zu lesen, blicken Sie mal von diesem Buch auf und erinnern Sie sich an einen schönen Moment in Ihrem letzten Urlaub. Vielleicht war es, als Sie nach ei- ner beschwerlichen Wanderung den Gipfel bestiegen und bei einer wunderschönen Aussicht Rast gemacht haben oder wie Sie am Meer in der Sonne liegend entspannt und zufrieden dem Rauschen der Wellen zuhörten. Diese Vorstellung ist nun, wo Sie sich gedanklich damit befassen, in Ihrem Bewusstsein gegenwärtig. Im nächs- ten Augenblick kann sie jedoch verschwinden, da Sie sich wieder voll und ganz auf diesen Text konzentrieren. Es wäre aber jederzeit möglich, diese Vorstellung wie- der auftauchen zu lassen. Sie ist also die ganze Zeit latent vorhanden (vgl. Freud 1912). Für solche latenten Vorstellungen, die jederzeit bewusst werden können, führte Freud den Begriff „Vorbewusstsein“ ein. Es ist keineswegs so, dass das Handeln ausschließlich bewusst gesteuert und ge- regelt wird, vielmehr können viele Motivationen oder auch Intentionen von Hand- lungen unbewusst sein. Diese Annahme Freuds war damals revolutionär, da in der wissenschaftlichen Gemeinschaft die Meinung vorherrschte, dass nur Bewusstes auch psychisch sein könne. Als Gegenbeweis erwähnt Freud die sog. posthypno- tische Suggestion, die er in Frankreich bei Bernheim intensiv studiert hatte. Dem Patienten wird unter Hypnose ein bestimmter Auftrag erteilt, den er, nachdem er aus der Hypnose aufgewacht ist, ausführen soll. Wenn dieser Auftrag von dem Pa- tienten nun tatsächlich ausgeführt wird, er sich aber nicht an die Hypnosesitzung, in der ihm der Hypnotiseur diesen Auftrag erteilt hatte, erinnern kann, ist ihm die eigentliche Ursache seiner Handlung nicht bewusst, sie ist also unbewusst. Aber dieses Unbewusste ist im Handeln dieses Patienten wirksam (vgl. Freud 1912). Genauso versteht Freud die Symptome seiner Patienten: Die Ursache einer neurotischen Angst ist genau wie die posthypnotische Suggestion unbewusst, im aktuellen Handeln und Erleben ist sie aber wirksam. So muss der Patient mit ei- nem Waschzwang aus Angst vor Infektionen regelmäßig seine Hände waschen. Er selbst erlebt diese Handlungen zwar als übertrieben und unangemessen, also als ich-dyston, muss sie aber dennoch ausführen, da die Angst ansonsten unerträglich würde. Der wahre Grund dieses Waschzwangs ist dem Patienten nicht bewusst. Auch der sog. Versprecher bzw. die Freud’sche Fehlleistung ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Unbewusstes das tägliche Handeln bestimmen kann. In einer Rede der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel am 01.12.2008 spricht sie den Hessischen Ministerpräsidenten und stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Ro- land Koch mit „Lieber Roland Kotz“ an. Aus psychodynamischer Sicht würde man den Versprecher dahingehend interpretieren, dass hier unbewusst eine tiefe Antipa- 12 2 Psychodynamische Verfahren thie gehegt wird, die aber so heftig und bedrohlich ist, dass sie nicht bewusst wer- den darf. Durch eine kurze Unaufmerksamkeit oder auch Unkonzentriertheit verlor die Rednerin die volle Kontrolle über ihr Handeln, so dass Teile ihres Unbewussten Einfluss auf ihr reales Handeln nehmen konnten. Freud geht davon aus, dass der Mensch grundsätzlich darum bemüht ist und hierfür auch ständig Energie aufwenden muss, Inhalte des Bewussten bzw. Vor- bewussten von denen des Unbewussten getrennt zu halten. Diese Kräfte zeigen sich in Form von Widerstand oder Abwehr. Widerstand bedeutet, dass ein Mensch konkrete Handlungen unternimmt, um die Bewusstwerdung unangenehmer Inhalte zu verhindern. Dies kann z. B. beharrliches Schweigen in der Therapie oder sys- tematisches Zuspätkommen zu den Therapiesitzungen sein. Unter Abwehr wird dagegen ein nicht beobachtbarer innerpsychischer Prozess verstanden, der einen Menschen daran hindert, bewussten Zugang zu bestimmten Erinnerungen oder Gefühlen zu erhalten. In der Psychoanalyse sind eine große Anzahl an unterschied- lichen Abwehrmechanismen beschrieben worden, auf die an späterer Stelle in die- sem Kapitel nochmals eingegangen werden wird (siehe Abschn. 2.3.2). Je größer die Bedeutung unbewusster Inhalte ist, umso stärker ist ihr Bestreben, bewusst zu werden. Umso mehr Energie muss also aufgewendet werden, diese In- halte vom Bewusstsein fernzuhalten. Da diese Energie z. B. im Schlaf nicht bereit- gehalten werden kann, können Träume unbewusste Inhalte, allerdings in verzerrter Form, zutage fördern. Ebenso bedeutet das Liegen auf der Couch kombiniert mit der Aufforderung, frei zu assoziieren, eine Schwächung der Kontrolle bzw. des Ichs, so dass hier ein Rahmen geschaffen wird, in dem Unbewusstes nur schwer vom Bewusstsein ferngehalten werden kann. In dieser frühen Phase der Psycho- analyse ging es also in erster Linie darum, Zugang zum Unbewussten zu erhalten. Jede psychische Aktivität ist zunächst unbewusst. Je nachdem, wie stark diese abgewehrt werden muss, entscheidet sich dann, ob diese bewusst bzw. vorbewusst werden kann oder unbewusst bleiben soll. Aus dieser Vorstellung erklärt sich, wa- rum das topografische Modell auch als Eisbergmodell bezeichnet wird, da wie beim Eisberg, bei dem nur ein sehr kleiner Teil über die Wasseroberfläche ragt, auch nur ein sehr kleiner Teil der psychischen Aktivitäten bewusst werden kann. Freud vergleicht diesen Vorgang mit der Fotografie. Alle Fotos liegen zunächst als Negative vor. Nun wird ausgewählt, welche dieser Negative zu Fotos weiterentwi- ckelt werden sollen (Freud 1912). 2.3.1.2 Lebenstrieb und Todestrieb Während die bisherigen Ausführungen zur Psychoanalyse auf die Dynamik der be- wussten, vorbewussten und unbewussten Inhalte fokussierten, wird mit der nun zu beschreibenden Triebtheorie eine zentrale Ergänzung vorgenommen, die allerdings 2.3 Die zentralen Säulen der psychodynamischen Verfahren 13 inhaltlich eng an dem topografischen Modell angelehnt ist, d. h. in das topografi- sche Modell integriert werden kann. Im Jahr 1924 schrieb Freud: „Die Trieblehre ist das bedeutsamste, aber auch das unfertigste Stück der psychoanalytischen The- orie“ (Freud 1905, Zusatz 1924, S. 77). Entsprechend dieser Feststellung befand sich Freud auf der Suche, dieses komplexe Phänomen adäquat fassen zu können. Als Ausdruck dieser Suche lässt sich auch die Tatsache verstehen, dass Freud ins- gesamt drei verschiedene Triebtheorien entwickelte. Im Folgenden soll ausschließ- lich seine letzte Version der Triebtheorie, nämlich der Todes- und der Lebenstrieb berücksichtigt werden. Freud sieht den Trieb als eine Unterkategorie der Gruppe der Reize, die alle in der einen oder anderen Form Auswirkungen auf psychisches Erleben haben. Er unterscheidet die sog. äußeren von den inneren Reizen. Als Beispiel für einen äußeren Reiz nennt Freud einen starken Lichtstrahl, der auf das Auge fällt und sich in der einen oder anderen Form auch im psychischen Erleben niederschlägt. So kann das helle Licht als sehr unangenehm erlebt werden, da man sich geblen- det fühlt. Möglicherweise wird man irritiert die Augen schließen oder den Kopf vom Lichtstrahl wegbewegen. Während ein solcher Lichtstrahl zu den physio- logischen, also von außen kommenden Reizen zählt und der Körper durch ent- sprechende motorische Aktivitäten den Einfluss dieses Reizes regulieren kann, existiert nach Freud daneben eine völlig andere Gruppe von Reizen, nämlich die aus dem Inneren kommen und daher in ihrer psychischen Repräsentanz eine völlig andere Qualität besitzen. Diese inneren Triebreize tauchen nicht wie ein Lichtstrahl plötzlich auf und lassen sich auch nicht so einfach über motorische Aktivitäten regulieren, sondern bilden eine konstante Kraft, die sich mal in grö- ßerer und mal in kleinerer Intensität zeigt. Triebe sind ausschließlich biologisch begründet und verschließen sich zunächst einer bewussten Wahrnehmung. Be- wusst sind nur die Vorstellungen oder emotionalen Zustände, die diese Triebe im Menschen auslösen. So bildet für Freud der Trieb das Bindeglied zwischen dem Somatischen und dem Psychischen (vgl. Freud 1915a). Die psychische Re- präsentanz des Triebs, die im Gegensatz zum Trieb selbst grundsätzlich bewusst werden kann, wird Triebabkömmling genannt. So könnte ein innerer körperli- cher Zustand als Ausdruck von Hunger interpretiert und somit bewusst werden. Dies könnte dann dazu führen, dass man in die Küche geht und sich genuss- und auch lustvoll Essen einverleibt. Dieser Trieb wird nun beim Vorgang des Es- sens durch das Erleben der oralen Befriedigung als Triebabkömmling bewusst erfahrbar. Ausgehend von dem obigen Beispiel ist es nicht weiter erstaunlich, dass Freud vorschlägt, den Triebreiz „Bedürfnis“ und die Aufhebung dieses Triebreizes „Be- friedigung“ zu nennen (vgl. Freud 1915a). 14 2 Psychodynamische Verfahren Die Merkmale eines Triebs umschreibt Freud mit den vier Begriffen „Drang“, „Ziel“, „Objekt“ und „Quelle“ (Freud 1915b). Mit „Drang“ beschreibt er das mo- torische, spannungsvolle Moment des Triebs. Dies könnte das Körpergefühl sein, das sich einstellt, wenn gerade die Lieblingsspeise auf den Teller gefüllt wird und man den drängenden Impuls verspürt, sich mit großer Hast und Lust dieses Essen einzuverleiben. Das Ziel ist immer die Befriedigung des Triebs, um den spannungsvollen Zustand zu reduzieren. Dies kann beispielsweise die erlebte anale Lust beim Stuhlgang, die orale Befriedigung beim Rauchen einer Zigarette oder auch die genitale Lust beim Geschlechtsverkehr sein. Hier klingt schon an, dass die Objekte der Triebbefriedigung sehr unterschiedlich sein können. Nach Freud stellen die Objekte das Variabelste am Trieb da. Sie sind keineswegs ursprünglich mit dem Trieb verknüpft, sondern werden vor allem deshalb gewählt, weil sie ak- tuell eine Triebbefriedigung ermöglichen. So lässt sich bei Rauchern nicht selten beobachten, dass eine Zigarette geraucht wird, statt den Hunger durch Aufnahme von Nahrung zu reduzieren. Die Quelle verweist auf den körperlichen Ursprung, also die jeweilige erogene Zone. „Auf dem Weg von der Quelle zum Ziel wird der Trieb psychisch wirksam“ (Freud 1933, S. 103). Heute lehrt uns die Biologie, dass alle höhere Organismen, so auch der Mensch, eingebaute Mechanismen haben, die Alterungsprozesse einleiten, welche letztlich den Tod herbeiführen. Im Gegensatz hierzu lassen sich die einzelligen Lebewe- sen, die sich durch Zellteilung vermehren, als potenziell unsterblich betrachten. Somit ist die Endlichkeit des menschlichen Lebens in der Natur des Menschen selbst angelegt. Über Umwege kam Freud zu genau dieser Erkenntnis, die zur der Neuformulierung seiner Triebtheorie führte. Es gibt also einerseits eine zentrale Kraft, die danach strebt, etwas Neues zu schaffen, der Lebenstrieb. Und diametral entgegen steht eine Kraft, die den Tod herbeiführt. „Das Ziel alles Lebens ist der Tod“ (Freud 1920, S. 40). Aus ganz unterschiedlichen Beobachtungen, bei denen seine bisherige Theorie als Erklärungsansatz versagte, wurde er sukzessive zu der Annahme des Todestriebs hingeführt. Konkret waren es die Träume von durch Eisenbahnunfälle traumatisierten Menschen oder auch heimgekehrten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, die wie- derkehrend ihre schrecklichen Erlebnisse zum Trauminhalt hatten. Freud ging ursprünglich, wie bereits dargestellt, davon aus, dass die Lustbefriedigung der zentrale Antrieb menschlicher Aktivitäten sei. In diesem Sinne verstand er auch die Träume, die irgendwo im Verborgenen immer eine Form der Wunscherfüllung darstellten. Die wiederholte Beobachtung aber, dass traumatisierte Menschen in ihren Träumen immer wieder Schreckliches erleben müssen, stand in klarem Wi- derspruch zu dieser Annahme. Wie kann es sein, dass hier ein Mechanismus greift, 2.3 Die zentralen Säulen der psychodynamischen Verfahren 15 der aus dem Unbewussten den Traum mit Inhalten anreichert, die konträr zum Lustprinzip stehen? Ferner waren es die Erfahrungen in den psychoanalytischen Behandlungen von Patienten, die, anstatt die leidvollen Momente ihrer Vergangenheit zu erinnern und durchzuarbeiten, diese in irgendeiner Form aufs Neue wiederholen und durchleben mussten. Diesem Phänomen gab er die Bezeichnung „Wiederholungszwang“ und ver- stand darunter Dynamiken, wenn sich z. B. die Tochter eines alkoholkranken Va- ters mit einem alkoholabhängigen Mann verheiratet und mit ihm ganz ähnliches Leid durchleben muss, wie sie es bereits in ihrer Kindheit mit ihrem Vater erfahren hat. Wie kann es sein, dass ein Mann, der als Kind nie Anerkennung bei seinen Eltern finden konnte, sich nun mit einer leistungs- und karriereorientierten Frau liiert, um an ihrer Seite in dem ständigen Gefühl der Minderwertigkeit das in der Kindheit erfahrene Leid noch einmal durchleben zu müssen? Auch hier scheiterte die Annahme des Lustprinzips als das einzige und zentrale Motiv menschlichen Handelns. Freud kam zum Schluss, dass es einen Wiederholungszwang geben müsse, der sich über das Lustprinzip hinwegsetzt (vgl. Freud 1920). Aufgrund dieser unterschiedlichen Beobachtungen ging Freud einen Schritt weiter und nahm nun einen innewohnenden Drang an, der zum Ziel hat, einen frü- heren Zustand wiederherzustellen. In seinen Ausführungen in „Jenseits des Lust- prinzips“ spricht Freud zunächst von einem konservativen Trieb, den er dann später als Todestrieb bezeichnet. Dieser konservative Trieb oder eben auch Todestrieb, der einen zuvor erlebten Zustand anstrebt, ist die zentrale Kraft, die den Menschen auch in den Zustand der Regression bringt. Mit Regression wird der Vorgang bezeichnet, wenn ein Mensch ein bereits er- reichtes psychisches Funktionsniveau verlässt und zu einem lebensgeschichtlichen früheren Niveau des Denkens, Handelns und Fühlens zurückkehrt. Auch wenn der Begriff eine zentrale Rolle für das pathologische Verständnis spielt, gibt es auch gesunde regressive Momente, z. B. wenn ein Liebespaar eng umschlungen die ge- meinsame Nähe genießt oder man sich nach und nach von den aktiven Gedanken und Vorstellungen verabschiedet, um sich schließlich in den Schlaf zu begeben. Während also das Ziel des Todestriebs darin besteht, die bestehenden Zusam- menhänge aufzulösen, strebt der Lebenstrieb danach, größere Einheiten herzustel- len und zu erhalten. In diesem neuen energetischen Konzept lässt sich mensch- liches Handeln und Erleben immer aus einer Mischung oder auch Entmischung dieser beiden Triebe verstehen, d. h. in Reinform lassen sich diese Triebe nie be- obachten. So ist z. B. der Sexualakt eine Aggression mit der Absicht der innigsten Vereinigung. „Ein stärkerer Zusatz der sexuellen Aggression führt den Liebhaber 16 2 Psychodynamische Verfahren zum Lustmörder, eine starke Herabsetzung des aggressiven Faktors macht ihn scheu oder impotent“ (Freud 1940, S. 71). Um als Individuum leben zu können, muss der Todestrieb, der den früheren anorganischen Zustand herstellen möchte, nach außen gerichtet werden. Auf Basis dieses Vorgangs erklärt Freud die aggressiven Tendenzen, die einem jeden Men- schen innewohnen. Mit der Ausbildung des Über-Ichs (vgl. Abschn. 2.3.1.4) werden große Teile des Aggressionstriebs im Inneren des Ichs fixiert und wirken dort selbstzerstö- rend. Dies zeigt sich z. B. im Sinne der Wendung gegen die eigene Person, wenn sich jemand im Wutanfall die Haare rauft oder mit den Fäusten gegen eine Wand schlägt. 2.3.1.3 Die psychosexuellen Phasen Mit der Entwicklung der hier vorgestellten Phasentheorie beschreibt Freud, orien- tiert an der Entwicklung des Sexualtriebs, ein Modell, das nicht nur im Hinblick auf das subjektive kindliche Erleben revolutionär war, sondern auch die zentrale Basis bildete, um die Entstehung von psychischen Störungen zu beschreiben. Auch wenn dieser Ansatz enorme Erweiterungen und auch Ergänzungen erfahren hat, war es vor allem Freuds Verdienst, den Lustgewinn des Kindes, der sich ent- wicklungsabhängig an den verschiedenen Körperzonen ausrichtet, zu beschreiben. Während Freud die unterschiedlichen Entwicklungsphasen vor allem triebtheore- tisch dachte, sind diese heute um Ich-psychologische, objektbeziehungstheoreti- sche sowie selbstpsychologische Perspektiven erweitert worden. Das sexuelle Leben beginnt nach Freud bereits nach der Geburt und hat zu- nächst nur mit Lust und nichts mit den Genitalien zu tun. Allgemein umfasst das Sexualleben die Funktion der Lustgewinnung aus den verschiedenen Körperzonen. Freud nimmt einen zweiseitigen Ansatz des Sexuallebens an. Die eine Seite fo- kussiert auf die vorpubertäre Zeit, die ihren Höhepunkt im Alter von fünf Jahren erreicht und dann in die Latenzzeit übergeht. Diese infantile Sexualäußerung ist nach Freud durch die folgenden drei Charakteristika gekennzeichnet: 1) Sie ent- steht in Anlehnung an eine wichtige Körperfunktion. 2) Sie ist autoerotisch, d. h. es existiert noch kein Sexualobjekt. 3) Das Ziel der Befriedigung steht unter der Herrschaft der für die Phase spezifischen erogenen Zone (vgl. Freud 1905). Der Se- xualtrieb zeigt sich hier in Form der jeweils für die entsprechende psychosexuelle Phase typischen Partialtriebe. Der zweite Teil, die sog. genital geprägte Sexualität, nimmt seinen Anfang erst mit Eintritt in die Pubertät, also der Geschlechtsreife. Hier werden die Partialtriebe idealerweise in den einen Sexualtrieb integriert und in den Dienst der Fortpflan- zung gestellt. 2.3 Die zentralen Säulen der psychodynamischen Verfahren 17 Die Energie des Sexualtriebs beschreibt Freud mit dem Begriff „Libido“. Ent- sprechend werden Objekte, sei es der Partner, eine gewisse Speise, ein verehrtes Idol oder auch der begehrte Sportwagen als libidinös besetzte Objekte umschrie- ben, da diese potenziell der Triebbefriedigung dienen können. Im Sinne des Lust-Unlust-Prinzips oder auch kürzer Lustprinzips strebt jeder Mensch danach, Lust zu gewinnen und vermeidet solche psychische Tätigkeit, die Unlust erregen könnte (Freud 1911). Oft wurde Freud für die Annahme eines zentralen Sexualtriebs kritisiert. Der Fehler, den seine Kritiker allerdings hier begehen, ist, dass sie diesen Trieb mit einer rein genital-körperlichen Sexualität gleichsetzen. Nach Freuds Verständnis steht die Libido für eine sehr viel allgemeinere Energie, die im Sinne der oben beschriebenen konstanten Kraft stets nach Befriedigung strebt. Orale Phase (1.–2. Lebensjahr) Die erste bedeutsame erogene Zone für den Menschen in seiner lebensgeschicht- lichen Entwicklung sind die Mundhöhle, die Zunge und die Lippen. Das Saugen des Säuglings an der Brust dient zunächst der Nahrungsaufnahme und stellt somit eine überlebenswichtige Körperfunktion dar. Gleichzeitig wird die Reizung der Lippen durch den warmen Milchstrom als lustvoll erlebt. Die Lippen, so Freud, „(…) haben sich benommen wie eine erogene Zone“ (Freud 1905, S. 88). Zu- nächst ist also die Befriedigung dieser erogenen Zone eng mit der Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses verknüpft. Da diese Erfahrung als lustvoll erlebt wird, sucht der Säugling vermehrt nach Befriedigungsmöglichkeiten dieser als erogen erfahre- nen Zone. Dies zeigt sich beim Säugling am lauten und genussvoll schmatzenden Lutschen des Schnullers, des eigenen oder auch fremden Fingers oder der ganzen Hand. Durch das Erleben des Stillens entwickelt der Säugling eine lustvolle Be- ziehung zur oralen Stimulierung. Wie sehr die Befriedigung dieser erogenen Zone zur Entspannung des Säuglings beiträgt, lässt sich beobachten, wenn der schrei- ende Säugling den Schnuller bekommt und sich dann rasch wieder beruhigen kann. Auf dieser oralen Stufe, die Freud auch oral-kannibalistische Phase nennt, ist das zentrale Thema, sich das einzuverleiben, was man begehrt. Gleichzeitig wird aber das Begehrte, wie z. B. eine bestimmte Speise, beim Vorgang des Einverleibens vernichtet. In der Alltagssprache finden wir diese Dynamik in der Redewendung „jemanden zum Fressen gern haben“ wieder. Ähnlich einzuordnen ist auch der ritu- elle Kannibalismus, in dem Körper oder Körperteile des Feindes verzehrt werden, um dessen Kraft zu erlangen. Es handelt sich hier um die früheste und archaische Stufe von drei sog. Internalisierungsprozessen, nämlich dem der Inkorporation (Hoffmann 1979). Die anderen beiden lauten Introjektion und Identifikation. Wäh- rend Freud die psychosexuellen Phasen in erster Linie aus einer triebtheoretischen 18 2 Psychodynamische Verfahren Perspektive beschrieben hat, erfuhren diese mit der Entwicklung der objektbezie- hungstheoretischen und selbstpsychologischen Zugänge (vgl. Abschn. 2.3.3 und 2.3.4) eine zentrale Erweiterung. Ausgangspunkt bildet hier der sog. „kompetente Säugling“ (vgl. Dornes 1993), der mit seiner primären Bezugsperson ein affektives Kommunikationssystem bildet. Die Triebperspektive rückt in den Hintergrund und im Fokus stehen vielmehr die frühen Bindungserfahrungen, die stimulierend, be- friedigend oder frustrierend sein können. Heute bezieht sich der Begriff „Oralität“ eben nicht mehr nur auf den Aspekt der oralen Triebbefriedigung, sondern wird viel weiter gefasst und bezieht sich allgemein auf das Bedürfnis nach Geborgenheit im Sinne einer sicheren Bindung (vgl. Mentzos 1996). Anale Phase (2.–3. Lebensjahr) In der analen Phase tritt die Afterzone als erogene Region in den Vordergrund. Mit der Ausscheidung der Exkremente wird die Schleimhaut des Afters gereizt, was nun als lustvoll erlebt wird. Entwicklungspsychologisch ist diese Phase von der Reinlichkeitserziehung geprägt. Die Kinder sollen lernen, ihre Ausscheidung zu kontrollieren, so dass auf die Windel verzichtet werden kann. Erstmals wird den Kindern bewusst, dass der Stuhl aus ihrem eigenen Körper stammt. Freud schreibt, dass Kinder ihren Stuhl als „Geschenk“ verstehen, wobei das Ausscheiden einen Ausdruck von Anpassung und das Zurückhalten einen Ausdruck von Trotz bedeu- tet (vgl. Freud 1905). Als übergeordnetes Thema geht es in der Phase also um Reinlichkeit, Besitz, Autonomie sowie Geben vs. Zurückhalten. Freud sieht in dieser Phase den Ursprung sadistischer Tendenzen, da sich hier destruktive und libidinöse Bedürfnisse vermischen. Daher nannte Freud diesen Ent- wicklungsabschnitt auch anal-sadistische Phase. Die Verbindung zwischen Anali- tät und Destruktivität findet sich beispielsweise in den Vulgärausdrücken „Schiss“, „Beschiss“, „auf etwas scheißen“ oder auch „Anschiss“ wieder (vgl. Quint 2000). In diesem Alter sind die Kinder motorisch und sprachlich so weit entwickelt, dass sie eigene Wünsche äußern und sich selbstständig bewegen können. Ferner sind sie nun in der Lage, von sich in der ersten Person, als „ich“, zu sprechen. Dies deutet an, dass die Kinder zunehmend ein Bewusstsein von ihrer eigenen Person entwickeln, was sich auch darin ausdrückt, dass erste Autonomiebestrebungen er- kennbar werden. Diese sind allerdings in vielen Fällen noch so archaisch, dass diese Phase in der Alltagssprache auch Trotzphase genannt wird. Das dreijährige Kind, das partout trotz hoher Minustemperaturen das Haus in kurzer Hose und T-Shirt verlassen möchte und einen Wutanfall bekommt, weil es seinen Winterman- tel anziehen soll, erfährt über dieses Trotzverhalten, wie sehr es eine eigenständige Person ist. Ein weiterer Ausdruck des zunehmenden Autonomieerlebens ist, dass Kinder in diesem Alter liebend gern genau das Gegenteil dessen tun, wozu sie ge- rade von einem Elternteil aufgefordert werden. Während heute die Vorstellung von 2.3 Die zentralen Säulen der psychodynamischen Verfahren 19 Kindern, deren Triebbefriedigung in diesem Alter in erster Linie in der Analerotik wurzelt, stark angezweifelt wird, so ist man sich doch aus entwicklungspsycholo- gischer Perspektive darin einig, dass es in diesem Entwicklungsabschnitt um die Ausbildung eines autonomen Daseins in einer Umwelt geht, die sowohl Sicherheit als auch Einschränkungen bietet (vgl. Quint 2000). M. Mahler (1897–1985), eine Vertreterin des objektbeziehungstheoretischen Ansatzes, beschreibt diese Phase sehr anschaulich als Phase zwischen Loslösung und Wiederannäherung. Auf der einen Seite erscheinen Kinder, die gerade Laufen gelernt haben, als völlig autonom und angstfrei. Auf der anderen Seite kann sich dieses Selbstgefühl sehr schnell ins Gegenteil verkehren, wenn sie sich Schutz und Zuwendung suchend wieder ihrer primären Bezugsperson annähern. Phallische Phase (3.–5. Lebensjahr) In der phallischen Phase erreicht die frühkindliche Sexualität ihren Höhepunkt. Auf dieser dritten Organisationsstufe der Libido wird beim Jungen der Penis und beim Mädchen die Klitoris zur zentralen Quelle des Lustempfindens. Ein bedeutsa- mes Merkmal dieser Phase ist der Schau- und Zeigetrieb (Voyeurismus und Exhi- bitionismus). Entwicklungspsychologisch werden sich Kinder in dieser Phase ihrer eigenen Geschlechtszugehörigkeit bewusst, was, so Freuds Annahme, beim Jungen die Kastrationsangst und beim Mädchen den Penisneid zur Folge hat. Für Freud steht in der phallischen Phase sowohl für den Jungen als auch für das Mädchen der Phallus im Mittelpunkt. Der Junge wird sich bewusst, dass er einen Phallus hat und dieser auch Quelle der Lustempfindung sein kann. Das Mädchen muss feststellen, dass es nicht über einen solchen Phallus verfügt. Die sich für Freud aus dieser Konstellation ergebende Dynamik soll nicht weiter ausgeführt werden, da diese Rezeption in erster Linie historisch interessant ist, nicht aber das heutige entwick- lungspsychologische Verständnis der psychodynamischen Vertreter widerspiegelt. Der Ödipuskomplex In der Freud’schen Theorie stellt der sog. ödipale Konflikt den Kulminationspunkt der psychosexuellen kindlichen Entwicklung dar. Grund- sätzlich wird im Ödipuskomplex die Gesamtheit der kindlichen Liebes-, Hass- und Schuldgefühle gegenüber den Eltern beschrieben. Aus familiendynamischer Perspektive geht es um das Aushandeln der Generationengrenze sowie um die An- erkennung der kindlichen Psychosexualität, indem die aggressiv-rivalisierenden und narzisstisch-ödipalen Ansprüche durchgearbeitet werden (vgl. Mertens 2000). Der zentrale Konflikt besteht in der Rivalität zwischen dem Jungen und dem Vater um die Liebe der Mutter bzw. in der Rivalität zwischen dem Mädchen und der Mutter um die Liebe des Vaters. Der rivalisierende Sohn sieht sich in dieser die Mutter begehrende Konstellation einem übermächtigen Vater gegenüber, der sich, 20 2 Psychodynamische Verfahren so die ängstigende Fantasie des Sohnes, durch die Kastration seines Sohnes rächen könnte. Die libidinöse Objektbesetzung des Elternteils wird aufgegeben und durch Identifikation ersetzt. Dieser ins Ich introjizierte Elternteil bildet den Kern des spä- teren Über-Ichs. Diese so auch introjizierten Moralvorstellungen verhindern, so Freud, eine Wiederkehr des ödipalen Konflikts. Beim Mädchen verläuft die Über- windung des Ödipuskomplexes weniger dramatisch, da es keine Kastration zu be- fürchten hat. Im ödipalen Begehren des Vaters wünscht sie sich ein Kind von ihm. Da dieser Wunsch aber nie erfüllt wird, wird langsam der Ödipuskomplex verlas- sen. Freud vermutet, dass sowohl der Wunsch des Mädchens nach einem Penis als auch der Wunsch nach einem Kind vom Vater im Unterbewussten erhalten bleiben und letztlich eine Vorbereitung auf die spätere geschlechtliche Rolle bedeuten (vgl. Freud 1924). Es sollte nicht verwundern, dass Freud insbesondere für Theorien zur weiblichen Entwicklung massiv kritisiert wurde. Unter anderem wurde ihm vorge- halten, eine weibliche Defizittheorie zu vertreten, die der herrschenden Geschlech- terideologie verhaftet und Ausdruck alter patriarchaler Denkmuster ist. Mittlerweile hat das Verständnis des ödipalen Konflikts eine enorme Erweite- rung erfahren. Im Laufe der Entwicklung erfährt sich das Kind zunehmend als eine eigenständige Person mit eigenen Wünschen und entsprechenden Autonomie- bestrebungen. Mit diesen Selbststrukturen ausgestattet erfährt es nicht nur seine eigene Unabhängigkeit, sondern auch die Unabhängigkeit seiner Eltern. Es macht die zunächst verstörende Erfahrung, dass auch die Eltern eine Beziehung mitei- nander pflegen, in der das Kind nicht vorkommt. In diesem Entwicklungsabschnitt, der auch Triangulierung genannt wird, muss das Kind lernen, dass es eigenstän- dige Beziehungen zu seiner Mutter und seinem Vater unterhält und diese wiederum eine eigenständige Beziehung untereinander pflegen. Hier geht es nicht nur darum, diese realen Beziehungen entsprechend zu erleben, sondern vor allem darum, dass das Kind in der Lage ist, innere Repräsentanzen dieses Beziehungsdreiecks aufzu- bauen. Nach heutigem Verständnis findet der Prozess der Triangulierung allerdings nicht erst in der Phase des ödipalen Konflikts statt, sondern vielmehr bildet die zuvor erworbene innere Repräsentation dieser drei ambivalenten Beziehungen die Voraussetzung, den ödipalen Konflikt gut zu bewältigen (Lang 1992). Die Ödipussage Es gibt eine große Anzahl an unterschiedlichen Varianten dieser Sage, die je nachdem, welche Version man heranziehen möchte, ein völlig unterschiedli- ches Licht auf den von Freud konzipierten Ödipuskomplex werfen. Die klas- sische Version, die wohl auch Freud inspiriert haben muss, geht verkürzt folgendermaßen: 2.3 Die zentralen Säulen der psychodynamischen Verfahren 21 Ein Orakel weissagte dem König Laios von Theben, dass er von seinem Sohn getötet und dieser dann seine Frau, Iokaste, heiraten würde. Um den Eintritt dieser Weissagung zu verhindern, ließ Laios seinen Sohn, Ödipus, drei Tage nach seiner Geburt im Gebirge aussetzen. Ödipus wurde gefunden und von Pflegeeltern aufgezogen. Als erwachsener Mann hörte er von dem Gerücht, dass die Eltern, die ihn aufgezogen hätten, nicht seine leiblichen Eltern seien. Er befragte daraufhin das Orakel und erfuhr, dass er seinen leib- lichen Vater töten und seine Mutter heiraten werde. Um das Eintreten dieses Ereignisses zu verhindern, floh Ödipus außer Landes. Auf diesem Weg begeg- nete er Laios, ohne diesen als seinen Vater zu erkennen. Es kam zum Streit und Ödipus erschlug seinen Vater. Später wurde er König von Theben und nahm die verwitwete Iokaste zur Frau, mit der er auch gemeinsame Kinder hatte. Durch die Befragung früherer Diener fand Ödipus heraus, dass er, wie im Orakel vorhergesagt, tatsächlich seinen Vater ermordet und seine Mutter geheiratet hatte. Als dies alles öffentlich wurde, erhängte sich seine Mutter und Ödipus stach sich die Augen aus und ließ sich verbannen. Interessant ist hier vor allem die Tatsache, dass Iokaste sich bewusst ge- wesen sein musste, dass Ödipus ihr Sohn war und sie daher wissentlich ein Inzestverhältnis eingegangen ist, was Freud allerdings nie thematisiert bzw. problematisiert hat (vgl. Zepf et al. 2014). Während Freud davon ausgeht, dass die Eltern mehr oder weniger „unschuldig“ mit der kindlichen Rivalität konfrontiert werden, gibt es neuere Hypothesen, dass die Rivalität im Falle des Sohns durch die Liebe der Mutter zu ihrem Sohn in Gang gesetzt wird und zuerst im Vater eine ödipale Problematik auslöst. Aus dieser Perspektive wären die Besonderheiten, die in Zusammenhang mit der Bewältigung des Ödipuskomplexes bei den Kindern zu beobachten sind, durch die Dynamik zwischen den Eltern ausgelöst (vgl. Zepf et al. 2014). Latenzphase (ab 5. Lebensjahr – Eintritt in die Pubertät) Die Verdrängung und damit die Überwindung des Ödipuskomplexes leitet letztlich die Latenzzeit ein (vgl. Freud 1924). Für das kleine Mädchen bleibt der Vater uner- reichbar und der kleine Junge macht die Erfahrung, die Mutter nicht allein besitzen zu können. Als Analogie erwähnt Freud die Milchzähne, die dann ausfallen, wenn die bleibenden Zähne nachrücken. Er gesteht sich allerdings ein, die Auflösung die- ses Komplexes noch nicht in seiner Gänze verstanden zu haben. Das Kind entwi- ckelt nun die Fähigkeit, libidinöse Strebungen verdrängen oder auch sublimieren zu können. Die sexuelle Energie wird in den Aufbau sozialer Beziehungen investiert. 22 2 Psychodynamische Verfahren Genitale Phase (ab Erreichen der Geschlechtsreife) Mit Eintritt in die Pubertät erfolgt die Zusammenfassung der Partialtriebe in einen Sexualtrieb, der sich nun in den Dienst der Fortpflanzung stellt (vgl. Freud 1923b). Während in den bisher beschriebenen Phasen das Interesse eher selbstbezogen oder auf Familienmitglieder gerichtet war, orientiert sich der Mensch ab der Vorpubertät hinsichtlich der Suche nach sexueller Befriedigung nach außen. Sexualität tritt nun in den Dienst der zwischenmenschlichen Partnerschaft. 2.3.1.4 Das Strukturmodell In „Das Ich und das Es“ (Freud 1923a) entwickelte Freud wenige Jahre, nachdem er die Triebtheorie umformuliert hatte, dass sog. Drei-Instanzen-Modell. Hiermit bereitete er den Boden für die sich anschließende nachfolgende psychoanalytische Strömung, die Ich-Psychologie (siehe Abschn. 2.3.2). Immer wieder zeigte ihm seine klinische Erfahrung, dass das topografische Modell, das nach der Entweder- Oder-Denkweise zwischen unbewusst und bewusst differenzierte, für die Beschrei- bung psychischer Phänomene zu statisch war (vgl. Jungclaussen 2013). Das älteste der psychischen Instanzen ist das System des Unbewussten, das Freud mit dem Begriff „Es“ umschreibt. Es beinhaltet vor allem die aus der Körper- organisation stammenden Triebe. Die beiden anderen in der Topgrafie umschrie- benen Bereiche des Bewussten und Vorbewussten werden als Vorläufer des Ichs betrachtet. Während Freud sich also bisher vorwiegend auf das Verdrängte kon- zentrierte, rückt nun das Ich immer stärker in den Mittelpunkt. Mit der Entwick- lung des Strukturmodells schuf Freud eine Beschreibungsebene, die die Dynamik innerhalb dieser Topografie in den Vordergrund treten ließ. Es ging beispielsweise um die Beschreibung von Momenten, in denen Erfahrungen oder Emotionen, sei es durch Verdrängung oder auch durch Widerstand, nicht bewusst werden dürfen. Um solche bedeutsamen psychischen Prozesse besser greifbar zu machen, führte Freud das Ich ein, das die psychischen Vorgänge organisiert. Das Ich ist die Instanz, die zwischen der umgebenden realen Außenwelt und dem Es vermittelt. Die Beziehung zwischen Ich und Es lässt sich mit der zwischen Reiter und Pferd vergleichen. Der Reiter bedient sich der Kraft und Schnelligkeit des Pferdes und versucht diese in seinem Sinne zu lenken (Freud 1933). Das Ich lernt nach und nach durch Aktivität, die Außenwelt zum eigenen Vorteil zu nutzen. Durch Anpas- sung gelingt es ihm, mäßigen Reizen zu begegnen und durch Flucht übermäßige Reize zu meiden. Indem das Ich die Herrschaft über die Triebansprüche gewinnt, entscheidet es darüber, ob diese zur Befriedigung zugelassen werden oder nicht. So ist auch denkbar, die Befriedigung auf günstigere Zeiten zu verschieben oder gar zu unterdrücken. Das Ich strebt nach Lust und will Unlust vermeiden. Eine erwartete Unluststeigerung wird mit einem Angstsignal beantwortet. 2.3 Die zentralen Säulen der psychodynamischen Verfahren 23 Durch Verinnerlichung der Beziehungen mit den Eltern, die mit der Übernahme von deren Werten und Idealen einhergeht, bildet sich das Über-Ich als dritte Instanz heraus, dem das Ich ebenso Rechnung tragen muss. Die Bildung des Über-Ichs ist u. a. abhängig von sozialem Milieu, Erziehern, Vorbildern und Idealen der Gesellschaft. Eine Handlung ist dann korrekt, wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ich sowie der Realität gerecht werden kann. Das Ich rückt in das Zentrum des psychoanalytischen Interesses. 2.3.2 Ich-Psychologie Mit der Konzeption des Strukturmodells leitete Freud die Ich-Psychologie ein, die zunächst noch sehr triebtheoretisch ausgerichtet war. Dem Ich als Mittler zwischen den andrängenden Triebwünschen, den aus dem Über-Ich stammenden moralischen Forderungen und der äußeren Realität, fällt die schwierige Aufgabe zu, jeweils die besten Lösungen für die konkreten Situationen zu finden. Letztlich geht es darum, die Triebbefriedigung unter Berücksichtigung der aktuellen Situationen und der internalisierten ethischen Vorstellungen zu regulieren. Die Tochter Freuds, Anna Freud (1895–1982), führte sein Bemühen um ein besseres Verstehen der Vorgänge des Ichs fort. Im Jahre 1936 veröffentlichte sie das Buch „Das Ich und die Abwehr- mechanismen“. Während sich die frühe Psychoanalyse auf die unmittelbare Entde- ckung des Unbewussten, also des Es fokussierte, in dem das Ich geschwächt wurde (Liegen auf der Couch, freie Assoziation), verschiebt sich im Ich-psychologischen Ansatz die Aufmerksamkeit auf die direkte Beobachtung des Ichs des Patienten, welches darum bemüht ist, bestimmte unbewusste Regungen und Wünsche vom Bewusstsein fernzuhalten. Über das Ich, so die Position Anna Freuds, erfährt man etwas über die Triebregungen aus dem Es und den moralischen Vorstellungen des Über-Ichs. Werden die triebhaften Impulse aus dem Es zu stark, gerät das Indivi- duum in den Zustand der Angst, welcher wiederum als unlustvoll wahrgenommen wird und daher abgewehrt werden muss. Es ist also nicht das triebhafte Andrängen, sondern die damit ausgelöste Angst, die die Abwehrmechanismen hervorruft. Miss- lingt die vollständige Abwehr dieser Angst, kommt es zur Symptombildung, die als Kompromiss zwischen Wunsch und Abwehr verstanden werden muss. Anna Freud formulierte damals zehn Abwehrmechanismen (Freud 1936/2010, S. 51), die in der Zwischenzeit um viele weitere ergänzt wurden. Je nach psychi- schem Entwicklungsniveau können Abwehrmechanismen unterschiedlicher Reife- grade genutzt werden. In einer sehr groben Unterteilung wird heute zwischen sog. reifen und unreifen Abwehrmechanismen differenziert. Bei den reifen Abwehrme- chanismen handelt es sich um eine intrapsychische Regulierung eines psychischen 24 2 Psychodynamische Verfahren Konflikts, der sich nur sekundär belastend auf die sozialen Beziehungen auswirkt. Bei den unreifen Abwehrmechanismen dagegen werden im Versuch der Stabilisie- rung des eigenen psychischen Gleichgewichts andere Menschen einbezogen, was in der Folge zu enormen Belastungen dieser Beziehungen führen kann. Während die reifen Abwehrmechanismen vorwiegend bei Menschen mit Konfliktpatholo- gien anzutreffen sind, zeigen Menschen mit strukturellen Defiziten eher unreife Abwehrmechanismen (vgl. Abschn. 2.6). In Tab. 2.1 sollen zunächst die Beschreibungen der reiferen und in Tab. 2.2 der unreiferen Abwehrformen wiedergegeben werden. Tab. 2.1 Reife Abwehrmechanismen (entnommen aus und modifiziert nach Jungclaussen 2013, S. 51 f.) Bezeichnung Beschreibung Beispiel Verdrängung Ist die Basis aller anderen Aggressive Impulse gegenüber Abwehrmechanismen. einer Person, die man liebt/ Unerwünschte oder bedrohliche lieben sollte (z. B. Eltern, Impulse werden daran gehindert, Geschwister, Partner) dürfen ins Bewusstsein zu gelangen. nicht bewusst werden, müssen Verdrängung dient der also unbewusst gehalten werden. Vermeidung von Angst, Scham, Schmerz und anderen negativen Affekten. Regression Voraussetzung: Wahrnehmung des Ein Studierender muss eine Triebimpulses und Notwendigkeit mündliche Prüfung ablegen. Die der Hemmung in dieser Situation erfahrene Mischung aus Angst und Aggression wird abgewehrt, indem er sich wie ein kleiner artiger Junge verhält. Das Verhalten ist sehr unterwürfig und die Stimmlage ist sehr viel höher als in normalen Alltagssituationen. Rationalisierung Man redet sich ein, dass Eine Studierende kann sich gegen das eigene Verhalten einen Ende des Sommersemesters verstandesgemäßen guten Grund nicht überwinden, sich auf hat, um es so vor sich und anderen die Klausurvorbereitung zu rechtfertigen. zu konzentrieren und spielt stattdessen am Computer. Als Erklärung sagt sie sich, dass es bei so hohen Temperaturen ohnehin nicht möglich sei, sich auf so komplizierte Themen zu konzentrieren. 2.3 Die zentralen Säulen der psychodynamischen Verfahren 25 Tab. 2.1 (Fortsetzung) Bezeichnung Beschreibung Beispiel Intellektualisieren Die Fähigkeit des Abstrahierens Die Wut und Enttäuschung über wird eingesetzt, um das eigene einen guten Freund werden affektive Erleben oder das Erleben kontrolliert, indem der Konflikt anderer nicht (zu) bedrohlich stark ausschließlich auf einer betont werden zu lassen. sachlichen Ebene ausgehandelt wird. Reaktionsbildung Aggressive Gefühle werden Jemand ertappt sich dabei und abgewehrt, indem sie ins ist auch erstaunt darüber, dass er Gegenteil verkehrt werden. gegenüber einer Person, die er eigentlich überhaupt nicht mag, extrem freundlich ist. Sublimierung Eine negative Triebenergie oder Jemand versucht durch verpönte Wünsche werden auf exzessiven Sport seine ein kulturell anerkanntes Ziel aggressiven Impulse zu umgeleitet. Ein wichtiges Motiv kontrollieren. für die Kulturentwicklung. Voraussetzung: Vorhandensein eines Über-Ichs Progression Ist das Gegenteil von Eine junge Frau, die zu wenig Regression. Darunter wird die Liebe und Anerkennung Flucht nach vorn verstanden, durch ihre eigenen Eltern z. B. Pseudoautonomie. erfährt, entwickelt sehr starke Sehnsüchte danach, eigene Kinder und eine eigene Familie zu haben, um so die Wünsche nach familiärer Harmonie und gegenseitiger Anerkennung befriedigen zu können. Altruistische Statt sich selbst den ersehnten Jemand wächst in einem kargen Wunschabtretung Wunsch zu erfüllen, wird dieser an Elternhaus auf, in dem er eine andere Person abgetreten. nur wenig Anerkennung und Förderung erfährt. Als Beruf wird er Erzieher und gibt nun ersatzweise den Kindern das, was er selbst so sehr vermisste. Ungeschehen Weil man einen „unmoralischen“ Jemand hat sich sexuell machen Gedanken oder eine selbst befriedigt, kann diese „unmoralische“ Handlung Handlung aber nicht mit seinen wiedergutmachen will, greift man verinnerlichten moralischen zu einer Symptomhandlung, die Geboten in Einklang bringen. den betreffenden Gedanken oder Es folgt ein exzessives die betreffende Handlung abwehren Reinigungsritual, um so diesen bzw. sühnen soll, z. B. Waschzwang, Vorgang ungeschehen zu zwanghafte Ordnungsliebe. machen. 26 2 Psychodynamische Verfahren Tab 2.2 Unreife Abwehrmechanismen (entnommen aus und modifiziert nach Jungclaussen 2013, S. 51 f.) Bezeichnung Beschreibung Beispiel Affektisolierung Bestimmte Gefühle werden Ein Freund berichtet von einer ausgespart. Situation am Arbeitsplatz, wo er vom Chef tief gedemütigt wurde. Es ist aber nichts von Scham oder Ärger zu spüren. In der Regel stellt sich dieses Gefühl dann stellvertretend beim Gegenüber ein (Gegenübertragung). Projektion Inneres soll außen sein: Eine Studentin erlebt einen Eigene unangenehme Kommilitonen, der sich real in keiner Anteile werden statt bei Weise von ihr erotisch angezogen fühlt, sich selbst beim Anderen als sexualisierend und verführerisch wahrgenommen und ihm und ärgert sich darüber. Unbewusst zugeschrieben. Das kann fühlt sie sich sexuell angezogen, ein reales Gegenüber sein, was sie aber aufgrund ihrer festen können aber auch entfernte Beziehung, die ihr sehr wichtig ist, vorgestellte andere Personen nicht bewusst werden lassen darf. oder Gruppen sein. Unterscheidung von Selbst und Objekt ist Voraussetzung. Projektive Manipulative Verlagerung Ein Mann rutscht in eine diffuse Identifikation unerträglicher Selbstaspekte schlechte Stimmung, in der er sich in den Anderen, der sich unbewusst als wertlos, ineffizient und damit identifiziert und danachunattraktiv erlebt. Dieses Selbsterleben handelt ist so bedrohlich und vernichtend, dass es in eine andere Person übertragen wird. Der Mann fängt an, sich zu fragen, ob die Liebesgefühle seiner Partnerin überhaupt echt sind. Bestimmt findet sie ihn unattraktiv, ineffizient und wertlos. Diese Dynamik kann so weit eskalieren, dass die Partnerin tatsächlich genau das für ihren Partner anfängt zu empfinden. Introjektion Einverleibung von Ein Kind wächst in einem sehr Werten, Funktionen oder leistungsorientierten Elternhaus Eigenschaften von Menschen, auf. Zuwendung und Bewunderung um sie nicht mehr als erfährt es nur, wenn es herausragende Bedrohung von außen erleben Leistungen erbracht hat. Es ist nicht zu müssen in der Lage, sich kritisch mit dieser Unterscheidung von Selbst Wertorientierung auseinandersetzen, und Objekt ist Voraussetzung. sondern introjiziert diese, um sich so der elterlichen Liebe gewiss sein zu können. 2.3 Die zentralen Säulen der psychodynamischen Verfahren 27 Tab 2.2 (Fortsetzung) Bezeichnung Beschreibung Beispiel Verleugnung Wenn man sich gegen Ein Mensch mit hohen ethischen die Wahrnehmung einer Standards behandelt eine Person unangenehmen Wirklichkeit entwürdigend und herablassend. Als nicht wehren kann, wehrt er damit konfrontiert wird, ist es für man sich unbewusst gegen ihn völlig ausgeschlossen, jemals so ihre Bedeutung und spielt die gehandelt zu haben. Wichtigkeit herunter. Spaltung Aufgrund der Unfähigkeit, Eine Freundin wird als ausschließlich negative und positive Anteile liebevoll empfunden. Nach einer eines Menschen in ein kleinen Enttäuschung wird die Gesamtbild integrieren zu gleiche Person dann ausschließlich als können, werden diese durch angsteinflößend, verachtenswert und die Spaltung jeweils nur störend wahrgenommen. getrennt erlebt (schwarz- weiß). Ein weiterer Vertreter der Ich-Psychologie, Heinz Hartmann (1894–1970), ging über den Ansatz von Anna Freud hinaus, indem er das gesamte Triebgeschehen in den Hintergrund rückte. Laut Hartmann lässt sich das Ich nicht verkürzt zum unglücklichen Vermittler zwischen Es, Über-Ich und Realität reduzieren. Vielmehr ist das Ich als autonome Instanz zu betrachten, die der intelligenten Anpassung des Individuums an seine Umwelt dient. Der Mensch wurde also nicht mehr aus einer rein konflikthaften Perspektive betrachtet, sondern als ein Lebewesen ver- standen, das mit angeborenen Fähigkeiten ausgestattet ist, um sich grundsätzlich konfliktfrei über die Ausbildung entsprechender Ich-Funktionen im Einklang mit seiner Umwelt zu entwickeln. Mit Ich-Funktionen werden u. a. die Wahrnehmung, das Denken und das Spre- chen sowie die Fähigkeit zur Realitätsprüfung, der Affektregulierung und der Be- ziehungsgestaltung zusammengefasst. Noch heute spielt z. B. in der Operationali- sierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD; siehe Abschn. 2.6) die diagnostische Einordnung der Qualität der vorhandenen Ich-Funktionen auf der Struktur-Achse eine wichtige Rolle, um das Vorhandensein bzw. Ausmaß einer strukturellen Störung festzustellen (Arbeitskreis OPD 2006). Von Seiten der Ich-Psychologie wurde die Position vertreten, dass nur Patienten mit intakten Ich-Funktionen für eine psychoanalytische Behandlung im Sinne Freuds geeignet seien. In der Ich- psychologischen Behandlung geht es daher nicht um die Bewusstmachung unbe- wusster Inhalte, sondern um die Beeinflussung intrapsychischer Aushandlungs- prozesse und Kompromissbildungen zwischen Wünschen, Abwehrvorgängen, Über-Ich-Forderungen und Anforderungen der Realität. 28 2 Psychodynamische Verfahren Auch wenn die Ich-Psychologie von den Vertretern der klassischen Psychoana- lyse als Anpassungspsychologie, die therapeutisch bestenfalls Anpassung, aber keine Veränderung herbeiführen könne, kritisiert wurde (vgl. Jacoby 1983), muss man heute feststellen, dass sie eine wichtige theoretische Basis für die modifizierte Behandlung vor allem von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen bildet (z. B. Rudolf 2013). 2.3.3 Objektbeziehungstheorie Mit der Entwicklung der Objektbeziehungstheorie in den 1950er-Jahren wurde innerhalb der psychoanalytischen Theoriebildung ein grundlegender Paradigmen- wechsel eingeleitet. Während der bisherige Fokus im Sinne der Ein-Personen- Psychologie auf das Individuum mit seiner innerpsychischen Dynamik gelegt wurde, rücken nun die zwischenmenschlichen Erfahrungen, also das Beziehungs- erleben und sein Einfluss auf die Entwicklung des Menschen, in den Vordergrund. Folgerichtig spricht man in Zusammenhang mit der Objektbeziehungstheorie nun auch von der Zwei-Personen-Psychologie (vgl. Balint 1965). Zu den wichtigsten Vertretern dieses Ansatzes zählen M. Klein (1882–1960), M. Balint (1896–1970), W. Fairbairn (1898–1964), D. W. Winnicott (1896–1971) und O. Kernberg (1928–). Beim objektbeziehungstheoretischen Ansatz handelt sich um keine in sich ge- schlossene Theorie. Grob zusammenfassend lassen sich zwei Gruppen voneinan- der unterscheiden. Die eine, zu denen u. a. Klein und Kernberg gerechnet werden, wird als „harte Objektbeziehungstheorie“ oder auch „väterliche Psychoanalyse“ bezeichnet. Hier wird an einem modifizierten Triebverständnis festgehalten und in der Therapie auch konfrontierend und deutend gearbeitet. Die Analytiker Balint, Fairbairn und Winnicott stehen dagegen für eine „weiche Objektbeziehungsthe- orie“ oder auch „mütterliche Psychoanalyse“ und sehen die frühen Beziehungen weniger aus der triebtheoretischen Perspektive, sondern rücken ein Grundbedürf- nis nach Bindung in den Vordergrund. Dementsprechend steht hier im Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit das unmittelbare Beziehungserleben des Patienten mit seinem Therapeuten sowie die Möglichkeit, im Laufe des therapeutischen Prozes- ses korrigierende Beziehungserfahrungen machen zu können. Der von Freud entwickelte triebtheoretische Ansatz bildet eine gute Grundlage, um die Ätiologie neurotischer Störungen, deren zentrales Merkmal die Verdrän- gung bzw. Abwehr unbewusster und als bedrohlich empfundener Wünsche und Fantasien ist, im Sinne der Konfliktpathologie zu verstehen. Diese Störungen zei- gen ein relativ stabiles neurotisches Muster und die pathologischen Erscheinungen, wie Ängste, Zwänge etc., werden von den Patienten als ich-dyston, also als nicht 2.3 Die zentralen Säulen der psychodynamischen Verfahren 29 zur eigenen Person gehörig, wahrgenommen. Im Mittelpunkt dieses frühen psy- choanalytischen Störungsverständnisses stand das Scheitern an der Bewältigung des ödipalen Konflikts. In der Objektbeziehungstheorie stehen die sog. frühen Störungen im Mittel- punkt, also jene, deren Ursprung in den Erfahrungen während der sehr frühen Kindheit, also präödipal, zu verorten ist. Hier ist die Psychopathologie vor allem durch als ich-synton erlebte Symptome geprägt. Dieser neue Fokus ermöglicht einen Zugang zu psychischen Störungen, die durch Probleme vor allem in der Beziehungsgestaltung, dem Identitätserleben sowie der Regulierung der eigenen Bedürfnisse und Emotionen entstehen. Es handelt sich um jene Bereiche, bei deren Bewältigung in den ersten Lebensjahren, in denen die Selbstentwicklung des Kin- des noch äußerst schwach ausgeprägt ist, die Mutter oder andere primäre Bezugs- personen entscheidende Unterstützung zu leisten haben. So nimmt beispielsweise die Mutter den schreienden Säugling auf den Arm, unterstützt ihn in der Regulie- rung der eigenen Affekte, zeigt über die markierte Spiegelung, welche Affekte der Säugling gerade erlebt, und stellt zudem einen Bezug zur Realität her. Ein Säugling hat sich wegen des lauten Geräusches eines Hubschraubers er- schreckt und weint. Die Mutter nimmt ihn nun auf den Arm, macht leichte wiegende Bewegungen, nimmt den aversiven Zustand des Säuglings empathisch auf und ver- mittelt ihm, dass er sich bestimmt sehr erschrocken hat, es aber keine Bedrohung gibt. Durch diese Form der Interaktion entwickelt der Säugling nach und nach eine sekundäre Repräsentanz des eigenen emotionalen Erlebens. Über Interaktionen dieser Art bildet sich allmählich im Menschen ein bewusstes Selbsterleben aus und gibt ihm so ein Gefühl der Identität. Wie mag sich wohl die Entwicklung solcher Repräsentanzen gestalten, wenn die Mutter schwer depressiv, psychotisch oder al- koholabhängig ist? Im Grunde sind es diese frühen interaktionellen Erfahrungen, die einen später im Erwachsenenalter befähigen, in schweren Belastungssituation das innere Objekt der Mutter zu aktivieren, um sich selbst Trost zu spenden und so sich in seinem emotionalen Erleben zu regulieren. Mit dem Begriff „Objekt“ werden die inneren Repräsentanzen der äußeren Re- alität umschrieben. So entwickelt jeder Mensch Beziehungen zu anderen Men- schen, die dann für ihn zu verinnerlichten Objekten werden. Diese umfassen nicht nur die äußeren Erscheinungen, sondern auch das eigene psychische Erleben mit den dazugehörigen Wünschen und Fantasien. Der Begriff „Objektbeziehung“ um- schreibt also im Unterschied zur realen Interaktion die vorgestellte Beziehung zu einer Person. Die Qualität der Objektrepräsentanz hat maßgeblichen Einfluss auf die Qualität der Wahrnehmung anderer Personen und auch auf die Interaktion mit ihnen. Die Summe der verinnerlichten Objekte bildet eine zentrale Säule der eige- nen Persönlichkeitsstruktur. 30 2 Psychodynamische Verfahren Zwar hat sich auch Freud mit Objektbeziehungen beschäftigt, allerdings aus einer vorwiegend intrapsychischen Perspektive. So stellen Objekte aus der trieb- theoretischen Perspektive in erster Linie Quellen der Befriedigung oder Versagung libidinöser bzw. aggressiver Triebe dar. In der Objektbeziehungstheorie verschiebt sich nun diese innerseelische Perspektive auf die Beziehungen, also auf das in- terpsychische Geschehen. Der Mensch ist auf ein reales und imaginiertes Gegen- über angewiesen, das auf die eigenen Verhaltensweisen reagiert und Resonanz an- bietet und an dem sich das eigene Selbsterleben ausrichtet. Während in der Psychoanalyse im Sinne Freuds dem Analytiker die Aufgabe zukam, Unbewusstes zutage zu fördern und gemeinsam mit dem Patienten durch- zuarbeiten, geht es in den objektbeziehungstheoretisch ausgerichteten Therapien darum, das aktuelle pathologische Beziehungserleben des Alltags, auch das in der Therapie, unter Berücksichtigung der frühkindlichen Erfahrungen zu bearbeiten. Anders als in der klassischen Psychoanalyse, in der der Therapeut möglichst absti- nent bleibt, um den Prozess der Übertragung nicht zu stören, zeigt sich der Thera- peut hier viel eher als ein reales Gegenüber. Der Unterschied zwischen diesen beiden Ansätzen soll an folgendem Beispiel verdeutlicht werden: Ein Therapeut kündigt seinem Patienten an, dass er demnächst für drei Wochen in den Urlaub fahren wird. Der Patient fragt den Therapeuten da- raufhin, wohin die Reise denn gehen soll. In der Analyse nach Freud würde der Analytiker diese Frage nutzen, um das Übertragungsgeschehen zu fördern und den Patienten auffordern, zu fantasieren, was er denn glaubt, wie er wohl den Urlaub verbringen wird. Im objektbeziehungstheoretischen Ansatz könnte der Therapeut erkennen, dass die Qualität der Objektrepräsentanzen im Patienten so fragil ist, dass es dem Patienten kaum möglich sein wird, während der urlaubsbedingten Ab- wesenheit Kontakt zum verinnerlichten Therapeuten aufrechtzuerhalten. Um dies zu erleichtern, vermittelt der Therapeut dem Patienten die Möglichkeit zu konkre- ten Vorstellungsinhalten, indem er dem Patienten erzählt, dass er zum Wandern in die Berge fährt. Möglicherweise gibt der Therapeut dem Patienten für die Dauer seiner Abwesenheit noch einen Gegenstand, wie z. B. einen kleinen Stein aus der Praxis mit, der als Übergangsobjekt dienen soll. Die Bedeutung des Übergangsobjekts wurde von Winnicott erkannt und be- schrieben. Kinder ab dem vierten Monat wählen häufig ein äußeres Objekt, wie ein Kuscheltier oder eine Schmusedecke, das den Raum zwischen Mutter und Klein- kind einnimmt und somit eine wichtige Stütze des Kindes darstellt, um Zeiten der Abwesenheit der Mutter überbrücken zu können (Winnicott 2012). Dieses Über- gangsobjekt kann man auch als eine Vorstufe auf dem Weg der Ausbildung von Objektrepräsentanzen beschreiben. 2.3 Die zentralen Säulen der psychodynamischen Verfahren 31 Die Objektbeziehungstheorie ermöglichte einen völlig neuen Blick auf die Ge- staltung und Organisation von Beziehung im Allgemeinen und im therapeutischen Prozess. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive wurde ein präödipaler Entwicklungsprozess beschrieben, in dem zunehmend Innen und Außen vonei- nander differenziert werden können und parallel die Fähigkeit entwickelt wird, gute und schlechte Anteile eines Objekts integrieren zu können (Mahler et al. 2008). Genau diese Fähigkeiten sind z. B. bei Menschen mit einer Borderline- Persönlichkeitsstörung deutlich eingeschränkt, was extrem chaotische Bezie- hungsgestaltungen und – erfahrungen zur Folge hat. So schwanken diese Patienten in ihren Beziehungen zwischen extremer Idealisierung und Abwertung hin und her, da sie zur Integration guter und schlechter Anteile eines Menschen nicht fähig sind. Kernberg entwickelte speziell für diese Störungsgruppe mit der Übertragungsfo- kussierten Psychotherapie (TFP) ein störungsspezifisches Behandlungsmanual (Clarkin et al. 2008). Im Fokus steht hier die Arbeit an den intensiven negati- ven Übertragungen, die sich im Hier und Jetzt zwischen Patient und Therapeut einstellen. Über die konsequente Deutung soll der Patient ein Verständnis dafür entwickeln, dass seine unmittelbaren chaotischen und archaischen Beziehungser- fahrungen – auch mit seinem Therapeuten – aus den frühen Objektrepräsentan- zen herrühren, in denen Selbst- und Objektaspekte sowie Elemente der inneren und äußeren Realität miteinander konfundiert sind. Somit erfährt der Patient nach und nach sein scheinbar sinnloses und destruktives Handeln und Erleben als eine zumindest nachvollziehbare Reaktion aufgrund chaotischer und undifferenzierter innerer Zustände. So sehr sich die Vertreter der Objektbeziehungstheorien auch unterscheiden, lässt sich festhalten, dass behandlungstechnisch bei allen eine „mütterliche Dimen- sion“ und somit ein interaktionelles Behandlungsverständnis in den Vordergrund rückt. 2.3.4 Selbstpsychologie Als eine weitere zentrale Säule im psychoanalytischen Theoriengebäude entwi- ckelte H. Kohut (1913–1981) in den 1970er-Jahren die Selbstpsychologie. Kohut hatte die Erfahrung gemacht, dass er mit der klassischen Technik bei zumeist nar- zisstisch gestörten Patienten nur unzureichende Erfolge verzeichnen konnte. Da- her rückte er das Selbst des Menschen, sein subjektives Selbsterleben sowie sein Bedürfnis nach Selbstanerkennung und anerkennender Spiegelung in den Vorder- grund und erweiterte die bisher bestehenden psychodynamischen Perspektiven der 32 2 Psychodynamische Verfahren Triebdynamik, der Ich-Funktionen sowie der verinnerlichten Objektbeziehungen. Im Zentrum stehen nun die Vorstellungen, die ein Mensch über sich selbst entwi- ckelt und welche so wesentlicher Bestandteil seiner Selbstdefinition und seiner psychosozialen Identität werden. Das zentrale Motiv des Menschen sieht Kohut demnach nicht in der Triebbefriedigung, sondern in der Organisation und Verwirk- lichung des Selbst. Die Ursache für das Scheitern in der Bewältigung des ödipalen Konflikts sieht Kohut in den frühen Beziehungserfahrungen und versteht es als eine Folge zuvor nicht ausreichend ausgebildeter Selbststrukturen. So sei jede psychi- sche Störung letztlich auf Defekte in der Selbststruktur oder auf Verzerrungen und Schwächen des Selbst zurückzuführen (Kohut 1987). Das Selbst unterliegt nach Kohut eigenen Entwicklungsprinzipien. Für die Ausbildung eines gesunden und kritikfähigen Selbstgefühls sowie eines gesun- den Selbstwertes ist vor allem die Qualität der frühen interaktionellen Prozesse bedeutsam. Ein wichtiger Begriff, den Kohut einführt und der auch jenseits der Selbstpsychologie eine wichtige Erweiterung im psychodynamischen Verstehen darstellt, ist der des Selbstobjekts. Selbstobjekte sind all jene Objekte, die in ir- gendeiner Form für das Selbst bedeutsam und somit selbststrukturgebend bzw. -stabilisierend sind. So kann die Tochter für den Vater zum Selbstobjekt werden, weil ihm über seine Tochter wichtige Anteile seiner inneren Repräsentanz als gu- ter Vater gespiegelt werden. Der Vater wiederum kann Selbstobjekt für die Toch- ter werden, da er ihr ein Bild von einem liebenswerten und begabten Mädchen widerspiegelt. Neben wichtigen anderen Personen können beispielsweise auch Urkunden, Fanclubs oder Autos Selbstobjektfunktionen übernehmen. Ein inte- griertes und gesundes Selbst ist nicht frei von seinen Selbstobjekten, sondern kann sich hier in reife Abhängigkeit begeben und diese bewusst als selbststabilisierend erfahren. Ausgehend von diesen Überlegungen erweiterte Kohut das traditionelle Ver- ständnis von Übertragung, das bisher als Reinszenierung früherer verdrängter Be- ziehungen verstanden wurde und über den Vorgang der Deutung dem Patienten bewusst gemacht werden sollte. Das neue Übertragungsverständnis bedeutete eine Akzentverschiebung vom Einsichtspol zum Erlebnispol (vgl. Herold und Weiß 2000). Voraussetzung des Gelingens einer Psychotherapie im Sinne der Selbstpsy- chologie ist die Fähigkeit des Patienten, sich im Kontakt zu seinem Therapeuten auf Selbstobjektübertragungen einzulassen, d. h. seinen Therapeuten als Selbstob- jekt nutzen zu können. So wird ein Rahmen geschaffen, in dem über die befriedi- genden, aber auch frustrierenden Beziehungserfahrungen mit dem Therapeuten die Selbststrukturen des Patienten nachreifen können. Kohut (1987) unterscheidet drei Formen von Selbstobjektübertragungen: 2.3 Die zentralen Säulen der psychodynamischen Verfahren 33 Spiegelübertragung Ein Kind hat sich gestoßen und weint. Die Mutter nimmt das Kind auf den Arm und tröstet es und spiegelt dem Kind somit empathisch wider, was es gerade erleiden muss. Das Kind kann sich so über die Mutter in einem emotionalen Spiegel betrachten und fühlt sich dadurch aufgehoben und ver- standen. Im psychotherapeutischen Kontext bedeutet dies, das Selbsterleben des Patienten zu fördern, indem der Therapeut ihn spüren lässt, dass er emotional mit ihm mitgehen kann. Zwillingsübertragung/Alter-Ego-Übertragung Enkelin und Großmutter ste- hen nebeneinander in der Küche und backen gemeinsam Weihnachtsplätzchen. In dieser Szene erlebt die Enkelin, dass sie wie ihre Großmutter ist und Plätzchen backt. Dieses Erleben von Ähnlichkeit wird zu einer selbststützenden Erfahrung. So kann ein Patient im gemeinsamen Schweigen, was eben nicht automatisch Still- stand oder gar Widerstand im therapeutischen Prozess bedeuten muss, eine tiefe Verbindung und Gemeinsamkeit zu seinem Therapeuten spüren, was wiederum als selbststabilisierend erlebt wird. Idealisierende Selbstobjektübertragung Oft nutzen kleine Kinder ihre Eltern als idealisierende Selbstobjekte. Die Überzeugung, dass Mama und Papa die Bes- ten sind, stellt für die Kinder, die in einer Welt leben, in der sie so vieles noch nicht können und nicht verstehen, einen wichtigen Schutz, aber auch eine wichtige Selbstwerterhöhung dar. Denn so schlecht kann ein Kind nicht sein, wenn es so großartige Eltern hat. Im Laufe der Entwicklung baut das Kind eigene Selbststruk- turen immer weiter aus und kann es sich somit zunehmend leisten, die archaischen Selbstobjektübertragungen durch realistischere zu ersetzen. Mit diesen Überlegun- gen wird deutlich, dass der Vorgang der Idealisierung, der bisher aus der Perspek- tive der Abwehr verstanden wurde, eine völlig neue Bedeutung erhält, was sich auch im therapeutischen Verständnis niederschlägt. So sollte man als Therapeut die Idealisierung durch die Patienten nicht automatisch als eine Form der Abwehr deuten, sondern kann diese auch als einen ersten Schritt in Richtung Aufbau und Stabilisierung von Selbststrukturen verstehen. Wie im Fall der kindlichen Entwicklung beschrieben, wird sich der Patient über die Idealisie- rung des Therapeuten zunächst in seiner eigenen narzisstischen Bedürftigkeit sta- bilisieren können. Denn er muss schon ein sehr besonderer Patient sein, wenn er sich bei einem so großartigen Therapeuten in Therapie befindet. Im Verlauf des therapeutischen Prozesses, sobald ausreichend stabilisierende Selbststrukturen verfügbar sind, wird sich dann eine Phase der Entidealisierung einstellen, so dass 34 2 Psychodynamische Verfahren der Patient ein realistisches Bild von seinem Therapeuten, aber auch von seiner eigenen Person entwickeln und aufrechterhalten kann. Entsprechend ist das Therapieziel, die Patienten so weit zu bringen, dass diese ihr Selbst annehmen, abgespaltene Selbstanteile integrieren und die für den thera- peutischen Prozess notwendigen Projektionen und Übertragungen schrittweise lo- ckern können. Zentral für die therapeutische Arbeit ist das empathische Begleiten des Patienten in seinem unmittelbaren Erleben. Diese Erfahrung fördert eine Reor- ganisation des Selbst hin zu mehr Kohäsion und Lebendigkeit. Es ist völlig ausge- schlossen, dass ein Therapeut den Selbstobjektbedürfnissen der Patienten in vollem Umfang nachkommen kann. Eine gut dosierte Frustration dieser Wünsche bedeutet für den Patienten allerdings eine Mobilisierung des Aufbaus von Selbststrukturen. So entwickelt auch das zunächst noch abhängige Kind über solche Frustrationser- fahrungen, sofern die Dosis angemessen ist, zunehmend Autonomiebestrebungen. In der Selbstpsychologie verlagert sich der Schwerpunkt der Behandlung weg von der Sexualität und Aggression hin zur Sexualisierung und Aggressivisierung im Dienste der Aufrechterhaltung der Selbstkohäsion (Boll-Klatt 2014a). Es geht also nicht mehr um archaische, aus dem Unbewussten hervorbrechende und nicht zu kontrollierende Triebe, sondern um ein aktives Regulieren bzw. Verteidigen von Selbststrukturen. Einerseits wurde an der Selbstpsychologie die fehlende störungs- und behand- lungsbezogene Spezifität kritisiert, gleichzeitig muss sie heute als eine bereichernde Denkrichtung innerhalb des breiten Spektrums der psychodynamischen Schulen eingeordnet werden. Insgesamt weisen Menschenbild sowie Behandlungsansatz große Gemeinsamkeiten mit der Gesprächspsychotherapie nach C. Rogers auf (vgl. Abschn. 3.4.2). 2.4 Neuere Entwicklungen 2.4.1 Die Theorie der Intersubjektivität Die Theorie der Intersubjektivität hat sich in den 1980er-Jahren entwickelt und ist vor allem mit den beiden Namen G. E. Atwood und R. D. Stolorow (1942–) verknüpft. Interessanterweise entwickelte sich dieser Ansatz weder aus der prak- tischen psychoanalytischen Behandlungstätigkeit noch aufgrund der Auseinander- setzung mit bestehenden psychodynamischen Theorien. Vielmehr liegt der Grund- stein dieser Theorie in den psychobiografischen Arbeiten über S. Freud, C. G. Jung, W. Reich und O. Rank (Stolorow und Atwood 1979). Im Bemühen um ein Verständnis dieser unterschiedlichen Theorien machten die beiden Wissenschaftler 2.4 Neuere Entwicklungen 35 die Erfahrung, dass dieses nur unter Berücksichtigung der subjektiven Welt der jeweiligen Autoren erreicht werden kann, was wiederum zu der verallgemeinern- den Erkenntnis führte, dass psychologische Phänomene nur innerhalb ihres inter- subjektiven Kontextes verstanden werden können (Stolorow und Atwood 1996). Hieraus wiederum wurde die Notwendigkeit abgeleitet, dass die Psychoanalyse eine Theorie der Intersubjektivität benötige. Das Thema der Intersubjektivität in der Psychoanalyse ist allerdings keines- falls neu. Bereits Ferenczi betonte in den 1920er-Jahren, dass der Analytiker nicht abstinent und passiv bleiben sollte. Denn in der therapeutischen Situation ist auch der Therapeut mit seiner realen Persönlichkeit Teil des therapeutischen Prozesses. Gemeinsam mit Otto Rank propagierte er in der Schrift „Entwicklungsziele der Psychoanalyse“ (1924) eine aktivere Behandlungstechnik mit stärkerem persön- lichen Engagement des Psychoanalytikers. Die Dominanz S. Freuds mit seinem rigorosen Festhalten an der triebtheoretischen Perspektive ist wohl mit ein Grund, warum dieser intersubjektive Strang innerhalb der Psychoanalyse erst Jahrzehnte später wieder aufgegriffen werden konnte. Bei diesem noch recht jungen Ansatz, der innerhalb der Psychoanalyse auch als Paradigmenwechsel aufgefasst werden kann, handelt es sich um eine Weiterent- wicklung der Selbstpsychologie. Kohut legte den Fokus noch auf die Struktur des Selbst und leitete aus dieser intrasubjektiven Perspektive die Bedeutung des sozia- len Kontextes – und hier vor allem die frühen Bindungen – für die Entstehung und Ausformung der Selbststrukturen ab. In diesem Sinne stellt sich der Therapeut als reale Person mit seinem Beziehungsangebot zur Verfügung, um den Patienten ei- nen Rahmen zur Nachreifung der Selbststrukturen anzubieten. Allerdings verbleibt hier der Therapeut in seiner empathischen Zugewandtheit im Sinne der Selbstpsy- chologie weiterhin in einer Außenposition. Überzeugungen und Wahrnehmungen der Patienten betrachtet der Therapeut aus einer scheinbar objektiven Perspektive. Sie können somit als gesund oder neurotisch verzerrt eingeordnet werden. Der Therapeut nutzt hier den Mythos der vermeintlichen Objektivität und erhält so Si- cherheit in seinem Handeln (Orange et al. 2001). Mit der Theorie der Intersubjektivität findet nun eine Fokusverschiebung dahin- gehend statt, dass, wie auch die Säuglingsforschung bestätigt, die Intersubjektivität der Subjektivität vorausgeht. Das Selbsterleben ergibt sich also aus einem dyna- mischen Prozess des wechselseitigen Austauschs von Subjektivitäten. Intrapsychi- sche Strukturen und Dynamiken, die in der Selbstpsychologie noch zentraler Ge- genstand sind, spielen in dieser neuen Perspektive bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Der zentrale Bruch mit den bisherigen Vorstellungen der Psychoanalyse ist vor allem daran zu erkennen, dass die Vertreter der intersubjektiven Theorien die Vorstellung von einer autonomen Psyche für eine Illusion halten. 36 2 Psychodynamische Verfahren Das therapeutische Geschehen wird in dieser neuen Perspektive als eine kon- textabhängige Ko-Konstruktion zwischen Therapeut und Patient verstanden, der man sich nicht mit Begriffen wie neurotische Übertragung oder Wiederholungs- zwang nähern kann. In der bisherigen psychodynamischen Behandlung war die Vorstellung einer eindeutigen Subjekt-Objekt-Trennung bzw. -Beziehung unstrit- tig. Der Therapeut war klar in der Rolle des Experten mit bestimmten normativen Vorstellungen über den Behandlungsablauf und entsprechenden Interventionen. Der Analytiker mit seiner Deutungskompetenz war der Herrscher über den psy- chotherapeutischen Prozess (vgl. Ermann 2012). In der Vorstellung der Vertreter der Intersubjektiven Theorie finden Übertragungs- und Gegenübertragungspro- zesse sowohl im Patienten als auch im Therapeuten statt und bilden ein intersub- jektives System eines reziproken gegenseitigen Einflusses (Stolorow und Atwood 1996). Der therapeutische Fokus ist in diesem Ansatz vor allem auf die Beziehung zwischen Therapeut und Patient gerichtet. Es geht also darum, zu verstehen, was sich in der Begegnung zwischen Therapeut und Patienten im intersubjektiven Feld entwickelt. Die zentralen Methoden in der therapeutischen Arbeit sind vor allem die Empathie und die Introspektion. Nun stellt sich die Frage, ob dieser Ansatz überhaupt noch mit den bisherigen Prinzipien der psychoanalytischen Behandlung vereinbar ist. Stolorow und At- wood verstehen ihren Ansatz als eine psychoanalytische Psychologie der mensch- lichen Erfahrung, die sich von den metapsychologischen Verdinglichungen der klassischen Psychoanalyse befreit hat (Sassenfeld 2015). Vielleicht lassen sich diese Perspektiven dahingehend integrieren, dass der Behandlungsfokus der In- tersubjektivisten vor allem geeignet ist, basale Identitätsstörungen und defiziente Beziehungserfahrungen zu behandeln, während die klassische Psychoanalyse nach wie vor geeignet ist, reifere Konfliktstrukturen aufzulösen (Ermann 2012). 2.4.2 Relationale Psychoanalyse Die Relationale Psychoanalyse als eigenständige Strömung lässt sich als Ergebnis der Bemühungen verstehen, die zeitgenössischen psychodynamischen Therapien zu integrieren und unter einem Dach, welches „relational school“ genannt wurde, zusammenzufassen (Greenberg und Mitchell 1983). Dieser viel beachtete Versuch lief allerdings auf eine Polarisierung hinaus, da die einzelnen Theorien entweder dem Trieb-Struktur-Modell oder dem relational-strukturellen Modell zugeordnet wurden. Mit der dichotomen Aufteilung der zeitgenössischen psychoanalytischen Theorien gingen Greenberg und Mitchell aber noch einen Schritt weiter, da die beiden Positionen als inkompatibel dargestellt wurden. Von daher barg ihre Ar- 2.4 Neuere Entwicklungen 37 beit auch die Gefahr einer weiteren Zersplitterung der Psychoanalyse. Im ersten Modell ist die menschliche Natur vor allem durch die Triebe biologisch determi- niert und im zweiten Modell wird der Mensch als zunächst interpersonales Wesen betrachtet. Mitchell stellte später Untersuchungen zu den beiden triebtheoretisch zentralen Dimensionen Aggression und Sexualität an. Allerdings untersuchte er diese nicht aus einer triebtheoretischen, sondern aus einer relationalen Perspektive und arbeitete heraus, inwieweit diese an der Herstellung und Aufrechterhaltung der Beziehungsdynamik beteiligt sind. So wird Sexualität nicht als ein innerer Trieb verstanden, auch wenn dies so erlebt werden mag. Vielmehr ist Sexualität eine Reaktion auf ein inneres oder äußeres Objekt im relationalen Feld. Während in den triebtheoretischen Ansätzen die Nähe zur Biologie zentral ist, spielen biologische Aspekte in der Relationalen Psychoanalyse bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Das Selbst eines erwachsenen Menschen lässt sich weder mit einem Tier noch mit einem Säugling vergleichen. Es geht also nicht um die Befriedigung von Trieben, sondern darum, sich im relationalen Kontext auszudrücken, sich zu erschaffen und wieder zu erschaffen (Mitchell 1988). Die psychische Realität wird als eine relationale Matrix gesehen, die sich so- wohl aus dem intrapsychischen als auch aus einem interpersonalen Bereich zu- sammensetzt. Wie in der Theorie der Intersubjektivität entsteht die Individualität über die Bezogenheit. In diesem Sinne bilden verinnerlichte und konflikthafte Be- ziehungskonfigurationen die Basis der Psyche. Interpersonale Erfahrungen wer- den internalisiert und so in persönliche Erfahrungen umgewandelt, welche wieder Einfluss auf die weiteren interpersonalen Erfahrungen ausüben. Psychische Ge- sundheit bedeutet in der relationalen Theorie die Fähigkeit, sich flexibel auf un- terschiedliche Beziehungen einlassen zu können. Demnach entstehen psychische Störungen aus einer Starrheit, mit der an bestimmten Beziehungskonfigurationen festgehalten wird. Menschen klammern sich an pathologische Beziehungsmuster, da sie andere nicht erfahren konnten. Es sind also die ersten Beziehungserfahrun- gen, die eine Schablone bilden und somit die nachfolgenden Begegnungen kon- turieren und prägen. Hieraus leitet sich die therapeutische Haltung ab, die darin besteht, sich empathisch in die subjektive Welt des Patienten hineinzubegeben und ein Teil der relationalen Welt des Patienten zu werden. Ziel ist es, dem Patienten über die Beziehungserfahrung mit dem Therapeuten die aus der Kindheit stam- menden Beziehungsmuster zu erweitern. In der relationalen Therapie soll sich der Therapeut authentisch in die Beziehung mit dem Patienten einlassen und ihm so neue beziehungskorrigierende Erfahrungen ermöglichen. Die therapeutische Ar- beit lässt sich allerdings nicht auf den Aspekt einer existenziellen Begegnung redu- zieren, da sich der Therapeut parallel in ständiger Selbstreflexion befindet, um die Besonderheiten der gemeinsamen Begegnung zu ergründen. Ein völliges Novum 38 2 Psychodynamische Verfahren innerhalb der Psychoanalyse ist die Möglichkeit des Therapeuten zur Selbstent- hüllung. Es ist nicht zu übersehen, dass es zwischen der Intersubjektivistischen Theorie und der Relationalen Psychoanalyse große Gemeinsamkeiten gibt. Eine zentrale Gemeinsamkeit ist die Verabschiedung von der positivistischen Position, aus der heraus der Analytiker über das Privileg verfügt, eine objektiv gegebene Realität erkennen zu können. Beide, Analytiker und Patient, sind Ko-Konstrukteure einer gemeinsamen interpersonellen Realität. Der Verzicht auf inhärent intrapsychische Konstrukte erschwert die Konzeptionierung überzeugender Pathologiemodelle und lässt es auch nicht mehr zu, von psychopathologischen Konstrukten wie Depres- sion oder Persönlichkeitsstörung zu sprechen. Dies wiederum ist eine Position, die sehr an den systemischen Ansatz erinnert. Eine Abgrenzung dieser beiden Strömungen lässt sich am ehesten über deren Verhältnis zur Bedeutung der äußeren Realität bzw. Fantasie herstellen. Während die Intersubjektivisten klar zwischen Realität und Fantasie trennen, gehen die Ver- treter des relationalen Ansatzes davon aus, dass sich beide gegenseitig durchdrin- gen und potenziell bereichern (Mitchell 1998). 2.4.3 Mentalisierungsbasierte Psychotherapie Die mentalisierungsbasierte Psychotherapie wurde Anfang der 2000er-Jahre von den beiden englischen Psychoanalytikern Bateman und Fonagy entwickelt. Die Autoren betonen, dass es sich hierbei nicht um ein neues Verfahren, sondern um einen integrativen Ansatz handelt, der vor allem die neuesten Erkenntnisse der Ent- wicklungspsychologie berücksichtigt und daraus ein psychopathologisches Modell sowie konkrete therapeutische Interventionen ableitet. Ursprünglich wurde dieser Ansatz zur Behandlung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen entwickelt, die gerade hinsichtlich ihrer Mentalisierungsfähigkeiten enorme Defi- zite aufweisen. So zeichnen sich diese Patienten u. a. durch ihre Einschränkungen aus, eigenes affektives Erleben im Kontext eines sicheren internalisierten Bin- dungssystems wahrzunehmen und zu regulieren. Dieser Behandlungsansatz liegt in manualisierter Form vor und konnte durch mehrere Studien in seiner Wirksam- keit bestätigt werden (vgl. Fonagy und Luyten 2011). Heute wird die mentalisierungsbasierte Psychotherapie von Therapeutinnen und Therapeuten unterschiedlicher Richtungen für eine sehr breite Gruppe von Pa- tienten, deren psychische Störungen vor allem auf frühe Entwicklungsstörungen zurückzuführen sind, angewendet. Ausgangspunkt dieses Ansatzes sind die Erkenntnisse über die frühe mensch- liche Entwicklung vor allem im Hinblick auf die Qualität der psychischen Re- 2.4 Neuere Entwicklungen 39 präsentanzen der Umwelt, des sozialen Umfeldes sowie der eigenen Person. Vor allem in den ersten Lebensjahren ist der Aufbau einer inneren Welt von der Fein- fühligkeit und den adäquaten Spiegelungsprozessen der primären Bezugsperso- nen geprägt. Zunächst verfügt der Säugling nur über primäre Repräsentanzen von Erfahrungen und Emotionen in Form von körpernahen affektiven Zuständen, die weder bewusst sind noch reflektiert werden können. So wird der Säugling, der vor Hunger schreit, nicht parallel erstaunt sein, welche Wut gerade in ihm hochsteigt, da er noch nicht gefüttert wurde. Über die Fähigkeit der Eltern, das emotionale Erleben des Säuglings adäquat zu erfassen und ausreichend markiert zu spiegeln, wird die Voraussetzung für den Säugling geschaffen, selbst nach und nach eine eigene innere sekundäre Repräsentanz seiner Emotionen aufzu- bauen. Letztlich verinnerlicht er also die von außen gespiegelten Emotionen. Analog verhält es sich mit der Entwicklung des Selbst, welches eine Integration aus eigenen erfahrenen Erlebensmustern sowie die von bedeutsamen Anderen gespiegelten Vorstellungen über die Eigenschaften der eigenen Person darstellt. Entsprechend dieser durch entwicklungspsychologische Forschung bestätigten Annahmen (vgl. Fonagy et al. 2015) lässt sich der Satz von Decartes „Ich denke, also bin ich“ umformulieren in „Mutter denkt, dass ich bin, also bin ich“ (Allen et al. 2011). In dieser hochsensiblen interaktiven Dynamik entscheidet sich, wie gut ein Individuum seine Mentalisierungsfähigkeiten entwickeln wird. Die Qualität der Mentalisierungsfähigkeit wiederum entscheidet darüber, wie das Individuum sich selbst, seine Bedürfnisse und Emotionen, aber auch soziale Situationen, wie z. B. Konflikte, wahrnehmen, erleben und regulieren kann. Wächst ein Säugling in einer Umgebung auf, die von Gewalt- und Missbrauchserfahrungen geprägt ist, wird er nicht wagen, sich dafür zu interessieren, welches Bild die Bezugsper- sonen von ihm haben könnten. Ferner wird er auch kaum Interesse entwickeln, herauszufinden zu wollen, welche Intentionen hinter den jeweiligen Handlungen dieses gewalttägigen Umfeldes stehen. All dies wäre für ihn viel zu bedrohlich. So werden unter solchen Entwicklungsbedingungen die Selbstrepräsentanzen sehr blass bleiben, was in der Folge eine Unsicherheit hinsichtlich der eigenen Identität bedeutet. Das eigene emotionale Erleben kann nur wenig differenziert bewusst er- fahren werden und die Bewertung der Handlungen anderer werden in erster Linie über das Handlungsergebnis und nicht über deren jeweilige Handlungsintentionen vorgenommen. Wer zwischen Handlungsergebnis und Handlungsintention nicht differenzieren kann, wird z. B. nicht der Lage sein, beim Kassierer, der zu wenig Wechselgeld herausgegeben hat, anzunehmen, dass er dies aus Versehen getan ha- ben könnte. Menschen mit eingeschränkten Mentalisierungsfähigkeiten verfügen über nur wenige Freiheitsgrade, die Welt und sich selbst zu verstehen und zu in- terpretieren. 40 2 Psychodynamische Verfahren Kinder erleben in ihren ersten Lebensjahren die Umwelt im sog. Äquivalenz- modus. Die innere Repräsentanz der Umwelt wird als ihr direktes Abbild verstan- den. Das bedeutet, dass es nur eine korrekte Interpretation der äußeren Welt geben kann. In dieser frühen Entwicklungsphase sind die Selbststrukturen noch minimal ausgeprägt, was sich auch darin zeigt, dass die Kinder weder von sich in der ersten Person sprechen noch sich selbst im Spiegel erkennen können. Ab dem Alter von drei Jahren beginnen die Kinder, sich auf das Vorhandensein unterschiedlicher parallel bestehender Realitäten vorzubereiten. In dem sog. Als- Ob-Spiel kreieren Kinder soziale Situationen, in denen sie sich in unterschiedlichen Rollenspielen engagieren. Interessanterweise verwenden die Kinder sehr viel Zeit und Akribie darauf, diese Als-Ob-Welt klar von der realen Welt abzugrenzen. Eine Verschmelzung dieser beiden Welten würde auf diesem Entwicklungsniveau für sie viel zu bedrohlich werden. Diese Als-Ob-Spiele stellen eine wichtige Grundlage für die spätere Ausbildung von Mentalisierungsfähigkeiten dar. Hier versetzen sich die Kinder in die Situationen anderer Menschen und versuchen, deren Erleben und Verhalten im Rollenspiel darzustellen. Die im Als-Ob-Spiel erworbenen Fä