Zukunftsfähiges Wirtschaften PDF
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Dieses Dokument beleuchtet die Transformationen in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Es analysiert gegenwärtige Prozesse und betrachtet Ziele, normative und deskriptive Bedeutung von Transformationen. Es diskutiert verschiedene Transformationen, beispielsweise die Neolithische Revolution und die Industrielle Revolution, sowie gegenwärtige Transformationen wie Geopolitik und Ökologie, um Rahmenbedingungen für ein zukunftsfähiges Wirtschaften zu erörtern.
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© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 Teil 1: Multiperspektivität in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft 1. Gegenwärtige Transformationen Transformationen sind grundle...
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 Teil 1: Multiperspektivität in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft 1. Gegenwärtige Transformationen Transformationen sind grundlegende Veränderungen. In Zeiten des Um- bruchs finden solche Transformationen auf vielfältige Weise statt: gleichzeitig, nicht immer gleichmäßig und in unterschiedlichen Bereichen des Lebens und Wirtschaftens.1 Es sind evolutionäre, langfristige Prozesse, die hier und jetzt gestaltet werden können.2 Um die Potenziale der aktuellen Transformationen zu nutzen, braucht es zweierlei: eine Analyse der gegenwärtig stattfindenden Prozesse, d. h. des Ist-Zustands, und Klarheit über das Ziel der Transformation, d. h. den anzustrebenden Soll-Zustand. Deshalb unterscheiden wir eine de- skriptive (beschreibende) Bedeutung von Transformation (Ist-Zustand) von einer normativen (wertenden) Bedeutung, die auch den Zielhorizont (Soll- Zustand) vorgibt. 1.1. Eine Welt in Transformation Folgt man dem Wissenschaftlichen Beirat der deutschen Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen3 hat unsere aktuelle Umbruchssituation nur zwei vergleichbare Vorläufer. Eine erste grundlegende Transformation war die Neolithische Revolution, in der vor 7.000 bis 12.000 Jahren ein Übergang von einer nomadischen zu einer sesshaften Gesellschaft stattfand. Aus Jägern wur- den Bauern, aus Nomaden wurden Sesshafte. Mit Vorratshaltung und Urbani- sierung (Verstädterung) ging eine neue Form der Arbeitsteilung einher. Die zweite grundlegende Transformation war die Industrielle Revolution ab dem Ende des 18. Jahrhunderts, d. h. der Übergang von einer landwirtschaftlich dominierten Feudalgesellschaft zu einer industriell-städtischen Gesellschaft und einer kapitalistischen Wirtschaftsweise. Diese basiert auf neuen Energieträgern (insbesondere Kohle), neuen Technologien (insbesondere der Dampfma- schine), neuen Eigentumsrechten (Beschränkung des Gemeindelandes) und 17 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 neuen Sozialgesetzen (rigide „Armengesetze“, die die Armenfürsorge einge- schränkten und zur Erwerbsarbeit zwangen). Es bildete sich eine ungleiche internationale Arbeitsteilung heraus, die zu unterschiedlichen Entwicklungs- wegen im globalen Norden und im weiterhin landwirtschaftlich dominierten globalen Süden führte (vgl. S. 103). Beide Umbrüche waren keine abrupten politischen Revolutionen, die Machtverhältnisse schlagartig änderten, sondern evolutionäre Prozesse, die sich über längere Zeiträume erstreckten, an deren Ende jedoch eine grundle- gend andere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung stand. Der in Wien gebo- rene ungarisch-österreichische Sozioökonom Karl Polanyi4 († 1964) vergleicht dies mit einer Metamorphose, einem Formwandel, wie die Verwandlung einer Raupe in einen Schmetterling: Wiewohl es dasselbe Tier bleibt, unterscheiden sich Raupe und Schmetterling nach der Metamorphose in Erscheinung und Handlungsfähigkeit grundlegend. Polanyi spricht von Transformation, um der- artig grundlegende Veränderungen zu beschreiben.5 Dieses Buch untersucht drei Bereiche gegenwärtig stattfindender Transfor- mationen, die in Teil 3 genauer analysiert werden. Geopolitische Transforma- tionen umfassen Prozesse der De-/Globalisierung, die Krise der vom Westen dominierten Weltordnung und den Aufstieg des globalen Südens, v. a. Chinas. Gesellschaftspolitische Transformationen umfassen Veränderungen des Ar- beitsmarkts, des Sozialstaats und der Sozialstruktur sowie die Krise der Demo- kratie. Schließlich erweisen sich die ökologischen Transformationen und die damit verbundenen Veränderungen der Mensch-Natur-Beziehungen als für die Zukunft menschlicher Zivilisationen entscheidend. Die Vorhersagen zur Um- welt- und Klimakrise werden von Fachleuten ständig revidiert – und zwar zu- meist in eine Richtung: hin zur größeren Wahrscheinlichkeit bedrohlicher Sze- narien. Sprachen sie anfangs von „Klimawandel“, so wird der Begriff immer öfter durch „Klimakrise“, manchmal auch durch „Klimakatastrophe“ ersetzt. Es ist illusionär, darauf zu hoffen, dass es so bleiben kann, wie es ist. Busi- ness-as-Usual, ein „weiter so wie bisher“, ist angesichts sich verschärfender Krisen langfristig weder möglich noch wünschenswert. Gleichzeitig schwindet der Konsens über gemeinsame Zukunftsvorstellungen – innerhalb von Gesell- schaften und weltweit: In den Vereinigten Staaten (USA) leben Unterstützende der Demokraten und Republikaner zunehmend in unterschiedlichen Welten und die EU-Kommission und Ungarns Premier Orbán verbindet wenig. Und auch der Konflikt zwischen China und den USA wird sich in den kommenden Jahren eher zuspitzen. Diese Entwicklungen geben Anlass zur Sorge und näh- ren die Befürchtung, die Zukunft sei auch nicht mehr das, was sie einmal war. Optimismus und Zukunftsgewissheit, die Denken und Handeln vergangener Generationen bestimmten, scheinen abhandengekommen. Umbrüche gehen oftmals einher mit Krisen, in denen das Alte endet, etwas Neues aber noch nicht entstanden ist. Sie erscheinen vielen als Bedrohung, die 18 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 Gewohntes gefährdet. Krisen haben immer eine objektive und eine interpreta- tive Dimension.6 Sie existieren objektiv in-der-Welt: die Covid-19-Pandemie, Kriege, Pflegenotstand und Dürren sind reale Phänomene. Doch wiewohl sie objektiv existieren, interpretieren sie Menschen unterschiedlich. Ihre Komple- xität sowie unterschiedliche Vorerfahrungen führen zu konkurrierenden Kriseninterpretationen und unterschiedlichen Bewältigungsversuchen. Dies beeinflusst sowohl die Sicht auf die Welt als auch die jeweiligen Handlungs- möglichkeiten. 1.2. Transformationen gestalten Um gegenwärtig stattfindende Transformationen, den Ist-Zustand, zu gestal- ten, bedarf es eines Ziels, eines Soll-Zustands. Dieser fußt auf bestimmten Vor- stellungen, was wie sein soll. Das normative Konzept, das diesem Buch zugrunde liegt, beruht auf im Laufe des Buches genauer vorgestellten völker- rechtlichen Verpflichtungen sowie Erkenntnissen der Klimaforschung. Die so- zialökologische Transformation ist diesem Verständnis nach geglückt, wenn stattfindende Veränderungen zukunftsfähige Rahmenbedingungen stärken. Zukunftsfähigkeit definieren wir allgemein als die Fähigkeit, gegenwärtige Transformationen zu verstehen und zu gestalten, um ein gutes Leben für alle innerhalb ökologischer Belastungsgrenzen zu ermöglichen sowie Frieden und Demokratie zu verteidigen. Damit geht es bei Zukunftsfähigkeit um mehr als Nachhaltigkeit, ein Begriff, der unterschiedlich und teilweise auch diffus ver- wendet wird (vgl. Box Nachhaltigkeit).7 19 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 Nachhaltigkeit Der Begriff der Nachhaltigkeit kommt ursprünglich aus der Forstwirtschaft und bedeutet dort, nur so viele Bäume zu fällen, wie durch neue Pflanzungen wieder nachwachsen, sodass der Ertrag laufend gegeben ist und der Baumbestand nicht schrumpft. Nachhaltig- keit ist auf langfristige Entwicklungen ausgerichtet. Schwache Nachhaltigkeit basiert auf dem Drei-Säulen-Modell. Ökologie steht neben So- zialem und Wirtschaftlichem. Kosten und Nutzen in den drei Bereichen können gegen- einander aufgerechnet werden. Natürliche Ressourcen können demnach durch Human- und Sachkapital ersetzt werden. Sie sind austauschbar. Nachhaltig zu wirtschaften be- deutet demnach, die Summe aller Kapitalsorten (Natur-, Human- und Sachkapital) kon- stant zu halten und wenn möglich zu erhöhen. Starke Nachhaltigkeit basiert auf der Annahme, dass Wirtschaft und Gesellschaft in ökologische, exakter: biophysische, Prozesse eingebettet sind. Bestimmte ökologische Gegebenheiten (z. B. ein menschenfreundliches Klima) sind nicht in Geld bewertbar und können daher nicht gegen ökonomisches und/oder humanes Kapital aufgerechnet wer- den. Natürliche Ressourcen können demnach auch nicht durch Human- und Sachkapital ersetzt werden. Sie sind inkommensurabel, d. h. nicht vergleichbar, und nicht austausch- bar. Nachhaltig wirtschaften bedeutet demnach, Ökosysteme möglichst weitgehend zu erhalten. 20 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 1.2.1. Gestaltung von Rahmenbedingungen Wir gehen in diesem Buch von einem bestimmten Menschen- und Gesell- schaftsbild aus: Menschen sind soziale Wesen, abhängig von anderen und der sie umgebenden Um- bzw. Mitwelt. Sie sind auch autonome Individuen, wie- wohl ihrer individuellen Existenz gemeinsame Bedingungen zugrundeliegen. Menschen werden in eine bereits existierende Welt und in bestehende Rah- menbedingungen geboren bzw. sozialisiert. Wir unterscheiden daher Verhalten als individuelles Handeln innerhalb gegebener Rahmenbedingungen von Ge- stalten als einer Form der Zusammenarbeit, um gemeinsam Rahmenbedingun- gen zu verändern.8 Dies ermöglicht jeweils unterschiedliche Freiheiten (vgl. Box Negative und positive Freiheit).9 Negative und positive Freiheit Negative Freiheit wird nicht deshalb so genannt, weil etwas daran „negativ“ im Sinne von „schlecht“ wäre, sondern weil sie sich durch ein Ausschlusskriterium definiert: Solange es keinen (staatlichen) Zwang gibt, herrscht Freiheit. Negative Freiheit bezeichnet die Ab- wesenheit von Zwang. Sie garantiert, dass Verhalten nicht eingeschränkt wird. Ein Beispiel: Jemand ist dann frei, Fahrrad zu fahren, wenn Fahrrad fahren nicht verboten ist und er oder sie nicht durch Zwang davon abgehalten wird. Positive Freiheit bezeichnet die Freiheit, tatsächlich die Möglichkeit zu haben und er- mächtigt zu sein, etwas zu tun. Positive Freiheit definiert sich durch das Vorhandensein bestimmter Grundvoraussetzungen. Dazu zählen u. a. Kenntnisse, Fähigkeiten, Ressour- cen und Infrastrukturen. Gestalten, d. h. das gemeinsame Verändern von Rahmenbedin- gungen, ermöglicht positive Freiheiten, da es Handlungsspielräume für Verhalten festlegt. Ein Beispiel: Die Freiheit, Fahrrad zu fahren, ergibt sich dann nicht lediglich daraus, dass kein Zwang ausgeübt wird. Es bedarf auch der Fähigkeit, Fahrrad fahren zu können, des Zugangs zu einem Fahrrad, sicherer Fahrradwege und entsprechender Verkehrsregeln. Insbesondere drei Formen von Rahmenbedingungen strukturieren die Mög- lichkeiten und Grenzen zukunftsfähigen Wirtschaftens: Institutionen, Infra- strukturen und Diskurse.10 (1) Institutionen sind Ordnungs- und Regelsysteme, die das Zusammenle- ben von Menschen stabilisieren und lenken.11 Sie umfassen (i) staatlich-rechtli- che Ordnungen (z. B. Gesetze und Förderungen), (ii) soziale Normen (z. B. Was ist ein gesundes, was ein gutes Essen? Was macht gute Eltern aus? Wie viel Mitsprache hat die Belegschaft?) und (iii) kulturelle Werte (z. B. Wie wichtig sind Familie, Erfolg und Gerechtigkeit?) (2) Infrastrukturen sind sozialräumliche Strukturen. Raumbildende Infra- strukturen schaffen einen Raum mit festen Zentren für Kommunikations- und Austauschprozesse. Beispiele sind Parks sowie Infrastrukturen der schulischen Bildung, der Krankenversorgung und Pflege sowie des Wohnens. Raumüber- windende Infrastrukturen ermöglichen Kommunikations- und Austauschpro- zesse über Entfernungen. Beispiele sind Straßen sowie Infrastrukturen der Bahn und des Flugverkehrs. Manche Infrastrukturen wie das Internet sind „über- 21 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 räumlich“, d. h. Raum wird scheinbar aufgelöst, da Kommunikations- und Austauschprozesse prinzipiell überall stattfinden können.12 Infrastrukturen beeinflussen, wie Menschen alleine und gemeinsam ihr Leben (nicht) gestalten können und welche wirtschaftlichen Aktivitäten (nicht) möglich sind. Beson- ders in Krisenzeiten zeigt sich, dass zwei Arten von Infrastrukturen essenziell für Wirtschaften und Alltag sind. Diese werden oft auch als kritische Infra- strukturen bezeichnet, denn ihr Ausfall gefährdet Versorgung und Sicherheit: (i) Materielle Infrastrukturen umfassen u. a. Netzinfrastrukturen für die Ener- gie-, Strom- und Wasserver- und -entsorgung, Telekommunikationsdienste, Transport- und Mobilitätssysteme. (ii) Wohlfahrtsstaatliche Infrastrukturen umfassen u. a. Bildungseinrichtungen, Pflege- und Gesundheitsversorgung.13 Schließlich interagieren Infrastrukturen immer mit Institutionen: So kann Pflege privatwirtschaftlich mit dem Ziel der Profitmaximierung bereitgestellt werden oder Gesetzen unterliegen, die Pflegebetreiber zur Gemeinnützigkeit verpflichten.14 (3) Diskurse sind sprachliche Praktiken der Sinnstiftung. Als soziale Kon- struktionen der Wirklichkeit sind sie Anordnungen von Ideen und Argumen- ten, die Wirklichkeit aus bestimmten Perspektiven, mit bestimmten Interessen und Werthaltungen strukturieren. Diskurse beeinflussen, wie Wirklichkeit wahrgenommen wird und welche Handlungsoptionen sich dadurch ergeben. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen (z. B. Biodiversität, Migration, Globalisierung) und setzen sie auf konkrete Art und Weise in den Kontext. 1.2.2. Gestaltende Akteure Die wesentlichen Akteure, die durch gemeinsames, koordiniertes und zielge- richtetes Handeln Rahmenbedingungen gestalten können, sind öffentliche Entscheidungstragende, private Unternehmen, Haushalte und Zivilgesell- schaft.15 (1) Öffentliche Entscheidungstragende haben Kompetenzen, die ihnen von der Verfassung zugesprochen werden. Sie sind befugt, politische Rahmen- bedingungen, insbesondere Gesetze, Verordnungen und Budgets, festzulegen. In europäischen Demokratien umfassen sie auf nationaler Ebene die Bundes- und Landesregierung (Exekutive) und Gesetzgebung (Parlament) sowie auf EU- Ebene den Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission. Weiters haben auch Gemeinden politische Handlungsspielräume. Große Be- deutung kommt auch der Gerichtsbarkeit zu, bis hin zum Europäischen Ge- richtshof (EuGH) und nationalen Höchstgerichten. Öffentliche Einrichtungen verfügen über Ressourcen und Personal, um Entscheidungen zu treffen und umzusetzen. Bedeutsam sind Bundes-, Landes- und Gemeindeverwaltungen, Selbstverwaltungskörper (z. B. Sozialversicherungsträger und Kammern), auto- 22 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 nome Einrichtungen (z. B. Universitäten) und Behörden (z. B. Regulierungsbe- hörden). Sie alle legen Rahmenbedingungen für private Akteure fest, z. B. na- tionale Parlamente für Menschen und Unternehmen innerhalb des National- staats, die EU-Institutionen für die EU-Mitgliedsstaaten oder Universitäten für Studierende. (2) Private Unternehmen sind Organisationen, die Güter und Dienstleis- tungen bereitstellen. Sie sind entweder natürliche Personen (Einzelunterneh- men) oder juristische Personen privaten Rechts (Kapitalgesellschaften), die innerhalb eines rechtlichen Rahmens agieren und mit Investitionen, Innovatio- nen, Standortwahl, Geschäftsmodellen, Preis- und Produktgestaltung und im Umgang mit der Belegschaft und anderen Stakeholdern (Anspruchsgruppen) selbst wirtschaftliche Rahmenbedingungen für andere (z. B. Konsument:innen, Belegschaft, Zulieferunternehmen) schaffen. Die heute bestimmenden Unter- nehmen sind sogenannte transnationale Unternehmen, die weite Teile globaler Produktionsnetzwerke kontrollieren. Wichtige Privatunternehmen sind auch kommerzielle Medien, die die öffentlichen Diskurse beeinflussen. (3) Haushalte sind der Raum der als privat definierten Lebensgestaltung, in dem die Haushaltsmitglieder ihr alltägliches Handeln organisieren (z. B. Haus- haltsführung, Kinderbetreuung) und Konsumentscheidungen treffen. Sie sind Basiseinheiten des Wirtschaftens.16 Ihr Möglichkeitsraum hängt stark von politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab – z. B.: Gibt es leist- bare Kinderbetreuung? Wo werden welche Arbeitsplätze angeboten? (4) Zivilgesellschaft definiert die Gesamtheit von Zusammenschlüssen von Menschen, die weder dem Staat (öffentliche Entscheidungstragende), dem Markt (private Unternehmen) noch dem Privatbereich (Haushalte) zuzuordnen sind. Zivilgesellschaftliche Vereinigungen wollen gemeinsam bestimmte, manchmal miteinander konkurrierende Zwecke erreichen: von der sportlichen und künstlerischen Betätigung bis zur Mitarbeit in der Flüchtlingshilfe und in Burschenschaften. Dazu zählen Vereine, NPOs (Non-Profit-Organisationen) und soziale Bewegungen. Die Zivilgesellschaft ist eine Säule liberaler Demokra- tien und tritt sowohl in der Rolle des sozialinnovativen Dienstleisters (z. B. Energiegenossenschaften, Repair-Cafés) als auch als politischer und öffentlicher Akteur (z. B. bei Demonstrationen) auf. Ihre Stärke ist, innovative Lösungen zu finden, wenn Staat und Markt versagen, sowie öffentliche Diskurse zu beein- flussen. Manchmal problematisiert sie aktuelle Entwicklungen und leistet Wi- derstand gegen (vermeintliche) Fehlentwicklungen, v. a. gegen staatliche Maß- nahmen. Darüber hinaus schafft sie im Zwischenraum zwischen öffentlicher und privater Sphäre Rahmenbedingungen für das Agieren ihrer Mitglieder (z. B. Verhaltensregeln für Vereinsmitglieder). Nicht alle Akteure können den eben genannten Akteursgruppen trenn- scharf zugeordnet werden. Dies trifft insbesondere auf Interessenvertretungen wie Gewerkschaften und Lobbying-Institutionen zu, deren Stellung und Ein- 23 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 flussmöglichkeiten u. a. auf der Verankerung in Politik (z. B. Parteien), Wirt- schaft (z. B. Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Wirtschaftszweige) und Zivilgesell- schaft (z. B. bestimmte Initiativen) beruhen. Innerhalb eines gegebenen Rahmens entscheiden alle Akteure weitgehend selbst, was sie wie tun wollen. Die Möglichkeit, andere zu einem bestimmten Handeln zu bewegen, manchmal auch zu zwingen, definieren wir als Macht.17 Damit ist Macht nicht schlecht, sondern Voraussetzung für Handlungsfähig- keit. Doch sie ist ungleich verteilt. Es bleiben aber für alle Akteure Spielräume, Macht einzusetzen. Diese gilt es zu nutzen: öffentliche Entscheidungstragende können Gesetze erlassen und öffentliche Mittel verteilen; eine Universität ge- staltet Lehrpläne; private Unternehmen standardisieren den Umgang mit Lie- ferfirmen und Belegschaft; ein Verein setzt Verhaltensregeln für Mitglieder. Zusammengefasst: Wiewohl es wünschenswert ist, sich innerhalb bestehen- der Rahmenbedingungen verantwortungsvoll zu verhalten, ist es bedeutsamer, dass mehr und mehr Akteure beginnen, über Rahmenbedingungen nachzuden- ken und diese zu verändern. Zukunftsfähiges Handeln besteht vorrangig darin, Rahmenbedingungen koordiniert und zielgerichtet zu gestalten. Das mag am- bitioniert erscheinen und die eigenen Möglichkeiten übersteigen. Doch noch vor 200 Jahren wurde die Forderung, den Handel mit versklavten Personen abzuschaffen, vielfach als unrealistisch abgewiesen. Noch vor kaum mehr als 100 Jahren verhaftete die Polizei Frauen für deren Forderung nach ihrem Wahlrecht. Und heute wird eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die alle Menschen mit den notwendigen Gütern und Dienstleistungen versorgt und gleichzeitig die ökologischen Grundlagen nicht zerstört, oft als Wunschdenken oder wirtschaftsfeindliche Utopie abgelehnt. Wie in der Bewegung zur Ab- schaffung der Sklaverei und der Stärkung der Frauenbewegung braucht es auch heute den Mut, mit neuen Rahmenbedingungen zu experimentieren. Zum Nachdenken und gemeinsamen Gestalten zu ermutigen, ist ein Ziel dieses Bu- ches. 24 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 2. Perspektiven als „Brillen“ Immer wieder wird es in diesem Buch darum gehen, einseitige Sichtweisen zu überwinden. Eine große Gefahr für Zukunftsfähigkeit ist Dogmatismus, d. h. ein unumstößlicher Wahrheitsanspruch, der oftmals daher rührt, eine Perspek- tive absolut zu setzen und als die einzig wahre zu präsentieren. Doch dogmati- sches und eindimensionales Denken und Handeln ist einem Denken und Han- deln unterlegen, das verschiedene Perspektiven berücksichtigt. Multiperspekti- visches Denken ist daher eine zentrale Kompetenz zukunftsfähigen Wirtschaf- tens. Zwei Beispiele: Ein Unternehmen, das nur den Gewinn maximiert, kann an Problemen bei Lieferketten, Cash-Flow und Mitarbeiterzufriedenheit schei- tern. Einer Volkswirtschaft, die ihre ökologischen Grundlagen zerstört, nützt Wirtschaftswachstum wenig. Es gibt keinen „Blick von nirgendwo“, keinen Blick ohne Perspektive. Die- ser liegt außerhalb unserer menschlichen Fähigkeiten. Die menschliche Wahr- nehmung hat nicht die Möglichkeit, objektive (unvoreingenommene), neutrale (unabhängige) und universale (allgemeine, immer und für alle gültige) Dar- stellungen unserer Welt zu liefern.18 Unsere Ausbildung, das soziale und kultu- relle Umfeld, die Sprachen, die wir sprechen, der Freundeskreis, dem wir ange- hören, unsere materiellen Lebensumstände und Erfahrungen – all dies beein- flusst, was und wie wir die Welt wahrnehmen. Aus unterschiedlichen Erfah- rungen, Werthaltungen und Interessen leiten sich unterschiedliche Strategien und Handlungen ab, um sich in der Welt zurechtzufinden, ihr einen Sinn zu geben. Perspektiven haben Ähnlichkeit mit „Brillen“: Manche Brillen erleich- tern die Sicht in die Ferne, auf das große Ganze. Andere erlauben, das Kleinge- druckte, die Details zu identifizieren. Es gibt Brillen, durch die manches rosa- rot, farbenfroh und schön, anderes grau oder gar schwarz-weiß gesehen wird. So zeigt psychologische Forschung, dass sich der Blick von Menschen, die ge- genüber Einwanderung tendenziell skeptisch eingestellt sind, vorrangig auf Schlagzeilen misslingender Integration richtet, während Menschen, die Diver- sität als bereichernd erleben, eher Beispiele erfolgreichen Zusammenlebens wahrnehmen.19 Durch dieses als „selektive Wahrnehmung“ bezeichnete Phäno- men verstärkt sich der Eindruck, die eigene Perspektive sei richtig und wahr – durch die Entstehung von Filterblasen in Social Media hat sich dieses Phäno- men zugespitzt. Dass unsere subjektiven Erfahrungen immer aus einer be- stimmten Perspektive erfolgen, bedeutet jedoch nicht, die Welt ließe sich belie- big interpretieren. Es gibt Grenzen der Multiperspektivität (vgl. S. 78). In der Wissenschaftstheorie werden Perspektiven auch als Paradigmen oder Denkkollektive bezeichnet. Im Folgenden stellen wir das Konzept des Denk- kollektivs vor, welches vom polnischen Physiker und Wissenschaftsphilosoph Ludwik Fleck20 Jahrzehnte früher entwickelt wurde als das von Thomas Kuhn21 25 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 entwickelte, bekanntere und verwandte Konzept des Paradigmas. Fleck wurde 1896 in Polen geboren und starb 1961 in Israel. 1944 wurde er in das Konzen- trationslager Buchenwald deportiert und sollte dort einen Impfstoff gegen Ty- phus entwickeln. Als ihm dies gelungen war, lieferte er allerdings der SS, die den Massenmord in den Konzentrationslagern organisierte, nur ein Placebo. Das echte Medikament verteilte er an Mithäftlinge.22 Er besaß Wissen und v. a. Mut, und verband dies mit Verantwortung für die Menschen. Damit prakti- zierte er, was er gleichzeitig als Theorie entwickelte, nämlich die Werte- und Kontextabhängigkeit von Denken. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten stellte sich Fleck gegen ein Bild von Wissenschaft, wonach Wissen objektiv, neutral und universal sei. Seine These: Produktion und Verwertung von Wissen finden in bestimmten Umgebungen statt, was ihre jeweilige Bedeutung, Bewertung und Wirksamkeit beeinflusst. In Konzentrationslagern wird Wissen anders eingesetzt als in NGOs, in For- schungs- und Marketingabteilungen von Firmen anders als in Verwaltungsbe- hörden und Universitäten. Wissen und seine Anwendung sind immer einge- bettet in Institutionen und Machtstrukturen. Auch Wissenschaftler:innen sind von ihrem Umfeld und Vorwissen beeinflusst und erkennen Dinge auf Grund- lage erlernter Konzepte und bestimmter Vorgangsweisen (Methoden). Mit Hilfe eines gemeinsamen Denkstils „teilt“ eine Gruppe von Menschen eine Art zu denken, eine bestimmte Perspektive, bestimmte Konzepte und Methoden. Ob in einer Scientific Community oder in Social Media Foren, ein Denkstil wird durch Interaktion mit anderen erlernt und angepasst. Menschen gehören bewusst oder unbewusst bestimmten Denkkollektiven an, welche ein und denselben Denkstil teilen, also bestimmte Konzepte, Theorien und Metho- den, aber auch Interessen, Werte und Vor-Urteile. Sie verwenden eine „Brille“, die ihnen hilft, bestimmte Dinge zu sehen, während anderes ausgeblendet bleibt. Denkkollektive sind konservativ im eigentlichen Wortsinn, d. h. sie leis- ten Widerstand gegen Änderungen und Weiterentwicklungen ihrer Art zu denken. Fleck betont, dass Menschen oftmals grundlegend unterschiedlich denken, argumentieren und verstehen. Daher fällt es Menschen, die unter- schiedlichen Denkkollektiven angehören, schwer, Gedankengänge anderer nachzuvollziehen. Angehörigen eines Denkstils fehlt oftmals die Fähigkeit, Phänomene, die den Erklärungen ihres Denkstils widersprechen, wahrzuneh- men. Werden sie doch wahrgenommen, dann werden sie oft als unbedeutend abgetan oder geleugnet: So leugneten kirchliche Autoritäten die Erkenntnisse Galileis, und einflussreiche Schwedische-Reichsbank-Preisträger, bekannt als sogenannter „Wirtschaftsnobelpreis“, behaupteten noch kurz vor der großen Finanzkrise 2008, dass in Marktwirtschaften bei passender Regulierung keine systemgefährdenden Instabilitäten auftreten. Da keine Perspektive, kein Denkkollektiv und keine Theorie alleine die ge- samte Wirklichkeit erklärt, gibt es auch kein Vorzeigemodell, kein Patentrezept 26 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 für zukunftsfähiges Wirtschaften. Erneuerbare Energieträger alleine lösen die Klimakrise ebenso wenig wie bessere Kleinkinderbetreuung verfestigte Ge- schlechterungleichheiten überwindet – auch wenn diese Einzelmaßnahmen wichtige Stellschrauben zur Lösung der jeweiligen Probleme sind. Es ist daher sinnvoll, verschiedene Theorien, Modelle und Ansätze zu kennen. Sie liefern unterschiedliche Sichtweisen und bereichern damit das Problembewusstsein und in der Folge die Handlungsfähigkeit. Sie führen zu unterschiedlichen wirt- schaftspolitischen Empfehlungen und eröffnen verschiedene Wege der Pro- blemlösung. 2.1. Theorieschulen in der Ökonomik Wirtschaftswissenschaft (Ökonomik) liefert Theorien, um Wirtschaft (Ökono- mie) zu verstehen und zu erklären. Theorien prägen unsere Art zu denken, unser Menschen-, Gesellschafts- und Weltbild und dadurch unser Handeln. Im Folgenden werden einige ökonomische Theorieschulen kurz vorgestellt. Als Grundlage dazu dienen uns die Arbeiten von Ha-Joon Chang,23 Ernesto Scre- panti und Stefano Zamagni,24 Ulrike Knobloch,25 Erik Reinert, Jayati Gosh und Rainer Kattel,26 Johannes Jäger und Elisabeth Springler27 sowie das Web-Projekt Exploring Economics des Netzwerks Plurale Ökonomik.28 Jede der folgenden Theorieschulen sowie deren zentralen Argumente sind aus der Sicht ihrer je- weiligen Vertreter:innen formuliert. Wirtschaftliche Entwicklungstheorien Wirtschaftliche Entwicklungstheorien sind kontextbezogen, d. h. für eine kon- krete Problemlösung entstanden und nicht einfach verallgemeinerbar. Sie un- tersuchen zumeist in Fallstudien, unter welchen Bedingungen Wirtschaften florieren. Im deutschen Sprachraum verfolgte die Historische Schule der Natio- nalökonomie diesen Ansatz, zu deren Hauptvertretern u. a. Gustav von Schmol- ler († 1917) zählt.29 Sie untersuchte im 19. Jahrhundert, wie Kultur, Institutio- nen, Klima und Geschichte zu unterschiedlichen ökonomischen Entwicklungen und wirtschaftspolitischen Strategien führen. Wirtschaftliche Entwicklungs- theorien widmen sich den Unterschieden zwischen Ländern, aber auch zwi- schen Stadt und Land. Eine Kernthese dieser Ansätze ist, dass industrielle Produktion steigende Skalenerträge ermöglicht, während es bei landwirt- schaftlicher Produktion tendenziell zu fallenden Skalenerträgen kommt. Anders ausgedrückt: In der Industrie können wegen sinkender Fixkosten (aufgrund höherer Auslastung der Maschinen) größere Mengen pro Stück billiger produ- ziert werden. Auf landwirtschaftlichen Flächen sinkt hingegen der Ertrag bei Übernutzung. Daraus folgt, dass Städte, Regionen und Länder, die sich auf Pro- duktionsmöglichkeiten mit steigenden Skalenerträgen konzentrieren, denen überlegen sind, die sich auf jene mit sinkenden Skalenerträgen spezialisieren. 27 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 Dies liefert gleichermaßen Erklärungen für die ungleiche internationale Ar- beitsteilung zwischen globalem Norden und globalem Süden als auch für das Stadt-Land-Gefälle. Wichtiger als wohlhabend zu sein, ist es demnach, Wohl- stand „produzieren“ zu können. Im Kolonialismus wurde es Kolonien untersagt, sich zu industrialisieren. So etablierte sich die klassische internationale Arbeitsteilung: Der globale Norden produzierte Industriegüter und fortgeschrittene Dienstleistungen, Afrika und Lateinamerika exportierten Rohstoffe, Bodenschätze und landwirtschaftliche Produkte. Trotz politischer Unabhängigkeit bestehen in Afrika und Lateiname- rika neokoloniale Strukturen bis heute fort. Diese erschweren es den ehemali- gen Kolonien, nicht länger einzig Lieferant von Rohstoffen und Bodenschätzen zu bleiben. Um dem Teufelskreis von Unterentwicklung zu entkommen, braucht es eine eigenständige Wirtschaftspolitik, die nationale Produktion, insbesondere auch industrielle Fertigung, fördert, um mit steigenden Skalen- erträgen zu produzieren. Dafür können auch protektionistische Maßnahmen, die die inländischen Produzenten vor ausländischer Konkurrenz schützen, gesetzt werden. Dem Staat kommt die wichtige Aufgabe zu, Wohlstand, Sicher- heit und Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen. Klassische Nationalökonomik als politische Ökonomik Die klassische Nationalökonomik versteht sich als politische Ökonomik, die das Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik untersucht. Zentrale Vertreter sind Adam Smith († 1790), David Ricardo († 1823) und Jean-Baptiste Say († 1832).30 Diese Theorieschule sieht den Menschen als soziales Wesen, dessen gemein- same Arbeit den Wohlstand der Nationen schafft. Durch Arbeitsteilung erhöht sich die Produktivität, was zu Wirtschaftswachstum führt. So verdrängt die Marktwirtschaft die Produktion für den Eigenbedarf (Subsistenz) und die Pro- duktion in Fabriken das Handwerk. Auch international schafft Arbeitsteilung Wohlstand für alle beteiligten Länder. Gemäß Ricardos Theorie der komparati- ven Kostenvorteile lohnt sich der Warenaustausch zwischen zwei Ländern selbst dann, wenn ein Land alle Güter mit geringerem Aufwand herstellen könnte als das andere. Dass Industrieländer Maschinen und Entwicklungsländer Rohstoffe verkaufen, steigert demnach den Wohlstand in beiden Ländern. Die klassische Nationalökonomik analysiert den Produktionsprozess. Die drei großen Klassen der Grundeigentümer, Kapitalisten und Arbeiter erzielen ihr Einkommen aus unterschiedlichen Quellen: Bodenrente, Profit und Lohn. Daraus leiten sich für die Mitglieder einer Klasse gemeinsame und zwischen den Klassen unterschiedliche Interessen ab. Im Mittelpunkt stand anfangs der Konflikt von Grundbesitzern, die, wie Smith bemerkte, „ernten, wo sie nicht gesät haben“, und denjenigen, deren Arbeit den Wohlstand der Nationen schafft.31 Im Laufe des 19. Jahrhunderts rückte der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital ins Zentrum. 28 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 Die klassische Nationalökonomik unterscheidet in Anlehnung an Aristote- les († 322 v. Chr.) zwischen dem Gebrauchs- und dem Tauschwert von Waren. Der Gebrauchswert bezeichnet die Nützlichkeit von Dingen, um bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen. So ist der Gebrauchswert einer Wohnung, dass sie ein Dach über dem Kopf bietet. Demgegenüber bezeichnet der Tauschwert einer Wohnung den Geldwert, der am Markt für sie erzielt wird. Die klassische Nationalökonomik begründete den Wirtschaftsliberalismus mit seiner zentralen Forderung nach mehr wirtschaftlichen Freiheiten für die produzierenden Klassen. Das Say’sche Gesetz besagt, dass Marktwirtschaften selbstregulierende Systeme sind, weshalb jedes Angebot Nachfrage findet. Wirt- schaftskrisen entstehen einzig durch vermeintlich außerwirtschaftliche Fakto- ren wie Kriege und Pandemien. Auch staatliche Eingriffe sind demnach künstliche Eingriffe in die liberale Wirtschaftsordnung. Laissez-faire, staatliche Nicht-Einmischung (das ungehinderte „Laufen-Lassen“ des Marktes gleichsam als Naturereignis), ist folglich die beste Wirtschaftspolitik. Marxistische politische Ökonomik Basierend auf den Schriften von Karl Marx († 1883)32 untersucht die marxisti- sche politische Ökonomik Produktionsweisen, die sich einerseits aus Produk- tivkräften, z. B. Technologien und Infrastrukturen, und andererseits aus Pro- duktionsverhältnissen, z. B. Gesetzen und anderen institutionalisierten Rege- lungen, zusammensetzen. Historisch gab es u. a. die Produktionsweise der Skla- verei, des Feudalismus und aktuell die kapitalistische Produktionsweise, in der die Klasse der Kapitalisten Produktionsmittel besitzt und jene der Arbeiter keine, weshalb letztere gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Die Arbeiterklasse wird ausgebeutet, weil mit dem ausgezahlten Lohn nicht der gesamte Wert der geleisteten Arbeit entschädigt wird. Mehrwert wird von der Klasse der Kapitalisten angeeignet. Die Folge ist Widerstand, d. h. Klassen- kämpfe, z. B. in Form von Streiks, Sozialreformen und Revolutionen. Das Ziel kapitalistischen Wirtschaftens ist nicht, Grundbedürfnisse zu be- friedigen, sondern zu verkaufen, was sich verkaufen lässt (Anarchie der Pro- duktion) – Apple entwickelt nicht laufend neue iPhones, weil es zu wenig Tele- fone gibt, sondern weil das Unternehmen Profit erzielen muss. Die Notwen- digkeit, Profite zu erwirtschaften, ist dem Kapitalismus systemimmanent. Dies kann nicht nur in Konflikt mit Gebrauchswerten treten (z. B., wenn Wohnen nicht mehr leistbar ist), es kann auch zu Krisen führen, weil Unternehmen zu viel produzieren (Überproduktionskrise) und Produziertes keinen Absatz fin- det, wodurch Kapital zumindest kurzfristig keine rentablen Anlagemöglichkei- ten findet (Überakkumulationskrise). Krisen können im Kapitalismus nicht vermieden werden, oft werden sie aber in die Zukunft verschoben. Kapital- umschichtung (capital switching) bezeichnet z. B. die Veranlagung von Gewin- nen von Industrieunternehmen am Finanz- und Immobilienmarkt.33 Das ist bei 29 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 niedrigen Renditeerwartungen in der Realwirtschaft attraktiv. Das Resultat der Kapitalumschichtung sind z. B. steigende Boden- und Immobilienpreise (eine Steigerung des Tauschwerts) und ein Rückgang an leistbarem Wohnraum (Gebrauchswert). Diese Inflation (Preissteigerung) von Finanz- und Immobilien- anlagen kann zu Finanz- und Immobilienblasen und in Folge zu Finanz- und Immobilienkrisen führen – wie zuletzt 2008. Neoklassik Die Neoklassik – aufbauend u. a. auf den Arbeiten von William Jevons († 1882), Leon Walras († 1910) und Alfred Marshall († 1924) – ist seit Ende des 19. Jahr- hunderts bis heute die dominante ökonomische Theorieschule.34 Sie beschäftigt sich mit der Allokation (Zuteilung) knapper Ressourcen und grenzt sich damit von der bis dahin bestimmenden politischen Ökonomik ab. Die zentralen Me- thoden sind mathematische, Ziel ist die Optimierung. Grundkurse der Neo- klassik gehen vom nutzenmaximierenden Individuum (homo oeconomicus) aus, das rationale Entscheidungen zum eigenen Vorteil trifft. In fortgeschrittenen Kursen wird mit realitätsnäheren Modellen gearbeitet. So zeigt die Verhaltens- ökonomik, die psychologische Erkenntnisse in die neoklassische Ökonomik integriert, dass Menschen oftmals nicht egoistisch agieren. Aber auch in diesen Modellen erklärt sich das Wirtschaftsgeschehen aus dem Verhalten einzelner Individuen (methodologischer Individualismus), die als Konsument:innen auf Märkten tauschen. Die Neoklassik untersucht Tauschwirtschaften. Wirtschaften reduziert sich auf Marktwirtschaften, denn auf Märkten kann alles mit allem getauscht wer- den. Zwischen verschiedenen Wirtschaftsbereichen wird nicht unterschieden. Sorgearbeit und Hedgefonds-Management sind vergleichbar, der Bildungs- bereich folgt der gleichen Logik wie die IT-Branche, auf Güter- und Geldmärk- ten wird gleichermaßen rational gehandelt. Komplexere neoklassische Modelle beschäftigen sich mit Marktversagen, sei dies durch Monopolmärkte oder durch Externalitäten. Letztere werden von Akteuren verursacht, ohne dass diese die entstehenden Kosten tragen (negative Externalitäten wie Umweltverschmutzung). Oder Akteure genießen einen ent- stehenden Nutzen, zu dem sie nichts beigetragen haben (positive Externalitäten wie eine private Grundstücksaufwertung durch einen neuen U-Bahn An- schluss). Werden Externalitäten nicht berücksichtigt, kommt es zu falschen Preis- und Knappheitssignalen. Das Marktoptimum entspricht dann nicht dem sozialen Optimum. Dies kann mit Hilfe des Verursacherprinzips behoben werden, indem die externen Kosten von denen getragen werden, die sie verur- sachen (z. B. dem Schadstoff ausstoßendem Unternehmen), bzw. der externe Nutzen jenen zugutekommt, die diesen geschaffen haben (z. B. der Gemeinde, die den U-Bahn Ausbau finanziert), etwa durch Steuern oder andere Beprei- sungen. Dies erlaubt einen effizienten Einsatz von Ressourcen, erfordert aber 30 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 gleichzeitig die Kommodifizierung, d. h. das Zur-Ware-machen, von vormals nicht wirtschaftlichen Lebensbereichen, von Grund und Boden bis hin zu Luft und Wasser. Ihnen wird ein Preis zugewiesen, um sie am Markt optimal aus- tauschbar zu machen. Österreichische Schule Für die österreichische Schule der Nationalökonomik, deren zentrale Vertreter Ludwig Mises († 1973) und Friedrich Hayek († 1992) sind, sind Märkte, Eigen- tum und Wettbewerb die effizientesten wirtschaftlichen Institutionen.35 Sie setzten sich in einem langen kulturellen Evolutionsprozess als beste durch und bilden eine spontane Ordnung (kosmos), die im Westen am weitesten entwi- ckelt ist. Diese Ordnung minimiert staatliche Verbote und maximiert individu- elle Freiheit, verstanden als negative Freiheit (vgl. S. 21). Der Markt ist die effizienteste Informationsverarbeitungsmaschine. Dem- nach ist es eine Anmaßung von Fachleuten und Menschen aus der Wissenschaft, mit rationalen Methoden Märkte zu begrenzen oder externe Effekte zu inter- nalisieren. Rohstoffbörsen „wissen“ beispielsweise mehr über die Entwicklung von Rohstoffmärkten als der am besten informierte Rohstoffexperte. Die öster- reichische Schule erarbeitete eine neue Form von Marktliberalismus – den Neo- liberalismus36 –, in dem ein starker Staat die Aufgabe hat, Märkte nicht nur zu schützen, sondern auch zu schaffen und auszuweiten. Ein Beispiel sind neue Eigentumsrechte, z. B. an Saatgut oder an Emissionszertifikaten. Fehlende Regu- lierung zum Schutz von Märkten durch laissez-faire kann die Marktordnung gefährden. Die kritische Haltung zu laissez-faire unterscheidet die österreichische Schule vom Wirtschaftsliberalismus der klassischen Nationalökonomik. Auch Demokratie und Mehrheitsentscheidungen sind demnach gefährlich, wenn sie eine Gesellschaftsordnung planen, in der Märkte eingeschränkt wer- den. Diese anzustreben, droht rasch zu Mehrheitsdiktaturen zu verkommen, wie dies für die Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegszeit befürchtet wurde. Die wirtschaftliche Freiheit, über sein Eigentum zu verfügen und am Markt zu handeln, ist wichtiger als politische Freiheiten in einem demokratischen Ge- meinwesen, wie z. B. die Freiheit zu wählen oder zu demonstrieren. Demokratie ist demnach entweder marktgerecht, d. h. sie stärkt die spontane Marktord- nung, oder sie muss eingeschränkt werden, um der Marktwirtschaft keinen Schaden zuzufügen. Am besten gewährleistet dies eine globale liberale Welt- ordnung, die den Handlungsspielraum nationaler Regierungen einschränkt und von einer supranationalen Organisation, z. B. der 1995 gegründeten Welthan- delsorganisation (WTO), überwacht wird. 31 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 Keynesianismus John Maynard Keynes († 1946) war einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts.37 Er suchte Antworten auf aktuelle Probleme, v. a. die Weltwirt- schaftskrise nach 1929. Die vorherrschende Sichtweise ist, dass Keynes bestrebt war, den Kapitalismus durch Reformen zu retten. In dieser Sichtweise, die wir im folgenden Mainstream-Keynesianismus nennen, dominierten Teile seiner Theorie die europäische und US-amerikanische Wirtschaftspolitik während des Wohlfahrtskapitalismus von 1945 bis ca. 1980.38 Andere Sichtweisen, insbeson- dere der Post-Keynesianismus, sehen Keynes als einen Ökonomen, der eine neue Wirtschaftsweise anstrebte, in der öffentliche Einrichtungen die zentralen Akteure sind, um das Allgemeinwohl sicherzustellen.39 Während der Main- stream-Keynesianismus in der Nachkriegszeit hohes Wirtschaftswachstum v. a. durch die Ausweitung des Massenkonsums anstrebte, betont der Post- Keynesianismus, dass Keynes primär das Ziel verfolgte, mit öffentlichen Inves- titionen die Grundversorgung zu sichern und Vollbeschäftigung (d. h. eine Situation, in der es mehr offene Stellen gibt als Menschen, die Arbeit suchen) zu schaffen. Mit dem Mainstream-Keynesianismus etablierte sich eine Makroökonomik, in der keynesianische Elemente in die neoklassische Gleichgewichtstheorie integriert wurden. Dies wird auch neoklassische Synthese genannt. Makro- ökonomik untersucht den Forschungsgegenstand Wirtschaft mit Hilfe von Aggregaten wie Inflation, Arbeitslosigkeit und Wachstum. Zentrales Konzept des Mainstream-Keynesianismus ist die effektive Nachfrage, d. h. die Kauf- kraft. Entgegen dem Say’schen Gesetz findet in Krisenzeiten Angebot keine Nachfrage: ganze Wohnbauprojekte an Spaniens Küste wurden beispielsweise nach der Immobilienkrise 2008 abgebrochen. Weiter sind für Keynes Menschen komplexe Wesen, vielschichtig, keinesfalls bloß rational und nutzen- maximierend. Sie entscheiden oft auf Grundlage von Faustregeln, z. B. „Ver- kaufe, bevor andere verkaufen“. Dies kann dazu führen, dass Aktien rasant und von allen gleichzeitig verkauft werden, was zu Panikreaktionen, Kurseinbrü- chen und Finanzkrisen führen kann. Einzelwirtschaftliches Handeln führt dann nicht zum gewünschten gesamtwirtschaftlichen Ergebnis. Um dies zu verhin- dern oder abzumildern, braucht es eine strenge Regulierung der Finanzmärkte sowie eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik, die die effektive Nachfrage stabilisiert. Bei einer antizyklischen Fiskalpolitik spart der Staat im Wirt- schaftsaufschwung und investiert im Wirtschaftsabschwung, sei dies durch Einkommenspolitik, die private Haushalte unterstützt, oder durch öffentliche Investitionspolitik, die private Investitionszurückhaltung kompensiert. Keynes folgend sind marktwirtschaftliche Gleichgewichte Ausnahmesitua- tionen, Abweichungen vom Gleichgewicht der Normalzustand. Moderne Öko- nomien sind keine Tauschökonomien, sondern Geldwirtschaften, in denen 32 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 Kredite Investitionen und Vollbeschäftigung ermöglichen. Sparen, im neoklas- sischen Denken eine Tugend und die Voraussetzung für Investitionen, ist für Keynes ein Problem, weil es eine unproduktive Klasse, die Rentiers, am Leben erhält. Diese vermehren ihr Kapital nicht durch produktive Investitionen, son- dern z. B. durch Finanz- und Immobilienanlagen. Keynes war, wie auch die Vertreter der klassischen Nationalökonomik, ein scharfer Kritiker der Ren- tiers, die ihr Einkommen aus dem Besitz von Vermögen beziehen und keiner unternehmerischen Tätigkeit nachgehen. Kapitalverkehrskontrollen, d. h. die Beschränkung globaler Finanzmärkte, erlauben langfristig niedrige, möglichst nahe bei null liegende Zinsen. Dies kann zum „sanften Tod der Rentiers“, d. h. dem Verschwinden gesamtwirtschaftlich nicht notwendiger Spekulation, füh- ren. Niedrige Zinsen würden geplante öffentliche Investitionen, v. a. zur Ge- währleistung von Vollbeschäftigung, erleichtern. Als Architekt der britischen Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg setzte Keynes einige dieser Ideen um.40 Feministische Ökonomik Die feministische Ökonomik, die u. a. von Julie Nelson, Marilyn Waring und Diane Elson vertreten wird,41 fokussiert auf den zentralen, in allen anderen ökonomischen Schulen aber weitgehend ignorierten Wirtschaftsbereich der unbezahlten Tätigkeiten, der erfolgreiches Marktwirtschaften überhaupt erst ermöglicht. Zentrale Tätigkeiten in diesem Bereich fallen u. a. unter den Begriff der Care-Arbeit (Sorgearbeit), d. h. Tätigkeiten der Fürsorge, des Pflegens und Sich-Kümmerns (Kinderbetreuung, Altenpflege, familiäre Unterstützung, häus- liche Pflege, Hilfe unter Freund:innen). Dieser Bereich bildet die unsichtbare Grundlage funktionierender Gesellschaften, auch in der kapitalistischen Wirt- schaftsweise. Daher verwendet die feministische Ökonomik einen weiten Arbeitsbegriff, der unbezahlte, aber für die Grundversorgung wesentliche Tätigkeiten mit einschließt. Jene Arbeiten, die derzeit im Verborgenen stattfin- den, müssen nicht nur anerkannt, sondern auch aufgewertet werden. Der „pro- duktive“ Teil der Wirtschaft setzt nämlich „reproduktive“ Bereiche voraus und ist von diesen abhängig. Deshalb hinterfragt, analysiert und kritisiert die femi- nistische Ökonomik Dualismen wie produktiv und reproduktiv sowie öffentlich und privat, denn diese verschleiern Geschlechterverhältnisse, insbesondere die ungleiche geschlechtliche Arbeitsteilung. Intersektionalität bezeichnet das Ineinandergreifen unterschiedlicher Ungleichheitsverhältnisse, v. a. von Ge- schlecht, Klasse und Herkunft. Da sich Geschlechterverhältnisse so wie Produktionsverhältnisse verändern, nehmen sie historisch unterschiedliche Formen an. Ein historisch bedeutsames, bis heute teilweise andauerndes Geschlechterverhältnis ist das Patriarchat, das auf der Unterordnung von Frauen unter Männer basiert. Liberale feministische Ökonom:innen fokussieren auf Chancengleichheit, z. B. in Bezug auf gleiches Gehalt (equal pay), und manchmal auch auf repräsentative Quoten. Andere 33 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 Stränge der feministischen Ökonomik fordern weitreichendere Maßnahmen wie z. B. verkürzte Erwerbsarbeitszeiten und eine gerechtere Verteilung auch der unbezahlten Arbeiten. Umweltökonomik Die Umweltökonomik verwendet die Methoden und Konzepte der Neoklassik, v. a. Externalitäten und Optimierung, um Umweltprobleme zu lösen. Bekannte Vertreter sind William Nordhaus und Nicholas Stern.42 Sie beschäftigt sich mit der optimalen Allokation knapper Umweltressourcen für verschiedene Ver- wendungsmöglichkeiten. Ziel ist Kostenwahrheit durch die Internalisierung externer Kosten, was mit der Umsetzung des Verursacherprinzips erreicht wird. Wirtschaftspolitische Maßnahmen (Instrumente) sind Abgaben, Steuern oder die Schaffung neuer Märkte, was die Kommodifizierung, das Zur-Ware- Machen, ehemals freier Güter wie Luft und Wasser bedeutet. Das bekannteste Beispiel ist der Handel mit Emissionszertifikaten im Rahmen des Emission Trading Systems (ETS). Die Umweltökonomik basiert auf dem Konzept der schwachen Nachhaltigkeit (vgl. S. 20). Verschiedene Kapitalsorten wie Sach- kapital (z. B. Maschinen, Warenlager), Humankapital (z. B. Wissen) und Na- turkapital (z. B. Biotope) sind zwar verschieden. Mittels einer Maßgröße, näm- lich Geldeinheiten, werden sie jedoch vergleich- und gegenseitig substituierbar, d. h. gegeneinander austauschbar. Der in Geld bewertete Gesamtwert des Kapitalbestands (die Summe aller Kapitalsorten) soll zumindest konstant gehalten und wenn möglich erhöht werden. Dem Prinzip der Austauschbarkeit folgend stellt ein schrumpfendes Naturkapital kein Problem dar, solange gleichzeitig das Sachkapital steigt. Diese Annahme ist Grundlage für Nutzen- Kosten-Analysen (vgl. Box Nutzen-Kosten-Analyse). Nutzen-Kosten-Analyse Die Nutzen-Kosten-Analyse ist eine Form der Bewertung der Effizienz von Projekten oder Politiken. Ein Beispiel ist die mögliche Schließung eines Kohlekraftwerks. Eine Nutzen-Kosten- Analyse berechnet die gesamten Kosten (v. a. CO2-Emissionen und Luftverschmutzung) und den gesamten Nutzen (z. B. Verbesserung der Luftqualität, Reduktion von Treibhaus- gasemissionen), der durch die Schließung des Kraftwerks im Vergleich zu einer alternati- ven Stromproduktion (z. B. Photovoltaik) entsteht. Diese Kosten und Nutzen werden zuerst quantifiziert und danach monetarisiert, indem ökologische, soziale und wirtschaftliche Vor- und Nachteile in Geldeinheiten bewertet werden. Unsicherheiten werden zu quantifizier- baren Risiken, Ungewissheiten (z. B. Wirkungen, die nicht berücksichtigt werden können) werden ausgewiesen. Die Schließung des Kraftwerks „rechnet“ sich, wenn die Gesamt- kosten der Weiterführung den Gesamtnutzen der Schließung übersteigen. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Zuschreibung monetärer Werte nicht einfach ist. Welche Kosten entstehen der Allgemeinheit durch frühzeitige Todesfälle, die durch die Luftverschmutzung des Kraftwerks verursacht und durch eine Kraftwerksschließung reduziert werden kön- nen? Sind die Kosten bei jungen und gebildeten Menschen höher als bei Pensionierten, und welcher Wert wird unterschiedlichen Personengruppen zugeordnet? Derartige ethi- sche, rechtliche und organisatorische Bedenken finden in der Nutzen-Kosten-Analyse nur 34 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 dann eine Berücksichtigung, wenn die privaten Haushalte diese Dimensionen wahrneh- men und mit entsprechenden quantifizierbaren Wertschätzungen versehen. Mittels Diskontierung wird der heutige Wert zukünftiger Zahlungen errechnet. Bei diesem finanzmathematischen Berechnungsverfahren wird angenommen, dass heutige Nutzeffek- te und Kosten mehr wert sind als jene in der Zukunft. Diese Abzinsung zukünftiger Kosten und Nutzen auf einen gegenwärtigen „Barwert“ hängt vom angenommenen Diskontsatz ab. Ein hoher Diskontsatz vermindert die relative Bedeutung der Zukunft, während bei einem „Null-Zins“-Diskontsatz das geschätzte Leid und Wohlbefinden zukünftiger Genera- tionen genau so viel wiegt wie Kosten und Nutzen heute. So verwendeten z. B. zwei be- kannte Umweltökonomen unterschiedliche Diskontsätze, um die Kosten des Klimawan- dels zu errechnen. William Nordhaus diskontierte die Kosten der Klimaveränderungen mit 4,5 % pro Jahr, was den Zinssätzen zur Zeit seiner Berechnung entsprach. Nicholas Stern hingegen kalkulierte die Kosten mit 1,5 %, wodurch sich deutlich höhere Kosten zukünfti- ger Schäden ergaben als bei Nordhaus. Beharrende Kräfte berufen sich auf Nordhaus, Umweltschützer:innen auf einen Nullzinssatz. Diese Berechnungen verlieren weiter an Eindeutigkeit, wenn verschiedene Gruppen und Generationen von externen Effekten unterschiedlich betroffen sind: Anrainer:innen von Flughäfen erleiden die Nachteile eines Ausbaus, die Tourismusbranche erwartet sich Umsatzsteigerungen. Auch die Berücksichtigung von Langzeiteffekten und die Quantifizie- rung komplexer Phänomene sind schwierig: Wie ist der Verlust von Arten, Grundwasser oder Ökosystemen sowie die Erwärmung des Planeten zu kalkulieren? Was ist der Preis für die Rettung bedrohter Arten? Wer trägt schlussendlich die Kosten? Ökologische Ökonomik In der ökologischen Ökonomik, die u. a. von Nicholas Georgescu-Roegen († 1994), Herman Daily († 2022), Clive Spash, Sigrid Stagl und Julia Steinberger vertreten wird,43 bilden ein funktionierendes Ökosystem und eine funktionie- rende Gesellschaft die Grundlage menschenfreundlichen Wirtschaftens. Wirt- schaft ist demnach ein in Gesellschaft und diese wiederum in Natur eingebet- tetes System. Die ökologische Ökonomik orientiert sich an der sozialen Ökolo- gie und der politischen Ökologie und grenzt sich von der Neoklassik sowie der Umweltökonomik ab. Sie untersucht die Möglichkeiten von stabilen Ökono- mien (steady-state economies), die nicht auf Wachstum angewiesen sind. Dabei geht sie vom Konzept der starken Nachhaltigkeit (vgl. S. 20) aus. Demnach ist wirtschaftliches und soziales Leben von unersetzbaren, miteinan- der verwobenen Ökosystemen abhängig. Natur besteht aus komplexen Öko- systemen, die menschliche Gesellschaften mit lebensnotwendigen Funktionen und Diensten versorgen. Ökologische, soziale und ökonomische Prozesse sind in vielerlei Hinsicht inkommensurabel. Das impliziert eine bestimmte Art von Unvergleichbarkeit. Inkommensurables ist verschieden: Straßen sind keine Wälder, Korallenriffe sind keine Auen. Diese Objekte haben darüber hinaus auch keine gemeinsame Messgröße, mit der Verschiedenes vergleichbar ge- macht wird, auch nicht Geld. Diese Unmöglichkeit einer gemeinsamen Mess- größe resultiert u. a. aus der Unersetzbarkeit bestimmter ökologischer Prozesse. Ein wirksames Süßwassermanagement kompensiert die Folgen von Artenster- ben und Erderhitzung nicht. Ein lebensfreundliches Klima, d. h. die Beschrän- 35 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 kung der Erderhitzung, ist Voraussetzung zukunftsfähigen Wirtschaftens und nicht austauschbar gegen soziale und ökonomische Verbesserungen. Es gibt qualitative Unterschiede zwischen hergestelltem Kapital und Natur: Ersteres ist reproduzierbar (es kann wiederhergestellt werden), die Zerstörung der Natur ist aber oft irreversibel (sie kann nicht rückgängig gemacht werden). Neue T- Shirts können produziert, neue Brücken können gebaut werden. Wenn hinge- gen eine Spezies ausgestorben ist, kann sie nicht wiederhergestellt werden. Aus den Fischen eines Aquariums kann eine Fischsuppe gemacht werden, aus einer Fischsuppe aber keine Fische für ein Aquarium. Wirtschaftliche Aktivitäten sind mit absoluten biophysischen Grenzen kon- frontiert, deren Überschreiten gefährlich ist. Daher berücksichtigt die ökologische Ökonomik Unsicherheit und Unwissen und beruht auf dem Vorsorgeprinzip: Mögliche Schäden bzw. Belastungen für Umwelt und menschliche Gesundheit sind zu vermeiden oder zu verringern, selbst wenn ihr Eintreten nicht ganz sicher ist. In der ökologischen Ökonomik wird zwischen verschiedenen Alternativen, die keine gemeinsame Maßgröße haben, abgewogen (Deliberation), z. B. mit einer Multi-Kriterien-Analyse (vgl. Box Multi-Kriterien-Analyse). Multi-Kriterien-Analyse Die Multi-Kriterien-Analyse arbeitet multiperspektivisch. Sie nutzt und bewertet eine Vielzahl unterschiedlicher Kriterien für die Entscheidungsfindung und berücksichtigt unter- schiedliche Werthaltungen, Annahmen und Interessen sowie wissenschaftliche Daten verschiedener Disziplinen. Zum Beispiel des Kohlekraftwerks: In einem ersten Schritt werden unterschiedliche Krite- rien für Beschäftigung, Energiepreise, Schutz von Arten, Luftqualität, Wohlbefinden, Lärm- belästigung, Steuereinnahmen, CO2-Bilanz und anderes festgelegt. Einige dieser Kriterien sind inkommensurabel. In einem zweiten Schritt werden diese Kriterien operationalisiert. Da nicht alles einen Geldwert hat, erfolgt dies sowohl quantitativ (z. B. Errechnen von zusätzlichen Steuereinnahmen oder CO2-Emissionen) als auch qualitativ (z. B. mittels Fokusgruppendiskussionen zu den potentiellen Auswirkungen eines Kraftwerks auf das Wohlbefinden der Anrainer:innen). Die einzelnen Kriterien werden am Ende gewichtet. Sind höhere Steuereinnahmen ebenso wichtig wie saubere Luft? Warum oder warum nicht? Damit fördert die Multi-Kriterien-Analyse Lernprozesse und schafft Transparenz, indem sie offenlegt, welche Kriterien wie gewichtet werden und warum. Inkommensurabilitäten werden nicht aufgelöst, wohl aber Prioritäten gesetzt. Z. B. könnte der Schutz von Arten höher gewichtet werden als die Schaffung von Arbeitsplätzen (oder umgekehrt). Lösungswege werden aufgezeigt und Szenarien entwickelt, die für verschie- dene Akteure unterschiedlich vorteilhaft sind. Möglichkeiten, die Verlierenden zu entschä- digen, werden diskutiert. Die Stärke der Multi-Kriterien-Analysen ist gleichzeitig ihre Schwäche. Da Kriterien festge- legt werden müssen und Partizipation ermöglicht wird, gibt es Raum für Interpretation bis hin zur Manipulation. Wer wird beteiligt? Was sind Kriterien des Auswählens, Abwägens und Entscheidens? Wie ist mit dem Spannungsfeld Wissenschaft–Politik umzugehen, in welchem Machtverhältnisse eine zentrale Rolle spielen: Höher gebildete Personen haben oft mehr Selbstbewusstsein in Gruppendiskussionen, können besser argumentieren und finden somit leichter Gehör. Organisationen, die über Ressourcen verfügen und mit ein- flussreichen Akteuren in Wirtschaft und Politik vernetzt sind, können besser lobbyieren. 36 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 Tabelle 1: Zusammenfassung der ökonomischen Theorieschulen 37 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 2.2. Sozioökonomik Wir definieren Sozioökonomik als interdisziplinäre Wirtschaftswissenschaft. Sie verwendet verschiedene ökonomische Theorieschulen und verbindet diese mit anderen Disziplinen wie der Soziologie, Politikwissenschaft, Geografie, Ge- schichtswissenschaft und den Agrar- und Erdwissenschaften sowie mit Inter- Disziplinen, z. B. der internationalen politischen Ökonomik und der sozialen und politischen Ökologie. Ein Beispiel, wie die Sozioökonomik Interdisziplina- rität anwendet, ist die Börse als wirtschaftliche Institution. Eine Börse ist ein Markt, an dem Aktien und Wertpapiere gehandelt werden. Ökonom:innen beschäftigen sich in diesem Zusammenhang mit Kursen, d. h. Preisänderungen von Finanzprodukten, die sich aus Schwankungen von Angebot und Nachfrage ergeben. In der Wirtschaftssoziologie ist die (klassische Form der) Börse hinge- gen ein soziales Gefüge, verortet in einem konkreten Gebäude. Es wird von Menschen untertags aufgesucht. Sie sprechen miteinander, manchmal wird es laut. Soziolog:innen sind geschult, Beziehungen zu analysieren: Wer macht was mit wem und zu welchem Zweck? Gibt es Regeln, an die sich alle halten, auch wenn sie niemand festgeschrieben hat? Wer verfügt über welche Ressourcen? Wer ist mächtig? Beide Perspektiven, die der Ökonomin und die des Wirt- schaftssoziologen, untersuchen die Börse als Marktplatz – doch beide sehen Unterschiedliches, beide formulieren Theorien aus unterschiedlichen Blickwin- keln und verwenden unterschiedliche Methoden. Fehlt die ökonomische Per- spektive, könnten makroökonomische Dynamiken nicht erfasst werden. Inter- nationale Finanzmärkte und ihre Auswirkungen auf lokale Ökonomien blieben dann ausgeblendet. Fehlt die soziologische Perspektive, könnte der Eindruck entstehen, Märkte wären Akteure und nicht Institutionen, in denen Menschen mit eigenen Interessen, Ressourcen und Einfluss handeln. Die ungleiche Ver- teilung von Macht bliebe dann ausgeblendet. Sozioökonomik greift beide Per- spektiven auf, die der Ökonomik und der Soziologie, um die Börse als sozio- ökonomisches Phänomen zu verstehen. Jedes Phänomen, sei es die Wiener Börse, der Umsatzeinbruch in einer Pandemie oder das Artensterben, hat verschiedene Aspekte, die mit Hilfe verschiedener Perspektiven in ihrer Kom- plexität besser erfasst werden können als mit einem einzigen Modell und einer einzigen Methode. An vielen Universitäten wird gegenwärtig jedoch v. a. die neoklassische Denkschule vermittelt und eine Methode, mathematische Problemlösung, praktiziert. Die Stärke neoklassischer Lehrbücher ist es, Konzepte und Modelle zu vermitteln, die ausgehend von bestimmten Annahmen, wirtschaftliche Pro- zesse logisch und widerspruchsfrei erklären. Die Wertschätzung unterschiedli- cher Modelle, insbesondere auch mit historischen und institutionellen Erklä- rungen, ist die Ausnahme.44 Hinsichtlich zukunftsfähigen Lehrens und Lernens ist aber gerade heute ein Fokus auf Markt-Gleichgewichte problematisch, da er 38 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 unter Studierenden den Eindruck erweckt, es gäbe immer optimale und be- rechenbare Lösungen. Diese gibt es aber meist nur unter der Annahme eines ceteris paribus, d. h. „Sonst-Gleicher-Bedingungen“ – eine Annahme, die in offenen Systemen nicht zutrifft. In Umbruchszeiten ist noch einmal mehr eben „alles andere“ nicht (mehr) „gleich“. Wirtschaft, Gesellschaft und Natur verän- dern sich und stehen miteinander in komplexer Wechselwirkung. Wie schon in der großen Umbruchszeit der 1930er Jahre sind auch heute neoklassische Gleichgewichtsmodelle unter Rechtfertigungszwang, denn nicht Harmonie und Gleichgewicht, sondern Konflikt und Transformation sind Merkmale aktu- eller Dynamiken. Viele der aktuellen Herausforderungen werden in den neo- klassisch dominierten volkswirtschaftlichen Curricula nur am Rande behandelt und oftmals grob vereinfacht dargestellt. Der mathematische Formalismus läuft Gefahr, komplexe soziale Phänomene als berechenbare Risiken zu verkennen. Demgegenüber verfügt Sozioökonomik über keinen unbestrittenen Com- mon Body of Knowledge, keine von allen Sozioökonom:innen geteilten Kon- zepte, Theorien und Methoden. Die Stärke der Sozioökonomik ist jedoch, v. a. in Umbruchszeiten durch eine multiperspektivische Herangehensweise offen für neue Lösungen zu sein. Erkenntnisse der ökologischen Ökonomik verwei- sen darauf, dass der zerstörerische Umgang mit Biodiversität die Wahrschein- lichkeit von Pandemien erhöht. Erkenntnisse der wirtschaftlichen Entwick- lungstheorien erinnern an den Wert erhöhter nationaler Eigenständigkeit. Und Erkenntnisse der Politikwissenschaft und der Soziologie schärfen das Bewusst- sein, wie sehr Umbruchszeiten Demokratie und sozialen Zusammenhalt ge- fährden können. Da Sozioökonomik all diese Perspektiven nutzt, um konkrete Problemstellungen zu bearbeiten, kann sie auf ein breiteres Wissen zurück- greifen als bloß das der Ökonomik oder einzelner ökonomischer Theorie- schulen. An der Wende zum 20. Jahrhundert gab es Bemühungen, die Sozioökono- mik zu einer eigenen Disziplin zu machen. Damit verbunden fand eine inten- sive Auseinandersetzung statt. Im sogenannten Methodenstreit standen sich formale, mathematisch orientierte Theorieansätze, v. a. jene der Neoklassik, und die stärker kontextbezogenen Theorien der Deutschen Historischen Schule gegenüber. Max Weber († 1920), einer der Begründer der Sozioökonomik, vertrat eine vermittelnde Position, indem er Methoden kombinierte, um ver- schiedene wirtschaftliche Probleme bestmöglich zu verstehen.45 Auch heute arbeitet die Sozioökonomik interdisziplinär, d. h. sie verbindet unterschiedli- che ökonomische Theorieschulen, bringt sie miteinander in Dialog und ver- knüpft sie mit anderen Disziplinen. Sozioökonomik ist nicht nur theoretische Wissenschaft, sondern interessiert sich für die Lösung praktischer Probleme, wobei diese nur selten im Vorhinein definierbar sind. Sie richtet ihr jeweiliges Forschungsdesign und ihre Metho- denwahl (wie geforscht wird) am Forschungsobjekt (das jeweilige Phänomen, 39 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 das erforscht wird) aus. Problematisierung, d. h. das Identifizieren tieferliegen- der Ursachen, führt zu einem umfassenderen Problemverständnis und ist Teil des Forschungsprozesses. So kann über herkömmliche Erklärungen hinausge- gangen und Potenziale (Möglichkeiten) für Veränderung identifiziert werden. Damit ist sie offen für Neues. Krisen können zu Chaos führen, aber auch als Chancen genutzt werden, um Neues zu wagen. Werden in Forschung und Problembearbeitung auch Menschen aus der Praxis wie Fachleute aus Verwal- tung, Unternehmen und Politik sowie Betroffene und zivilgesellschaftlich Or- ganisierte eingebunden, nennt man dies Transdisziplinarität. Derartige For- schung beruht auf starken Theorie-Praxis-Kooperationen und versucht, Verän- derungen nicht nur zu verstehen, sondern auch zu gestalten. Die Fähigkeit, gesellschaftliche Probleme zu lösen, ist dabei eine entscheidende Kompetenz. Die gesellschaftliche Relevanz der Forschung wird ein wichtiges Kriterium für deren Exzellenz.46 So konstituiert sich die Sozioökonomik als ein eigenes, durchaus wider- sprüchliches Forschungsfeld. Widerspruch ist Teil der Wirklichkeit, weshalb auch Wirtschaft als Forschungsgegenstand widersprüchlich bleibt: Wirtschaf- ten schafft Wohlstand und Hunger, verwüstet Regionen und lässt andere auf- blühen, verlängert Leben und produziert Artensterben. Diese widersprüchli- chen Dynamiken in der Wirklichkeit zu analysieren ist notwendig, um Denken weiterzuentwickeln. Dabei gilt es, logische Widersprüche, d. h. Fehler im Den- ken, zu vermeiden. Die aktuell wohl bedeutsamste Weiterentwicklung der So- zioökonomik ergibt sich aus dem wachsenden Bewusstsein über die Gefähr- dung menschlicher Zivilisationen durch ökologische Veränderungen. Men- schen sind nicht nur soziale Wesen, sondern auch biophysische. Sie existieren nicht unabhängig und neben der Natur: Wirtschaft basiert nicht bloß auf sozio- ökonomischen Beziehungen, sondern auch auf gesellschaftlichen Naturverhält- nissen, d. h. auf Mensch-Natur-Beziehungen. Dies zu analysieren erfordert einen erweiterten Blick. Sozioökonomik muss sich deshalb im 21. Jahrhundert als sozialökologische Ökonomik neu erfinden.47 Mit dieser neuen Akzentset- zung wird an Überlegungen angeschlossen, die schon Max Weber beschäftig- ten. Dieser äußerte Anfang des 20. Jahrhunderts die Befürchtung, die kapitalis- tische Wirtschaftsweise könne destruktive Sachzwänge hervorrufen, „bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“.48 Und er hoffte, dass es mit neuen Methoden gelänge, eine neue Wissenschaft zu entwerfen. 40 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 2.2.1. Bereitstellungsformen Karl Polanyi unterscheidet zwei Definitionen von Wirtschaft: eine formale und eine inhaltliche.49 Im formalen Verständnis wird Wirtschaften im Sinne der Neoklassik als zweckrationale und nutzenmaximierende Tätigkeit auf Märkten unter Knappheitsbedingungen analysiert. Da Wirtschaften dabei auf Markt- wirtschaften reduziert wird, werden wesentliche Wirtschaftsbereiche wie die Haus- und Sorgewirtschaft oder die öffentliche Bereitstellung nur beschränkt erfasst. Grundlegende, nicht-marktliche Institutionen des Wirtschaftens wer- den zwar untersucht, aber nur unter dem Gesichtspunkt, wie auch diese Berei- che menschlichen Lebens optimiert werden können. Doch dies ist problema- tisch: Zweckrationalität optimiert, beschäftigt sich aber nicht damit, was warum und für wen optimiert wird – d. h. mit den Zielen rationellen Handelns. Im inhaltlichen Verständnis wird Wirtschaften als in Gemeinwesen und biophysischen Grundlagen eingebettet verstanden. Wirtschaften bedeutet dem- nach, Lebensgrundlagen bereitzustellen. Es bedeutet nicht, nutzenmaximierend zu optimieren.50 Nicht immer und für alle Wirtschaftsbereiche sind Märkte geeignet, menschliche Lebensgrundlagen zu sichern. Wirtschaften ist daher mehr als Marktwirtschaften. Wirtschaft besteht aus verschiedenen Institutionen und Bereichen mit unterschiedlichen Logiken: Wohnbaugenossenschaften arbeiten mit anderen Geschäftsmodellen als Installateure und Stahlunterneh- men, das öffentliche Krankenhaus unterscheidet sich vom Industrieunterneh- men, unbezahlte Sorgearbeit ist anders organisiert als Fließbandarbeit. Karl Polanyi unterscheidet deshalb vier sozioökonomische Organisationsprinzi- pien bzw. Bereitstellungsformen, die in real existierenden Ökonomien zu fin- den sind und unterschiedlich zusammenwirken: Haushaltung, Gegenseitigkeit, Umverteilung und Markthandel.51 (1) Haushaltung bezeichnet Formen der Selbstversorgung und gründet in Familien und Haushalten. In der griechischen Antike war der Oikos, das ganze Haus, eine autarke, d. h. selbstversorgende, Wirtschaftseinheit. Doch auch heute findet weiterhin ein großer Teil der Wirtschaft im Haushalt statt, insbe- sondere als unbezahlte Sorge-, Pflege- und Betreuungsarbeit sowie Hausarbeit (z. B. Kochen, Putzen, Gärtnern). (2) Gegenseitigkeit (auch Reziprozität genannt) basiert auf dem Prinzip des Gebens-und-Nehmens und definiert einen Austausch von Waren und Diensten zwischen Personen jenseits von Markt und Staat. Dieser findet in Gemein- schaften statt, z. B. im Freundeskreis, in der Nachbarschaft oder in Vereinen, und umfasst u. a. Nachbarschaftshilfe und Gemeinwesenarbeit. Wie das Prinzip der Haushaltung ist auch die Bereitstellungsform der Gegenseitigkeit oft lokal verankert und findet meist zwischen einander bekannten Personen statt. 41 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 (3) Umverteilung (auch Redistribution genannt) definiert einen systemati- schen Fluss von Ressourcen hin zu einem administrativen Zentrum und deren anschließende Umverteilung. Beispiele sind durch Steuern oder Abgaben fi- nanzierte öffentliche Bildungs-, Gesundheits- und Pensionssysteme. Umver- teilung teilt (einander oftmals unbekannten) Mitgliedern einer Gesellschaft Ressourcen zu. Sie findet innerhalb politischer Territorien, insbesondere dem Nationalstaat, statt und geht daher über lokale Gemeinschaften hinaus. (4) Schließlich definiert der Markthandel den Tausch von Waren und Dienstleitungen zu Marktpreisen. Dies ist der kommodifizierte Bereich des Wirtschaftens. Je nach Art der gehandelten Waren und Dienstleistungen, der Reichweite und Struktur können sich diese Märkte unterscheiden. Die Logik des individuellen Gewinns und der Zahlungsfähigkeit ist in Marktbeziehungen vorherrschend. Zusammengefasst: Bis heute ist Wirtschaften durch vielfältige Institutionen und Prinzipien geprägt. Real existierende Ökonomien sind immer gemischte Wirtschaften, d. h. sie sind mehr als Marktwirtschaften. Nicht alle Aspekte des Lebens und Wirtschaftens sind dazu geeignet, in eine am Markt handelbare Ware verwandelt (kommodifiziert) zu werden. 2.2.2. Wirtschaftsbereiche Kapitalismus basiert u. a. auf individuellen Eigentumsrechten, dezentralen wirtschaftlichen Entscheidungen, der Koordinierung wirtschaftlicher Akteure über Märkte und Preise, dem Kauf und Verkauf von Waren, der Dominanz des Profitmotivs sowie der Existenz von Arbeitsteilung, Geldwirtschaft und Kredi- ten.52 Es entstanden Unternehmen, in denen die Klasse der Kapitalisten Pro- duktionsmittel besitzt und die Beschäftigten ihre Arbeitskraft verkaufen müs- sen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Da Kapitalismus heute das Wirt- schaften strukturiert, sprechen wir von einer kapitalistischen Wirtschafts- weise. Trotzdem verschwinden andere Wirtschaftsbereiche, die nicht nach kapita- listischen Prinzipien organisiert sind nicht, z. B. die öffentliche Gesundheitsver- sorgung und die unbezahlte Hausarbeit. Politökonomische Staatstheorien betonen deshalb, dass öffentliche/staatliche Bereitstellung in vieler Hinsicht die Voraussetzung marktwirtschaftlicher Aktivitäten ist.53 Öffentliche Gesundheits- versorgung und Bildung schafft die Grundlage für gesunde und gebildete Ar- beitskräfte. Aus feministischer Perspektive erscheint der marktliche Wirt- schaftsbereich nur als sichtbarer Gipfel des „Eisberg“, der die unsichtbare Ar- beit verdeckt. Und dies, obwohl die unbezahlte Sorge- und Hausarbeit sowie intakte ökologische Grundlagen die Voraussetzung für menschliches Leben in jeder Wirtschaftsweise sind, auch der kapitalistischen.54 Daher müssen Wirt- schaftsanalysen auch andere Wirtschaftsbereiche untersuchen, nicht nur die 42 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 kapitalistisch organisierten Markt- und Geldwirtschaften. Die folgende Unter- scheidung von vier Wirtschaftsbereichen – den unbezahlten Sektor, die Grund- versorgungsökonomie, die erweiterte Nahversorgung und die weltmarktorien- tierte Ökonomie – orientiert sich an den Arbeiten des Foundational Economy Collectives (FEC).55 (1) Der unbezahlte Sektor umfasst die Bereitstellung unbezahlter Sorgear- beit, Hausarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten. Diese nicht in Geld bewerteten Formen der Bereitstellung umfassen z. B. Tätigkeiten im Haushalt, in der Nachbarschaft, in Vereinen und der Zivilgesellschaft. Heute ist der unbezahlte Sektor der in Arbeitszeit gemessen größte Wirtschaftsbereich. Wie die letzte österreichische Zeiterfassungsstudie 2008/09 der Statistik Austria zeigt, werden in ihm etwa gleich viele Arbeitsstunden erbracht wie im gesamten Bereich der bezahlten Arbeit.56 Frauen sind die zentralen Leistungsträgerinnen, da sie etwa 75 % dieser unbezahlten Arbeitszeit leisten, was insbesondere bei berufstätigen Frauen zu einer Doppelbelastung führt, die oft zur Überbelastung wird.57 (2) Die Grundversorgungsökonomie sichert, gemeinsam mit dem unbe- zahlten Sektor, das alltägliche Überleben in modernen Gesellschaften. Dieser für das Funktionieren des Alltagslebens essenzielle Bereich wird zumeist als selbstverständlich vorausgesetzt – zumindest bis die Bahn nicht mehr fährt, Medikamente nicht mehr lieferbar sind, Intensivbetten knapp werden oder das Gas nicht mehr fließt. Die Grundversorgungsökonomie ist in Österreich mit 43 % der Brutto-Wertschöpfung in etwa gleich groß wie alle anderen bezahlten Wirtschaftsbereiche und weist mit rund 44 % einen höheren Beschäftigungs- anteil auf. Auch gemessen an den Brutto-Anlageinvestitionen ist sie mit rund 31 % der gesamten Investitionen bedeutsam (Daten aus dem Jahr 2018).58 Sie umfasst (i) die Daseinsvorsorge und (ii) die grundlegende Nahversorgung: Daseinsvorsorge ist ein juristischer Schlüsselbegriff für die Bereitstellung lebensnotwendiger Güter und Dienstleistungen, z. B. die Strom-, und Wasser- versorgung, die Müllabfuhr, Gesundheit, Pflege, Wohnen und Bildung. Sie befriedigt Bedürfnisse größtenteils über Infrastrukturen und kollektiven Kon- sum, d. h. über den Konsum gemeinsamer öffentlicher Güter, die oft (aber nicht immer) von öffentlichen Einrichtungen bereitgestellt werden. Die grund- legende Nahversorgung umfasst u. a. die Lebensmittelproduktion und den Lebensmittelhandel, Drogerien und Apotheken. Für einen kurzen Moment schien während der Pandemie bestätigt, worauf zuerst Karl Polanyi und später die feministische Ökonomik hingewiesen haben: Wirtschaften dient zuerst und v. a. der Organisation und Sicherung der Lebensgrundlagen.59 Weder die unbe- zahlte Sorgearbeit noch die Daseinsvorsorge und die grundlegende Nahversor- gung wurden während der Lockdowns eingestellt oder geschlossen, da sie das tagtägliche Überleben sichern. 43 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 Die Grundversorgungsökonomie ist territorial und binnenwirtschaftlich or- ganisiert und zu großen Teilen öffentlich reguliert. Sie basiert auf (i) materiel- len Infrastrukturen, die Menschen über Netzwerke und Filialsysteme versor- gen, und (ii) auf wohlfahrtsstaatlichen Infrastrukturen (vgl. S. 22). Da le- bensnotwendige Güter und Leistungen auch in Krisen verlässlich bereitgestellt werden müssen, folgt die Grundversorgungsökonomie tendenziell einer Logik, in der Versorgungssicherheit zentral ist. Dies erfordert langfristige Planung und Kooperation. Um mit Unerwartetem umzugehen, sind Reservekapazitäten, Puffer und Redundanzen unerlässlich. Damit sind andere Kriterien relevanter als in anderen Wirtschaftsbereichen, v. a. Versorgungssicherheit, Resilienz (Widerstandsfähigkeit) und ein Zugang für alle. Demnach ist der herkömm- liche Effizienzbegriff, der Effizienz für einen Moment, einen Punkt definiert, problematisch. Punkt-Effizienz ist ein Konzept der Mikroökonomik, das den einmaligen optimalen Mitteleinsatz definiert. Ein Beispiel ist die kostenmini- male Führung eines Spitals: Es geht um die Kostenminimierung bei der unmit- telbaren Leistungserstellung, z. B. der Betreuung einer Patientin. Demgegen- über strebt systemische Effizienz den langfristig bestmöglichen Mitteleinsatz auch unter Einbeziehung des Gesamtsystems an, z. B. durch die Vermeidung einer Erkrankung durch gesündere Ernährung und mehr aktive Mobilität. Diese Makroeffizienzlogik gewichtet langfristige Wechselwirkungen stärker.60 (3) Die erweiterte Nahversorgung ist ein binnenwirtschaftlich orientierter marktwirtschaftlicher Bereich und umfasst v. a. den Handel und die Bereitstel- lung von individuellen Komfortgütern und -leistungen. Dazu zählen Handwerk und Gewerbe, die lokale Reparaturökonomie, der Einzelhandel von nicht täglich nachgefragten Gütern (z. B. Möbel und Kleidung), Kultureinrichtungen und Gastronomie. Das reine Überleben ist noch kein gutes Leben. Da zu einem guten Leben nicht nur gehört, dass der Strom aus der Steckdose und das Was- ser aus der Leitung kommt, stellt dieser Wirtschaftsbereich jene Alltagsgüter bereit, die zwar nicht unbedingt überlebensnotwendig, aber gesellschaftlich und kulturell bedeutsam sind und schwer kollektiv bereitgestellt werden können. Allerdings ändert sich, was zu diesem Wirtschaftsbereich gezählt wird. Es ist schwieriger zu entscheiden, was es für ein gutes Leben braucht, als festzuhalten, was zum reinen Überleben notwendig ist.61 Konkrete Zuordnungen sind daher immer ambivalent, historisch veränderlich und beruhen auf gesellschaftlichen Bewertungen. Zusammen mit dem unbezahlten Sektor und der Grundversor- gungsökonomie bildet die erweiterte Nahversorgung die Alltagsökonomie. (4) Schließlich ist die weltmarktorientierte Ökonomie der nicht binnen- wirtschaftlich orientierte Bereich der Wirtschaft. Er umfasst die Produktion und Erbringung von international handelbaren Gütern und Dienstleitungen, v. a. von Komfort- und Luxusgütern, aber auch von wichtigen Vorprodukten und Vorleistungen der Alltagsökonomie (z. B. Eisenbahnen, Halbleiter, me- dizinische Geräte). Heute ist dies der Kernbereich der kapitalistischen Wirt- 44 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 schaftsweise, in dem sowohl die größten Effizienzsteigerungen zu beobachten sind als auch hohe Emissionen und ein hoher Ressourcenverbrauch. Dieser Bereich braucht globale Logistiksysteme und raumüberwindende Infrastruktu- ren. Umsatzwachstum und Profitmaximierung sind in aller Regel notwendig, um die eigene Marktposition abzusichern. Die weltmarktorientierte Ökonomie steht im Scheinwerferlicht und profitiert besonders von öffentlichen Subven- tionen, z. B. Steuererleichterungen und Förderungen für Export, Forschung und Entwicklung. Der Wirtschaftshistoriker Fernand Braudel († 1985) zeigte, wie dieser Wirtschaftsbereich aus internationalem Fernhandel entstand.62 Er war immer militärisch abgesichert und politisch unterstützt. Am Weltmarkt gelten eigene Regeln. Globale Produktionsnetzwerke und transnationale Un- ternehmen sind oftmals marktbeherrschend, Klein- und Mittelbetriebe über- nehmen aber wichtige Zuliefer- und Nischenfunktionen. In allen in Geld bewerteten Wirtschaftsbereichen können immer auch Renten abgeschöpft werden. Darunter versteht die Ökonomik Markteinkom- men, für die es keine adäquate Gegenleistung gibt. Renten sind leistungslose Einkommen. Aktuelles Beispiel für einen dynamischen Sektor, in dem viele Renten abgeschöpft werden, ist der FIRE-Sektor (Finance, Insurance, Real Estate), d. h. das Finanz- und Versicherungswesen, die Immobilienwirtschaft sowie Erträge aus Patenten und Lizenzen. Aktuell bedeutsam ist die private Aneignung bzw. Abschöpfung von Gewinnen durch Bodenwertsteigerungen. Zumeist leisten die Grundbesitzer keinen privaten Investitionsbeitrag, denn Wertsteigerung folgt oft auf öffentliche Investitionen wie Begrünung oder einen neuen U-Bahn Anschluss. Die daraus resultierenden Wertsteigerungen werden teilweise auf Mietpreise aufgeschlagen und steigern den Wert des Grundstücks. So wird leistungsloses Einkommen erzielt. Bereits die klassische politische Ökonomik des 18. Jahrhunderts kritisierte die Bodenrenten als Monopolpreis für die Nutzung von Grund und Boden. Das Einkommen geht an den Grund- herren als Pacht – ohne Gegenleistung. Auch Keynes unterschied Entrepreneurs von Rentiers, wobei nur erstere die Realwirtschaft stärken. Heute beschäftigt sich die Ökonomin Mariana Mazzucato damit, wer Werte produziert (value makers, Schöpfende) und wer sich diese bloß aneignet (value takers, Abschöp- fende).63 Während in allen vier oben vorgestellten Wirtschaftsbereichen werte- schaffende Schöpfende dominieren, sind Rentiers Abschöpfende, die sich von anderen produzierte Werte aneignen. Tabelle 2 systematisiert die Wirtschafts- bereiche. 45 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 Tabelle 2: Schematische Darstellung einer gemischten Wirtschaft64 Wirtschaftsbereiche Unbezahlt In Geld bewertete und bezahlte Aktivitäten, in denen Renten abgeschöpft werden können Alltagsökonomie Weltmarktorien- Unbezahlter Grundversorgungsökonomie Erweiterte Nah- tierte Ökonomie Sektor, privater versorgung Daseinsvorsorge Grundlegende Haushalt Nahversorgung Beispiele Unbezahlte Pflege Gesundheit, Ener- Lebensmittelpro- Gastronomie, Produktion von von Familienange- gie, Bildung, Was- duktion, Super- Friseur, Einzelhan- Autos, Compu- hörigen, Hausar- ser, Abfallentsor- märkte, Apothe- del jenseits der tern und Phar- beit, Kindererzie- gung, Universal- ken, Drogerien, grundlegenden mazeutika; hung, ehrenamtli- dienste Geschäftsbanken Nahversorgung, Unternehmens- ches Engagement, z. B. für Kleidung, beratung, Marke- gemeinnützige Elektronik und ting Arbeit Möbel (dominante) Bereitstellungsformen Haushaltung und Umverteilung Markthandel Markthandel und Gegenseitigkeit Intra-Firm-Trade (vgl. S. 93) 2.3. Theorien und Messungen eines guten Lebens Transformationen verändern nicht nur das Wirtschaften, sondern auch Vor- stellungen über das gute Leben. In stabilen Zeiten, wie im Wohlfahrtskapitalis- mus nach dem Zweiten Weltkrieg, war es klar, was unter einem guten Leben verstanden wurde: Materieller Wohlstand, soziale Sicherheit und Aufstiegs- möglichkeiten. Dies war so selbstverständlich, dass auch in der Wissenschaft die Beschäftigung mit dem guten Leben erst im Gefolge der Krisen des Wohl- fahrtskapitalismus einsetzte. Dies verwundert, denn das gute Leben ist ein Schlüsselbegriff der westlichen Philosophie. Eudaimonia beschreibt eine gelun- gene individuelle Lebensführung in einem Gemeinwesen, der Polis. Aristoteles betrachtete das Streben nach dem guten Leben, das sowohl vernünftig als auch moralisch richtig ist, als das Ziel, das Menschen für sich und das Gemeinwesen anstreben sollten. Die Transformationsforschung greift diese Theorien über das gute Leben auf und versucht zu klären, was im 21. Jahrhundert ein gutes Leben ausmacht. Dies erfordert auch wissenschaftliches Nachdenken über den Zweck des Wirt- schaftens: Ist mehr, schneller und höher immer vernünftig?65 Eröffnet der aktu- elle Stand der Technik keine ressourcenschonenden Möglichkeiten für ein gutes Leben aller Menschen? So fanden an der Wirtschaftsuniversität Wien 2015 und 2017 zwei Kongresse zum „Guten Leben für alle“ statt, auf denen jeweils über 1000 Menschen über das Ziel der anstehenden Transformationen diskutierten. Im Zentrum stand der Versuch, über Arbeits- und Lebensweisen zu diskutie- 46 © Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: WU Wien Di, Aug 22nd 2023, 22:44 ren, die ein gutes Leben ermöglichen, das nicht ein Privileg einiger weniger bleibt: schöne öffentliche Grünanlagen und Bademöglichkeiten sind für alle Menschen möglich, ein privater Garten mit Swimmingpool nicht. Es ging somit um die Verbindung von Fragen sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nach- haltigkeit. Damit rückte jene Definition von Wirtschaften ins Zentrum, die bereits zu Beginn dieses Buches eingeführt wurde: Wirtschaften ist die Organi- sation und Bereitstellung der Lebensgrundlagen vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen und ökologischer Belastungsgrenzen. Gleichzeitig verpflichtete sich 2015 die internationale Staatengemeinschaft im Rahmen der Sustainable Development Goals (SDGs) und des Pariser Klima- abkommens, die Transformation so zu gestalten, dass sie allen Menschen ein gutes Leben innerhalb ökologischer Belastungsgrenzen ermöglicht. Dieses Ziel rückte – zumindest rhetorisch – ins Zentrum politischer Debatten, wiewohl das tatsächliche politische Handeln bisher nicht ausreicht